71.Jahr Heft1/2 Jan./Febr.2018 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung - GEW Hessen
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Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 71. Jahr Heft 1/2 Jan./Febr. 2018 T I T E LT H E M A Sexuelle Gewalt
HLZ 1–2/2018 2 Zeitschrift der GEW Hessen 1. Februar: für Erziehung, Bildung, Forschung Giftstoffe in Bildungseinrichtungen ISSN 0935-0489 Ein am 7. 12.2017 geplantes Treffen I M P R E S S U M zum Austausch und zur Koordinierung Herausgeber: von Aktivitäten gegen Gift- und Schad- Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft stoffe in Bildungseinrichtungen findet Landesverband Hessen Zimmerweg 12 jetzt am Donnerstag, dem 1. Februar 60325 Frankfurt/Main 2018, von 16 bis 19 Uhr in der Lan- Telefon (0 69) 971 2930 desgeschäftsstelle der GEW in Frank- Fax (0 69) 97 12 93 93 E-Mail: info@gew-hessen.de furt statt (Zimmerweg 12). Homepage: www.gew-hessen.de Verantwortlicher Redakteur: Harald Freiling 12. Februar: Klingenberger Str. 13 Ökonomisierung der Bildung Red Hand Day gegen Kindersoldaten 60599 Frankfurt am Main Telefon (0 69) 636269 GEW-Fachtagung am 17.2. Der Red Hand Day soll jährlich am 12. E-Mail: freiling.hlz@t-online.de Die Fachtagung der GEW-Bezirksver- Februar weltweit auf die Rekrutierung Mitarbeit: Christoph Baumann (Bildung), Tobias Cepok (Hoch- bände Frankfurt und Südhessen und und den Kriegseinsatz von Minderjäh- schule), Dr. Franziska Conrad und Andrea Gergen (Aus- des GEW-Landesverbands zum „(Un) rigen hinweisen. Die Aktion Rote Hand und Fortbildung), Holger Giebel, Angela Scheffels Sinn ökonomisierter Bildung“ findet entstand in Deutschland 2003 und brei- (Mitbestimmung), Michael Köditz (Sozialpädagogik), Annette Loycke (Recht), Karola Stötzel (Weiterbildung), am Samstag, dem 17. Februar 2018, tete sich schnell international aus. GEW Gerd Turk (Tarifpolitik und Gewerkschaften) von 9.30 bis 17.30 Uhr im DGB-Haus und Terre des Hommes engagieren sich Gestaltung: Harald Knöfel, Michael Heckert † in Frankfurt statt. Referenten sind Pro- federführend gegen die Rekrutierung von Minderjährigen für die Bundes- Titelthema: Harald Freiling und Roman George fessor Tim Engartner (Frankfurt), Mat- wehr, die mit Karriereberatern auch in Illustrationen: Dieter Tonn (S. 33), Ruth Ullenboom thias Holland-Letz (Köln) und Professor (S. 4) Thilo Naumann (Darmstadt). den Schulen für den Kriegsdienst wirbt. Fotos und Berichte zu den internatio- Fotos, soweit nicht angegeben: • Die Anerkennung als Lehrerfortbil- Angela Waye / 123rf.com (Titel), GEW (S. 5, 23, 37, dung ist beantragt. Anmeldung: info@ nalen Rote-Hand-Aktionen findet man 39), Harald Freiling (S. 15) gew-frankfurt.de unter www.redhandday.org. Verlag: Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH Niederstedter Weg 5 SchulKinoWochen Hessen 2018 61348 Bad Homburg Anzeigenverwaltung: Bei den Hessischen SchulKinoWochen gen schulen Lehrkräfte in Filmanalyse Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH Peter Vollrath-Kühne öffnen 81 Kinos am Vormittag ihre Tü- und Filmvermittlung. Die Kinovorstel- Postfach 19 44 ren für Schülerinnen und Schüler aller lungen finden in Nordhessen und im 61289 Bad Homburg Jahrgangsstufen und Schulformen. Ein Rhein-Main-Gebiet vom 26. Februar Telefon (06172) 95 83-0, Fax: (06172) 9583-21 E-Mail: mlverlag@wsth.de vielseitiges Programm aus rund 100 bis zum 2. März statt, in Süd- und Mit- sorgfältig ausgewählten Filmen wird telhessen vom 5. bis zum 9. März. Der Erfüllungsort und Gerichtsstand: Bad Homburg begleitet von einem breiten pädago- Eintritt für Schülerinnen und Schüler gischen Angebot aus Filmgesprächen kostet 3,50 Euro pro Vorführung. Bezugspreis: Jahresabonnement 12,90 Euro (9 Ausgaben, ein- sowie filmanalytischen und praxis- • Infos und Anmeldung ab 1.12.2017: schließlich Porto); Einzelheft 1,50 Euro. Die Kosten orientierten Workshops. Fortbildun- www.schulkinowochen-hessen.de sind für die Mitglieder der GEW Hessen im Beitrag enthalten. Zuschriften: Aus dem Inhalt Rubriken Einzelbeiträge Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keine Haftung übernommen. Im Falle einer Ver- 4 Spot(t)light 18 Sparkurs bei LiV-Stellen öffentlichung behält sich die Redaktion Kürzungen 5 Meldungen 23 Mitmachen! Die Fach- und Perso- vor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nicht mit der Meinung der GEW oder der Redaktion 34 Recht: Besoldung, Mitbestimmung, nengruppen der GEW Hessen übereinstimmen. Sozialpädagogische Fachkräfte 24 Aus dem Landtag: Debatte über die 36 Jubilarinnen und Jubilare / Magazin Arbeitsbelastung von Lehrkräften 26 Proteste gegen hohe Arbeitsbelas- Redaktionsschluss: Titelthema: Sexuelle Gewalt tungen und marode Schulen Jeweils am 5. des Vormonats 6 SPEAK: Studie zu sexueller Gewalt 27 Steuerverschwendung LandesTicket? unter Gleichaltrigen 28 Bücher: Pädagogische Prozesse 8 SPEAK: Prävention in der Schule 29 Antiziganismus gestern und heute 10 Sexting zwischen Flirt und Mobbing 30 Micheline Bood: Tagebuch einer Nachdruck: Fotomechanische Wiedergabe, sonstige Vervielfälti- 12 Lehrplan Sexualerziehung Schülerin im besetzten Paris gungen sowie Übersetzungen des Text- und Anzei- 14 Kindeswohl und Ausbildung: Im 32 „Angst“: Frankfurter Arbeitskreis genteils, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Gespräch mit Prof. Maud Zitelmann Genehmigung der Redaktion und des Verlages. für psychoanalytische Pädagogik 16 Schutzraum Schule Druck: Druckerei und Verlag Gutenberg Riemann GmbH 17 Material, Adressen, Termine 19-22 lea-Fortbildungsprogramm Werner-Heisenberg-Str. 7, 34123 Kassel
3 HLZ 1–2/2018 KOMMENTAR Ein starkes Netzwerk Wer meint, mit der Schließung der Odenwaldschu- Jugendliche einen großen Teil ihrer frühen Lebens- le, mit dem Aufklärungsbericht der Regensburger zeit verbringen, sollten sich darum bemühen, dass Domspatzen und anderen seit 2010 erschienenen Schutzkonzepte eingeführt und gelebt werden, dass Berichten sei das Thema Missbrauch „erledigt“, der sich ein klarer Verhaltenskodex etabliert und fach- irrt sich. All diese Aufarbeitungsprojekte sind wich- lich einschlägige Inhalte in der pädagogischen Aus- tig, sowohl für die Betroffenen und ihre Familien als bildung verankert werden. auch für das Selbstverständnis der jeweiligen Insti Wir wissen aus den Gesprächen mit Betroffe- tution und der Gesellschaft. Zur Aufarbeitung se- nen, dass sexualisierte Gewalt am häufigsten in xuellen Kindesmissbrauchs gehört es, dass Berich- der Familie stattfindet, am zweithäufigsten aber te über Vorfälle in der Vergangenheit veröffentlicht in Institutionen. Damit werden die Orte zu Tator- werden, die heute Verantwortlichen dazu Stellung ten, an denen Kinder und Jugendliche besonders nehmen und Entschädigungen an die Betroffenen Geborgenheit, Schutz und Förderung erleben soll- gezahlt werden. ten. Es gibt aber auch die Berichte von Betroffe- Aber Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs nen, die zeigen, wie hilfreich eine kompetente Lehr- bedeutet vor allem auch, ein Bewusstsein in der Gesell- und Fachkraft sein konnte, um Missbrauch auch schaft dafür zu schaffen, was Kinder und Jugendliche in einer Familie zu beenden. An solchen Erkennt- erleiden mussten, warum dies überhaupt geschehen nissen müssen wir ansetzen: Kinder und Jugendli- konnte, warum ihnen nicht geholfen