FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV

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FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
Heft 107 / 2021

GEGEN VERGESSEN
FÜR DEMOKRATIE

                                                             Gegen Vergessen

                                          FÜR DEMOKRATIE
                                          Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Schwerpunktthema:
Politische Umgangsformen
weitere Themen:   ■ Interviewmit Zeitzeugin Wendelgard von Staden
                  ■ General Rommel und unsere Erinnerungskultur

Informationen zur politischen Bildungsarbeit
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
EDITORIAL

                Liebe Freundinnen und Freunde von
                Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.!

                Die Bewältigung der Corona-Pandemie stellt die wohl größte politi-                      das Recht systematisch nicht beachtet wird. Die teilweise emotional
                sche und gesellschaftliche Herausforderung für die Bundesrepublik                       geführte Diskussion darüber, ob sich die Verwaltungsgerichte nicht
                Deutschland seit ihrem Bestehen dar. Das Bündel an Maßnahmen,                           zu stark durch die medial vermittelten Schreckensszenarios haben
                mit denen Gesetzgeber, Regierung und Verwaltung auf Bundes-                             einschüchtern lassen, gehört ebenfalls zu einer funktionierenden
                und Länderebene versuchen, eine weitere Ausbreitung der Pande-                          Demokratie. Kontraproduktiv erscheint dagegen eine Rhetorik, die
                mie zu verhindern und die Zahl der Opfer zu begrenzen, reicht von                       sich demonstrativ nicht mehr auf die Komplexität des Gegenstan-
                schlichten Verhaltensempfehlungen über den Aufbau von Impfzen-                          des und auf sachliche Argumente einlässt.
                tren und die Bereitstellung von Finanzhilfen bis hin zu nächtlichen
                Ausgangssperren, Versammlungsverboten und Betriebsschließun-                            Wer mit düsterem Gestus die „Corona-Diktatur“ beschwört, wer
                gen. Dadurch geraten auch die Staatsstrukturprinzipien, auf denen                       Paragraf 5 des Infektionsschutzgesetzes, der den Erlass von Rechts-
                unser Gemeinwesen fußt – Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus                          verordnungen ermöglicht, als „Hindenburg-Klausel“ desavouiert,
                und Sozialstaatlichkeit – unter Druck.                                                  wer der „Erosion des Rechtsstaats“ das Wort redet, der will in aller
                                                                                                        Regel nicht mehr in den Austausch treten, sondern lediglich seiner
                In den vergangenen Monaten sind viele der getroffenen Maßnah-                           Wut und Enttäuschung Raum geben und Aufmerksamkeit gene-
                men im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den Grundrechten und                          rieren.
                anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben kritisch hinterfragt wor-
                den. Das ist notwendig in einer lebendigen Demokratie, die von der                      Es stellt sich aber nicht erst seit der Pandemie die Frage, wie die Kul-
                offenen Auseinandersetzung lebt. Das gilt gerade auch in Zeiten                         tur der politischen Auseinandersetzung wieder in Bahnen gelenkt
                der Krise. Das Grundgesetz kennt zwar viele Regeln, die es zulassen,                    werden kann, die ein gemeinsames Lernen und Wachsen in der
                auf Krisen, Notstands- und Ausnahmesituationen besonders zu re-                         Auseinandersetzung ermöglicht. Mit genau diesem Thema befas-
                agieren (vgl. z. B. Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 11 Abs. 2 GG; Art. 35                  sen sich mehrere Beiträge in der vorliegenden Ausgabe der Zeit-
                Abs. 2 GG; Art. 91 GG; Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG; Art. 115 Abs. 2 S.                      schrift. Denn gerade die Fähigkeit zu konstruktiver Kommunikation
                3 GG), es stellt die Grundrechte aber nicht unter einen wie immer                       hält Demokratien in Krisen robust.
                gearteten Ausnahmevorbehalt. Als Abwehrrechte sollen diese Re-
                geln den Bürger gerade auch in Sondersituationen schützen. Jede                         Ich bin mir sicher, dass Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in
                hoheitliche Maßnahme muss vor ihrem Hintergrund gerechtfertigt                          seiner Überparteilichkeit eine Chance hat, hier im Bereich der poli-
                werden. Dabei spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine                         tischen Bildung wichtige Akzente zu setzen. Als neuer Vorsitzender
                zentrale Rolle, der bei Prognoseentscheidungen aber nicht leicht zu                     freue ich mich darauf, mit Ihnen gemeinsam diese Herausforderung
                operationalisieren ist.                                                                 anzunehmen.

                Wo schnell gehandelt werden muss, da werden auch Fehler ge-
                macht. Wenn einzelne Entscheidungen deshalb von Gerichten als
                unverhältnismäßig zurückgewiesen werden, ist dies allein noch
                kein Grund zur Beunruhigung. Denn Unrecht herrscht erst, wenn                           Ihr Andreas Voßkuhle

                 Die Einschränkungen infolge des Covid-19-Virus‘ machen es notwendig, dass viele Tätigkeiten der Geschäftsstelle weiterhin im
                 Homeoffice erledigt werden. Sie erreichen uns zuverlässig über info@gegen-vergessen.de.

                IMPRESSUM
                Herausgegeben von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Berlin
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                Titelgrafik: Atanassow-Grafikdesign, Dresden (unter Verwendung von Pixabay-Silhouetten)

                Redaktion: Liane Czeremin, Dr. Dennis Riffel, Theresa Ostertag, Thomas Stein, Dr. Michael Parak (V.i.S.d.P.)
                Lektorat: Ines Eifler, Görlitz
                Gestaltung: Atanassow-Grafikdesign, Dresden
                Druck: B&W MEDIA-SERVICE Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH
                Die Zeitschrift wird klimaneutral auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt.
                Die Herausgabe dieser Zeitschrift wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
                Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen keine Meinungsäußerung der Redaktion oder des Vereins dar.
                Die Redaktion überlässt die Entscheidung über eine Verwendung gendergerechter Sprache den Autorinnen und Autoren.
                ISSN 2364-0251

            2   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
INHALT
Inhaltsverzeichnis
Die Themen in dieser Ausgabe

SCHWERPUNKTTHEMA
Rechtsstaatlichkeit und demokratische Kultur in der Krise                                             4
Demokratische Streitkultur für eine pluralistische Gesellschaft                                       7
Interview: „Die Demokratie lässt sich nicht von der Zuschauerbank aus verteidigen“                  11

WEITERE THEMEN
Margot-Friedländer-Preis                                                                            14
Interview: „Wir waren entschlossen, unser Land zu einer guten Demokratie zu machen“                 16

BLOG MIGRATIONS-GESCHICHTEN.DE
Der neue Blog von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.                                            20
Antiasiatischer Rassismus (in Zeiten von Corona)                                                    20

ANALYSE UND MEINUNG
Mit „Rechten“ reden?                                                                                22
Hitlers Lieblingsgeneral und unsere demokratische Erinnerungskultur                                 25

AUS UNSERER ARBEIT
Vorstand wählt Andreas Voßkuhle zum Vorsitzenden                                                    28
Radikalisierung im Netz – wie Extremisten uns im Netz manipulieren                                  29
RAG Mittleres Ruhrgebiet: Lernen durch Erinnern                                                     31
RAG Münsterland: Zerreißproben, die Zeitzeugen nie vergessen konnten                                33
RAG Münsterland: Die Feuer dürfen nicht größer werden                                               34
RAG Rhein-Ruhr-West: Integrativ wirken, nicht eskalierend                                           37
RAG Rhein-Ruhr-West: Zum Schutze der Republik                                                       37
RAG Rhein Main: Erinnern in Auschwitz, auch an sexuelle Minderheiten                                39
RAG Mittelhessen: Ein vergessenes Opfer der NS-Krankenmorde:                                        40
Marianne Krombach aus Gießen

NAMEN UND NACHRICHTEN
Dem heiteren Aufklärer Walter H. Pehle                                                              43
Stefan Querl neuer Beauftragter gegen Antisemitismus in Münster                                     44

REZENSIONEN
Vom Überleben des Herzens. Eine Annäherung                                                          45
Gerettete und ihre RetterInnen. Jüdische Kinder im Lager Gurs                                       46

IMPRESSUM                                                                                             2
VORSTAND UND BEIRAT                                                                                 47

                                                   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021   3
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
SCHWERPUNKTTHEMA

                                                          Andreas Voßkuhle

                                                          Rechtsstaatlichkeit und
                                                          demokratische Kultur in der Krise
                                                          Menschen auf der ganzen Welt haben in den vergangenen Monaten mit bangem Blick in Richtung Amerika geschaut.
                                                          Es lag allen deutlich vor Augen, dass die Geschehnisse dort international bedeutende Auswirkungen nach sich ziehen
                                                          würden. In Europa vermittelten die unvorstellbaren Abläufe während und nach den US-Präsidentschaftswahlen eine Ah-
                                                          nung davon, was auch europäischen Gesellschaften in Hinsicht auf die politische Kultur in Zukunft drohen könnte. Die
                                                          Stürmung des Kapitols in Washington von aufgebrachten Anhängern Donald Trumps am 6. Januar 2021 markierte einen
                                                          traurigen Höhepunkt der Missachtung demokratischer Institutionen und Verfahren in den USA.

