MAX PLANCK FORSCHUNG - KÜNSTLICHE INTELLIGENZ MACHT SICH SCHLAU - MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT
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Ausgabe 03 | 2021 Max Planck Forschung Demografie Energie Astronomie Volkszählung per Facebook Treibstoff aus dem Stahlwerk Das dunkle Herz von Centaurus A Künstliche intelligenz macht sich schlau
I l lust r at ion: Lu i sa J u ng f ü r M PG 2 L ernen, lernen, lernen: Computer können zwar besser rechnen als Menschen, doch an Weltwissen und grundlegenden Erkenntnissen über Zusammenhänge mangelt es ihnen bislang. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten daran, dass künstliche Intelligenz in Zukunft mehr den menschlichen Anforderun- gen entspricht. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser Künstliche Intelligenz schlägt heute die Leistungen selbst der klügsten Menschen – und ist doch jedem Kleinkind unterlegen. Denn Programme, die mit Methoden des maschinellen Lernens arbeiten, zeichnen sich durch eine extreme Inselbegabung aus. Vor allem wenn es um die Erkennung komplexer Muster in großen Datenmengen geht, ist künstliche Intelligenz kaum zu übertreffen. Sie findet daher zunehmend Anwendung in der Medizin. So lassen sich Algorithmen darauf trainieren, anhand einer Vielzahl physiologischer Kenngrößen und klinischer Befunde das Risiko für psychische Erkrankungen abzuschätzen. 3 Doch für alle Aufgaben außerhalb ihres Spezialgebiets sind Algorithmen völlig unbrauchbar. Und wie sie zu ihren Einschätzungen gelangen, ist oft nicht nachvollzieh- bar. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Programme die Zusammenhänge, die sie aufdecken, selbst nicht verstehen – ganz zu schweigen von einem Verständnis für die Welt um sie herum, wie es schon kleine Kinder haben. Forschende entwickeln Algorithmen jedoch inzwischen so weiter, dass zumindest erkennbar wird, welche Kriterien sie für ihre Entscheidungen heranziehen – eine absolute Notwendigkeit gerade in der Medizin, aber auch bei der Kreditvergabe, im Straßenverkehr und in anderen Bereichen, in denen das Urteil künstlicher Intelli- genz weitreichende Folgen für Menschen hat. Hier wird deutlich, welche ethischen Fragen sich stellen, wenn Algorithmen Entscheidungen für und über uns treffen. Die Kriterien dafür auszuloten, ist daher ebenfalls Thema der Forschung. Schließlich sollten wir Menschen den Algorithmen vorschreiben, was sie dürfen und was nicht. Der Schwerpunkt dieses Hefts will in Sachen künstliche Intelligenz einige Denk- anstöße geben. In diesem Sinne eine anregende Lektüre! Ihr Redaktionsteam Max Planck Forschung · 3 | 2021
Bi l de r : Lu i sa J u ng f ü r M PG ( l i n ks ob e n ), Moha m ad A l m e dawa r /M PI f ü r mol e ku l a r e Z e l l biol o gi e u n d Ge n et i k ( r echts ob e n ), i S t o ck / Dm y t ro Va r av i n ( l i n ks u n t e n ), pict u r e a l l i a nc e / Jo ch e n Tack ( r echts u n t e n ) 38 52 4 58 64 38 Erkennen 52 Erkunden 58 erfassen 64 ersetzen Eine Software soll dabei Unter dem Mikroskop zeigen Handydaten sind eine wert- CO2 könnte sich künftig statt helfen, psychiatrische Krank- sich in Zellen rätselhafte Bläs- volle Quelle für Statistiken zur Erdöl als Rohstoff für Chemie- heiten zu diagnostizieren. chen, die nun erforscht werden. Bevölkerungsentwicklung. produkte nutzen lassen. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Inhalt 03 | Editorial 44 | besuch bei Charlotte Grosse Wiesmann 06 | orte der forschung Vom Gestirn zum Gehirn GEO600 bei Hannover 50 | Zweiter Blick 08 | Nobelpreise 2021 wissen aus 10 | kurz notiert 52 | Tröpfchen in der Zellsuppe Jahrzehntelang interessierte sich niemand 16 | ZUR SACHE für die Bläschen, die unter dem Mikro skop in Zellen erscheinen. Jetzt werden Der Waldbau braucht frische diese rätselhaften Phänomene näher Wurzeln untersucht. Ein interdisziplinäres Institut könnte 58 | Volkszählung per Facebook wissenschaftliche Erkenntnisse liefern, wie der Wald zukünftig gestaltet Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung werden kann, um die fortschreitende nutzt Facebook mindestens einmal im Erderwärmung auszuhalten. Monat. Aus den dabei gesammelten Daten lassen sich Migrationsströme nachvoll- 5 ziehen und Trends erkennen. 