Creative Democracy Gemeinsam Zukunft gestalten! - Svenja Hackethal, David Jeß, Tania K. Klopsch & Judith Schindler (Hg.)
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Svenja Hackethal, David Jeß, Tania K. Klopsch & Judith Schindler (Hg.) Creative Democracy Gemeinsam Zukunft gestalten!
IMPRESSUM Herausgeber*innen Eigenverlag Svenja Hackethal, David Jeß, Tania K. Klopsch, Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. Judith Schindler Müllerstraße 156a, Aufgang 4, 13353 Berlin www.degede.de Autor*innen Dr. Wolfgang Beutel Berlin/Jena 2021, 1. Auflage Dr. Dieter Dohmen ISBN: 978-3-9824034-0-3 Arila Feurich Digitale Version: 978-3-9824034-1-0 Nina Gbur Lisa Geffken Lektorat: Kathrin Andreas, www.wörterwald.de Prof. Dr. Klaus Hurrelmann Logo & Illustration: BUREAU NEULAND, David Jeß www.bureau-neuland.de Sina Schindler Layout/Satz: Judith Miller, www.judithmiller.de Prof. Dr. Caja Thimm Dr. Alexander Weiß Das Projekt Creative Democracy wird gefördert Benjamin Winkler durch die Stiftung Mercator. Für das Projekt: Projekt Creative Democracy. Wir gestalten Zukunft! www.creative-democracy.de Ein Kooperationsprojekt von: Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. www.degede.de Förderverein Demokratisch Handeln e. V. www.demokratisch-handeln.de/foerderverein Die vorliegende Veröffentlichung ist Teil einer zweiteiligen Publikation. Mehr Informationen zum zweiten Praxisband Change Tools – Handbuch für die demokratiepädagogische Praxis. mit der ISBN 978-3-9824034-2-7 finden Sie auf www.degede.de/mediathek bzw. www.creative-democracy.de. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autor*innen die Verantwortung. 2
INHALT Vorwort 4 Aktuelle Entwicklungen – Herausforderungen für die Demokratiepädagogik. Demokratie muss in die Schule – Schule braucht Demokratiepädagogik! Von Dr. Wolfgang Beutel und Arila Feurich 8 Demokratie ohne Ende oder das Ende der Demokratie? Für eine realistische Demokratiepädagogik. Von Dr. Alexander Weiß 14 Demokratiebildung. Nötige Schutzimpfung und Gegengift für Verschwörungsideologien: Handlungstipps für Lehrkräfte. Von Lisa Geffken, Nina Gbur und Benjamin Winkler 20 Digitale Bildung und Teilhabe. Von Dr. Dieter Dohmen und Prof. Dr. Klaus Hurrelmann 27 Demokratie Lernen auf Instagram & Co.? Soziale Medien, digitale Partizipation und Politisierung. Von Prof. Dr. Caja Thimm 34 Zunehmender (anti-asiatischer) Rassismus – Ursachen, Entwicklungen & Handlungsmöglichkeiten in der Schule. Von Sina Schindler 40 Der Stellenwert demokratiepädagogischer Projektarbeit in Krisenzeiten. Von David Jeß 47 Creative Democracy – Das Projekt stellt sich vor. Projektvorstellung 54 Die Projektschulen 57 Reflexion und Wirkung 72 Über uns 75 3
VORWORT In den letzten anderthalb Jahren hat uns die Covid- • Welche aktuellen gesellschaftlichen Entwicklun 19-Pandemie als Individuen und Gesellschaft vor gen machen die Demokratiepädagogik gerade neue Herausforderungen gestellt. Von diesen wa- jetzt so relevant? ren in besonderem Maße die Schulen betroffen. Die • Welche Auswirkungen hat die zunehmende Umstellung auf Online-Unterricht, die Unwägbar- Digitalisierung auf die Demokratiepädagogik? keiten in der Planung durch sich ständig ändernde • Welche Rolle spielen Demokratiepädagogik und Pandemie-Regelungen und der Ausgleich von aus- Projektarbeit in der Schule? gefallenen Unterrichtsinhalten beeinträchtigten den • Wie kann demokratiepädagogische Praxis konkret Schulalltag für Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*in- umgesetzt werden? nen, Schulleitungen und vor allem Schüler*innen. In diesen Zeiten der globalen Krise waren außerunter- In dem Kooperationsprojekt Creative Democracy – richtliche Aktivitäten deutlich erschwert: Arbeitsge- Wir gestalten Zukunft! entwickelten die Deutsche meinschaften konnten sich nicht klassengemischt Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. und der treffen, Projektgruppen fielen aus, demokratische Förderverein Demokratisch Handeln e. V. gemein- Vertretungsstrukturen rückten vorerst in den Hin- sam mit sechs beteiligten Modellschulen Projekte, tergrund. Gleichzeitig zeigte sich, wie flexibel und in denen die Beteiligungs- und Teilhabewünsche von anpassungsfähig demokratiepädagogische Projekt- Kindern und Jugendlichen gefördert wurden. Ein arbeit sein kann. Es wurden digitale Möglichkeiten besonderer Dank gilt dabei der Stiftung Mercator, für bisher analoge Formate entwickelt und durch die mit ihrer großzügigen Förderung das Projekt er- die Krise ganz neue Projektideen erarbeitet: Das möglicht hat und mit der persönlichen Teilnahme Schüler*innenparlament organisierte digitale Ab- an unserer Auftaktveranstaltung das wichtige Signal stimmungsprozesse, die Kinderrechte-AG traf sich sendete, dass das Engagement der Schüler*innen auf einmal online und ein Projekt entstand, um im gesehen wird. Lockdown Menschen im Altersheim eine Freude zu Das gemeinsame Ziel aller am Projekt Beteilig- machen – um nur einige Beispiele zu nennen. Trotz ten war es, demokratiepädagogische Methoden – die dieser positiven Tendenzen lassen sich während der Change Tools – zu entdecken und zu erproben. Die Pandemie jedoch gesamtgesellschaftlich demokra- Change Tools ermöglichen es, Demokratie sowohl tiegefährdende Entwicklungen beobachten. Dazu in ihrer gesellschaftlichen Einbettung als auch in gehören die gesellschaftliche Polarisierung, der ihrer institutionellen Ausgestaltung kennenzulernen. wachsende Antisemitismus und (antiasiatische) Ras- Demokratie erschöpft sich nicht an der Gewaltentei- sismus sowie die starke Zunahme und Verbreitung lung, sondern ist in ihrer Form auch abhängig davon, von Verschwörungsideologien und Falschinforma- wie Individuen, Gruppen, Vereine, Institutionen und tionen. Dies verdeutlicht, wie wichtig es ist, demo- Kommunen an ihr und in ihr (mit-) arbeiten. Creative kratiepädagogische Inhalte auch an den Schulen Democracy soll jungen Menschen einen Einblick ge- wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. ben, wie Demokratie als Gesellschafts-, Herrschafts- Die vorliegende Publikation möchte hierzu einen und Lebensform funktioniert, damit sie in all ihren Beitrag liefern, indem folgende Fragestellungen Dimensionen daran teilhaben können. Im Rahmen der thematisiert werden: zweiteiligen Abschlusspublikation sollen – basierend 4