                                                          Doch auch in Europa sind sowohl die                      auf das Erbe der Französischen Revolution                einen nachhaltigen Erfolg. Vor dem Hin-
                                                          Rechtsstaatlichkeit als auch die demo-                   und des britischen Parlamentarismus stüt-                tergrund des grausamen Krieges und des
                                                          kratischen Gepflogenheiten bereits unter                 zen. Daneben schauten progressive Kräfte                 Völkermordes an den Juden beschlos-
                                                          Druck geraten. So haben wir in einzelnen                 schon damals auf die USA, allerdings nicht               sen die Mütter und Väter des deutschen
                                                          EU-Staaten eine Entmachtung der Verfas-                  mit bangem, sondern mit bewundern-                       Grundgesetzes, in der neuen Verfassung
                                                          sungsgerichte erlebt, und rechtspopulis-                 dem Blick. Vor allem die optimistischen                  die Demokratie und den Rechtsstaat eng
                                                          tische Bewegungen bemühen sich vieler-                   Beobachtungen des französischen Rechts-                  miteinander zu verzahnen.
                                                          orts zunehmend, gängige demokratische                    wissenschaftlers und Philosophen Alexis
                                                          Spielregeln außer Kraft zu setzen. Was ist               de Tocqueville „Über die Demokratie in                   Zusammenwirken von Rechtsstaat
                                                          da geschehen, und wie können wir dem                     Amerika“ hatten großen Einfluss auf die                  und Demokratie
                                                          entgegenwirken?                                          Europäer.
                                                                                                                                                                            Die Demokratie sichert die Selbstbestim-
                                                          Erfolgsgeschichte der Demokratie                         Auch Abgeordnete der Frankfurter Pauls-                  mung des Volkes, indem sie die Bildung,
                                                                                                                   kirche beriefen sich bei ihrem Entwurf für               Legitimation und Kontrolle derjenigen
                                                          Zunächst gilt es sich bewusst zu machen,                 eine Verfassung unter anderem auf die                    Organe organisiert, die staatliche Herr-
                                                          dass die Entwicklung von Demokratie                      1835 erschienene Schrift von Tocqueville.                schaftsgewalt gegenüber der Bürgerin
                                                          und Rechtsstaat in Europa seit dem Ende                  Der Verfassungsentwurf der Paulskirchen-                 und dem Bürger ausüben. Der Rechts-
                                                          des Zweiten Weltkrieges vor allem eine                   versammlung begründete dann eine par-                    staat zielt hingegen auf Begrenzung und
                                                          Erfolgsgeschichte ist, die ihren Ursprung                lamentarisch-demokratische      Traditions-              Bindung staatlicher Herrschaftsgewalt im
                                                          nicht erst 1945 hatte.                                   linie in Deutschland, die zwar mehrfach                  Interesse der Sicherung individueller Frei-
                                                                                                                   gebrochen wurde, sich jedoch schließlich                 heit – besonders durch die Anerkennung
                                                          Wichtige Meilensteine für diese Erfolgs-                 durchsetzte. Indes brachten hier erst die                der Grundrechte, der Gesetzmäßigkeit
                                                          geschichte haben schon die europäischen                  bitteren Erfahrungen mit dem Scheitern                   der Verwaltung und durch unabhängige
                                                          Demokratiebewegungen in der Mitte des                    der Weimarer Republik und mit der Schre-                 Gerichte.
                                                          19. Jahrhunderts gesetzt. Sie konnten sich               ckensherrschaft des Nationalsozialismus
                                                                                                                                                                            Diese Konzeption hat nicht nur einen der
                                                          Der Sturm auf das Kapitol in Washington D.C. am 6. Januar ist zum Sinnbild für die Krise der politischen Kultur   liberalsten und offensten Staaten der Welt
                                                          in den USA geworden.                                                                                              ermöglicht, sie hat auch außergewöhnli-
                       Foto: Tyler Merbler / flickr.com

                                                                                                                                                                            chen Wohlstand und sozialen Ausgleich
                                                                                                                                                                            befördert. In den Nachkriegsjahrzehnten
                                                                                                                                                                            setzte sich der demokratische Rechtsstaat
                                                                                                                                                                            in immer mehr Ländern durch, bis der Fall
                                                                                                                                                                            des Eisernen Vorhangs einige Beobachte-
                                                                                                                                                                            rinnen und Beobachter veranlasste, den
                                                                                                                                                                            endgültigen Sieg von Demokratie und
                                                                                                                                                                            Rechtsstaat zu verkünden und das „Ende
                                                                                                                                                                            der Geschichte“ (Francis Fukuyama) aus-
                                                                                                                                                                            zurufen.

                                                                                                                                                                            Die Gewissheit der Nachkriegsgeneration
                                                                                                                                                                            und ihrer Nachfahren, auf dem richtigen
                                                                                                                                                                            Weg zu sein, ist plötzlich für viele überra-

                   4                                      Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
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Foto: Arne Schmidt / Konzeptautoren.de

                                         Plakate für eine Pro-Europa-Demonstration in Berlin 2017. Die Gewissheit der Nachkriegsgeneration und ihrer Nachfahren, auf dem richtigen Weg zu sein, ist plötzlich
                                         verloren gegangen.

                                         schend verloren gegangen. Dies lässt sich               chologie (Stichwort: „Wutbürger“, „dif-                 Möllers treffend bemerkt hat: „Moralis-
                                         vielfältig begründen. Einerseits mit dem                fuse Abstiegsängste“), bestimmte Gesell-                mus und politische Empfindsamkeit er-
                                         rasanten sozialen Wandel, andererseits                  schaftsschichten zu pathologisieren. Dies               setzen weder Argumente noch politische
                                         mit Krisen auf verschiedenen Ebenen:                    lenkt Wasser auf die Mühlen der Populis-                Konflikte.“ Deshalb sollte man den Popu-
                                         etwa der internationalen Finanzkrise, der               ten, die den anti-elitären Affekt gern be-              lismusvorwurf sparsam verwenden.
                                         europäischen Staatsschuldenkrise, der                   feuern, indem sie auf eine herablassende
                                         Migrationskrise, der Klimakrise und nun                 Haltung des (urbanen) Akademikermilieus                 Auch von dem Versuch, populistischen
                                         der Corona-Pandemie. Hinzu kommen                       gegenüber der „normalen“ Bevölkerung                    Strömungen das Wasser abzugraben, in-
                                         Rückschläge in den internationalen Bezie-               hinweisen. Mittlerweile haben diese po-                 dem man ihre Protagonisten demonstrativ
                                         hungen und das Aufkommen neuer For-                     pulistischen Bewegungen und Parteien                    aus dem demokratischen Diskurs aus-
                                         men des Terrorismus. Viele Menschen –                   mit ihrem Hang zu dreisten Provokatio-                  schließt, halte ich jenseits der durch das
                                         so die Diagnose – hat dieser andauernde                 nen und Lügen sowie über die intensive                  Grundgesetz gezogenen Grenzen wenig.
                                         Krisenmodus nachhaltig verunsichert.                    Nutzung digitaler Kommunikationswege                    In der Demokratie muss darauf geachtet
                                                                                                 eine Polarisierungsdynamik der öffentli-                werden, nicht in einen moralischen Abso-
                                                                                                 chen Debatte erzeugt, der demokratische                 lutismus zu verfallen, der Gegenpositio-
                                         Demokratische Kultur und                                Akteure kaum mehr Einhalt gebieten kön-                 nen mit Intoleranz begegnet.
                                         Kommunikation                                           nen. Was kann hier getan werden?
                                                                                                                                                         An den Mühen der politischen Ebene im
                                         Die Schwierigkeiten zahlreicher Menschen                Wege aus der Polarisierung                              Rahmen demokratischer Verfahren führt
                                         aus der Mitte der Gesellschaft, mit sozia-                                                                      dabei kein Weg vorbei. Erforderlich ist
                                         lem Wandel und Krisen umzugehen, hat                    Zunächst sollten wir etwas Ballast abwer-               eine beständige argumentative Ausein-
                                         die Politik in den vergangenen Jahren viel-             fen: Schrille Töne, persönliche Angriffe,               andersetzung mit einzelnen politischen
                                         leicht zu wenig beachtet. Denn hier geht                vermeintliche Tabubrüche – wo die Grenze                Forderungen. Gerade auch in „heiklen“
                                         es um Bürgerinnen und Bürger, die nicht                 zwischen lebhafter Auseinandersetzung                   Politikfeldern müssen demokratische Par-
                                         offensichtlich benachteiligt sind, sondern              und Verrohung der politischen Sitten ver-               teien Farbe bekennen und konkrete Hand-
                                         eher unter dem Radar der öffentlichen Auf-              läuft, wird immer umstritten sein. Allein:              lungsoptionen aufzeigen, damit die Wäh-
                                         merksamkeit ein normales Leben leben.                   Fehlendes demokratisches Bewusstsein                    lerinnen und Wähler Alternativen haben.
                                                                                                 ist dadurch nicht zwingend indiziert. Die
                                         Statt kommunikativ auf die Bedürfnisse                  Demokratie des Grundgesetzes ist keine                  Damit kein Missverständnis entsteht: So-
                                         der Menschen einzugehen, hat sich bei                   „Kuschel-Demokratie“. Sie lebt von der                  weit es zu eindeutigen rechtlichen Grenz-
                                         einigen Akteuren eine Neigung entwi-                    leidenschaftlichen Auseinandersetzung,                  überschreitungen kommt – seien es
                                         ckelt, mit soziologischen Großdeutungen                 zu der auch eine kraftvolle Rhetorik und                Schmähungen und Volksverhetzungen
                                         (Stichwort: „Globalisierungsverlierer“) und             prägnante Zuspitzungen gehören. Oder                    durch einzelne Politikerinnen und Politiker,
                                         ihren Übergängen in die kollektive Psy-                 wie der Rechtswissenschaftler Christoph                 seien es Verstöße gegen demokratische »