22 | infografik 64 | Treibstoff aus dem Stahlwerk Viele Stimmen im Vogelchor Rund sechs Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes stammen aus der Stahl- iM FOKUS industrie. Forschende untersuchen die Nutzung des Treibhausgases als GEOmax Künstliche Intelligenz macht Rohstoff für Chemieprodukte. Wetter extrem – wenn sich schlau sich Hitzewellen, Stürme 72 | Zoom ins Herz von und Starkregen häufen 24 | Nicht ohne Grund! Centaurus A Künstliche Intelligenz erkennt Muster Im Zentrum einer fernen Milchstraße schon lange viel besser als wir. Um aber steckt ein supermassereiches schwarzes ihren Namen wirklich zu verdienen, Loch. Jetzt ist ihm das Event Horizon müsste sie auch kausale Zusammenhänge Telescope so nahe gekommen wie niemals verstehen. zuvor. 32 | Wenn Maschinen mitmischen Immer öfter treffen wir im Alltag auf 78 | Post aus ... künstliche Intelligenz. Wie aber verhalten Melbourne, Australien sich Menschen, wenn sie mit intelligen- ten Maschinen zu tun haben? Und was erwarten sie von ihrem künstlichen 80 | neu erschienen Gegenüber? 82 | fünf fragen 38 | Eine Software scannt die Psyche Zu genetisch veränderten Mücken Nur schlapp oder schon depressiv? Die Symptome psychiatrischer Erkrankungen sind nicht immer eindeutig. Bei der 83 | impressum Früherkennung könnte der Einsatz von künstlicher Intelligenz hilfreich sein. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Weltrekord im Reinraum W er die Musik des Universums belauschen möchte, der braucht feine Instrumente. Etwa solche, wie sie in LIGO stecken. Als diese beiden US-amerikanischen Detektoren am 14. September 2015 als Erste überhaupt eine Gravitations- welle registrierten, war auch die Freude in Ruthe riesig. Denn 6 nahe dem Dorf bei Hannover steht ebenfalls eine Falle für die von Albert Einstein vorhergesagten Kräuselungen der Raumzeit. In der Anlage GEO600 testen Forschende – unter anderem des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik – neue Techniken, die dann in anderen, größeren Detektoren weltweit zum Einsatz kommen. Alle diese Instrumente arbeiten nach dem Prinzip der Inter- ferometrie: Eine Optik spaltet Laserlicht in zwei Strahlen auf, die anschließend im rechten Winkel zueinander weiterlaufen. Am Ende der beiden Rennstrecken reflektieren Spiegel die Lichtstrahlen und bringen sie schließlich zur Überlagerung. Aus dem so entstandenen Interferenzmuster lässt sich erken- nen, ob eine Gravitationswelle durch die Anlage geschwappt ist. Derartige Messungen sind überaus diffizil, und so gleicht das Innere von GEO600 einem Reinraum in einem virologi- schen Labor. Das Tragen von Schutzbrillen und speziellen Anzügen ist Pflicht, denn kein Staubkörnchen darf die emp- findlichen Messungen stören. Das Laserlicht verläuft in zwei 600 Meter langen Edelstahl- rohren, die zusammen mit dem Tank (links im Bild) zu einem ausgeklügelten Vakuumsystem gehören. Der optische Tisch vor den drei Forschenden erzeugt Quetschlicht. Dieses ist einer der Tricks, um die Empfindlichkeit eines Gravitations- wellen-Detektors zu erhöhen. Es reduziert das störende Quantenrauschen des Laserlichts um den Faktor 32! Damit hält GEO600 den Weltrekord. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Nobelpreis FÜR cHEMIE Benjamin List Linke oder rechte Hand? Das macht auch in der Chemie einen großen Unterschied. Viele Moleküle, vor allem solche, die in biologischen Prozessen mitmischen, existieren F o t o: F r a n k V i n k e n in zwei Varianten, deren Bestand- teile wie die Finger unserer Hände spiegelbildlich angeordnet sind. 8 Bei chemischen Reaktionen entste- hen die beiden Varianten gewöhn- lich zu gleichen Anteilen, in der Biologie wirken sie aber meist sehr unterschiedlich. Das spielt nicht zuletzt bei medizinischen Wirk- stoffen eine Rolle. Benjamin List, Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, und David W. C. MacMillan von der Universität Princeton haben im Jahr 2000 un- „Man denkt: Vielleicht war das abhängig voneinander festgestellt, dass auch relativ kleine, oft kosten- eine ganz doofe Idee.“ günstige und ungiftige organische Moleküle eine chemische Reak- tion ausschließlich zu einer Vari- ante steuern können. Dafür erhal- ten sie den Nobelpreis für Chemie eher skeptisch: „Ich war total unsi- auch in der Industrie oft als Kata- 2021. Vor der Entdeckung der bei- cher. Man denkt ja nicht: Ha! Das lysatoren eingesetzt. den Forscher war die selektive hab ich designt! Und nun werde Wirkung nur von Enzymen be- ich weltberühmt! Nein, eher: „Benjamin List hat ein neues Kapitel kannt oder von aufwendig gebau- Hmm ... Vielleicht war das eine der Katalyse mit großem Anwen- ten Katalysatoren, die oft teure ganz doofe Idee. Andere haben das dungspotenzial aufgeschlagen“, oder giftige Metalle enthalten. sicher schon probiert und wissen sagt Max-Planck-Präsident Mar- auch, warum es nicht klappt ...“ tin Stratmann. „Es ist ihm erst- Als Benjamin List zum ersten Mal Doch das hatte noch keiner aus- malig gelungen, organische Kata- die katalytische Wirkung eines or- probiert, und es klappte. Heute lysatoren mit hoher Stereoselek- ganischen Moleküls, nämlich der werden organische Moleküle nicht tivität zu entwickeln – ein Durch- Aminosäure Prolin, testete, war er nur in der Forschung, sondern bruch, wie man ihn selten erlebt.“ Max Planck Forschung · 3 | 2021
Kurz Nobelpreis FÜRnotiert PHYSIK Klaus Hasselmann ckelte er das mathematische Werk- zeug, mit dem sich der Fingerab- druck des menschlichen CO2-Aus- F o t o: pict u r e a l l i a nc e / dpa | J.j. Gu i l l e n stoßes im Wetterrauschen nach- weisen lässt. „Als Gründungsdirektor unseres Max-Planck-Instituts für Meteo- rologie hat er mit seinen Kollegen 9 in Hamburg die Erdsystemfor- schung in Deutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren maß- geblich vorangetrieben und inter- national anschlussfähig gemacht“, sagt Max-Planck-Präsident Mar- tin Stratmann. Um die Erkenntnisse der Klimafor- schung in die Gesellschaft zu tra- „Wir warnen seit fast 50 Jahren gen und wirkungsvolle, aber auch praktikable Maßnahmen gegen vor dem Klimawandel.“ den Klimawandel zu entwickeln, gründete Klaus Hasselmann ge- meinsam mit Carlo C. Jaeger vom Potsdam-Institut für Klimafol- genforschung das heutige Global Ohne Provokation geht es oft nicht, und Giorgio Parisi aus Italien den Climate Forum. „Es gibt viele gerade in der Wissenschaft: Klaus Nobelpreis für Physik 2021. Dinge, die wir tun können, um Hasselmann forderte mit seinen den Klimawandel zu bremsen“, Arbeiten die Klimaforschung her- Klaus Hasselmann verschaffte dem sagt Hasselmann, der am ehemali- aus – und legte so die Grundlage Zufall Eingang in die Klimafor- gen Max-Planck-Institut für Strö- für die Erkenntnis, dass sich die schung. Er betrachtete die lang- mungsforschung promovierte und Erderwärmung heute eindeutig fristigen Entwicklungen des Kli- ab 1975 das Max-Planck-Institut auf die Zunahme von CO2 in der mas gewissermaßen als Ergebnis für Meteorologie mit aufbaute. Atmosphäre zurückführen lässt. des meteorologischen Rauschens, „Die Frage ist aber, ob Menschen Dafür erhält der ehemalige Direk- als das sich die kurzfristigen Wet- erkennen, dass wir jetzt handeln tor am Max-Planck-Institut für terschwankungen begreifen lassen. müssen, um etwas zu stoppen, Meteorologie gemeinsam mit So hatte vor ihm noch niemand auf das in zwanzig oder dreißig Jahren Syukuro Manabe aus den USA das Klima geblickt. Zudem entwi- eintreten wird.“ Max Planck Forschung · 3 | 2021