wurde und wel- che brauchen fachkundige Ansprechpartner, wenn che Folgen sexuelle Gewalt für die Betroffenen hat. sie von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Pä- Dies ist unabdingbar, wenn sexueller Kindesmiss- dagogische Fachkräfte müssen sich ihrer Verant- brauch kein Tabu mehr sein soll, wenn Mädchen und wortung bewusst und sie müssen in der Lage sein, Jungen darüber sprechen können, ihnen geglaubt einem Kind in Not zu helfen – egal, wo der Miss- wird und Erwachsene alles tun, um sie zu schützen. brauch stattgefunden hat oder gerade stattfindet. Aufarbeitung braucht Zeit und einen langen Atem. Um all das leisten zu können, braucht es auch die Am Anfang stehen die Geschichten der Betroffe- Unterstützung von Verbänden und Organisationen. nen und die Anerkennung des persönlichen Leids und Alle Akteure im pädagogischen Kontext sollten Unrechts. Seit die Unabhängige Kommission zur Auf- ihrer Verantwortung gerecht werden, Aufarbeitung arbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs Anfang 2016 initiieren und voran bringen und sich nicht beirren eingesetzt wurde, erleben wir eine große Bereitschaft lassen. Kinder und Jugendliche brauchen starke und ein überwältigendes Vertrauen bei Betroffenen, Netzwerke und Aufarbeitung ist ein wichtiger Teil die uns ihre Geschichte erzählen wollen. davon. Mittlerweile haben über 1.500 Personen Kontakt zu uns aufgenommen. In den vielen vertraulichen Anhö- rungen, die wir bisher durchgeführt haben, und in den zahlreichen schriftlichen Berichten, die uns vorliegen, Prof. Dr. Sabine Andresen ist ein zentrales Thema der Betroffenen: Mir wurde als Kind nicht zugehört, mir wurde nicht geglaubt. Stellvertretend für die Gesellschaft hören wir zu und wir glauben den Menschen. Wir sammeln Wissen Sabine Andresen hat eine Professur für Familienfor- über Bedingungen und Strukturen, die Missbrauch schung und Sozialpädago- begünstigt oder ermöglicht haben, und wir berich- gik an der Goethe-Univer- ten darüber. Dadurch wollen wir auch dazu beitra- sität Frankfurt und ist seit gen, dass Kinder und Jugendliche besser geschützt 2016 Vorsitzende der Un- abhängigen Kommission werden. Wir hoffen sehr, dass auch Schulen und zur Aufarbeitung sexu- andere pädagogische Einrichtungen davon profitie- ellen Kindesmissbrauchs ren können. Alle Institutionen, in denen Kinder und (HLZ S.17).
SPOT(T)LIGHT HLZ 1–2/2018 4 Luxus und Glitzer für alle! Ins Schloss wollen alle Berlin-Touris- genstrahlen in die Warenwunderwelt. Einkaufsparadies, ist es einfach schon ten! Nee, nicht ins Schloss Charlot- Kleine Brücken führen von einem Ein- äußerlich viel, viel schöner als im ma- tenburg oder nach Sanssouci. Sondern kaufserlebnis zum anderen. Auf edlen roden Schulbau. Hier klebt nirgends ins Einkaufszentrum „Schloss“. In die- Zedernholzbänken kann man mit sei- Kaugummi auf den Sitzflächen. Kein ser mondänen Glitzerwelt lässt es sich nen Designer-Taschen und Tüten ver- Kabel hängt aus der Wand, kein Putz besonders schön shoppen. Sogar auf weilen, darin rumsuchen und rascheln bröckelt einem in den Nacken. Gegen dem Klo und im Wickelraum ist alles und vor Glück leise seufzen. ein kleines Entgelt kann man saube- aus Marmor. Das Personal auf dem Klo Hier fahren meine Schülerinnen und re Toiletten benutzen, auf denen noch trägt Uniformen mit goldenen Epau- Schüler gern nach Unterrichtsschluss alle Spiegel intakt sind. Die Wasch- letten. Warmes Licht schmeichelt. Die hin. Manchmal auch schon vorher oder becken sind hochmodern und strah- Spiegel präsentieren einem das eigene anstelle des Unterrichts... Sie setzen len 100 Prozent Hygiene aus. Es gibt Gesicht so vorteilhaft, dass man sich sich zwischen Palmen und Farnen auf Seife und Papierhandtücher. In einem gar nicht sattsehen kann. Müll ver- ein Teakholzbänkchen und schauen an- kleinen Fach sogar Tampons. Hier im schwindet in güldenen Eimerchen, das dächtig in diesen modernen Sakralbau, „Schloss“ hängt nicht das Dämmmate- Toilettenpapier ist weich und flauschig. bis die Tempelwachen der Security sie rial aus der Decke, hier riecht es nicht Duftkerzen verströmen alle Wohlgerü- ungnädig weiterschicken. Dann probie- dumpf und muffig. Die Rohrleitungen che des Orients. Ständig rennt jemand ren sie in einer funkelnden Parfüme- sind alle verlegt und verputzt. Nirgends mit Besen und Eimerchen durch die rie stundenlang Wässerchen und Lid- nässen geplatzte Wasserrohre durch Gänge und entfernt jedes Fitzelchen schatten aus, bis eine Hohepriesterin den Anstrich. Nirgends grünt und blaut Papier. Dezente Musik animiert zum der Schönheit sie an die frische Luft Schimmel. In den riesigen blitzblanken exklusiven Einkaufserlebnis. Touris- setzt. Ein paar Türen weiter kann man Glasscheiben gibt es keine Löcher und ten aus aller Welt schießen Selfies vor Videospiele testen. Oder bei Victoria‘s keine Sprünge. Keine Maus, geschweige funkelnden Glasfronten und riesigen Secret ein paar Hemdchen anprobie- denn eine Ratte käme auf die Idee, mal Kristalllüstern. Die Rolltreppen haben ren. Leider sind die aufwändig gestylten schnell vorbei zu huschen. In den Ge- goldene Geländer und befördern einen Verkäuferinnen schwer auf Zack: Man schäften blinkt und blitzt es. Hinter den zu exquisiten Parfümerien, bekannten hat keine Chance, eins dieser Hemd- Heizkörpern wirbeln keine Wollmäuse, Mode-Labels und luxuriösen Schuhen, chen unter seinem Hoodie zu vergessen. in den Ecken lagern keine Dreckhäuf- die nicht zum Laufen, sondern zum de- Ich kann meine Schülerinnen und chen. Man hat nicht das Gefühl, sich korativen Rumstehen geschaffen wur- Schüler verstehen. Abgesehen davon, ständig die Hände waschen zu müssen. den. Der geschmackvolle Innenhof mit dass Shoppen, Videospiele und kosme- Nirgends wird krasser deutlich, was all seinen Palmen ist gläsern überdacht. tische Aktivitäten allemal attraktiver uns Schule und Bildung wirklich wert Die Sonne bricht sich in den vielen sind als Trigonometrie, Dreisatz und sind. Hier die maroden Schulbauten, kleinen Facetten und schickt Regenbo- Fuckju-Goethe. Hier im „Schloss“, im dort die glitzernde Einkaufswelt. Aber kein Berliner Schulleiter soll öffentlich verraten, dass er in einer „Schrottim- mobilie“ residiert. Das hat die zustän- dige Senatorin so verfügt. Wenn das Fernsehen kommt, um heruntergefalle- ne Decken und geplatzte Rohre zu fil- men, muss sogar der Schulhausmeister sich in Schweigen hüllen. Der Schul- rat persönlich drängt das Kamerateam raus. Vielleicht lässt der Staat seine Schu- len wissentlich und willentlich so ver- gammeln, damit er sie letztendlich ir- gendwann mal privatisieren kann? Dann ist er diese lästigen Themen (PISA, schlechte Testergebnisse, Kul- tusministergehacke und -gezicke) los. Einkaufsparadiese, Banken, Windows und Amazon sponsern dann die Bil- dung, und wir Lehrer unterrichten im Gegenzug richtiges Konsum-, Markt- und Investitionsverhalten. Endlich tobt „das wahre Leben“ durch die Schulen! Gabriele Frydrych