                                                                                                                                                Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021          5
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                                           Politische Bildung soll kein Besserwissen vorsetzen, sondern als Empowerment verstanden werden. Hier ein Workshop zum ARGUTRAINING WIeDERSPRECHEN FÜR DEMOKRATIE.

                               » und rechtstaatliche Spielregeln – müssen                         paternalistisches Besserwissen vorsetzen.              Die Situation der Gesellschaften in den
                                           diese konsequent sanktioniert werden.                  Deshalb brauchen wir politische Bildung,               USA und Europa lässt sich nicht gleichset-
                                           Das ist zuvörderst Aufgabe der staatlichen             verstanden als Empowerment.                            zen, und auch innerhalb der EU bestehen
                                           Institutionen und der unabhängigen Ge-                                                                        aus der historischen Entwicklung heraus
                                           richte. Bei dieser anspruchsvollen Aufga-              Herausforderungen durch                                große Unterschiede im Grad der Polari-
                                           be sollte eine wache Zivilgesellschaft den             Digitalisierung                                        sierung. So haben sich in der Bundesre-
                                           Verantwortlichen beständig auf die Finger                                                                     publik der über Jahrzehnte entwickelte
                                           schauen. Und wo staatliche Sicherheitsor-              Eine der größten Herausforderungen bil-                starke Mittelstand und eine auf Interes-
                                           gane auf europäischer Ebene durch popu-                det hierbei die Verlagerung der politischen            senausgleich ausgerichtete Regierungspo-
                                           listische Regierungen schon korrumpiert                Diskussion aus dem Alltag – Arbeitsplatz,              litik lange Zeit stabilisierend ausgewirkt.
                                           oder beseitigt worden sein sollten, müssen             Sport, Freundes- und Familienkreis – in die            Aber auch die deutsche Demokratie ver-
                                           die Mechanismen der Europäischen Union                 digitalen Netzwerke.                                   trägt sich nicht mit der seit einigen Jah-
                                           und der Völkerrechtsgemeinschaft greifen.                                                                     ren wachsenden Tendenz, Feindbilder zu
                                           Jedes Zurückweichen führt hier unweiger-               Indem ihre Algorithmen zur Herausbildung               schüren. Im Gegenteil: Die Anerkennung
                                           lich in den Abgrund!                                   von „Filterblasen“ und „Echokammern“                   des Anderen als gleich und frei, die Ach-
                                                                                                  beitragen, wird uns Einheit vorgespie-                 tung des Anderen in seiner politischen
                                           Schließlich gilt es, mit politischer Bildung           gelt, wo in Wirklichkeit Vielfalt das Leben            Überzeugung unter Verzicht auf einen
                                           bestehenden Fehlvorstellungen über die                 prägt. In den USA hat sich seit dem Auf-               Absolutheitsanspruch, die Offenheit für
                                           Funktionsweise des demokratischen Pro-                 kommen der Tea-Party-Bewegung – also                   Argumentation und, wenn nötig, Kom-
                                           zesses und zu hohen Erwartungen an die                 schon vor Donald Trump – gezeigt, wie                  promiss, die Loyalität gegenüber einer ak-
                                           Politik entgegenzuwirken. Gerade das                   diese digitalen Mechanismen für gezielte               tuellen Mehrheitsentscheidung. Auf die-
                                           Zusammenwirken von demokratischem                      Falschinformationen, Polarisierungen und               ses demokratische Ethos ihrer Bürgerinnen
                                           Mehrheitsprinzip und der Begrenzung der                den Aufbau von Feindbildern genutzt                    und Bürger ist die deutsche – wie jede –
                                           Macht der Mehrheit durch den Rechtsstaat               werden können. Als Folge sehen wir dort                Demokratie angewiesen. ■
                                           wird in seiner Notwendigkeit landläufig                heute eine gespaltene Gesellschaft, in der
                                           unterschätzt. Unser Grundgesetz will den               das einst tiefe Gefühl der US-Amerikaner
                                           kritischen und informierten, vor allem aber            für die Idee eines „Common Sense“ im
                                           neugierigen Bürger. Bildungsangebote                   Sinne ihres Gründervaters Thomas Paine
                                           sollen ihm Orientierung bieten, aber kein              zu schwinden scheint.

                                           Prof. Dr. Dres. h. c. Andreas Voßkuhle ist Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D.,
                                           Hochschullehrer und Vorsitzender von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

                   6                       Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
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                                          Manon Westphal

                                          Demokratische Streitkultur für eine
                                          pluralistische Gesellschaft
                                          Orientierungen für die politische Bildung

                                          Unsere Gesellschaft ist von unterschiedlichen Interessen, Identitäten und Weltanschauungen geprägt. Der damit verbun-
                                          dene tiefgreifende Pluralismus ist eine gesellschaftliche Realität, die liberale Gesellschaften anerkennen müssen. Daraus
                                          ergibt sich allerdings die Herausforderung, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und Konflikte auszutragen. Für ei-
                                          nen erfolgreichen Umgang mit dieser Herausforderung braucht es eine Streitkultur, die demokratische Werte und Prinzi-
                                          pien lebt und pflegt.

                                          Im Folgenden wird beschrieben, warum          Pluralismus, Konflikt und                     werden muss. Deshalb ist es aus zwei
                                          Pluralismus mit Konflikt einhergeht und es    demokratische Streitkultur                    Gründen wichtig, über Merkmale einer
                                          so wichtig ist, sich über Merkmale einer                                                    demokratischen Streitkultur nachzuden-
                                          demokratischen Streitkultur Gedanken zu       Eine demokratische Streitkultur ist insbe-    ken. Erstens ist Streit nicht gleich Streit.
                                          machen. Anschließend wird ein Vorschlag       sondere deshalb wichtig, weil Pluralismus     Es gibt verschiedene Formen des Streitens
                                          unterbreitet, welche Merkmale eine de-        nicht einfach nur harmonische Vielheit ist.   und eine funktionierende Demokratie ist
                                          mokratische Streitkultur auszeichnen soll-    Pluralismus birgt Konfliktpotenzial, weil     auf bestimmte angewiesen. Demokrati-
                                          ten. Es werden vier Prinzipien beschrieben:   Bürger*innen auf Grundlage ihrer Inter-       sche Streitkultur ist ein Sammelbegriff für
                                          Dissenstoleranz, Inklusivität, Einigungsfä-   essen, Identitäten und Weltanschauungen       die Prinzipien demokratiefreundlicher und
                                          higkeit und Ergebnisvorläufigkeit. Welche     unterschiedliche Ansprüche daran stellen,     -förderlicher Streitformen. Zweitens genü-
                                          Kompetenzen brauchen Bürger*innen,            wie die Gesellschaft und deren Regeln ge-     gen die besten Prinzipien nicht, wenn sie
                                          um selbstbestimmt und im Sinne einer          staltet sein sollten.                         nicht Teil der gesellschaftlichen Praxis sind
                                          demokratischen Streitkultur am Streit mit                                                   und mit Leben gefüllt werden.
                                          anderen teilnehmen zu können? Der Bei-        Die Verpflichtung liberaler Demokratien
                                          trag gibt hier Impulse, welche Rolle die      den Pluralismus anzuerkennen, be-                       Was aber sind die Merkmale
                                          politische Bildung ein-                       deutet, dass Streit als ein nor-                          einer demokratischen Streit-
                                          nehmen kann.                                  maler, alltäglicher Modus                                   kultur? Was heißt es, Kon-
                                                                                        demokratischen                                                flikte auf eine demokra-
                                                                                        Zusammenlebens                                                  tiefreundliche Art und
                                                                                        anerkannt                                                        Weise auszutragen?    »
Grafik: Atanassow-Grafikdesign, Dresden