auf den in der Projektarbeit gemachten Erfahrungen von David Jeß, welcher den Stellenwert demokra- – pädagogische Fachkräfte, Schüler*innen sowie tiepädagogischer Projektarbeit in Krisenzeiten be- Interessierte zum Nachdenken und demokratie- schreibt. pädagogischen Handeln angeregt und inspiriert Damit ist der Übergang zum zweiten Teil der werden. ersten Broschüre geschaffen, in welchem das Pro- jekt Creative Democracy und alle daran Beteiligten In der vorliegenden Publikation Creative Democracy vorgestellt werden. In einem generellen Überblick – Gemeinsam Zukunft gestalten! werden zunächst werden dabei die Ziele, inhaltlichen Schwerpunkte gesellschaftliche Problemlagen besprochen, vor de- und praktischen Methoden dargestellt, die das Pro- ren Hintergrund die Relevanz von demokratiepäd- jekt besonders machen. Einen großen Anteil daran agogischer Schulentwicklung und die Förderung haben die teilnehmenden Schulen. Das Conrad- demokratischer Einstellungen bei Jugendlichen von-Soest-Gymnasium, die Grundschule Lorenz deutlich wird. Arila Feurich und Dr. Wolfgang Beutel Kellner, die Kaleidoskop-Schule, die Jenaplan-Schule, schreiben darüber, warum es Demokratiepädagogik die Realschule Waltrop und die Grundschule Bo- an Schulen braucht. Anschließend beschreibt Dr. genstraße werden daher mitsamt ihren Projekten im Alexander Weiß den gegenwärtigen Zustand der Einzelnen vorgestellt. Demokratie aus globaler Perspektive und macht Den Schluss der Broschüre bildet die Reflexion auf Tendenzen der Entdemokratisierung aufmerk- des Projektes, in welcher analysiert wird, ob das Pro- sam. Er warnt vor einer rein ideellen Darstellung der jekt seine gesetzten Ziele erreicht hat, welche Her- Demokratie und plädiert für eine realistische Demo- ausforderungen sich dabei ergaben und wie diese kratiepädagogik. Daraufhin folgen Texte zu spezifi- gelöst werden konnten. Ein besonderer Fokus liegt schen Themenbereichen und Herausforderungen, dabei auf den Hürden, welche die Covid-19-Pande- die in aktuellen Debatten über die Demokratie eine mie während der Projektlaufzeit aufstellte. Es zeigt Rolle spielen. Nina Gbur, Lisa Geffken und Benjamin sich hierbei, wie sehr Engagement selbst widrigen Winkler tragen dazu mit einer Betrachtung von Ver- Bedingungen standhalten kann. schwörungsideologien bei. Aktuelle Zahlen und Stu- dien zur digitalen Beteiligung und Teilhabe in Zeiten der Pandemie werden von Dr. Dieter Dohmen und Prof. Dr. Klaus Hurrelmann vorgestellt. Passend zu diesem Thema schreibt Prof. Dr. Caja Thimm zum digitalen Demokratielernen. Sie betrachtet Politi- sierung und Partizipation im Zusammenhang mit sozialen Medien. Ebenfalls mit Bezug auf die Covid- 19-Pandemie zeigt Sina Schindler einen zunehmen- Svenja Hackethal & Tania Klopsch den Rassismus gegenüber asiatisch gelesenen Men- Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. schen auf und leitet Handlungsmöglichkeiten für die pädagogische Praxis ab. Der theoretische Teil der David Jeß & Judith Schindler Publikation wird abgeschlossen durch einen Text Förderverein Demokratisch Handeln e. V. 5
Demokratie muss in die Schule – Schule braucht Demokratiepädagogik! Von Dr. Wolfgang Beutel und Arila Feurich Was ist Demokratiepädagogik? alle Praxis – vorauseilt und die zugleich empirisch fundiert und hochgradig verschieden ist. Allein in Etwa im Jahr 2000 ist die Debatte um „Demokratie- den rund 34.000 Schulen des allgemeinbildenden pädagogik“ aufgekommen und prägt seitdem den Schulwesens in Deutschland geschieht täglich weit- fachlichen Diskurs sowohl in der Wissenschaft als aus mehr, als alle konzept- und evidenzbasierte For- auch in der Praxis mit einem besonderen Schwer- schung einzufangen vermag: „Demokratiepädago- punkt auf der Schule. Gegenwärtig wird erneut über gik als ‚Dachbegriff‘ kann deshalb insbesondere in die Pluralität der Begriffswelt in diesem Feld gestrit- der Schule, aber auch in Institutionen und [an] Orten ten. Die Rede ist aktuell vor allem von „Demokratie- der Jugendbildung Aufgaben, Unterstützungsstruk- bildung“ als Aufgabe der Schule. So hält es etwa die turen und Zielpunkte sowie normative Vorgaben Kultusministerkonferenz (KMK) mit ihren Informatio- gut abbilden“ (Beutel/Gloe/Reinhardt 2022). Inso- nen zur Umsetzung der 2018 neu fern meint es auch nicht nur die verabschiedeten Empfehlung zur Dem Begriff der erzieherischen und lernbezo- „Demokratie als Ziel und Gegen- genen Phänomene der Schule stand historisch-politischer Bil- „Demokratiepädagogik“ und aller anderen pädagogi- dung“ auf ihrer Website. Auch das geht schon immer eine schen Institutionen, sondern BMBF hat sein zuständiges Fach- integrierende Absicht zugleich auch die gesamten referat unter dieses Stichwort voraus. Bemühungen von Politik, Wis- gesetzt und der aktuelle 16. Kin- senschaft und Zivilgesellschaft, der- und Jugendbericht der Bundesregierung wen- dem Lernen von Demokratie und der Förderung de- det sich dem Thema „Förderung demokratischer mokratischer Handlungskompetenz Stärke, Geltung Bildung im Kindes- und Jugendalter“ zu. und vor allem Wirkung zu verschaffen. Unabhängig von der pluralen Begriffswelt – die Mit der praktischen Umsetzung und Förde- Rede ist auch von Demokratie lernen, demokrati- rung von „Demokratiepädagogik“ zielt diese auf scher Erziehung, Demokratiedidaktik und schließlich eine umfassende Darstellung und Rationalisierung von Civic Education – ist Demokratiepädagogik „als institutioneller und sozialisatorischer Funktionen pädagogischer Dach- und Fachbegriff im Kontext und Elemente, die zu einer „demokratischen Hand- des BLK-Programms ‚Demokratie lernen und leben‘“ lungskompetenz“ beitragen können. Demokratiepä- (Fauser 2016, S. 18) entstanden und gilt bis heute als dagogik meint dabei – kompakt gesprochen – das besonders breites und ausdifferenziertes Konzept. Zusammenwirken von Wissen, Haltung und Werten Dem Begriff der „Demokratiepädagogik“ geht in den sowie von Handlungsbereitschaft bei den Lernen- Diskursen und Kontroversen zum Thema schon im- den, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, mer eine integrierende Absicht voraus. Denn dem letztlich aber auch bei Erwachsenen (vgl. ebd.). Klar Hauptelement dieses Wortes – der Pädagogik – ist ist: Wir haben es mit einem umfassenden Anspruch eine besonders starke Bedeutung für alle edukativen und einem komplexen pädagogischen Sachverhalt Verhältnisse eigen. zu tun. Das kann kaum überraschen, ist doch die Pädagogik hat eine Seite der unmittelbaren Pra- Demokratie als soziale Gesellschaftsform, vor allem xis, die der ihr zugehörigen Wissenschaft stets – wie aber als politische Institutionenwelt und als Verfah- 8