5 HLZ 1–2/2018 mELDUNGEN LSV startet hessenweite Schülerbefragung Die hessische Landesschülervertretung (LSV) startete am 4. Dezember eine lan- desweite Befragung der Schülerinnen und Schülern ab der fünften Klasse. LSV-Sprecher Fabian Pflume erklär- te bei der Vorstellung der Befragung, dass sich Schülerinnen und Schüler bei vielen Schulthemen „besser auskennen als jeder andere“. Schule dürfe deshalb „nicht nur für uns gemacht werden, sie muss auch von uns mitgestaltet wer- den“. Die Themenbereiche der Befra- gung reichen von Hausaufgaben und Berufsorientierung bis zu Inklusion und Demokratie. Zum Thema Mobbing und Diskriminierung wird beispielsweise gefragt, ob es an der jeweiligen Schule eine Bezugsperson als Ansprechpart- Protest gegen Leuschner-Medaille für Roland Koch ner gibt. Für das Ausfüllen des Online- Fragebogens sind etwa 20 Minuten Mehr als 400 Kolleginnen und Kollegen beitszeitverlängerung für die Beschäf- Zeit erforderlich. Die LSV bittet Klas- aus Gewerkschaften, Parteien und Ini tigten des Landes und an den Austritt senlehrerinnen und Klassenlehrer und tiativen protestierten am 1. Dezember des Landes aus der Tarifgemeinschaft Tutorinnen und Tutoren, ihren Klassen vor dem Kurhaus in Wiesbaden gegen der Länder. Auch die „schmutzige Un- oder Kursen die Teilnahme zu ermög- die Verleihung der Wilhelm-Leuschner- terschriftenkampagne der CDU gegen lichen. Der Fragebogen soll während Medaille an den früheren Ministerprä- die doppelte Staatsbürgerschaft“ vor der Unterrichtszeit im Computerraum sidenten Roland Koch (CDU) durch sei- der Landtagswahl 1999 spreche gegen der Schule ausgefüllt werden. Dafür nen Nachfolger Volker Bouffier (CDU). die Ehrung. Wolfgang Hasibether, Vor- muss ein Link in den Browser eingege- Die Vorsitzende der GEW Maike Wied- sitzender der Wilhelm-Leuschner-Stif- ben werden, der dann zum Fragebogen wald und der Geschäftsführer der DGB- tung, erinnerte in einem Grußwort an führt. Der entsprechende Link wurde Region Rhein-Main Philipp Jacks erin- Leuschners Forderung, dass „aus der den Schulleitungen und den Schüler- nerten an Kochs Verantwortung für die politischen Demokratie die soziale De- vertretungen bereits mitgeteilt. Die „Operation Sichere Zukunft“ mit mas- mokratie werden“ müsse: Diesem Ziel landesweiten Ergebnisse sollen veröf- siven Gehaltskürzungen und einer Ar- sei Koch „nicht verpflichtet“ gewesen. fentlicht werden und in die politische Arbeit der LSV einfließen. Michael Rudolph ist neuer DGB-Vorsitzender in Hessen GEW-Mitgliedsbeiträge: Anpassung am 1. 2. 2018 Mit 84,2 % der eine Verbesserung der Lebens- und Ar- Foto: DGB/Martin Sehmisch Delegiertenstim- beitsbedingungen der Menschen unab- Am 1. Februar 2018 steigen die Bezüge men wurde Mi- dingbar. „Niemand hat etwas von ei- der hessischen Beamtinnen und Beam- chael Rudolph ner schwarzen Null im Haushalt, wenn ten sowie der Versorgungsempfänge- (40) Anfang De- es gleichzeitig ins Klassenzimmer reg- rinnen und Versorgungsempfänger um zember zum neu- net und Straßen gesperrt werden müs- 2,2 %. Zum selben Zeitpunkt werden die en Vorsitzenden sen, weil sie zu kaputt sind, um befah- GEW-Mitgliedsbeiträge für diese Perso- des DGB-Bezirks ren zu werden, oder Personal in der nengruppen entsprechend angehoben. Hessen-Thürin- öffentlichen Verwaltung fehlt“, sagte gen gewählt. Der Michael Rudolph. Sandro Witt verwies bisherige Geschäftsführer der DGB-Re- auf die unsoziale Verteilung von Ver- GEW-Beitragsquittung für gion Nordhessen folgt auf Gabriele Kai- mögen und die steuerpolitischen Eck- 2017 in der nächsten E&W ling, die für das Amt nicht wieder an- punkte des DGB, „die eine Umkehr er- Diese HLZ erscheint als Doppelnum- getreten war. Sandro Witt (36) wurde möglichen“. mer 1-2/2018. Im Februar erscheint mit 86,2 % der Delegiertenstimmen für Als Regionsgeschäftsführer wur- keine HLZ. Der Bundeszeitschrift weitere vier Jahre im Amt bestätigt. den Jürgen Planert (Südhessen), Ulri- E&W ist dann das Jahresprogramm Die Bezirksdelegiertenkonferenz kün- ke Eifler (Südosthessen), Matthias Kör- von lea, dem Bildungswerk der GEW digte an, dass sich der DGB mit sei- ner (Mittelhessen) und Philipp Jacks Hessen, beigelegt. Im Umschlag der nen Forderungen und Positionen in den (Rhein-Main) bestätigt. Die Nachbe- E&W 2/2018 finden Sie dann auch Landtagswahlkampf einmischen wer- setzung der Stelle in der DGB-Regi- die Beitragsquittung für 2017 und Ih- de. Für Rudolph und Witt ist eine ge- on Nordhessen erfolgt durch den Be- ren aktuellen GEW-Mitgliedsausweis. rechtere Verteilung von Vermögen für zirksvorstand.
T ite l thema : S e x u e l l e G ewa l t HLZ 1–2/2018 6 Die Speak!-Studie Erfahrungen Jugendlicher mit sexualisierter Gewalt Das Hessische Kultusministerium hat als Bestandteil des fragt wurden Jugendliche in den Jahrgangsstufen 9 und 10, „Hessischen Aktionsplans zum Schutz von Kindern und Ju- die sich zumeist in der Altersgruppe von 14 bis 16 Jahren be- gendlichen vor sexualisierter Gewalt in Institutionen“ eine fanden. Die Teilnahme war nicht verpflichtend, erfolgte so- wissenschaftliche Untersuchung der Erfahrungen von Schü- mit freiwillig. Studierende der Sozial- und Erziehungswissen- lerinnen und Schülern mit sexualisierter Gewalt in Auf- schaften an der Universität Marburg, die in Zusammenarbeit trag gegeben. Erste Ergebnisse der federführend von Sabine mit Wildwasser Gießen auf diese Aufgabe vorbereitet wur- Maschke und Ludwig Stecher verfassten Speak!-Studie wur- den, führten die Befragungen vor Ort durch. Anlässlich der den im Mai 2017 vorgelegt (1). Sabine Maschke ist Professo- Vorstellung der Studie im Juni 2017 wies Professorin Masch- rin für Erziehungswissenschaften an der Philipps-Universität ke auf die Besonderheit der Studie hin, Marburg, Ludwig Stecher ist Professor für Erziehungswissen- „dass sie nicht nur die Perspektive der unmittelbar Betroffenen schaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen. einbezieht, sondern auch die von Jugendlichen, die sexualisier- te Gewalt beobachtet haben oder auch selbst ausgeübt haben“. Die Studie ermögliche zudem eine Darstellung der Zusam- Körperliche und verbale Gewalt menhänge von sexualisierter Gewalt und der Lebenswelt der Als das Studiendesign im April 2016 bekannt wurde, hatte der Jugendlichen, etwa hinsichtlich der Schulfreude oder des Paritätische Wohlfahrtsverband Hessen bemängelt, dass die Konsums von Pornografie. Die Studie bezieht sich mit dem Studie ausschließlich an allgemeinbildenden Schulen durch- verwendeten Konzept der „sexualisierten Gewalt“ auf die So- geführt werden sollte, Förderschulen somit außen vor blie- ziologin Carola Hagemann-White, die darunter „jede Verlet- ben. Dies wurde auch kritisiert aufgrund des bekannten Be- zung der körperlichen und seelischen Integrität einer Person, fundes, dass Frauen mit Behinderung deutlich häufiger Opfer welche mit der Geschlechtlichkeit des Opfers oder Täters zu- sexualisierter Gewalt werden. Die methodischen Instrumente, sammenhängt“, versteht. um auch Menschen mit schweren Beeinträchtigungen zu ih- rem Erleben zu befragen, seien zudem durchaus entwickelt. Tatort Schule Inzwischen wurde eine Erweiterungsstudie an Förderschulen angekündigt, die ab 2017 durchgeführt werden soll und de- Mit 48 Prozent hat knapp die Hälfte der Befragten mindes- ren Ergebnisse hoffentlich bald vorgelegt werden. tens einmal nicht-körperliche sexualisierte Gewalt erlebt. Da- Die Befragung der Schülerinnen und Schüler fand im Zeit- bei wurden alle Erfahrungen der Befragten einbezogen, un- raum von Mai bis Dezember 2016 an 53 repräsentativ aus- abhängig vom Erlebenszeitpunkt. Sie reichen von sexuellen gewählten allgemeinbildenden Schulen in Hessen statt. Be- Beleidigungen