                                                                                                                               Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021   7
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                       » Prinzipien einer demokratischen                  Gesellschaften verändern und neue Sicht-        Zugeständnisse, nicht dadurch, dass die
                        Streitkultur                                      weisen entstehen, während andere an             Meinungsverschiedenheiten
                                                                          Relevanz verlieren, ist es notwendig, das       überwunden werden.
                        Ich schlage vier Prinzipien als elementare        Spektrum regelmäßig anzupassen. Zwei-           Weil Meinungsver-
                        Merkmale einer demokratischen Streitkul-          felsohne ist mit der so verstandenen In-        schiedenheiten
                        tur vor: Dissenstoleranz, Inklusivität, Eini-     klusivität ein Ideal beschrieben, dem die       in pluralistischen
                        gungsfähigkeit und Ergebnisvorläufigkeit.         politische Realität oft nicht gerecht wird.     Gesellschaften
                        Damit ist Folgendes gemeint.                      Machtgefälle sind allgegenwärtig und            zahlreich sind und
                                                                          sorgen dafür, dass es für einige leichter       häufig kein Konsens
                        Dissenstoleranz: Eine demokratische Streit-       ist, sich politisch Gehör zu verschaffen,       gefunden wird, kann
                        kultur lebt davon, dass Mitglieder einer Ge-      als für andere. In einer inklusiven, de-        der Kompromiss
                        meinschaft gegenseitig anerkennen, dass           mokratischen Streitkultur ist es aber           eine wichtige
                        sie berechtigt sind, am politischen Streit        stets möglich, solche Umstände zu pro-          Möglichkeit sein.
                        teilzunehmen. Wo Andersdenkenden das              blematisieren und einzufordern, dass sich
                        Recht abgesprochen wird, für ihre Sicht-          das Spektrum verändert und erweitert.           Ergebnisvor-
                        weisen einzutreten und am politischen                                                             läufigkeit:
                        Prozess teilzuhaben, wird eine Grund-             Einigungsfähigkeit: Ein drittes Merkmal         Eine demo-
                        voraussetzung demokratischen Streits              einer demokratischen Streitkultur ist,          kratische
                        unterlaufen. Die Demokratietheoretikerin          dass sie nicht nur unterschiedliche Mei-        Streitkultur
                        Chantal Mouffe hat diesen Gedanken da-            nungen gegenüberstellt, sondern Eini-           lebt davon,
                        durch veranschaulicht, dass sie zwischen          gungen ermöglicht und als wichtige po-          dass die Be-
                        Feind*innen und Gegner*innen unter-               litische Leistungen wertschätzt. Politische     teiligten die
                        scheidet. Der ‚andere‘ soll nicht als ein         Entscheidungen sind zwar oft Ergebnisse         Vorläufigkeit
                        Feind betrachtet werden, den es zu zer-           von Mehrheitsentscheidungen, aber es            getroffener Entscheidungen akzeptieren.
                        stören gilt, sondern als ein ‚Gegner‘. Wir        gibt immer wieder Situationen, in denen         Demokratischer Streit ist ein fortlaufender
                        bekämpfen seine Ideen, aber er hat das            es wichtig ist, Einigungen zwischen wi-         Prozess, der kein Ende findet, indem strit-
                        Recht sie zu verteidigen. So verstanden ist       derstreitenden Positionen zu erreichen.         tige Fragen endgültig entschieden wer-
                        Dissenstoleranz ein elementarer Bestand-          Zum Beispiel, wenn allen Parteien der           den. Das hat unter anderem mit der Wan-
                        teil demokratischer Streitkultur: Die Ak-         Streitgegenstand so wichtig ist, dass sie       delbarkeit von Gesellschaften zu tun. Wo
                        teur*innen akzeptieren den Pluralismus            nicht bereit sind, eine Lösung zu akzep-        sich die in einer Gesellschaft vorhandenen
                        und die Notwendigkeit, sich mit anderen           tieren, die ihre Interessen außer Acht lässt.   Identitäten, Interessen und Sichtweisen
                        Sichtweisen auseinanderzusetzen.                                                                  stetig verändern, muss es auch möglich
                                                                          Einigung bedeutet nicht unbedingt Kon-          sein, die Regeln des gesellschaftlichen Zu-
                        Inklusivität: Ein zweites Merkmal ist Inklu-      sens. Manchmal gelingt es, einen Konsens        sammenlebens neu zu verhandeln.
                        sivität. Das Spektrum derjenigen, die am          zu finden. Das heißt eine Lösung, die alle
                        demokratischen Streit teilnehmen, sollte          Beteiligten für richtig halten. Wo dies nicht   Kompetenzen für die Praxis einer de-
                        nicht zu schmal sein. Es sollte alle Identitä-    möglich ist,            gibt es eine andere     mokratischen Streitkultur
                        ten, Interessen und Sichtweisen, die eine                                    Möglichkeit, sich
                                             demokratische Gesell-                                          zu einigen,   Eine demokratische Streitkultur lebt da-
                                               schaft prägen, best-                                           nämlich     von, dass Bürger*innen Streit als etwas
                                                     möglich abbil-                                            indem      potenziell Konstruktives erfahren und
                                                      den. Weil sich                                              man     über Kompetenzen verfügen, die ihnen
                                                                                                                  Kom-    ein Mitwirken am demokratischen Streit
                                                                                                              promisse    ermöglichen. Hier kann die politische
                                                                                                          bildet. Kom-    Bildung einen wichtigen Beitrag dafür
                                                                                                         promisse ent-    leisten, dass demokratische Streitkultur
                                                                                                          stehen durch    verstetigt wird. Folgend werden einige
                                                                                                             wechsel-     Kernkompetenzen benannt, die besonde-
                                                                                                                seitige   re Aufmerksamkeit verdienen. Es handelt
                                                                                                                          sich um Kompetenzen in der Kommuni-
                                                                                                                          kation, der Kritik, im Konflikt und Urteil.

                                                                                                                          Kommunikationskompetenzen: Eine Vor-
                                                                                                                          aussetzung ist, über die eigenen Sichtwei-
                                                                                                                          sen und die der anderen sprechen zu kön-
                                                                                                                          nen. Dabei sollten vielfältige Kommunika-
                                                                                                                          tionsformen berücksichtigt werden. Nicht
                                                                                                                          nur rationale Argumentation, sondern
                                                                                                                          auch Erzählungen eigener Erfahrungen