ren einer menschenrechtsorientierten und mög- und die entsprechende UN-Konvention, der sich lichst gewaltfreien Politik auch ein komplexes Ge- 1992 auch Deutschland rechtsgültig angeschlossen füge und Merkmal der modernen Gesellschaft. hat. Ein zentrales Kinderrecht ist dabei das auf An- hörung in allen Belangen, in denen Politik und Ge- sellschaft die Lebensverhältnisse von Kindern und Zum Stand der Demokratiepädagogik in Jugendlichen berühren. Ein weiteres Element liegt Deutschland und darüber hinaus in der sich sukzessive weiterentwickelnden Verrin- gerung des Wahlalters auf 16 Jahre – derzeit in allen Die Frage nach der Demokratiepädagogik bewegt Ländern auf kommunaler Ebene und in zunehmend sich in der fachlichen Diskussion und pädagogi- mehr Bundesländern auf Ebene des Landeswahl- schen Praxis in zwei Traditionslinien. Die eine lässt rechts. sich beschreiben durch die „politische Bildung“, der Schließlich wirken auch die Sustainable De- in der Bundesrepublik nicht nur ein „Schulfach“, velopment Goals und damit die Agenda 2030 der sondern mit den Landeszentralen und der Bundes- Vereinten Nationen auf eine Stärkung der demokra- zentrale für politische Bildung auch Institutionen tischen Verantwortung und Handlungskompetenz sowohl auf Bundesebene als auch auf Ebene der von Jugendlichen hin. Das sind klare Zukunftsziele Länder zugeordnet sind. Wie so oft sind diese sehr der Gegenwartspolitik – und alle Zukunftsgestaltung verschiedenartig in der jeweiligen Ausprägung und betrifft zwangsläufig die pädagogischen Grundfra- Wirkungstiefe. gen und die der Sozialisation kommender Genera- Hintergrund ist dabei nicht nur die Erfahrung der tionen. in der deutschen Moderne mehrfach gescheiterten Und schließlich ist ein wesentlicher Zug der Ent- Demokratie, sondern auch die staatsrechtliche, poli- wicklung von Demokratiepädagogik der Tatbestand, tische und kulturelle Einsicht, dass die Demokratie dass die Zivilgesellschaft und damit das politisch en- aus sich heraus nicht die Kräfte bereitstellen kann, gagierte Bürger*innentum sowie die Wirtschaft sich um sich selbst zu erhalten. Dies kann nur im Ver- in diesem Themenfeld mit Stiftungsprogrammen bund und auf der Basis ihrer Bürger*innenschaft und und Modellprojekten sowie mit vielfältigen Initia- deren Engagement sowie Zugewandtheit zu dieser politischen Form und Kultur geschehen. Demokratiepädagogik meint Die zweite Linie liegt in der soziologisch-analy das Zusammenwirken von Wissen, tischen Einsicht in das Wesen der pädagogischen In- stitutionen. Von ihnen ist zureichend bekannt, dass Haltung und Werten sowie sie selbst auch ohne curricular-inhaltliche Zentrie- von Handlungsbereitschaft bei rung erzieherisch wirksam sind. Besonders die mo- den Lernenden. derne Schule hat eine „politische Sozialisationsfunk- tion“, der sich die Beteiligten – die Lehrenden, vor tiven engagiert. Seit den 1990er-Jahren zeigt sich, allem aber die Kinder und Jugendlichen – ebenso dass dieses zivilgesellschaftliche Engagement und wie die Gesellschaft letztlich nicht entziehen kön- Impulsfeld eine Art bürgerschaftliche Erneuerungs- nen. Die moderne Schule in den demokratischen bewegung und Anregungskraft für die Bildungspoli- Verfassungsstaaten unterliegt diesem institutionel- tik darstellen konnte. len Effekt überall. Deshalb ist die Frage der demo- Zieht man eine aktuelle Bilanz, dann kann man kratischen Schule immer schon und besonders seit festhalten, dass es eine Fülle an Themen, Hand- Ende der 1990er-Jahre auch eine Herausforderung, lungsformen und impulsprägenden Initiativen und der sich die Europäische Kommission (Council of Modellen gibt, die der Demokratiepädagogik Reali- Europe) mit Empfehlungen und Programmen zur tätskraft und Richtungssinn verleihen. Dazu gehören „European Democratic Citizenship“ stellt. Netzwerke wie das Programm Schule ohne Rassis- Weitere politikwirksame Elemente und Kräfte mus – Schule mit Courage, der Bundeswettbewerb treten hinzu: Das sind vor allem die Kinderrechte Jugend debattiert sowie die Schüler*innen- und 9
Schulwettbewerbe der Politischen Bildung der Bun- nen. So ist derzeit ein Trend zu beobachten, dass deszentrale, der Geschichtswettbewerb der Körber- Wirtschaftspädagogik und Verbrauchererziehung als Stiftung, aber auch der schon 30 Jahre laufende neue Themenfelder in die politische Bildung Einzug Projektwettbewerb Demokratisch Handeln und der halten. seit 15 Jahren Wirkung entfaltende Deutsche Schul- Viel prägnanter aber ist, dass bis heute bei der preis der Bosch-Stiftungen sowie die Deutsche Beobachtung der gesamtpolitischen Entwicklung Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V., die in der Eindruck entsteht, dass nach Anschlägen aus hohem Maße zur Verbreitung des Klassenrats und dem rechten politischen Gewaltmilieu, bei Über- anderen schulwirksamen Partizipationsformen bei- griffen gegen das Judentum in Deutschland sowie getragen haben. überhaupt bei Antisemitismus und Fremdenfeind- lichkeit schnell nach der Schule, der politischen Bil- … zu wenig, zu spät und dung und auch der Demokratiepädagogik gerufen wird. Das allerdings ist zu wenig, zu spät und signa- eine falsche Hoffnung: lisiert eine falsche Hoffnung: Demokratiepädagogik Demokratiepädagogik und und politische Bildung sind nicht die Rettungssa- politische Bildung sind nicht die nitäter*innen der offenen und pluralen sowie frei- Rettungssanitäter*innen heitlichen Gesellschaft, sondern ein wesentlicher Teil von deren Sicherung durch Professionalisie- der freiheitlichen Gesellschaft. rung und intergeneratives Handeln. Die Verringe- rung und Sanktionierung dieser Gewaltphänomene Begleitet wurden diese und weitere schul- sind zuerst eine Herausforderung an eine klare und entwicklungsbezogene Initiativen wissenschaft- entschiedene Politik und nichts, was die Schule so lich – das in die 10. Runde gehende „Jahrbuch nebenbei bewältigen kann. Politische Bildung und für Demokratiepädagogik“ sowie der modellhafte Demokratiepädagogik haben hier einen besonderen berufsbegleitende Aufbaustudiengang zur „Demo- Eigenwert! kratischen Schulentwicklung“ der Freien Universität Berlin stehen dafür exemplarisch. Projektdatenban- ken, zahlreiche Praxis- und Wissenschaftsliteratur, Demokratische Schulentwicklung – empirische Auswertungen von Formen demokrati- weshalb und wozu? scher Pädagogik, die Lernen mit Handeln verbinden, sowie der „Qualitätsrahmen Demokratiepädagogik“ Im Jahr 2020 wurde der 16. Kinder- und Jugendbe- und der „Merkmalskatalog demokratiepädagogi- richt mit dem Schwerpunkt der „Förderung demo- scher Schulen“ geben detailreiche Einblicke. kratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“ ver- öffentlicht. Der Bericht konstatiert, dass „alle jungen Menschen […] ein Recht auf politische Bildung [ha- Im Einsatz für die Demokratie – ben]“ – abgeleitet aus den UN-Kinderrechten sowie gesellschaftliche Erwartungen §1 (1) SGB VIII: Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu Zu dieser Bilanz gehören auch eine Reihe gesell- einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und schaftlicher und politischer Entwicklungen, die das gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Anliegen der Demokratiepädagogik immer wieder Zugleich macht der Bericht darauf aufmerk- in eine „Interventions“- oder vermeintliche „Feuer- sam, dass der Sozialraum Schule bisher zu wenig wehrfunktion“ bringen. Nicht zuletzt wächst die Nei- zur Förderung demokratischer und politischer Bil- gung, an die Schule allerhand Erwartungen zu stel- dung beiträgt. Dies erstaunt insbesondere vor dem len, um gesellschaftliche Herausforderungen und Hintergrund, dass die Kultusministerkonferenz 2009 Krisen durch erzieherisches Wirken an und durch einen Beschluss zur Stärkung der Demokratie in der Schule bewältigen oder wenigstens mildern zu kön- Schule gefasst und diesen 2018 bekräftigt hat: „Die 10