bis hin zur ungewollten Veröffentlichung von intimen Fotos im Internet. Mädchen sind mit insgesamt 55 Erfahrungen mit nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt Prozent deutlich stärker betroffen als Jungen mit 40 Pro- zent, einzig homophobe Beleidigungen als „schwul“ oder Jungen Mädchen „lesbisch“ treffen Jungen häufiger (siehe Tabelle). Jemand hat über mich sexuelle Kom- Annähernd ein Viertel (23 Prozent) der Jugendlichen hat mentare, Beleidigungen, Witze oder Ges- 25,8% 40,6% bereits mindestens einmal Formen körperlicher sexualisier- ten gemacht. ter Gewalt erfahren, auch dies gilt für Mädchen deutlich öf- Jemand hat mich auf eine negative Art ter: Annähernd ein Drittel der Mädchen wurde bereits „an- 26,0% 12,9% als „schwul“ oder „lesbisch“ bezeichnet. getatscht“, drei Prozent der Mädchen gaben an, dass sie Jemand hat über mich Gerüchte sexuel- ungewünscht Geschlechtsverkehr hatten, zu dem sie ge- 9,5% 17,1% len Inhalts verbreitet. drängt oder gezwungen wurden. Der Anteil der Schülerinnen Jemand hat mich dazu gebracht, sein/ihr und Schüler, die bereits Opfer sexualisierter Gewalt wurden, Geschlechtsteil anzusehen, obwohl ich 3,6% 14,9% steigt mit dem Alter signifikant an. Die untersuchte Alters- das nicht wollte (Exhibitionismus). gruppe der 14 bis 16-Jährigen befindet sich demnach in ei- Jemand hat mich dazu gedrängt oder ge- nem besonders gefährdeten Lebensalter. 70 Prozent aller Be- zwungen, pornografische Bilder, Zeich- fragten geben an, bereits Formen der sexualisierten Gewalt 2,5% 6,3% nungen oder Filme anzuschauen (auch beobachtet zu haben, das gilt mit über 50 Prozent insbeson- auf dem Handy/Smartphone). dere für verbale Formen. Ich wurde im Internet (z.B. in Facebook, Das Thema Sexualisierte Gewalt betrifft alle. Schülerin- Instagram, Snapchat usw.) sexuell ange- 8,7% 32,7% nen und Schüler machen an allen Schulformen gleicherma- macht oder belästigt. ßen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Es ist kein statis- Jemand hat gegen meinen Willen intime tischer Zusammenhang erkennbar, dass diese bei bestimmten Fotos oder Filme von mir ins Internet 0,9% 2,0% Bildungsgängen häufiger oder seltener vorkommt als bei an- gestellt. deren. Besonders alarmierend ist das Ergebnis, dass die Schu- Für die Speak!-Studie wurden Schülerinnen und Schüler der 9. le selbst oft der Ort ist, an dem sexualisierte Gewalt ausgeübt und 10. Klassen befragt. Quelle: Maschke/Stecher 2017, S. 7-9 wird und entsprechende Gewalterfahrungen gemacht wer-
7 HLZ 1–2/2018 Titelthema den. Unter den angegebenen risikoreichen Orten für nicht- Stecher hoben unter Bezugnahme auf diese Ergebnisse im körperliche sexualisierte Gewalt rangiert die Schule mit 51 Juni als einen der wichtigsten Befunde von Speak! hervor: Prozent an erster Stelle. Es folgt das Internet mit 44 Prozent. „Das Hauptrisiko für sexualisierte Gewalt sind andere Jugend- Hinsichtlich der körperlichen sexualisierten Gewalt werden liche, das heißt Gleichaltrige.“ der öffentliche Raum (49 Prozent) und Wohnungen und Par- Die Studie nimmt sich auch der Untersuchung von mehreren tys (44 Prozent) besonders oft genannt. Die Schule wird je- statistischen Zusammenhängen an. Da es dabei nicht mög- doch bereits an dritter Stelle von 24 Prozent der Befragten lich ist, eindeutig zwischen Ursache und Wirkung zu unter- als Ort benannt, an dem sie bereits sexualisierte körperliche scheiden, sprechen die Autorinnen und Autoren hier vor- Gewalt erlebt haben. sichtig von „Korrelaten“. Es zeigt sich, dass die Schul- und Mit diesem Befund korrespondiert, dass „die Mitschüler“, Lernfreude bei den Opfern von sexualisierter Gewalt gerin- gemeint sind an dieser Stelle nur männliche Mitschüler, be- ger ausfällt, auch das Sicherheitsempfinden in der Schule lei- sonders häufig als Täter von nicht-körperlicher sexualisierter det. Das Selbstbild der Jugendlichen, die Opfer von sexuali- Gewalt benannt werden (36 Prozent). Bei der körperlichen se- sierter Gewalt geworden sind, fällt deutlich negativer aus als xualisierten Gewalt sind es 16 Prozent. Bei körperlicher und das der Mitschülerinnen und Mitschüler ohne entsprechen- nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt werden „Fremde“ am de Gewalterfahrungen, insbesondere wenn bereits mehre- häufigsten als Täter genannt. Sabine Maschke und Ludwig re Formen körperlicher sexualisierter Gewalt erlebt wurden. Erfahrungen mit körperlicher sexualisierter Gewalt Orientierung an Porno-Inhalten Jungen Mädchen Näher untersucht wurde auch der Konsum von Pornographie: Mich hat jemand gegen meinen Willen in sexueller Form am Körper berührt 5,0% 30,1% 32 Prozent der Schülerinnen und 34 Prozent der Schüler ga- („angetatscht“, z.B. Po oder Brust). ben an, bereits ein- oder zweimal Pornographie konsumiert zu haben. 48 Prozent der Schüler bekundeten, das öfter zu Mich hat jemand gegen meinen Willen 3,5% 12,6% tun, unter den Schülerinnen gilt das nur für acht Prozent. In in sexueller Absicht geküsst. der Studie wurden auch jugendliche „Aggressoren“ identifi- Mich hat jemand gegen meinen Willen ziert, also Befragte, die eingestanden, bereits Formen sexua- an meinem Geschlechtsteil (Scheide oder 3,6% 10,1% Penis) berührt. lisierter Gewalt ausgeübt zu haben. Diese Gruppe konsumiert signifikant häufiger pornographische Inhalte. Mich hat jemand gedrängt oder gezwun- Dieser Befund belegt nicht zwingend eine entsprechen- gen, sein/ihr Geschlechtsteil (Scheide 1,7% 8,2% oder Penis) zu berühren. de Ursache-Wirkung-Beziehung, doch zeigen weitere Ergeb- nisse, dass es zumindest eine Gruppe mit einem problema- Mich hat jemand gedrängt oder gezwun- tischen Konsumverhalten gibt: Unter den Jugendlichen, die gen, Sex mit einer anderen Person zu 0,8% 1,6% haben. häufig, nämlich fast täglich, Pornos anschauen, sagten 40 Prozent, dass sie dabei „viel über Sexualität lernen“ können. Jemand hat versucht, mich zum Ge- Bei den Jugendlichen, die nur selten Pornos anschauen, liegt schlechtsakt zu drängen oder zu zwin- 1,4% 10,8% der Anteil bei „nur“ 25 Prozent. Ein Viertel der ersten Grup- gen. Es ist aber nicht zum Geschlechts- verkehr gekommen. pe bemerkte, dass sie nur noch die Körper schön finden, die sie in Pornos sehen. 13 Prozent merken nach eigenen Anga- Jemand hat mich zum Geschlechtsver- ben, dass sie immer mehr Pornos brauchen. Es gibt demnach kehr gedrängt oder gezwungen. (Es ist 0,3% 3,0% zum Geschlechtsverkehr gekommen.) einen relevanten Anteil der männlichen Schüler, die Anzei- chen eines Suchtverhaltens aufweisen und deren Vorstellun- Mich hat jemand gedrängt oder gezwun- gen von Sexualität und Körperlichkeit durch den exzessiven gen, mich auszuziehen (ganz nackt oder 1,0% 6,9% teilweise). Konsum von Pornographie mitbestimmt werden. Mich hat jemand zu Nacktaufnahmen Roman George (gemeint sind auch pornografische Auf- 0,6% 5,5% (1) Sabine Maschke/Ludwig Stecher: Speak! Die Studie. Sexualisierte nahmen) gedrängt oder gezwungen. Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher. Öffentlicher Kurzbericht, Mai Für die Speak!-Studie wurden Schülerinnen und Schüler der 9. 2017. https://kultusministerium.hessen.de/presse/pressemitteilung/ und 10. Klassen befragt. Quelle: Maschke/Stecher 2017, S. 7-9 speak-studie-hauptrisiko-sind-gleichaltrige