                   8    Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
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                                              chen Situationen gibt es unterschiedliche        Politische Institutionen sind zwar wichtig,
                                              Möglichkeiten zu entscheiden, wie man            weil sie politische Prozesse rahmen, aber
                                              mit dem strittigen Gegenstand umgeht –           Politik ist mehr. Der Prozess des Strei-
                                              oben wurden Mehrheitsentscheidungen              tens sowohl in politischen Institutionen
                                              und Kompromisse als Alternativen ge-             (z.B. im Parlament) als auch außerhalb
                                              nannt. Welche Konflikte auf dem einen            von politischen Institutionen (z. B. in der
                                              oder auf dem anderen Weg gelöst werden           Öffentlichkeit) ist ein mindestens genauso
                                              sollten, ist selbst eine politische Frage. Da-   wesentlicher Bestandteil von Politik.
                                              rum gehört zu dem Set an Konfliktkom-
                                              petenzen die Fähigkeit, einschätzen und          Politische Bildner*innen können Lernende
                                              aushandeln zu können, welcher Entschei-          für die Bedeutung einer demokratischen
                                              dungsmodus gerade geeignet ist.                  Streitkultur sensibilisieren. Teilnehmen heißt
                                                                                               nicht nur regelmäßig Stimmzettel in die
                                              Urteilskompetenzen: Streitkompetente             Wahlurne zu legen, sondern sich mit An-
                                              Bürger*innen müssen mithilfe von Bewer-          dersdenkenden aktiv auseinanderzuset-
                                              tungsmaßstäben fähig sein zu urteilen, wel-      zen. Kompetent urteilen heißt nicht nur,
                                              che ausgeschlossenen oder an den Rand            unter Parteien diejenigen zu bestimmen,
                                              gedrängten Sichtweisen es verdienen, be-         die die eigenen Interessen vertreten, son-
                                              rücksichtigt zu werden. Manche tragen zu         dern auch zu bewerten, wie auf der politi-
                                              einer demokratischen Streitkultur nicht bei,     schen Bühne gestritten wird.
                                              sondern schädigen sie. Ein Beispiel dafür
                                              sind menschenverachtende Positionen.             Der zweite Impuls: Die politische Bildung
                                                                                               könnte Orte bieten, an denen demokrati-
oder politischer Protest können wichtig       Implikationen für die                            scher Streit ganz praktisch eingeübt wird.
sein. Politische Bildung kann Bürger*in-      politische Bildung                               Kritikkompetenzen lassen sich darüber
nen darin unterstützen, unterschiedliche                                                       einüben, politischen Streit zu beobachten,
Kommunikationskompetenzen auszubil-           Was folgt für die Praxis politischer Bil-        zu beschreiben und zu bewerten. Kon-
den und vermitteln, dass es eine Band-        dung? Die ausgeführten Überlegungen              fliktkompetenzen bilden sich dadurch,
breite an legitimen Wegen gibt, politische    geben politischen Bildner*innen mindes-          dass Lernende mit Andersdenkenden
Anliegen zu äußern.                           tens zwei Impulse.                               streiten, Argumente für die eigene Sicht-
                                                                                               weise anführen, die der anderen prüfen
Kritikkompetenzen: Demokratischer Streit      Der erste Impuls: Wenn sie Wissen über           und gemeinsam nach Lösungen für Mei-
kann dann möglichst gut die Vielfalt in       Politik vermitteln, sollten sie dem Streit       nungsverschiedenheiten suchen. Politische
pluralistischen Gesellschaften einbinden      besondere Aufmerksamkeit widmen. Po-             Bildner*innen können Räume für demo-
und auf Wandel reagieren, wenn aus-           litische Bildung kann lehren, dass Streit        kratischen Streit im Kleinen schaffen, in
schließende Effekte bestehender Regeln        nichts Negatives, sondern der (Normal-)          denen Lernende sich und andere als streit-
sichtbar gemacht und politisiert werden.      Modus pluralistischer Gesellschaften ist.        kompetent erleben. Um die Bandbreite an
Das heißt, dass diese Ausschlüsse zu Ge-      Streit kann produktiv für die Demo-              Möglichkeiten, Streit zu führen und bei-
genständen von Streit werden. Kritikkom-      kratie sein, wenn                                zulegen, erfahrbar zu machen, könnten
petente Bürger*innen sind in der Lage,        er ‚richtig‘                                     unterschiedlich
Ausschlüsse und Marginalisierungen zu         geführt                                          kontroverse
identifizieren und unter Bezug auf das In-    wird.                                            Themen zum
klusivitätsversprechen der Demokratie zu                                                       Gegenstand
problematisieren. Welche Stimmen wer-                                                          gemacht
den gehört? Welche nicht? Welche wer-                                                          werden.
den an den Rand gedrängt, obwohl sie
berechtigte Interessen haben? Politische
Bildung kann Bürger*innen dabei unter-
stützen Debatten, durch die ‚Brille‘ dieser
Leitfragen zu betrachten und zu bewerten.

Konfliktkompetenzen: Es ist wichtig
Sichtweisen mitteilen und bestehende
Debattenlagen kritisieren zu können, aber
nicht hinreichend. Man muss ebenso fä-
hig sein, mit Situationen umzugehen, in
denen politische Konflikte aufbrechen
und unterschiedliche Meinungen oder
Forderungen aufeinandertreffen. In sol-                                                                                                         »

                                                                                        Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021      9
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
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                                                                                                                                                             Buchcover: GFVD
                              » Bildet sich am Ende Konsens oder wenigs-                                                                                                       ■ Literaturhinweise:
                                      tens ein Kompromiss? Auf diese Weise
                                      lernen Teilnehmer*innen zum einen ein                                                                                                    Willems, Ulrich:
                                      Spektrum an Lösungen kennen. Zum an-                                                                                                     Wertkonflikte als Herausforderung
                                      deren eignen sie sich einen Kompass an,                                                                                                  der Demokratie, Wiesbaden 2016
                                      mit dem sie durch die Konfliktlandschaft
                                      pluralistischer Gesellschaften navigieren                                                                                                Binder, Ulrich  /  Drerup, Johannes (Hg.):
                                      können.                                                                                                                                  Demokratieerziehung und die
                                                                                                                                                                               Bildung digitaler Öffentlichkeit,
                                      Fazit                                                                                                                                    Wiesbaden 2020

                                      Pluralistische Gesellschaften brauchen eine                                                                                              Widmaier, Benedikt / Zorn, Peter (Hg.):
                                      demokratische Streitkultur, denn Plura-                                                                                                  Brauchen wir den Beutelsbacher
                                      lismus geht Hand in Hand mit Konflikten.                                                                                                 Konsens? Eine Debatte der politi-
                                      Zu den Prinzipien einer demokratischen                                                                                                   schen Bildung, Bonn 2016
                                      Streitkultur gehören Dissenstoleranz, In-
                                      klusivität, Einigungsfähigkeit und Ergeb-                                                                                                Wohnig, Alexander:
                                      nisvorläufigkeit. Politische Bildner*innen                                                                                               Zum Verhältnis von politischem und
                                      können demokratische Streitkompeten-                                                                                                     sozialem Lernen. Eine Analyse von
                                      zen aktiv fördern, indem sie Wissen über                                     mitteln und das Austragen von Konflik-                      Praxisbeispielen politischer Bildung,
                                      das konflikthafte Wesen von Politik ver-                                     ten mit Lernenden praktisch einüben. ■                      Wiesbaden 2017

                                      Dr. Manon Westphal ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische The-                                                  Westphal, Manon:
                                      orie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Der Artikel ist eine gekürzte Fas-                                                  Kritik- und Konfliktkompetenz. Eine
                                      sung ihres gleichnamigen Beitrags in der neuen Publikation von Gegen Vergessen – Für                                                     demokratietheoretische Perspektive
                                      Demokratie e. V.: „Konstruktive Kommunikation in der Demokratie. Ein Baustein in der                                                     auf das Kontroversitätsgebot,
                                      politischen Bildung, Berlin 2020.                                                                                                        in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2018,
                                      Die Broschüre kann kostenfrei in der Geschäftsstelle von Gegen Vergessen – Für Demo-                                                     68. Jahrgang (13  – 14)
                                      kratie e.V. bestellt werden und steht auf der Homepage www.gegen-vergessen.de zum
                                      Download bereit.