besondere Verantwortung der Schule ergibt sich da- und pädagogisch professionell zu schulternde Auf- raus, dass sie die einzige gesellschaftliche Institution gabe. Die Verabschiedung von Konventionen bzw. ist, in der es gelingen kann, alle Kinder und Jugend- Gesetzen ist dabei eine wichtige Grundlage, auf die lichen zu erreichen. Schule kommt daher als Ort der für die Realisierung gerechter Bildungsstrukturen je- demokratischen Wissensvermittlung und gleichzei- doch intensiv zurückgegriffen werden muss. Auch tig als demokratischer Erfahrungsraum eine hohe bieten sich für die Schule zahlreiche Anknüpfungs- Verantwortung zu. Schule muss ein Ort sein, an punkte: Über die erreichbaren Personengruppen dem demokratische und menschenrechtliche Wer- kann das Wissen der Demokratie als Regierungs- te und Normen gelebt, vorgelebt und gelernt wer- form sowie deren Erfahrung als Gesellschaftsform den“ (KMK 2018, S. 3). und ihre individuelle Mitgestaltung als Lebensform Doch nicht nur Schüler*innen werden über die (Himmelmann 2001) zu einem „Wissen für Demo- Schule erreicht. Die mit dem schulischen System ver- kratie“ (Achour 2021) werden. Je mehr Teilhabe- bundenen Personengruppen sind noch vielfältiger: und Gestaltungsmöglichkeiten vorliegen und gelebt Eltern, Lehrkräfte, Schulleitung, administratives (z. B. werden, umso mehr Selbstwirksamkeit erfahren die Hausmeister*in, Sekretär*in) und pädagogisches Heranwachsenden und die Erwachsenen. Dabei Personal (z. B. Schulsozialarbeiter*innen, Erzieher liegt es in der Natur der Sache, dass diese sowohl *innen, Schulbegleiter*innen, Horterzieher *innen). positiv als auch negativ geprägt sein können. Posi- Diese Vielfalt ist eine Chan- tiv im Zusammenhang von ce, die es sowohl für die Der Zugang zu Bildung und Erfolgserlebnissen, einher- Schulentwicklung als auch gehend mit der Förderung ein hoher Qualitätsanspruch für die Gesellschaft zu nut- von Kompetenzen und zen gilt. daran können einen wesentlichen Schaffung von positiven Nicht selten sind schuli- Beitrag zur Chancengerechtigkeit Entwicklungskontexten. sche Belange innerfamiliär, und Inklusion leisten – sofern die Doch nicht nur die positi- aber auch darüber hinaus ven, auch die negativen Er- Umsetzung tatsächlich gelebt ein beliebtes Thema, das in fahrungen tragen zur Per- Diskussionen oder auch und gewollt ist. sönlichkeitsentwicklung Gesprächen des Erfahrungs bei. Die Erfahrungen von austausches und damit in eine von Alltag und Le- Grenzen, von mit Rechten einhergehenden Pflich- bensgeschichten geprägte Wahrnehmung mündet. ten und unüberwindbar erscheinenden Hürden sind Politisch gesehen und aus westlicher Perspektive ebenso wesentlich. sind Schule und Bildung sowohl durch die Schul- Im schulischen und damit auch im systemischen pflicht begründet als auch ein zentraler Beitrag für Kontext mögen Herausforderungen nicht immer die Grund- und Menschenrechte sowie das vierte überwindbar erscheinen oder tatsächlich sein. Oft- Entwicklungsziel „Hochwertige Bildung weltweit“ mals sind es jedoch die Situationen, an die wir uns der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030. Die all- später noch erinnern. Der pädagogischen Professi- gemeine Schulpflicht und die zugehörigen Instituti- on kommt dabei eine sehr verantwortungsvolle Rol- onen des Bildungswesens sind – trotz aller empi- le zu. Pädagog*innen (angesprochen sind damit alle risch aufweisbaren und bis heute wirkenden pädagogischen Professionen, nicht nur Lehrkräfte) Ungerechtigkeiten – im Kern ein besonderer Gewinn sind aufgefordert, darauf zu achten, dass sich Nega- und eine Voraussetzung für eine chancengerechte tiv-Erfahrungen im Feld des bewältigbaren und for- sowie Talente und Vielfalt entfaltende Demokratie. dernden, aber nicht überfordernden oder traumati- Der Zugang zu Bildung und ein hoher Qualitäts- schen Bereiches bewegen. Ein Kriterium, das sich anspruch daran können einen wesentlichen Beitrag im Katalog „Merkmale demokratiepädagogischer zur Chancengerechtigkeit und Inklusion leisten – Schulen“ im Qualitätsbereich 4: Professionalität der sofern die Umsetzung tatsächlich gelebt und ge- Pädagog*innen sowie Kooperationspartner*innen wollt ist. Dies wiederum ist eine praktische politische (S. 23ff.) wiederfindet. 11
Die Zusammenstellung von insgesamt fünf wird, könnte schließlich auf das Makrosystem Ge- Merkmalen demokratiepädagogischer Schulen be- sellschaft übertragen werden. Da sich das Verhältnis schreibt deutlich, dass die Entwicklung der Profes- derzeit eher andersherum gestaltet, erscheint die sionalität „für die Schule eine systematische Aufgabe Notwendigkeit, demokratische Werte, Perspektiven [ist]: Sie ist Bestandteil eines Personalentwicklungs- und Haltungen bereits in der Schule kennenzuler- konzepts“ (S. 23). Neben der Ansprache multipro- nen, zu leben und an andere weiterzugeben, umso fessioneller Perspektiven macht der Katalog auch naheliegender. deutlich, dass demokratische Schulentwicklung ein Prozess ist. Je mehr Personen diesen Prozess tra- gen, umso erfolgreicher wird die Umsetzung damit Demokratiepädagogik in der Schule? verbundener Konzepte sein. Spürbar wird das für Ein Fazit Schulen insbesondere in den Bereichen Schul- und Lernkultur – zwei weitere Qualitätsmerkmale (S. 10ff. Dass die Stärkung der Demokratie eine gesamtge- und S. 28ff.). sellschaftliche Aufgabe ist, ist damit deutlich gewor- Sowohl in der Schul- als auch in der Lernkul- den. Hier sind zunächst Staat und Politik gefordert, tur ist Kommunikation und das stetige Miteinan- auch wenn wir wissen, dass die Demokratie davon der-Sprechen ein zentrales sowie vielschichtiges allein nicht leben kann. Vor allem ist die Bürger*in- Element. Nicht nur die unterschiedlichen Kommu- nenschaft gefordert, die durch eine der Demokratie nikationsebenen sowie -akteur*innen, auch die da- verpflichtete Schule und Bildung dafür sensibilisiert mit verbundene Vermittlung wird, ihre Bürgerrolle als eine von Werten prägen dies. Die Demokratie benötigt demokratisch gehaltvolle Sprache, sei sie verbal oder eine starke und sie stützende und von Engagement und non-verbal zum Ausdruck Interesse geprägte Aufgabe gebracht, wirkt und bewirkt. Zivilgesellschaft, nicht nur, zu verstehen. Das Bewusstsein darüber ist wenn sie in besonderem Maße Die Demokratie benö- jedoch etwas, das erlernt so- herausgefordert wird. tigt eine starke und sie stüt- wie erfahren werden muss. zende Zivilgesellschaft, nicht Zusammengefasst bezeichnet man es als Kommu- nur, wenn sie in besonderem Maße herausgefordert nikationskompetenz. Die Auseinandersetzung damit wird. Es ist und bleibt eine globale Daueraufgabe, ist eine weitere Aufgabe, die Pädagog*innen in der die jegliche Partner*innen – von der Privatperson Schule fördern und stärken müssen. bis zum Wirtschaftsunternehmen, von Kindern und Denn zur Kommunikationskompetenz gehört Jugendlichen bis zu Senior*innen sowie von poli- neben