Titelthema HLZ 1–2/2018 8 Handeln ist angesagt! Zum Umgang mit sexuellen Gewalterfahrungen Jugendlicher Sexuelle Gewalt ist im Leben Jugendlicher weit verbreitet. 10 bis 18 Jahren zu den positiven Seiten von Schule zählt, Das zeigen die Ergebnisse der Studie Speak! (HLZ S. 6-7). dass sie dort vor allem ihre Freunde treffen. Schule ist eine Fast die Hälfte (48 %) der befragten 14- bis16-Jährigen in Art „soziale Arena“; hier trifft man sich, tauscht sich aus Hessen hat Erfahrungen mit nicht-körperlichen Formen se- und ist unter sich. Dies hat sich in den letzten Jahren bzw. xueller Gewalt (z.B. verbale sexuelle Beleidigungen, sexuel- Jahrzehnten noch verstärkt. Mit Blick auf die Verbreitung le Belästigung im Internet etc.) und fast ein Viertel (23 %) sexueller Gewalt ist Schule ein Ort, an dem sexuelle Ge- erlebte bislang mindestens einmal im Leben körperliche se- walt (vor allem nicht-körperliche) von einer nicht unerheb- xuelle Gewalt in Form von „Antatschen“, gegen den Willen lichen Zahl von Heranwachsenden durch andere Gleichalt- geküsst oder am Geschlechtsteil berührt werden. Die meis- rige erlebt wird. Außerdem wird sexuelle Gewalt von einer ten Betroffenen machen solche Erfahrungen wiederholt und großen Zahl der Befragten beobachtet. Darunter leidet das erleben oft mehr als eine Form. Mädchen sind einem beson- Sicherheitsempfinden der Jugendlichen. Insgesamt können ders hohen Risiko ausgesetzt. Heranwachsende erleben in der wir Schule – in diesem Sinne betrachtet – als einen Risiko- Mehrheit der Fälle sexuelle Gewalt durch Gleichaltrige. Bei ort ansehen. Andererseits erreicht Schule alle jungen Men- nicht-körperlicher sexueller Gewalt wird die Schule von gut schen und kann zudem auch eine große Zahl an Eltern ein- 50 % der Jugendlichen als Tatort angegeben (vor allem das beziehen. Darin liegt die Chance der Schule, präventiv gegen Klassenzimmer und der Pausenhof). Weitere risikoreiche Orte sexuelle Gewalt wirken zu können. Dabei sollte sich die Prä- sind das Internet (44 %) und der öffentliche Raum (41 %), die ventionsarbeit nicht nur auf die Gewaltformen konzentrie- Party oder eine andere Wohnung (22 %) und auch das eige- ren, die Schule als „Tatort“ ausmachen. Im Fokus präventiver ne Zuhause (15 %). Bei körperlicher sexueller Gewalt ist die Arbeit sollten alle jugendtypischen sexuellen Gewaltformen Reihenfolge der riskanten Orte eine andere: An erster Stel- und -kontexte stehen wie sexuelle Gewalt in ersten sexuel- le steht hier mit 49 % der öffentliche Raum (Straße, Bahn- len Beziehungen bzw. Teenagerbeziehungen und im Internet hof oder Plätze), es folgen Party oder eine andere Wohnung oder die Wirkungen von Pornografie. (44 %), die Schule (24 %) und das eigene Zuhause (9 %) (1). Was können wir als Erwachsene, Pädagoginnen und Pä- Jugendliche sind aber nicht nur unmittelbar von sexueller dagogen, Lehrkräfte und Eltern tun, um sexueller Gewalt Gewalt betroffen, sondern erfahren diese auch mittelbar. 70 % entgegenzuwirken? Zum einen ist es wichtig, Kinder und aller befragten Jugendlichen haben sexuelle Gewalt mindes- Jugendliche in ihrer (potenziellen) Verletzlichkeit wahrzu- tens einmal beobachtet und ein gutes Drittel (38 %) hat au- nehmen und ihre Sicherheit zu gewährleisten, zum anderen ßerdem von sexueller Gewalt im persönlichen Umfeld gehört. aber dem Bedürfnis der Heranwachsenden nach Freiraum, 28 % geben an, dass sie selbst mindestens einmal etwas ge- Eigengestaltung und Mitwirkung nachzukommen. Jugend- tan haben, das mit sexueller Gewalt zu tun hat. liche haben besondere Ressourcen und Kompetenzen, die es einzubinden und zu stärken gilt. Deshalb sind ein partizipa- tives Vorgehen und der gleichberechtigte Einbezug jugend- Schule als soziale Arena und als Tatort licher wie erwachsener Akteure in die Entwicklung von prä- Jugendliche sind Tag für Tag in der Schule beisammen. Die ventiven Maßnahmen notwendig. Schule ist ein bedeutsamer Sozialisationsraum, der das Auf- wachsen von der Kindheit bis zum Jugendalter begleitet. Im Gelingensfaktoren für Prävention schulischen Kontext spielen die Peers – die Gleichaltrigen – für Kinder und Jugendliche eine kaum zu überschätzende Im Folgenden geht es nicht darum, „Rezepte“ für Prävention Rolle. In der Studie Jugend.Leben (2) wurde deutlich, dass an die Hand zu geben, sondern einige Ziele und mögliche es für fast 80 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von Gelingensfaktoren für Prävention zu benennen. Um Jugend- liche vor Viktimisierung und vor Täterschaft zu schützen, sind – allgemein formuliert – Maßnahmen notwendig, die „Let’s talk about Porno darauf abzielen, • alle Beteiligten für das Thema Sexuelle Gewalt zu sen- Unterrichtsmaterialien zur Sexualisierung jugendlicher Le- sibilisieren, benswelten durch das Internet und die dort zugänglichen • einen sensiblen Umgang mit Sprache zu vermitteln, Porno-Seiten, Foren und Chats sind noch rar gesät. Auf der • Rechte, Handlungskompetenzen und Wissen über sexu- Seite der Initiative Klicksafe findet man das 2011 erstellte elle Gewalt zu vermitteln und Dossier „Pubertät 2.0 – Aufwachsen in sexualisierten Lebens- • die Wahrnehmung von Grenzen zu fördern. welten“ und die Broschüre „Let’s talk about Porno“ mit Ma- Gerade mit Blick auf Lehrkräfte ist die Stärkung einer „päda- terialien für Schule und Jugendarbeit. www.klicksafe bietet gogischen Grundhaltung“ gegen sexuelle Gewalt ein bedeut- auch Unterrichtsmaterial zum Thema Cybermobbing und zur sames Ziel (3). Aus den Ergebnissen der Studie Speak! lassen strafbaren Kontaktaufnahme mit Kindern und Jugendlichen. sich dazu die folgenden konkreteren Überlegungen ableiten: • Webadresse von Klicksafe: www.klicksafe.de; Kurzlink zum • In großer Mehrheit geht sexuelle Gewalt von gleichaltri- Schülerheft: http://bit.ly/2jn8pOu gen Täterinnen und Tätern aus. Der präventive Fokus sollte
9 HLZ 1–2/2018 Titelthema neben sexuellem Missbrauch von erwachsenen Täterinnen und Tätern gegenüber Kindern und Jugendlichen auch auf sexuelle Gewalt Peer to Peer im schulischen und außerschu- lischen Kontext hin ausgeweitet werden. • Die Peers können einerseits als Gruppe angesehen wer- den, von der ein hohes Risiko für sexuelle Gewalthandlun- gen ausgeht. Andererseits bietet die Gruppe aber auch eine immense emotionale Unterstützung auf Augenhöhe, wenn Peers sexuelle Gewalt erlebt haben. Über 80 % der Jugend- lichen, die über ihre sexuellen Gewalterfahrungen sprechen, tun dies mit gleichaltrigen Freunden und Freundinnen. Die- se Kompetenz gilt es weiter zu stärken, im Sinne eines „Peers for Peers“, das heißt also einer Einbeziehung der Gleichaltri- gen in die Präventionsarbeit. • Vor allem in der Familie, aber auch in der Schule ist das Thema Sexuelle Gewalt zu wenig präsent. Über die Hälfte der Befragten (59 %) spricht mit den Eltern „nie“ über se- xuelle Gewalt, knapp die Hälfte (47 %) spricht nach eigenen Angaben auch nie im Unterricht darüber. Die Befragungen Die Studie „Speak!“ wurde am 8. Juni 2017 in Wiesbaden vor- in der Studie Speak! zeigen jedoch, dass die Heranwachsen- gestellt. Auf dem Foto von links nach rechts: Prof. Dr. Sabine den eine Auseinandersetzung mit diesem Thema wünschen, Maschke, Kultusminister Prof. Dr. Alexander Lorz, Pressesprecher dass sie Orientierung, Hilfe und Unterstützung suchen. Er- Stefan Löwer und Prof. Dr. Ludwig Stecher wachsene Bezugspersonen sollten verstärkt zu verantwortli- (Foto: Hessisches Kultusministerium) chen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern werden, die Sicherheit geben. Oder in den Worten einer Befragten: „Es muss mehr offen darüber gesprochen werden -> Medien, Pornokonsum und Belästigung im Internet Schule, etc. Es sollte keinem peinlich sein. Solche Befragungen sind wichtig, um den Menschen, Opfern, besser helfen zu kön- Speak! zeigt auch, dass auch das Internet ein zentrales Erfah- nen – Macht weiter so!