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                                                              Stimmen gegen das Schweigen*
                                                                                                     Die syrische Schriftstellerin Wijdan Nassif und die Anwältin                  * Empfohlen von Rafik Schami,
 die Leute dazu, das
n, hören sie aber
n. Die Angst lässt uns
                                                                                                     Joumana Seif geben Frauen eine Stimme, die in Gefäng-                          Träger des Preises „Gegen
eren. Ich suche einen
                                                                                                     nissen und Folterkammern des syrischen Regimes gelitten                        Vergessen – Für Demokratie“
                                Stimmen gegen das Schweigen

e Angst beherrsche,

                                                                                                     haben. Sie haben den Erzählungen der Betroffenen zu-
erdrückung gibt
ksal von so vielen
                                                                                                                                                                                                                            Foto: GVFD-Archiv
an uns, unseren

                                                                                                     gehört und ihre erschütternden Berichte dokumentiert.
“ Nada

vor allem jedem
beste Mittel gegen                                                                                   Erstes Ziel des daraus entstandenen Buches ist es nicht,
Schami

                                                                                                     die Unmenschlichkeit des syrischen Regimes zu belegen –
                                                                                                     dies haben andere bereits getan. Es geht den beiden Autor-
                               Joumana Seif • Wejdan Nassif

                                                                      Joumana Seif • Wejdan Nassif

                                                                                                     innen vor allem darum, den Frauen eine Möglichkeit zu
                                                               Stimmen                               geben, ihre Stimmen zu erheben und über ihre Erfahrun-
                                                                   gegen das
                                                                Schweigen                            gen zu sprechen.
uro

                                                              Joumana Seif, Wejdan Nassif
                                                              Stimmen gegen das Schweigen                                                                                           „Ich möchte das Buch jedem
                                                              Hirnkost Verlag KG, Berlin 2020                                                                                        sensiblen, vor allem jedem
                                                                                                                                                                                     jungen Menschen empfehlen.
                                                              Hardcover, 126 Seiten, 12,00 €                                                                                         Es ist das beste Mittel gegen die
                                                                                                                                                                                     gefährliche Gleichgültigkeit.“
                                                              https://shop.hirnkost.de/
                                                              ISBN: 978-3-948675-62-2 (print) · 978-3-948675-63-9 (epub) · 978-3-948675-64-6 (pdf)                                                         Rafik Schami

                         10           Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
SCHWERPUNKTTHEMA
Interview

„Die Demokratie lässt sich nicht von der Zu-
schauerbank aus verteidigen“
Christine Lieberknecht wurde im November 2020 vom Vorstand einstimmig zur neuen stellvertretenden Vorsitzenden von
Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. gewählt. Die ehemalige thüringische Ministerpräsidentin tritt damit die Nachfolge
von Eberhard Diepgen an, der sein Amt nach 13 Jahren aus Altersgründen abgegeben hat. Im Interview berichtet sie über
ihre politischen Prägungen und über die Schwerpunkte, die sie in ihrer ehrenamtlichen Arbeit für den Verein setzen will.

Frau Lieberknecht, was hat Sie

                                                                                                                                            Foto: privat
bewogen, sich nach Ihrem Rückzug
aus der Thüringer Landespolitik
nun bei Gegen Vergessen – Für
Demokratie e.V. einzubringen?
Demokratie verträgt kein „Ohne mich“,
sie lebt von dem „Mit mir“, so hat es
sinngemäß unser erster Bundespräsident
Theodor Heuss einmal formuliert. Es ge-
hört zu meiner Lebenserfahrung, dass
sich die Demokratie von der Zuschau-
erbank aus nicht gewinnen und auch
nicht verteidigen lässt. Verteidigt wer-
den muss sie aber, und zwar jeden Tag
immer wieder neu. Dabei sind für mich
die Lehren aus den Diktaturen des 20.
Jahrhunderts, nicht zuletzt auch vor dem
Hintergrund meiner eigenen Familienge-
schichte, besonders wichtig.                Christine Lieberknecht.

Sie sind in Weimar geboren und leben        Gegensätze auf so engem Raum haben            re veranstaltet und Gespräche mit den
auch heute noch in dieser Region.           mich seit meiner Jugend beschäftigt.          Einwohnern von Hottelstedt initiiert, die
Es gibt kaum eine mittelgroße Stadt                                                       sich in den 1980er Jahren noch an vieles
in Deutschland, die über Jahrhunder-        Als Gemeindepfarrerin waren Sie               im Zusammenhang mit dem Konzentra-
te hinweg so sehr mit der wechsel-          in den letzten Jahren der DDR für             tionslager erinnern konnten. Sie waren
haften deutschen Geschichte und             das Gebiet zuständig, auf dem die             Zeitzeugen. Im ehemaligen Konzentra-
Kultur verwoben war wie Weimar.             Gedenkstätte Buchenwald liegt.                tionslager und dessen Umgebung habe
Wie hat die Geschichte der Stadt            Welche Bedeutung hatte dieser                 ich Führungen veranstaltet und damit
Ihr Denken beeinflusst?                     Umstand für Ihre tägliche Arbeit?             versucht, den ausschließlich auf den An-
Ich habe, abgesehen von meiner Studien-     Wenn man es historisch genau nimmt,           tifaschismus der DDR gerichteten Blick
zeit in Jena, mein ganzes Leben im Wei-     dann ist das Konzentrationslager auf al-      zu erweitern. Das alles hat mich geprägt.
marer Land, also unmittelbar „vor den       ter Hottelstedter Flur errichtet worden.
Toren der Stadt“ gelebt, bis heute. Meine   Hottelstedt war ein Filialort meines Pfarr-   Der Pfarrer Paul Schneider, Mitglied
Großeltern kamen vor dem Ersten Welt-       amts. Die Hottelstedter Bauern mussten        der Bekennenden Kirche, wurde
krieg aus Hannover und Darmstadt nach       für die Errichtung des Lagers ihr Land ver-   bereits vor Ausbruch des Zweiten
Weimar, um dort Kunst zu studieren.         kaufen oder wurden zwangsenteignet.           Weltkrieges in Buchenwald ermordet.
Später waren sie dem Bauhaus verbun-        Später wurde das Lager territorial nach       Er hätte damals sein Leben wahr-
den. Sie hatten fünf Söhne, von denen       Weimar eingegliedert. Ich war also nicht      scheinlich retten können, wenn er
drei den Krieg nicht überlebten. Gleich-    im rechtlichen Sinne für dieses Gebiet        sich den Bedingungen des Regimes
zeitig ist Weimar als Stadt der deutschen   zuständig, habe mich aber moralisch in        gebeugt hätte. Was haben Sie aus
Klassik, von Kunst und Kultur, nicht mehr   der Pflicht gesehen. Mich haben das un-       der Biografie von Schneider mitge-
zu denken ohne die Barbarei des natio-      erschrockene Auftreten des „Predigers         nommen, der als unbeugsamer
nalsozialistischen Konzentrationslagers     von Buchenwald“ und sein Widerstand           „Prediger von Buchenwald“ galt?
auf dem Ettersberg nur wenige Kilometer     gegen den Nationalsozialismus sehr in-        Diese Frage hat mich während meiner
von der Stadt entfernt. Diese extremen      teressiert. Ich habe dazu Jugendsemina-       pfarramtlichen Tätigkeit sehr berührt. »