den Ausdrucksmöglichkeiten und ihrer Wirk- tisch-agierenden bis hin zu verwaltenden Akteur*in- samkeit auch das Umgehen mit Konflikten. Etwas, nen – einbezieht. das bei Partizipations- und Teilhabeprozessen nicht Die Schule und die gesamte pädagogische In- ausbleibt. Es ist wichtig, sich mit unterschiedlichen stitutionenwelt wiederum benötigen eine demokra- Perspektiven auseinanderzusetzen, sie zu diskutie- tiepädagogische Praxis und Profilierung. Sie benöti- ren, abzuwägen sowie zu lernen, sie zu akzeptieren gen diese innerschulische Demokratie nicht nur, um bzw. zu tolerieren. Der Umgang mit Vorurteilen, die gesellschaftlich-demokratischen Ansprüche auf Ängsten und Vorbehalten bleibt dabei nicht aus. Gerechtigkeit gegenüber Kindern und Jugendlichen Die beschriebenen Mechanismen aus dem unabhängig vom sozialen und materiellen Status an- Mikrosystem Schule sind ein Spiegelbild für gesell- zustreben, sondern auch deshalb, weil ihre institutio- schaftspolitische Prozesse. Nicht nur auf die Entwick nellen Charaktere nicht von allein die der Demokratie lungs- und Partizipationsprozesse bezogen, auch in innewohnende generationen- und lebensweltüber Bezug auf die menschliche Diversität und Vielfalt, greifende Grundstruktur bereitstellen: Die Schule an die sich in Schule abbildet. Was also in der Schu- sich ist nicht demokratisch. Schule ist immer, wie le an Zusammenleben und Gemeinschaft gelernt vieles in der Pädagogik, ein Erfahrungs- und auch 12
Machtgefälle. Schule ist ein Eingriff in Freiheits- und bund mit ihrer Schüler*innen- und Elternschaft. De- Bewegungsrechte und Schule kann im ungünstigen mokratiepädagogik in der Schule ist und bleibt eine Fall asymmetrische Macht, Gewalt, Ausgrenzung Daueraufgabe – wie jede Pädagogik! und Demütigung erzeugen oder fördern. Nicht zu- letzt auch aus diesen sie prägenden Wesensmerk- WOLFGANG BEUTEL, Dr. phil., ist wissenschaftlicher malen, Erfahrungen und damit verbundenen Tradi- Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover und Mitglied im Auswahlgremium des tionen ist die demokratiepädagogische Entwicklung Deutschen Schulpreis. und Erneuerung der Schule eine besondere kulturel- le und professionspolitische Herausforderung. Dies ARILA FEURICH, M.A., Vorstandsmitglied im VereinT gilt auf Ebene des Schulsystems und des Bildungs- Zukunft Bilden e. V., seit 2021 Referentin im Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit des Thüringer wesens insgesamt. Es gilt aber mehr noch mit Blick Ministerium für Bildung, Jugend und Sport. Zuvor langjährige auf die einzelne Schule und die gemeinsame Leis- wissenschaftliche Mitarbeiterin im Förderverein Demokratisch tung der dort engagierten Pädagog*innen im Ver- Handeln e. V. Demokratiepädagogik in der Schule ist und bleibt eine Daueraufgabe – wie jede Pädagogik! LITERATUR ACHOUR, SABINE (2021): Demokratiebildung: Was ist das? – Hommage an die Demokratiepädagogik – 10 Jahre DeGe- Politische Bildung, die sich lohnt! In: Demokratiebildung De (DeGeDe, 2016), S. 16-35.; online: https://www.dege- (2021) Sonderausgabe Sek. I/II Wochenschau. Politik und de.de/wp-content/uploads/2019/06/degede-festschrift- Wirtschaft unterrichten. Frankfurt/M. 2016-10jahre.pdf BEUTEL, WOLFGANG / GLOE, MARKUS / REINHARDT, VOLKER DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR DEMOKRATIEPÄDAGOGIK E. (2022): Demokratiepädagogik. In: Diess./Himmelmann, V. (Hrsg.) (2017): Merkmale demokratiepädagogischer Gerhard/Lange, Dirk/Reinhardt, Volker/Seifert, Anne Schulen. Ein Katalog Berlin/Jena.; online: https://www. (Hrsg.): Handbuch Demokratiepädagogik. Frankfurt/M.: degede.de/wp-content/uploads/2019/01/degede-merk- Wochenschau-Verlag (im Druck). malskatalog-2017-web.pdf BMFSFJ (Hrsg.) (2020): Bericht über die Lage junger Menschen HIMMELMANN, GERHARD (2001): Demokratie als Herrschafts-, und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Gesellschafts- und Lebensform. Ein Studienbuch. Schwal- Jugendhilfe – 16. Kinder- und Jugendbericht – Förderung bach/Ts. demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Ber- KMK (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis histo- lin. risch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule (Be- FAUSER, PETER (2016): „Was heißt und zu welchem Ende trei- schluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. ben wir Demokratiepädagogik? Ein skeptischer Appell“ In: F. vom 11.10.2018). Berlin. 13
Demokratie ohne Ende oder das Ende der Demokratie? Für eine realistische Demokratiepädagogik Von Dr. Alexander Weiß Der globale Zustand der Demokratie Die empirische Demokratieforschung spricht hier von „democratic backsliding“, also einem de- Die Zukunft der Demokratie ist ungewiss – und die- mokratischen Rückschritt, oder von „Entdemokra- ser Befund ist zumindest in der jüngeren Geschich- tisierung“ und „Autokratisierung“.3 Der US-amerika- te durchaus neu. Noch vor einem Vierteljahrhundert nische Politologe Samuel P. Huntington hatte zu bestand eine weit geteilte Erwartung darin, dass Beginn der 1990er-Jahre in der historischen Rück- Demokratie als weltweites Erfolgsmodell nicht auf- schau drei Wellen der Demokratisierung seit dem zuhalten sei und sie global immer weitere Verbrei- 19. Jahrhundert erkannt.4 Die damals aktuelle dritte tung finden werde. Es wurde sogar das „Ende der Welle habe mit Regimewechseln hin zur Demokratie Geschichte“1 proklamiert: Nach den Systemwett- in den 1970er-Jahren in Portugal, Spanien und Grie- kämpfen des 20. Jahrhunderts sei nun das Zeitalter chenland begonnen und dann über die Transforma- der unangefochtenen und nicht mehr rückgängig tion der Ostblockstaaten hin zu außereuropäischen zu machenden Hegemonie der einzig legitimen Fällen in Lateinamerika, Südkorea oder Südafrika die Herrschaftsform – der Demokratie – angebrochen. Seit dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtau- Die Zukunft der Demokratie sends zeigt sich aber ein anderes Bild: Ob nun die absolute Zahl der liberalen Demokratien in der Welt ist ungewiss – und dieser oder der relative Anteil der Demokratien an der Ge- Befund ist zumindest samtzahl der Staaten oder der Anteil der Weltbevöl- in der jüngeren Geschichte kerung, der in liberalen Demokratien lebt, zugrunde durchaus neu. gelegt wird – die Zahl stagnierte eine Zeit lang und nimmt in jüngster Zeit sogar erkennbar ab.2 Wich- Zahl der Demokratien weltweit deutlich erhöht. Die- tige Länder wie Russland, die Türkei, Brasilien und se dritte Welle der Demokratisierung schien den Be- viele andere haben den Pfad der Demokratisierung ginn des globalen Siegeszuges der Demokratie ein- verlassen oder ihre Demokratie bis zur Unkennt- zuläuten. Es wurde dabei aber oft übersehen, dass lichkeit ausgehöhlt. Auch Indien wird in jüngeren Huntington nach den beiden früheren Wellen der Messungen zur Demokratiequalität nicht mehr wie Demokratisierung auch Rückschläge, die „Gegen- bisher als „größte Demokratie der Welt“, sondern nur wellen“, ausgemacht hatte. Vieles spricht heute da- noch als „elektorale Autokratie“, also als Autokratie für, dass wir gegenwärtig die Gegenwelle zur dritten mit noch leidlich funktionierendem Wahlapparat, Demokratisierungswelle erleben. eingestuft. 1 Francis Fukuyama (1992). 3 Vgl. Anna Lührmann / Staffan I. Lindberg (2019) und Vanessa A. 2 Vgl. V-Dem Institute (2021). Das schwedische V-Dem Institute Boese / Staffan I. Lindberg / Anna Lührmann (2021). (Varieties of Democracy Institute) veröffentlicht jährlich die Er- 4 Vgl. Samuel P. Huntington (1991). gebnisse globaler Messung von Demokratiequalität. 14