“ rungsfeld für nicht-körperliche sexuelle Gewalthandlungen • Jugendliche haben ein großes Interesse an den Themen ist. Insgesamt hat ein Fünftel der Jugendlichen bereits min- Sexuelle Gewalt, Sexualität oder Partnerschaft, weil sie Teil destens einmal sexuelle Anmache im Internet erlebt. Mäd- ihrer Erfahrungs- und Lebensrealität sind. Hierin liegt die chen werden mit 33 % besonders häufig im Internet sexu- biografische und lebensweltliche Anschlussfähigkeit für die ell belästigt. Um hier präventiv wirken zu können, und zwar Gestaltung von Settings, in denen Prävention nachhaltig ge- ohne „erhobenen Zeigefinger“, müssen sich pädagogische lingen kann. Fachkräfte, Lehrkräfte, Eltern und Jugendliche verstärkt mit • Entwicklungs- und Alterssensibilität sind wichtige Stich- (jugendspezifischer) Sexualität befassen und Reflexions- und worte der Präventionsarbeit. Wir konnten zeigen, dass ein Urteilskompetenz im Umgang mit Medien erwerben. starker Anstieg des Risikos, sexuelle Gewalt zu erfahren, Eine einzelne Maßnahme bietet keinen ausreichenden um das 12. Lebensjahr einsetzt. Der Beginn der Pubertät ist Schutz vor sexueller Gewalt und stellt auch keine umfas- also ein guter Startpunkt für Prävention. Die Themen müs- sende Prävention dar. Anzustreben ist vielmehr eine Kombi- sen für die Jugendlichen interessant und biografisch rele- nation verschiedener Vorgehensweisen, um eine starke prä- vant sein und dürfen nicht verunsichern. Die Thematisierung ventive Kraft im schulischen Kontext und darüber hinaus von Gewalt in der Partnerschaft macht deshalb in einem frü- entfalten zu können. heren Alter nur wenig Sinn. Die kritische Auseinanderset- Sabine Maschke und Ludwig Stecher zung mit Geschlechterrollen kann hingegen nicht früh ge- nug beginnen. Professorin Dr. Sabine Maschke ist Erziehungswissenschaftlerin an • Das Thema Pornografie sollte ein Schwerpunkt der Prä- der Philipps-Universität Marburg, Professor Dr. Ludwig Stecher ventionsarbeit sein. Speak! zeigt, dass Jungen zu einem deut- hat eine Professur für empirische Bildungsforschung an der Justus- lich höheren Anteil Pornos konsumieren als Mädchen. Auch Liebig-Universität Gießen. Sie waren federführend für die Durch- führung und Auswertung der Studie Speak! verantwortlich. Eine der Anteil der „Heavy User“, die mehr als viermal in der Wo- wissenschaftliche Darstellung erscheint in Kürze im Beltz Verlag. che Pornos konsumieren, ist bei den Jungen besonders hoch. Dieser dauerhafte Konsum von Pornografie hat einen „Ge- wöhnungseffekt“. Zudem gehören Jugendliche, die öfter Por- nos schauen, signifikant häufiger als andere Jugendliche zu denen, die selbst sexuelle Gewalt ausüben. (1) S. Maschke und L. Stecher (im Erscheinen). Sexuelle Gewalt: • Ein nicht unerheblicher Teil der Jugendlichen erlebt sexu- Erfahrungen Jugendlicher heute. Weinheim und Basel: Beltz 2018 elle Gewalt in (ersten) intimen Beziehungen und durch ak- (2) S. Maschke, L. Stecher, T. Coelen, J. Ecarius und F. Gusinde. App- solutely smart: Die Studie Jugend.Leben. Bielefeld: Bertelsmann tuelle oder ehemalige Partnerinnen und Partner. Prävention Verlag 2013 muss deshalb Haltungen fördern, die auf ein partnerschaftli- (3) M. Wolff. Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch ches und faires Verstehen, Abstimmen oder Aushandeln und Professionelle in Institutionen: Perspektiven der Prävention durch auf eindeutige Kommunikation über sexuelle Absichten ab- Schutzkonzepte. In: K. Böllert & M. Wazlawik (Hrsg.), Sexualisier- zielen. Nur so können Jugendliche positive sexuelle Erfah- te Gewalt: Institutionelle und professionelle Herausforderungen rungen gewinnen. (S. 95–109). Wiesbaden: Springer VS 2014, S.102
Titelthema HLZ 1–2/2018 10 Texting + Sex = Sexting Erotische Selfies zwischen Flirt und Cybermobbing „Liebe ist ein Glas, das zerbricht, wenn man es zu unsicher ziehung festigen. Das Foto oder der Clip fungiert dabei als oder zu fest fasst.“ So lautet ein russisches Sprichwort und symbolisches Geschenk und kann deshalb auch der Anbah- man könnte beim Lesen die Augen schließen und sich an die nung einer neuen Paarbeziehung oder einem unverbindli- eigene Jugendzeit erinnern. Wie war die Zeit der Pubertät? chen Flirt dienen. Sexting ist eine Form, sexuelle Identität Wie wichtig war das eigene Aussehen? Welche Bedeutung zu erlangen, ohne die Gefahr, schwanger zu werden oder sich hatten Freundinnen und Freunde? Und wie kam es zum ers- mit einer Geschlechtskrankheit anzustecken. Provokant aus- ten Geschlechtsverkehr? Die Pubertät ist eine Phase des Um- gedrückt ist Sexting – zumindest physisch – Safer Sex und bruchs, des Austestens von Grenzen, der sexuellen Identitäts- für die Beteiligten in der Regel überwiegend mit positiven findung, eine magische Zeit, in der Freud und Leid oft dicht Erfahrungen verknüpft. beieinanderliegen. Die altersspezifischen Entwicklungsschrit- Die größte Gefahr liegt in der möglichen ungewollten Ver- te lassen sich auch im Sexting wiederfinden. öffentlichung freizügiger Fotos oder Videos durch verletzte Sexting, zusammengesetzt aus „Texting“ und „Sex“, ist Ex-Partnerinnen und Ex-Partner, gezieltes Mobbing oder un- eine Spielart des Selfies. Dabei geht es um das Versenden und bedachte Späße. Ein Bild oder ein Film, die an nicht umsich- Empfangen von selbst erstellten Nacktbildern und Videos. tige Adressatinnen und Adressaten versandt wurden, können Nichts zu tun hat es mit dem Versenden anonymer, nicht für das Opfer zu herbem Reputationsverlust und andauern- selbst produzierter pornografischer Darstellungen. dem Mobbing führen. Bezugspersonen wie Freundinnen, Für den pädagogischen Umgang mit Sexting ist es sinn- Freunde, Eltern oder Lehrkräfte reagieren mit Schuldzuwei- voll, die persönlichen sexuellen Erfahrungen und die eige- sungen: „Wie kann man nur so dumm sein, solche Bilder zu ne Haltung zu reflektieren. Eine Auseinandersetzung mit der verschicken? Selbst schuld.