                                                                                   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021                  11
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                            » Nicht            nur am Beispiel von Paul Schnei-                 formationszeit sind für Sie heute                      feste Überzeugung von der Notwendig-
                                        der, auch in der Auseinandersetzung                     noch von besonderer Bedeutung?                         keit des eigenen Protestes helfen, Angst
                                        mit Dietrich Bonhoeffer habe ich mich                   Im Spätsommer und beginnenden Herbst                   zu überwinden und für die eigene Mei-
                                        immer wieder gefragt: Wäre auch ich                     1989 ging es zunächst um eine Demo-                    nung offensiv einzustehen.
                                        bereit, für meine Überzeugungen einzu-                  kratisierung der DDR, um mehr und
                                        stehen, selbst wenn ich dafür mit mei-                  vor allem echte Beteiligung am gesell-                 Wie kann man diese Erfahrungen
                                        nem Leben bezahlen müsste? Ich denke,                   schaftlichen Leben, um Mitbestimmung                   heutigen Schülern vermitteln, die erst
                                        diese Frage lässt sich am Ende nur in der               aus den Vorstellungen und Gedanken                     nach der Friedlichen Revolution gebo-
                                        jeweiligen ganz konkreten Situation be-                 der Menschen heraus und nicht länger                   ren wurden und die Geschichte nicht
                                        antworten. Die Erfahrung, dass es auch                  nach den Maßgaben der SED-Diktatur.                    mehr aus eigenem Erleben kennen?
                                        bei mir im Verlauf des Herbstes 1989                    Wir wollten uns die Chance auf ein frei-               Die Erfahrung mangelnder Partizipati-
                                        den Moment der Bereitschaft gab, per-                   es Leben in einer freien Gesellschaft, in              onsmöglichkeiten gehört auch heute
                                        sönliche Risiken einzugehen und nicht                   Demokratie und Rechtsstaatlichkeit er-                 zum Alltag vieler Lernenden, auch wenn
                                        mehr zurückzuweichen, habe ich erlebt.                  streiten. Hunderttausende DDR-Bürger                   die Situation nicht mit der DDR-Diktatur
                                        Wie später durch die Aufarbeitung der                   kehrten damals der DDR den Rücken                      vergleichbar ist. Auch haben junge Men-
                                        Unterlagen der Staatsicherheit bekannt                  und wählten den Weg der Ausreise.                      schen ein feines Gespür für mangelnde
                                        wurde, waren die Internierungslager für                 Ich gehörte zu denen, die sagten: Wir                  Wahrhaftigkeit oder gar Unwahrheiten.
                                        die Aktiven des Herbstes 1989 in der                    müssen hier etwas verändern. Ob das                    Eine Motivation zum Engagement für die
                                        DDR vorbereitet. Zum Glück ist die Ge-                  gelingen würde, war allerdings sehr                    Friedliche Revolution ist heute nicht we-
                                        schichte anders verlaufen und wir haben                 fraglich. Trotzdem versuchten wir es –                 niger dringend als damals, nämlich die
                                        eine bisher einzigartige Friedliche Revo-               und waren erfolgreich. Meine Lehren:                   Forderung nach „Gerechtigkeit, Frieden
                                        lution erleben dürfen.                                  Ein Staat, der auf Dauer seinen Bürgern                und Bewahrung der Schöpfung“. Diese
                                                                                                die Partizipation verweigert, wird die                 damaligen Sorgen betreffen auch heute
                                        Sie waren im September 1989 eine                        Unterstützung durch seine Bürger ver-                  junge Menschen ganz unmittelbar.
                                        der Unterzeichnerinnen des „Briefes                     lieren. Unwahrhaftigkeit und Lügen der
                                        aus Weimar“, in dem die DDR-Block-                      Regierenden werden früher oder später                  Was hat Sie damals veranlasst,
                                        partei CDU aufgerufen wurde, die                        immer entlarvt werden. Die Menschen                    Ihr Gemeindeamt abzugeben und
                                        Kooperation mit der SED zu beenden.                     solidarisieren sich gegen die Machtha-                 in die Politik zu gehen?
                                        Welche Erfahrungen aus der Trans-                       ber. Gemeinschaft mit anderen und die                  Ja, das ist eine ganz eigene Geschichte.
                                                                                                                                                       Eine politische Karriere hatte ich damals
                                        Der Bahnhof von Weimar im „Bauhaus-Jahr“ 2019. Die Stadt steht für die deutsche Klassik, das Bauhaus und die   überhaupt nicht in meiner Lebensplanung
                                        erste deutsche Demokratie. Aber nur wenige Kilometer entfernt wurde in der NS-Zeit das Konzentrationslager     gehabt. Es gehört wohl zu den Eigenhei-
                                        Buchenwald eingerichtet. Diese Gegensätze auf engem Raum haben Christine Lieberknecht früh beschäftigt.
                                                                                                                                                       ten von Revolutionen, dass man hinterher
                                                                                                                                                       an Schreibtischen arbeitet, vor die man
                    Foto: Archiv GVFD

                                                                                                                                                       vorher nicht einmal hätte treten dürfen
                                                                                                                                                       (lacht). Schließlich konnten mich die Mit-
                                                                                                                                                       streiter in meiner Partei davon überzeu-
                                                                                                                                                       gen, als „Reformerin“ aus den Reihen
                                                                                                                                                       der Friedlichen Revolution in der neu
                                                                                                                                                       gewonnenen Demokratie nun auch po-
                                                                                                                                                       litische Verantwortung zu übernehmen.

                                                                                                                                                       Sie haben in der thüringischen CDU
                                                                                                                                                       schnell Karriere gemacht und wurden
                                                                                                                                                       1990 gleich Ministerin. In der ersten
                                                                                                                                                       Legislaturperiode waren Sie die ein-
                                                                                                                                                       zige Frau im Kabinett. War das eine
                                                                                                                                                       harte Schule?
                                                                                                                                                       Wenn Sie mediale Betrachtungen über
                                                                                                                                                       den politischen Start von 1990 lesen,
                                                                                                                                                       dann ist da von „Laienspielerschar“ und
                                                                                                                                                       „das hält nicht bis Weihnachten“ die
                                                                                                                                                       Rede. Für mich sind daraus fast drei Jahr-
                                                                                                                                                       zehnte hauptamtliche Politik geworden.
                                                                                                                                                       Doch der Anfang war hart, ohne Frage.
                                                                                                                                                       Tage mit 16 bis 18 Arbeitsstunden wa-
                                                                                                                                                       ren die Regel. Und als einzige Frau im
                                                                                                                                                       Kabinett brauchte ich schon einiges an
                                                                                                                                                       Durchsetzungsvermögen.

                   12                   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
SCHWERPUNKTTHEMA
Foto: Claus Bach, Sammlung Gedenkstätte Buchenwald

                                                     Das Arrestgebäude auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald. Hier wurde Pfarrer Paul Schneider über ein Jahr lang in Einzelhaft eingesperrt und misshandelt.

                                                     Was würden Sie aus diesen Erfahr-                     Welche Themen und welche Ansätze                      mahnend in die Wunde lege: Wehret den
                                                     ungen heraus jungen Frauen heute                      sollten aus Ihrer Sicht in den kommen-                Anfängen. Und natürlich bedeutet unser
                                                     raten, die in die Politik gehen                       den Jahren für Gegen Vergessen –                      globales und digitales Zeitalter nicht au-
                                                     möchten?                                              Für Demokratie e.V. eine zentrale                     tomatisch mehr Demokratie. Wir haben
                                                     Ich würde sagen: Liebe junge Frauen,                  Rolle spielen?                                        alle Hände voll zu tun. Wir brauchen viel
                                                     ihr seid hier genau richtig. Habt Mut                 Jede Generation hat ihre eigene Zeit und              klugen Geist und viele aktiv Mitwirkende,
                                                     und zeigt Durchsetzungsfähigkeit. Na-                 muss ihre Erfahrungen machen. Dennoch                 um die rasanten Veränderungen überall
                                                     türlich müsst ihr überzeugt sein von eu-              ist es Verantwortung und Pflicht der Äl-              um uns herum demokratisch gestalten zu
                                                     rer Sache. Und ihr müsst die Menschen                 teren, auf die Lehren unserer Geschichte              können. „Demokratie in unserer globalen
                                                     mögen. Dann schafft ihr es auch, die                  aufmerksam zu machen. Es ist an uns,                  Welt“ und „Demokratie und Digitalisie-
                                                     notwenigen Mehrheiten für politische                  den Bogen von Erlebnissen in einer Dikta-             rung“ – das sind zwei Mega-Themen, de-
                                                     Mandate und für politisches Gestalten                 tur in die Alltagswelt von heute zu schla-            nen ich mich stellen möchte. ■
                                                     zu bekommen.                                          gen. Da gibt es Situationen, in denen
                                                                                                           Gefahr im Verzug ist und ich den Finger               Die Fragen stellte Liane Czeremin.

                                                        Ein herzliches DANKESCHÖN geht an
                                                        alle Spenderinnen und Spender unseres
                                                        Aufrufes vom Dezember 2020.

                                                        Ihre Hilfe in Höhe von insgesamt 16.211,08 EUR                                                     Wir
                                                        bedeutet eine großartige Unterstützung der
                                                        Arbeit unserer Regionalen Arbeitsgruppen.                                                         sagen
                                                        Damit können wir einen Teil der pandemie-
                                                        bedingen Einnahmeausfälle ausgleichen.
                                                                                                                                                          Danke!
                                                        Ihr / Euer
                                                                  Andraeas Dickerboom                                                         Dr. Michael Parak
                                                                  ​Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppen                                     Geschäftsführer
                                                                   ​Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.                                    Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.

                                                                                                                                                         Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021       13
WEITERE THEMEN

                      Esther Spicker

                      Wie jugendpartizipatives Engagement in der
                      postmigrantischen Erinnerungskultur gelingt
                                                                                                                                Ein solches Jugendgremium ist die „Junge
                                                                                                                                Jury“, die bei der Vergabe des Margot-
                                                                                                                                Friedländer-Preises der Schwarzkopf-Stif-
                                                                                                                                tung Junges Europa mitentscheidet. Be-
                                                                                                                                nannt nach der Zeitzeugin und Holocaust-
                                                                                                                                Überlebenden Margot Friedländer ruft
                                                                                                                                der Preis seit 2014 Jugendliche dazu auf,
                                                                                                                                sich mit dem Holocaust, seiner Zeug*in-
                                                                                                                                nenschaft, seiner Überlieferung und sei-
                                                                                                                                nen Spuren bis in die Gegenwart in inter-
                                                                                                                                aktiven Projekten auseinanderzusetzen.
                                                                                                                                Ziel ist es, die Erinnerung an die Verbre-
                                                                                                                                chen des Nationalsozialismus auch in den
                                                                                                                                jüngeren Generationen lebendig zu hal-
                                                                                                                                ten und junge Menschen dabei zu unter-
                                                                                                                                stützen, sich gegen heutige Formen von
                                                                                                                                Antisemitismus, Antiziganismus und an-
                                                                                                                                dere Formen rassistischer Ausgrenzung
                                                                                                                                sowie für eine pluralistische postmigran-
                                                                                                                                tische Gesellschaft einzusetzen.