Der Zustand der etablierten Demokratien Über diese schon höchst bedenkliche Beschreibung der Postdemokratie hinaus sind in jüngerer Zeit zahl- In den westlichen liberalen Demokratien konnte reiche Veröffentlichungen erschienen, die nicht nur man diese globale Entwicklung eine Zeit lang als eine Krise der Demokratie, sondern sogar ihr Ende – „Probleme der anderen“ abtun: War doch das, was ihr Scheitern als Realität und als Idee! – behaupten. die empirische Demokratieforschung als „backsli- Mit dieser zum Teil fatalistischen, düsteren Literatur ding“ beschrieben hat, in aller Regel ein Phänomen, wird das „democratic backsliding“ endgültig auch das in jungen, noch nicht stabilen Demokratien auf- zum Problem etablierter Demokratien und der De- trat, die noch nicht hin- mokratie generell. reichend resilient, also Mehr und mehr Menschen Hier ist in den letzten widerstandsfähig waren. fünf Jahren, also unter sind von der Demokratie enttäuscht Der deutsche Politologe dem Eindruck der Präsi- Wolfgang Merkel hat- und erwarten nicht mehr die dentschaft von Donald te hierfür bereits in den Erfüllung zentraler Versprechen Trump, des Brexits und der 1990er-Jahren das Kon- von Gleichheit und Freiheit, die Verfassungskonflikte in ei- zept der „defekten De- nigen Staaten der EU, be- eigentlich den Kern der mokratie“ entwickelt, mit züglich der theoretischen dem er die unvollständige Rechtfertigung von Demokratie Ansätze und der prak- Entwicklung einer jungen ausmachen. tischen Implikationen ein hin zu einer stabilen, eta- zwar sehr heterogenes, blierten Demokratie bezeichnete. Es spricht aber aber durch den gemeinsamen Fokus auf das Ende einiges dafür, dass das Problem bedeutend größer von Demokratie zusammengehöriges Literaturfeld ist und auch die etablierten Demokratien des Wes- entstanden, das schon in den Titeln die zugespitzte tens betrifft. Für diesen Verdacht hat die Demo- Dramatik im Zustand der Demokratie verdeutlicht.6 kratietheorie seit den 1990er-Jahren in mehreren In historischer Perspektive wird nach Mustern ver- Konjunkturen zahlreiche „Krisen der Demokratie“ gangenen Demokratieverfalls gesucht7, und in ver- beschworen. Besonders der vom britischen Polito- gleichender Absicht werden solche Verfallsschemata logen Colin Crouch verwendete Begriff der „Postde- in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart aus- mokratie“ hat die Debatte geprägt.5 Mit ihm wird ein gemacht.8 Dabei wird das Hauptproblem zuweilen Zustand bezeichnet, in dem Demokratie zwar nicht besonders an der Peripherie des westlichen Zen in ein erkennbar anderes Regime übergegangen ist trums, in Polen und Ungarn, verortet.9 Über die Pro – alle institutionellen Mechanismen der Demokra- bleme von Lobbyismus und Korruption hinaus, die tie sind noch intakt –, dennoch ist etwas passiert: Mehr und mehr Menschen sind von der Demokratie enttäuscht und erwarten nicht mehr die Erfüllung 6 Dies ist etwa in Titeln wie „The End of Democracy“ (Christophe zentraler Versprechen von Gleichheit und Freiheit, Buffin de Chosal 2017), „How Democracy Ends” (David Run- die eigentlich den Kern der Rechtfertigung von De- ciman 2019) oder „Wie Demokratien enden“ (Christoph Nonn mokratie ausmachen. Mehr und mehr wird zugleich 2020) abzulesen. Beachtenswert ist dabei der Numerus von Demokratie: Untersuchungen zu „Demokratien“ im Plural ge- ertragen, dass privilegierte Schichten und Eliten hen historisch oder empirisch vergleichend vor, während Titel deutlich höheren Einfluss auf Regierungsentschei- über „Demokratie” im Singular theoretisch und philosophisch dungen haben als andere, so dass immer weniger ausgerichtet sind und über das Ende der Idee von Demokratie räsonieren. von politischer Gleichheit gesprochen werden kann. 7 Vgl. Christoph Nonn (2020). Dabei ergibt sich der Befund, dass Italiens Übergang zum Faschismus 1925 als moderner Ausnah- mefall für den Verfall einer etablierten Demokratie darstellt. 5 Vgl. Colin Crouch (2008). 8 Vgl. Steven Levitsky / Daniel Ziblatt (2018) und Larry J. Diamond (2020). 9 Vgl. Ireneusz Paweł Karolewski (2020). 15
noch im Mittelpunkt von Crouchs Kritik an der Post- Die Politische Theorie reagiert auf diese Be- demokratie gestanden hatten, werden Repräsenta- funde, indem angesichts der Verfallserscheinungen tionsdefizite ausgemacht, die dazu beitragen, dass von Demokratie die demokratietheoretischen Nor- Wahlen in der Demokratie nicht dazu führten, dass men noch einmal nachgeschärft werden müssen, Interessen wirklich abgebildet werden.10 In anderen um genau vor diesen Erscheinungen warnen und Perspektiven werden gesellschaftliche Entwick- sie kritisieren zu können.18 Philip Manow kommt lungen wie die zunehmende Entfaltung des neo- sogar zu der Erkenntnis, dass Demokratie als ein liberalen Kapitalismus11 oder durch Digitalisierung komplexes Gefüge aus Demokratisierungs- und beförderte, immer weiter zu- Entdemokratisierungsten- nehmende Individualisierung Die gegenwärtigen Formen denzen zu verstehen sei, als Faktoren bestimmt,12 wäh- deren Verhältnis zueinander der Entdemokratisierung rend andernorts wiederum über die Zeit ausgewogen sogar spezifische normative werden oft nur schwer und sein müsse. In der jüngeren Defizite der Demokratie er- noch öfter zu spät erkannt. Vergangenheit und Gegen- kannt werden: Zeitlich etwas wart erleben wir eine Pha- vor dem hier besprochenen Diskurs sieht Michael se, in der die Entdemokratisierungstendenzen be- Mann eine schiefe Ebene von Demokratie zu eth- sonders stark seien.19 Adam Przeworski schließlich nischen Homogenisierungstendenzen und sogar nimmt ebenfalls die strukturelle Krisenhaftigkeit der zur ethnischen Säuberung13, und Buffin de Chosal Demokratie zum Ausgangspunkt, konfrontiert sie argumentiert sogar, dass Demokratie mit ihrer impli- aber mit der diese Krise zuspitzenden Gegenwarts- ziten Egalitätsorientierung notwendigerweise totali- tendenz, dass – und hier ist er im Einklang mit zahl- täre Züge aufweise14. Jason Brennan diskutiert dann reichen empirischen Befunden20 – die neuen Ent- ganz folgerichtig normative Alternativen zur Demo- demokratisierungstendenzen über gefährlich lange kratie15 – innerhalb der westlichen akademischen Zeit unbemerkt oder bezüglich der Einschätzung Welt ist dies nahezu singulär, während anderswo, ihres Potenzials, Demokratie zu beenden, diffus