“ Dieses Victim Blaming verhin- eigenen Mediennutzung, Wissen um das Thema Sexting so- dert Mitgefühl und fördert die Beteiligung an Ausgrenzung wie Neugier und Offenheit für die Lebenswelt von Jugend- durch Lästern oder stetiges Weiterleiten der Sexting-Bot- lichen bieten dafür die Basis. schaften. Dazu kommen die Sprengung der Raum-Zeit-Di- mension (Einmal im Netz – immer im Netz) und psychosozi- ale Folgen: Scham, Schulangst, sozialer Rückzug, Depression Sexting im Alltag von Jugendlichen bis hin zum Suizid. Online-Kommunikation ist ein zentraler Bestandteil der Le- Nicola Döring macht die geschlechtsspezifischen Unter- benswelt Jugendlicher. Hierzu nutzen sie verschiedene Platt- schiede beim Sexting an den Erwartungen an die Mädchen formen, um text- und bildbasierte Nachrichten zu versenden. fest: Diese sollen sich sexuell attraktiv präsentieren und Nach der aktuellen JIM-Studie 2017 (1) steht WhatsApp mit gleichzeitig wird von ihnen „weibliche“ Zurückhaltung ver- weitem Abstand an der Spitze, 94 % der 12- bis 19-Jährigen langt. Ein offensiv sexuelles Verhalten gilt als „billig“ und nutzen diesen Kommunikationsdienst mindestens mehrmals „schlampig“ und führt zu sozialer Stigmatisierung, gerade un- pro Woche, Instagram kommt auf 57 %, Snapchat auf 49 %. ter Mädchen. Auch wenn der Inhalt von Sexting-Bildern meist Die „dienstälteste“ Plattform Facebook wird nur noch von weniger freizügig ist als das, was im Schwimmbad zu sehen einem Viertel der Jugendlichen regelmäßig genutzt. wäre: Die Existenz des selbst erstellten Fotos macht aktives Nach einer österreichischen Studie aus dem Jahr 2015 (2) sexuelles Handeln von Mädchen sichtbar und lässt sich leicht kennt die Hälfte der 500 befragten Jugendlichen zwischen 14 skandalieren. Ein sexy Posing-Foto kann – so Döring – einen und 18 Jahren jemanden, der oder die bereits Nacktaufnah- Jungen nicht im selben Maße bei seinen Peers kompromittie- men von sich selbst an andere verschickt hat. Ein Drittel hat ren wie ein Mädchen. Jungen reagieren ambivalent: Sie zei- selbst schon Fotos oder Videos erhalten, auf denen Personen gen sich interessiert und gleichzeitig werten sie die Mädchen nackt oder fast nackt abgebildet waren. 16 % der Jugendli- ab, die solche Fotos von sich machen lassen und damit nicht chen gaben an, schon einmal freizügige Aufnahmen von sich der Norm femininer sexueller Zurückhaltung entsprechen. selbst erstellt und diese dann meistens auch versandt zu ha- ben. Sexting ist also ein häufiger Ausdruck des Beziehungs- Empfehlungen für Safer Sexting und Sexuallebens junger Menschen. Aber auch Erwachsene sollten den eigenen Umgang mit Bildmaterial reflektieren: Es hilft wenig, Jugendlichen allgemein nahezulegen, nie frei- • Wer hat schon mal ein Foto einer anderen Person ver- zügige Bilder oder Videos zu versenden. Das ist vermutlich schickt, ohne sie vorher zu fragen? ebenso nutzlos wie der Hinweis, sie sollten nichts Persönli- • Wer hat Bilder des eigenen Kindes verschickt? ches ins Netz stellen. Doch wie lassen sich die Gefahren mi- Auch wenn verschickte Bilder und Videos keine sexuellen nimieren? Nicola Döring formuliert sechs Empfehlungen (4): Inhalte haben, gehen Erwachsene oft selbst recht sorglos mit • Einvernehmliches Sexting unter Jugendlichen ebenso den Persönlichkeitsrechten anderer Menschen um. wie einvernehmlichen Sex akzeptieren: Wenn einvernehm- Die Ilmenauer Medienpsychologin Professorin Nicola Dö- liches Sexting unter Jugendlichen als normaler Bestandteil ring vergleicht die Funktion von Sexting-Botschaften mit der des Erwachsenwerdens anerkannt wird, ist es für Pädago- von Liebesbriefen (3). Sie finden meist in sexuellen Bezie- ginnen und Pädagogen auch möglich, bei Bedarf Details des hungen statt und sollen Vertrauen aufbauen oder eine Be- „Safer Sexting“ zu besprechen.
11 HLZ 1–2/2018 • Nicht-einvernehmliches Weiterleiten bloßstellender Bil- der als Problem fokussieren: Das eigentliche Vergehen ist nicht das Sexting, sondern das Herumzeigen und Weiterlei- ten privater Fotos ohne Einverständnis der abgebildeten Per- sonen. Pädagoginnen und Pädagogen sollten thematisieren, dass es sich dabei nicht um einen „lustigen Streich“ handelt und dass es eine Frage der Ehre ist, sich nicht daran zu be- teiligen, sondern sogar dagegen vorzugehen. • Unterstützung für Mobbing-Opfer durch Peers, Erwach- sene und Institutionen verbessern: Wenn Sexting nicht mehr tabuisiert wird, können sich die von ungewollter Foto weitergabe betroffenen Opfer hilfesuchend an Eltern und Lehrkräfte wenden, ohne befürchten zu müssen, selbst be- schuldigt und bestraft zu werden. • Sexueller Doppelmoral und Verunglimpfung von sexuell aktiven Mädchen als „Schlampen“ entgegenwirken: In El- ternhaus und Schule sollten dysfunktionale sexuelle Scripts über den „Trieb“ der Jungen und den „Ruf“ der Mädchen hinterfragt werden (5). • Ausdrückliches Einverständnis als Richtschnur jeglichen sexuellen Handelns besser verankern und dabei die Jun- gen stärker in die Pflicht nehmen: Das Einüben des Kon- sensprinzips, das Erkennen und Respektieren von Grenzen sind wichtige Erziehungsaufgaben. Infografik: • Foto-Missbrauch in einer sozialen Gruppe als Sym- saferinternet.at ptom grundlegenderer Konflikte behandeln: Sexting darf nicht auf den „falschen Umgang“ mit dem Smart- Unterricht könnte man deshalb die Tipps von den Jugendli- phone reduziert werden, vielmehr müssen Probleme der chen selbst erarbeiten lassen. Klassengemeinschaft näher beleuchtet werden: Mobbing, Lehrkräfte, die von jungen Menschen angesprochen wer- Sexismus, fehlende Unterstützung von Seiten der Peers den, sollten Vorwürfe vermeiden und diese Botschaft vermit- und der Erwachsenen oder fehlende Sensibilisierung für teln: „Es ist nicht immer leicht, sich selbst zu schützen. Wenn Privatsphäre. Programme wie Soziales Lernen, Lions- es dir nicht gelungen ist, ist das nicht deine Schuld!“ Nicht Quest, Klassenrat oder der No Blame Approach fördern die sexy Selbstdarstellung ist zu verurteilen, sondern das, das soziale Klima in der Klasse und die Ich-Stärkung der was damit passiert ist, nämlich die Verbreitung durch andere. Jugendlichen (6). Zum Abschluss noch einmal zurück zu dem zitierten Sprichwort: Auch Sexting ist wie ein Glas, das zerbrechen kann. Eine Garantie für die Sicherheit des Glases gibt es nicht, Peer-to-Peer-Empfehlungen aber es können Wege aufgezeigt werden, wie das Glas von Auch Jugendliche geben sich untereinander Ratschläge für allen Beteiligten achtsam gehalten werden kann. sicheres Sexting. Döring nennt acht Kriterien, die in Jugend- Nikola Poitzmann foren immer wieder auftauchen: • Mach nur beim Sexting mit, wenn du es wirklich willst. Nikola Poitzmann ist Themenbeauftragte für Sexualisierte Gewalt • Betreibe Sexting nur mit einer verantwortungsvollen Per- im Projekt Gewaltprävention und Demokratielernen des Hessischen son, die du gut kennst. Kultusministeriums, Fachkraft zur Prävention und Intervention bei • Betreibe Sexting nicht einseitig, indem nur du Bilder sexueller Gewalt (inmedio) und Lehrerin an der Heinrich-Emanuel- schickst, sondern wechselseitig. Merck-Schule Darmstadt. Hinweise auf ihre Fortbildungsangebote • Anstelle von sexuell sehr eindeutigen Fotos oder Nackt- bei lea findet man in dieser HLZ auf Seite 13. bildern kannst du im Zweifelsfall Unterwäsche- oder Bade- hosen- oder Bikini-Fotos nehmen. (1) Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM • Sexting-Bilder können anonymisiert werden, indem du 2017. Jugend, Information, (Multi-)Media Basisstudie zum Medien einen Ausschnitt wählst, auf dem dein Gesicht oder andere umgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, Stuttgart 2017. identifizierende Merkmale nicht zu sehen sind. (2) Saferinternet.at (Hg.): Sexting in der Lebenswelt von Jugendli- • Wenn du Fotos verschenken möchtest, dann vielleicht lie- chen (2015), https://www.saferinternet.at ber professionelle Aktfotos vom Fotografen. Die sehen auf (3) Döring, Nicola: Erotischer Fotoaustausch unter Jugendlichen: jeden Fall ästhetisch und nicht „billig“ aus. Verbreitung, Funktionen und Folgen des Sexting. Zeitschrift für • Niemand darf ohne dein ausdrückliches Einverständnis Sexualforschung, 25 (1), 4-25, Stuttgart 2012. Bilder von dir machen oder Bilder, die du selbst gemacht (4) Döring, Nicola: Sexting. Aktueller Forschungsstand und Schluss- hast, weiterverbreiten. Das ist eine Straftat. folgerungen für die Praxis. In: Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V., Gewalt im Netz. Sexting, Cybermobbing & • Stehe zu dem, was du gemacht hast und zu deinem Kör- Co. (S.15-43), Berlin 2015. per. Du hast nichts falsch gemacht. Schämen sollten sich die- (5) Materialien zur Reflexion über den Einfluss von Werbung findet jenigen, die Fotos weiterleiten und andere mobben. man u.a. auf der Seite von Pinkstinks (https://pinkstinks.de ). Peer-to-Peer-Empfehlungen haben einen höheren Wir- (6) Angebote finden sich beim Projekt Gewaltprävention und De- kungsgrad als die von Pädagoginnen und Pädagogen. Im mokratielernen: http://gud.bildung.hessen.de