                                                                                                                                Jessica Agirman, Jurymitglied des Margot-
                                                                                                                                Friedländer-Preises, sagt:
                                                                                                                                „Viel gelernt, viel geschafft und unglaub-
                                                                                                                                lich viel Inspiration dafür gewonnen, wei-
                                                                                                                                ter anzupacken und mit dem, was man
                                                                                                                                leisten kann, die Welt ein bisschen zu
                                                                                                                                verändern.“

                                                                                                                                Die Junge Jury des Margot-Friedlän-
                                                                                                                                der-Preises

                                                                                                                                Innerhalb des Auswahlverfahrens der
                                                                                                                                Preisprojekte schreibt die Schwarzkopf-
                                                                           Zeichnung Copyright: @ Illustration Moshtari Hilal   Stiftung jährlich ein Jugendgremium aus,
                                                                                                                                die „Junge Jury“. Dabei handelt es sich
                      Wenn in Entscheidungsgremien oder einer           diges Gremium – etwa eine junge Jury –                  um eine Gruppe von zwölf Menschen
                      Jury über Projekte oder Förderungen ent-          gegründet werden, in dem spezifische al-                zwischen 16 und 24 Jahren, die sich mit
                      schieden wird, die Kinder und Jugendliche         tersgerechte Sichtweisen eingebracht wer-               den rund 60 eingereichten Projektideen
                      betreffen, sollten diese möglichst mit am         den können. Grundvoraussetzung ist in                   für den Margot-Friedländer-Preis ausein-
                      Tisch sitzen und an Entscheidungen be-            beiden Fällen, dass das bestehende Gre-                 andersetzen. Im Rahmen eines mehrtägi-
                      teiligt werden. Ein Gremium kann durch            mium bereit ist, die Entscheidungsmacht                 gen Seminars reflektieren die Jurymitglie-
                      stimmberechtigte junge Menschen er-               zu teilen.                                              der über ihre individuellen Bezüge zu den
                      gänzt werden. Oder es kann ein eigenstän-                                                                 Kriterien des Preises und diskutieren, was

                 14   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
WEITERE THEMEN
ihnen bei den Projekten besonders wichtig     Geht es wie in diesem Beispiel um his-        über, welche Projekte umgesetzt werden:
ist. Durch Workshops und Diskussions-         torisch-politische Bildung, werden junge      Meist legt die Organisation bereits in der
runden mit Expert*innen zu postmigran-        und vielfältige Perspektiven häufig nicht     Ausschreibung Kriterien fest. Oft erfassen
tischer Erinnerungskultur, Verbindungen       in Entscheidungsprozesse einbezogen.          diese Kriterien aber nicht die Lebensrea-
zwischen antisemitischen und rassistischen    Gerade wenn es darum geht, eine Erin-         litäten junger Menschen in ihrer Vielfalt.
Denkmustern und deren Konsequenzen in         nerungskultur zu gestalten, zu der alle       Um das zu verändern, kann eine junge
Vergangenheit und Gegenwart wird der          Menschen mit unterschiedlichen biogra-        Jury schon früh in die Entwicklung einer
Blick der jungen Jurymitglieder besonders     fischen Bezügen eine Verbindung herstel-      Ausschreibung und der Bewertungskrite-
für vielfältige, gleichberechtigte Teilhabe   len sollen, kommt es auf unterschiedliche     rien einbezogen werden. Durch die Be-
und Zusammenleben in der postmigranti-        Perspektiven und Schwerpunkte in der          gegnung in einer jungen Jury, wo Vielfalt
schen Gesellschaft geschärft. Die Jugend-     Erzählung unserer Geschichte an und die       geschätzt und erlebt wird, können junge
lichen einigen sich auf rund zehn Projekte,   Reflektion der eigenen biografischen Be-      Menschen frühzeitig für ihr Vorhaben ge-
die in ihren Augen preiswürdig sind, und      züge. Um den Zusammenhang zwischen            stärkt werden, sich für eine pluralistische
übergeben diese Auswahl an die Jury des       Vergangenheit und Gegenwart in Bezug          und offene Gesellschaft einzusetzen.
Margot-Friedländer-Preises, die eine finale   auf Diskriminierungen von Minderheiten
Entscheidung über die Projekte trifft.        oder Lebensentwürfen abseits der wei-         Jurymitglied Nicolas Langauer sagt:
                                              ßen Mehrheitsgesellschaft heute verste-       „Durch das Seminarprogramm der Jun-
Jurymitglied Elif Bayat sagt: „Ich bin un-    hen zu können, sollten (junge) Menschen       gen Jury habe ich eine neue Perspektive
glaublich dankbar, Teil der Jungen Jury       sich mit historischen Kontinuitäten poli-     vor allem auf den aktuellen Antisemi-
des Margot-Friedländer-Preises zu sein.       tischer, staatlicher und gesellschaftlicher   tismus erlangt. Am Juryprozess an sich
Alle Projekte sind inspirierend und ermu-     (Macht-)Strukturen seit dem Nationalso-       war das Herausfordernde die Auswahl
tigend: Im innersten Kern setzen sie sich     zialismus auseinandersetzen.                  der besten Projekte aus einem großen
mit dem Holocaust auseinander und er-                                                       Pool toller Ideen. Ich glaube, dass uns
reichen junge Menschen durch Nachhal-         Worüber auch immer die Mitglieder eines       als Gruppe diese Erfahrung, für ein ge-
tigkeit und Praxis.“                          Jugendgremiums (mit-) entscheiden, sei es     meinsames Ziel manchmal hart arbeiten
                                              über Ideen in einem Wettbewerb, über die      zu müssen, viel Kraft für die Zukunft ge-
Anregungen für die Ausgestaltung              Besetzung eines neuen Postens oder dar-       geben hat.“ ■
von Jugendgremien

Aus den Erfahrungen der vergangenen
Jahre möchte die Schwarzkopf-Stiftung
einige Hinweise geben, worauf bei der
Einrichtung eines Jugendgremiums zu
achten ist.

Am Anfang steht die Analyse: Wer sitzt
bislang am Entscheidungstisch? Wie
kommt es zur Auswahl und Besetzung?
Welche Kompetenzbereiche und welches
Wissen sind vertreten? Danach lässt sich
häufig klarer benennen, wer mitentschei-
den sollte.                                   Die Stiftung bietet jungen Menschen           Ziel ist es, allen jungen Menschen als An-
                                              Möglichkeiten für Begegnungen, für die        gehörigen einer pluralistischen, inklusiven
Sind etablierte Gremien und Entschei-         persönliche Entwicklung und für aktive        und demokratischen Migrationsgesell-
dungsträger*innen bereit, ihre Entschei-      zivilgesellschaftliche Teilhabe. Im Rahmen    schaft Gehör zu verschaffen.
dungsgewalt zu teilen, sollte bei der         des Kompetenznetzwerks Zusammenle-
Zusammensetzung eines jungen Gremi-           ben in der Einwanderungsgesellschaft          https://schwarzkopf-stiftung.de/margot-
ums – wie insgesamt bei Gremien – ein         setzt sich die Schwarzkopf-Stiftung da-       friedlaender-preis/
weiteres Machtgefälle berücksichtigt und      für ein, die politische Teilhabe von Kin-     https://schwarzkopf-stiftung.de/junge-
durchbrochen werden. Die Besetzung von        dern und Jugendlichen unabhängig              jury/
Gremien und Jurys (ob jung, alt oder          von ihrer Herkunft zu fördern. Dafür          https://schwarzkopf-stiftung.de/young-
gemischt) sollte gesellschaftliche Vielfalt   schafft sie Beratungs-, Qualifizierungs-      ambassador-against-antisemitism/
abbilden und unterschiedliche Lebens-         und Dialogangebote für Fachkräfte,            https://www.instagram.com/beyond_
situationen und -entwürfe reflektieren.       Multiplikator*innen und Ehrenamtliche         a_single_story/
Hierbei kann es hilfreich sein, Multipli-     der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext        https://www.instagram.com/schwarz-
kator*innen zu identifizieren und sie bei     von Pluralismus und Differenz.                kopfstiftung/
der Werbung für Gremienmitarbeit um
Unterstützung zu bitten.                      Esther Spicker ist Projektmanagerin in der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa.

                                                                                     Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021   15
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