etwa in China, durch Daniel A. Bell mit dem merito bleiben.21 kratischen „China Model“16 und an anderen Orten Was ist also neu am gegenwärtigen Demokra- auch verstärkt und ernsthaft nach solchen Alterna- tieverfall? Auf der Ebene der Phänomene könnte er tiven gesucht wird. Im Literaturfeld führt dies dann kaum weniger mit den ersten beiden Gegenwellen zur Frage, wie das Verhältnis von Demokratie und im 20. Jahrhundert, in denen Demokratien zugrun- ihrem Gegenteil neu zu fassen sei. John Keane hat de gingen, zu tun haben. Nicht mehr Militärputsche dafür den Begriff des „neuen Despotismus“ vorge- und Panzer zerstören die Demokratie wie noch schlagen, um darauf hinzuweisen, dass undemo- zwischen den beiden Weltkriegen (1. Gegenwelle) kratische Netzwerke und Handlungsarenen über die und kurz nach dem Beginn der globalen Dekolo- Grenzen der zuvor vermeintlich deutlich unterschie- nisierung in den 1960er-Jahren (2. Gegenwelle), denen Regimegrenzen hinweg etabliert werden.17 sondern es sind überwiegend gewählte Regierun- 10 Vgl. Christopher H. Achen / Larry M. Bartels (2017). 18 Vgl. David Runciman (2019). 11 Vgl. Wendy Brown (2019). 19 Vgl. Philip Manow (2020). 12 Vgl. Michael J. Sandel (2020). 20 Nämlich insbesondere denen bei Larry J. Diamond (2020), Anna Lührmann / Staffan I. Lindberg (2019) und Steven Levitsky / Da- 13 Vgl. Michael Mann (2005). niel Ziblatt (2018). 14 Vgl. Christophe Buffin de Chosal (2017). 21 Obwohl Adam Przeworski (2019) im Titel des Buches noch von 15 Vgl. Jason Brennan (2016). „Crises of Democracy“ spricht und damit semantisch an den 16 Vgl. Daniel A. Bell (2015). Vorläuferdiskurs über Krisen der Demokratie anschließt, be- 17 Vgl. John Keane (2020). handelt das Buch in weiten Teilen Muster der Beendigung von Demokratie. 16
gen, die ihre Regierungszeit zur Aushöhlung von Schlechte Zeiten demokratischen Institutionen, zur Überwindung von für die Demokratiepädagogik? Mechanismen der Gewaltenteilung (Checks and Ba- lances) und zur Schwächung zivilgesellschaftlicher Um die Demokratie ist es also leider nicht so gut be- Akteure und Strukturen verwenden.22 Genau hierin stellt, wie wir es gerne hätten und wie es auch viele liegt auch die Ursache dafür, dass die gegenwärtige Demokratietheorien allzu idealisierend angenom- Form der Entdemokratisierung oft nur schwer und men haben. Demokratie scheint – so ein Resümee noch öfter zu spät erkannt wird. Adam Przeworski der angeführten Literatur – weniger widerstands- führt ein fiktives Szenario von elf Schritten an, um fähig, weniger gut darin, ihre Versprechen zu erfül- solch einen Verlauf der Entdemokratisierung zu len, und als Folge auch weniger gut gerechtfertigt beschreiben. Er beginnt in einer demokratischen zu sein, als wir so gerne glauben mögen. Zugleich Gegenwart der USA. Dann werden Gesetze be- enthält Demokratie sogar spezifisch demokratische schlossen, die zur Herstellung innerer Sicherheit be- Defizite – es seien aus der Literatur hier nur die stimmte Grundrechte einschränken, besonders die vergleichsweise lange Zeit für politische Entschei- Meinungsfreiheit. In weiteren Schritten werden neue dungen oder die vielleicht inhärente Tendenz zum Richter mit einer die Regierung stützenden Agenda Populismus und zur Auswahl mittelmäßigen politi- eingesetzt, das Wahlrecht und die Möglichkeit, die schen Personals genannt. Wahlkreise neu zu definieren, werden so geändert, dass die Regierung davon profitiert. Außerdem wer- Zu welcher Demokratie den Überwachungs- und Präventivkompetenzen leitet die Demokratiepädagogik der Regierung gestärkt. Akteure der Zivilgesellschaft, die sich oppositionell äußern, werden finanziell und Heranwachsende an? medial geschwächt. Nach der Wiederwahl des Prä- Zur idealen oder realen sidenten bedient dieser sich zunehmend des Mittels Demokratie? von Exekutiventscheidungen wie Dekreten, statt das Parlament in die Gesetzgebung einzubeziehen. Der In klassischen Rechtfertigungen von Demo- entscheidende Punkt ist, dass keiner dieser Schritte kratie als Antwort auf die Frage, warum Demokratie einzeln und für sich betrachtet den Übergang von besser sei als alle anderen politischen Ordnungen, Demokratie zur Autokratie vollführt. Dann würde wird dessen ungeachtet aber zumeist die Annah- man nämlich auch Proteste und entsprechende Re- me, Demokratie könne ihre Versprechen zumindest aktionen anderer Institutionen oder in den Medien einigermaßen erfüllen, wenigstens implizit voraus- erwarten. Zusammengenommen aber beschädigen gesetzt. Wenn dies aber in der „real existierenden Przeworskis Schritte – und zahlreiche analoge Ver- Demokratie“ nicht mehr selbstverständlich ist, dann kettungen vergleichbarer Einzelmaßnahmen – die stellen sich eine ganze Reihe von Anschlussfragen. Demokratie bis zur Unkenntlichkeit. Genau dieses Eine davon wird schließlich zu einer zentralen Frage Format der gegenwärtigen Entdemokratisierung mit für die Demokratiepädagogik: Zu welcher Demo- für sich genommen nicht entscheidenden Schritten, kratie leitet die Demokratiepädagogik Heranwach- die aber alle auf einer schiefen Ebene liegen, macht sende an? Zur idealen oder realen Demokratie? Mit es für die Demokratie und die Demokrat*innen so Verweis auf die Entwicklung der Motivation zur De- schwer, sowohl den Prozess zu erkennen als auch auf mokratie wird in der Demokratiepädagogik oft eine ihn richtig und zum richtigen Zeitpunkt zu reagieren. ideale Demokratie vorausgesetzt. Wer würde schon für eine durch Lobbyismus, Korruption und Apathie geprägte Postdemokratie, die zudem höchst fragil ist, demonstrieren, kämpfen und vielleicht sogar sein Leben aufs Spiel setzen? Wen könnte man für die gefährdete und gar nicht so resiliente reale Demo- 22 Vgl. Larry J. Diamond (2020) und Anna Lührmann / Staffan I. Lindberg (2019). kratie der Gegenwart mit all ihren Irrationalitäten, 17
ihren Machtge- und -missbräuchen, ihrer Langsam- Zweitens erfordert die Orientierung und realis- keit etwa im Angehen drängender ökologischer tische Einschätzung von Handlungs- und Verände- Probleme und ihrer Anfälligkeit für Populismus und rungsmöglichkeiten in der realen Demokratie eine so viele hässliche Anteile ganz andere Kompetenz- im Menschen – auch De- Auch die Muster gegenwärtiger entwicklung als die, die mokratie schafft es nicht, beim Lernen in und mit Entdemokratisierung müssen Rassismus, Antisemitismus, idealisierter Demokratie Sexismus und generell grup- dabei Bestandteil einer realistischen möglich ist.23 Schüler*in- penbezogene Menschen Demokratiepädagogik sein, … nen sollten auch an das feindlichkeit zu verhindern – mögliche Scheitern politi- eigentlich begeistern? Es scheint also vieles für die scher Ambitionen herangeführt werden, anstatt die- eher idealisierende Beschreibung von Demokratie in se Erfahrung als motivationshemmend immer ver- der Demokratiepädagogik zu sprechen, wenn man meiden zu wollen. Dazu müssten Pädagog*innen die Motivation zur Demokratie