Titelthema HLZ 1–2/2018 12 Lehrplan Sexualerziehung Demokratieerziehung und Gewaltprävention Seit seiner Veröffentlichung im Sommer 2016 schüren die Geg- bei genauer Lektüre jeder Grundlage. Der Lehrplan ist im Ge- nerinnen und Gegner des neuen hessischen Lehrplans zur Sexual- genteil im Wesentlichen dem Kindeswohl und der Abwehr erziehung Unsicherheit und Angst (HLZ 11/2016). Gruppierun- von Gewalt verpflichtet: gen im Umfeld der Initiative „Demo für alle“ warnen vor einer „Sexualerziehung soll das Bewusstsein für eine persönliche In- „indoktrinierenden Sexualerziehung“ und einem „verfassungs- timsphäre und für ein gewaltfreies, respektvolles Verhalten in widrigen Einfordern von Akzeptanz“. Die AfD hat die Warnun- gegenwärtigen und zukünftigen persönlichen und partnerschaft- gen vor der „Genderisierung“ der Schulen und einer „Frühsexu- lichen Beziehungen entwickeln und fördern sowie die grundle- alisierung“ der Kinder in ihr politisches Vokabular übernommen. gende Bedeutung von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Grundgesetz Wenn die AfD und andere von der Gefahr einer „Frühsexualisie- vermitteln. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesver- rung“ sprechen, meinen sie allerdings weder die Modelshows von fassungsgerichtes ist bei der Sexualerziehung Zurückhaltung zu Heidi Klum, deren Modekollektion auch schon mal Highheels für wahren sowie Offenheit und Toleranz gegenüber verschiedenen dreijährige Mädchen anbot, noch die sexuell aufgeladenen Scrip- Wertvorstellungen zu beachten und jede einseitige Beeinflus- ted-Reality-Sendungen der privaten Fernsehsender, sondern die sung zu vermeiden.“ Bemühungen, in einem Lehrplan Grundsätze für eine altersge- Lehrkräfte sind ausdrücklich verpflichtet, auf die Privatsphäre rechte Sexualerziehung zu entwickeln und die Fragen und die der Familie Rücksicht zu nehmen und in enger Kooperation Lebenswelten der Kinder aufzugreifen. Und wenn die AfD for- dert, „die Familie in Schulbüchern positiv und realitätsnah dar- mit den Eltern das „Bewusstsein für eine persönliche Intim- zustellen“, dann meint sie damit eben ausschließlich als einziges sphäre und für ein gewaltfreies, respektvolles Verhalten in „Ideal“ die Ehe mit „Mutter-Vater-Kind-Beziehung“ und degra- gegenwärtigen und zukünftigen persönlichen und partner- diert die vielen anderen Familienkonstellationen, die ebenfalls gut schaftlichen Beziehungen“ zu entwickeln. und respektabel sind. Auch Kinder in Regenbogenfamilien oder In diesem Sinne ist der Lehrplan auch und gerade De- „Scheidungskinder“ können wohl behütet zu guten Menschen mokratieerziehung und somit das beste Mittel der Gewalt- heranwachsen. Für eine pauschale „bessere“ oder „schlechtere“ prävention. Demokratieerziehung setzt auf verbale Ausein- Einstufung ist in unserer Welt vielfältiger Lebenskonzepte kein andersetzungen und vermittelt Kindern und Jugendlichen, Platz. Vielmehr geht es um ein gegenseitiges Wertschätzen und dass nicht das Recht des körperlich Stärken oder Laute- Respektieren. Extreme „Traditionalisten“, die auf ein übertrie- ren zählt, sondern das durch sachliche Argumente beleg- ben eng gefasstes Elternrecht pochen und eine bildungspoliti- te moralische Recht, das auch dem Gegenüber Respekt und sche Aufgabe zur Sexualerziehung an Schulen kategorisch ver- Wertschätzung entgegenbringt. Vielfalt und Anderssein neinen, ignorieren die traurige Realität, dass sexuelle Gewalt werden dabei nicht nur toleriert, also hingenommen, son- am häufigsten innerhalb der engsten Familie stattfindet. Und dern möglichst auch akzeptiert und damit selbstverständ- sie verschließen die Augen vor überforderten Eltern, die Kinder lich wertgeschätzt. und Jugendliche ungeschützt den pornografischen und gewalt- Die Grenzen der Toleranz und Akzeptanz liegen im Umgang verherrlichenden Seiten des Internets überlassen. Die HLZ frag- te Heiko Rohde, der beim GEW-Bildungswerk lea Fortbildungen mit der auf Ausschluss (oder gar auf „Vernichtung“) ausge- zum neuen Lehrplan Sexualerziehung anbietet (HLZ S.13), wie richteten Intoleranz, die ihr Handeln dann oft genug mit dem er die Kritik an dem Lehrplan und dessen Umsetzung beurteilt. Die harten Worte und aggressiven Vorgehensweisen der Geg- GEW vermisst klare Haltung ner_innen des Lehrplans erfüllen aus meiner Sicht die Kri- terien des Populismus, den der Präsident des Bundesverfas- Im Februar 2017 schloss sich Hessen der bundesweiten Ini- sungsgerichts Vosskuhle unter anderem mit der Anmaßung tiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ an, die vom Bundes- eines Fundamentalanspruchs und der Behauptung, man re- beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs ins Leben präsentiere „den Volkswillen“, in Verbindung bringt (FAZ gerufen wurde. Sie soll Schulleitungen und Kollegien ermu- 23. 11. 2017). Ein solcher Populismus ist oft ein Nährboden tigen, sich mit dem Thema „auseinanderzusetzen und schul- für Polarisierung und mündet oft genug in Gewalt. Doch statt bezogene Schutzkonzepte zu entwickeln“. Auch bei der Vor- einem solchen Populismus durch eine konsequente Umset- stellung der SPEAK-Studie zur sexualisierten Gewalt unter zung des Lehrplans Sexualerziehung entgegenzutreten, mei- Gleichaltrigen (HLZ S.6ff.) bekräftigte Kultusminister Lorz den viele Lehrkräfte und Schulleitungen das Thema, aus ei- sein Ziel, „dass sexualisierte Gewalt für Jugendliche künftig gener Unsicherheit und Angst, etwas falsch zu machen. Das wieder seltener zur persönlichen Erfahrung wird und statt- führt zu einer Situation, als hätte es diesen Lehrplan und die dessen der wertschätzende und diskriminierungsfreie Um- damit verbundenen Verpflichtungen zur Entwicklung schul- gang miteinander gestärkt und gefördert wird“. Diese klare interner Vereinbarungen nie gegeben, und lässt die Chan- Haltung vermisste die GEW allerdings im Umgang mit dem cen zur Demokratieerziehung und Gewaltprävention, die er ehemaIigen Schulleiter Ulrich Vormwald, der als kommissa- bietet, ungenutzt. rischer Schulleiter der Kreisrealschule Bad Orb in den Jah- Der in den Aufrufen der „Demo für alle“ erhobene Vor- ren 2000 bis 2002 dem Vorwurf sexueller Übergriffe durch wurf, der Lehrplan verstoße „gegen das Indoktrinationsver- Lehrkräfte der Schule nachgegangen war und danach vom bot“, ignoriere „die natürlichen Schamgrenzen bei den Kin- Hessischen Kultusministerium (HKM) „hin- und hergescho- dern“ und sei somit ein „Angriff auf unsere Kinder“, entbehrt ben und schikaniert“ wurde (HLZ 11/2017).
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