mitbedenkt. in der Lage sein, auch im politischen Scheitern die Möglichkeit positiven Lernens und der Entwicklung demokratischer Überzeugungen zu erkennen. Dies Plädoyer für eine realistische ist für die Demokratiepädagogik wahrscheinlich ein Demokratiepädagogik eher mühsames Unterfangen, aber angesichts der Entwicklung der Demokratie ist es wichtig, ein klares Es spricht aber noch mehr dagegen, und hier sind Bild der Demokratie zu vermitteln, das auch all ihre insbesondere zwei Dinge zu nennen. Erstens ist Schattenseiten und problematischen Anteile mit- die Enttäuschung darüber, dass die Demokratie, transportiert. Auch die Muster gegenwärtiger Entde- die Heranwachsende in der Realität erfahren, ganz mokratisierung – wie bei Przeworskis elf Schritten anders ist als die, in der sie pädagogisch sozialisiert – müssen dabei Bestandteil einer realistischen De- werden sollten, vorprogrammiert. In der realen De- mokratiepädagogik sein, denn ihre Kenntnis ist Vo- mokratie ist die erlebte raussetzung für die noch Wirkmächtigkeit eigener wichtigere zu vermittelnde …denn ihre Kenntnis ist Voraus Einstellungen und Hand- Kompetenz, Demokratie in lungen ja sehr viel gerin- setzung für die noch wichtigere all ihrer Schwäche und mit ger als in den allermeisten zu vermittelnde Kompetenz, all ihren Mitteln schützen Planspielen, Simulationen Demokratie in all ihrer Schwäche und zum Besseren entwi- und ähnlichen Lernformen und mit all ihren Mitteln schützen ckeln zu können. der Pädagogik. Vielleicht Aus diesem letzten nicht sichtbar für die Päda- und zum Besseren entwickeln Punkt ergibt sich eine Kon gog*innen, weil es zeitlich zu können. sequenz für die realistische erst später geschieht, ge- Demokratiepädagogik, auf raten Lernende in eine Parallelisierungsfalle, wenn die abschließend hingewiesen sei: Im Bereich der sie Erwartungen aus der Lernerfahrung mit ideali- politischen Bildung wird zuweilen darüber debattiert, sierter Demokratie in die reale Demokratie übertra- was wichtiger sei: die Vermittlung von Wissen oder gen wollen. Ob Menschen mit einer solchen Ent- die von Kompetenzen. Gerade die Demokratiepäda- täuschung langfristig überzeugte Demokrat*innen gogik neigt in ihrer zunächst sehr überzeugenden sind und bleiben, scheint sehr zweifelhaft. Im Sinne pragmatistischen Ausrichtung und aufgrund ihrer einer realistischen Demokratiepädagogik, die solche Parallelisierungsfallen vermeiden will, erweist sich demnach die politische Projektarbeit als besonders 23 Dies hat in der Demokratiepädagogik etwa Tilman Grammes gut geeignete Lernform – solange sie ausführlich re- immer wieder eingefordert und auf die „systemischen Grenzen“ zwischen Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Lebens- flexiv begleitet wird. form hingewiesen (etwa: Grammes 2010). 18
ursprünglichen Intention, die starre Wissenszentrie- Die realistische Demokratiepädagogik gebe mir rung der alten politischen Bildung zu überwinden, die Einsicht in die Dinge in der Demokratie, die zuweilen dazu, sich überwiegend auf Kompetenzen ich durch politisches Handeln wahrscheinlich zu fokussieren. Die Kompetenzen, die nötig sind, nicht ändern kann, reale Demokratie zu bewahren und zu entwickeln, sie gebe mir auch die Kompetenzen, die Dinge setzen aber historisches, empirisches und theoreti- zu ändern, die ich ändern kann, sches Wissen darüber voraus, wie Demokratie ver- und sie gebe mir das normative Rüstzeug dafür, gehen kann und tatsächlich vergeht. Auch das Wissen Demokratie trotz der nicht änderbaren Dinge über Handlungsmöglichkeiten und ihre Begrenzun- für die gegenwärtig beste aller erkenn baren gen sowie über die Bedingungen, diese Begrenzun- Möglich keiten politischer Ordnung halten zu gen verändern zu können, ist unerlässlich für den können. Erwerb von demokratischen Kompetenzen. Eine re- alistische Demokratiepädagogik ist also gleicherma- ALEXANDER WEISS ist Privatdozent für Politikwissenschaft ßen an Wissensvermittlung und am Erwerb von an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter Kompetenzen orientiert. In freier Anlehnung an das für Politische Theorie an der Helmut-Schmidt-Universität in Gelassenheitsgebet des Realisten Reinhold Niebuhr Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie, besonders der global „vergleichenden ließe sich die sich daraus ergebende Aufgabe wie Demokratietheorie”, über die er 2018 habilitierte, und im Zu- folgt formulieren: sammenhang von Demokratietheorie und Demokratiepädago- gik sowie in Theorien von Kinderrechten. LITERATUR ACHEN, CHRISTOPHER H., LARRY M. BARTELS (2017): Central European Experience. In: Astrid Lorenz, Lisa H. Democracy for Realists. Why Elections Do Not Produce Anders (eds.): Illiberal Trends and Anti-EU Politics in East Responsive Government. Princeton University Press. Central Europe. Springer, S. 301-321. BELL, DANIEL A. (2015): The China Model. Political Meritocracy KEANE, JOHN (2020): The New Despotism. Cambridge MA, and the Limits of Democracy. Princeton University Press. London: Harvard University Press. BOESE, VANESSA A., STAFFAN I. LINDBERG & ANNA LÜHR- LEVITSKY, STEVEN UND DANIEL ZIBLATT (2018): How Demo- MANN (2021): Waves of autocratization and democratiza- cracies Die. Crown. tion: a rejoinder. Democratization 28(6): 1202-1210. LÜHRMANN, ANNA UND STAFFAN I. LINDBERG (2019): A third BRENNAN, JASON (2016): Against Democracy. Princeton Uni- wave of autocratization is here: what is new about it? De- versity Press. mocratization 26(7): 1095-1113. BROWN, WENDY (2019): In the Ruins of Neoliberalism. The MANN, MICHAEL (2005): Dark Side of Democracy. Cambridge Rise of Antidemocratic Politics in the West. University Press. BUFFIN DE CHOSAL, CHRISTOPHE (2017): The End of Demo- MANOW, PHILIP (2020): Die (Ent-)Demokratisierung der De- cracy. Tumblar House. mokratie. Suhrkamp. CROUCH, COLIN (2008): Postdemokratie. Suhrkamp. NONN, CHRISTOPH (ed.) (2020): Wie Demokratien enden. DIAMOND, LARRY J. (2020): Breaking Out of the Democratic Von Athen bis Putins Russland. Ferdinand Schöningh. Slump. Journal of Democracy 31(1): 36-50. PRZEWORSKI, ADAM (2019): Crises of Democracy. Cambridge FUKUYAMA, FRANCIS (1992): Das Ende der Geschichte. Wo University Press. stehen wir? Kindler. RUNCIMAN, DAVID (2019): How Democracy Ends. Profile GRAMMES, TILMAN (2010): Anforderungen an eine Didaktik Books. der Demokratie. In: Himmelmann, Gerhard/Lange, Dirk SANDEL, MICHAEL J. (2020): Vom Ende des Gemeinwohls: (ed.): Demokratiedidaktik. Impulse für die Politische Bil- Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zer- dung. Springer, S. 201-220. reißt. S. Fischer. HUNTINGTON, SAMUEL P. (1991): Democracy’s Third Wave. V-DEM INSTITUTE (2021): Autocratization Turns Viral. Demo- Journal of Democracy 2(2): 12-34. cracy Report 2021. Göteburg. KAROLEWSKI, IRENEUSZ PAWEŁ (2020): Towards a Political Theory of Democratic Backsliding? Generalising the East 19
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