60 000 Jahre können Forschende mit- hilfe der Sedi- mentbohrkerne aus Eifelmaaren in die Klimage- schichte zurück- blicken. Eifelmaare sagen Starkregen vorher Zwischen dem vom Hochwasser ver- Jahre veränderte: In Kaltzeiten sind wüsteten Kreis Ahrweiler und den die Schichten sehr dünn und kaum Vulkanseen in der Eifel liegen weni- sichtbar. In Warmzeiten ist in den ger als hundert Kilometer. Genau Schichten dagegen ähnlich wie bei diese Maare liefern nun einen weite- den Jahresringen eines Baumes der ren Hinweis, dass Wetterextreme wie Gang der Jahreszeiten zu erkennen. Milch Starkregen künftig zunehmen könn- ten. Forschende der Johannes-Gu- Zudem bildeten sich in diesen Phasen teilweise besonders dicke Sediment- ermöglichte tenberg-Universität Mainz und des Max-Planck-Instituts für Chemie ha- schichten, die mehrere Millimeter bis wenige Zentimeter umfassen kön- Migration ben an den Schichten von Sediment- bohrkernen aus Maarseen und Tro- nen – das weist auf Hochwasserereig- nisse hin. Das Klima schwankte in ckenmaaren der Vulkaneifel präzise diesen Phasen also offenbar mehr, Vor mehr als 5000 Jahren breiteten abgelesen, wie sich das Klima in Mit- Wetterextreme waren stärker. sich die Jamnaja, ein Hirtenvolk aus teleuropa während der letzten 60 000 www.mpg.de/17376189 10 der eurasischen Steppe, über weite Gebiete aus. Ihre Gene lassen sich von Skandinavien bis Sibirien nach- weisen. Bislang war unklar, wie es den Menschen in der Bronzezeit ge- lang, solch enorme Distanzen zu- rückzulegen. Nach einer Studie unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte könnte der beginnende Konsum von Milch- produkten ein bedeutender Faktor Pferde in der eurasischen Steppe: Vor 5000 bei der Migration gewesen sein. Jahren nutzten Hirten sie als Milchquelle Denn Milch enthält Wasser und und als Transportmöglichkeit, um in weit wichtige Nährstoffe, die in Steppen entfernte Gebiete zu migrieren. anderweitig oft nicht verfügbar sind. Um den Wandel der Ernährung nach zuweisen, nutzten die Forschenden Zahnstein von den Zähnen erhaltener Skelette. Vor der Bronzezeit fanden sich so gut wie keine Anhaltspunkte für Milchkonsum, während in der F o t o: C om pa r at i v e C o gn i t ion Grou p frühen Bronzezeit nahezu alle Unter- F o t o: A . Se noko s ov suchten Milchtrinker waren. Der Übergang zur Milchwirtschaft fand damit genau zu dem Zeitpunkt statt, als die Hirtenvölker sich nach Osten auszubreiten begannen. Sehr wahr- scheinlich spielten dabei auch domes- tizierte Pferde eine Rolle: Die Hirten aßen das Fleisch, sie tranken die Milch und nutzten die Tiere auch als Transportmittel. www.mpg.de/17544602 Max Planck Forschung · 3 | 2021
Kurz notiert 11 Bakterienmatten im Lake Huron. Wenn durch den Stoffwechsel der Mikroorganismen Gase wie Methan und Schwefel- wasserstoff entstehen und nicht entweichen kön- nen, bilden sich finger- förmige Auswüchse. F o t o: Ph i l H a rtm ey e r , NOA A T h u n de r Bay Nat iona l Ma r i n e Sa nct ua ry Ein langer Tag für Mikroben Fast der gesamte Sauerstoff auf der zufolge waren die länger werdenden Oberfläche der Matte und produzie- Erde stammt aus der Fotosynthese – Tage ein Grund, warum der Sauer- ren durch die Fotosynthese Sauer- ein biochemischer Prozess, der nur stoffgehalt der Atmosphäre anstieg. stoff. Allerdings dauert es ein paar mit Licht abläuft. Als Cyanobakterien Die Forschenden untersuchten Cya- Stunden, bis sie richtig loslegen. Zu- die Fotosynthese vor mehr als 2,4 nobakterien im Lake Huron in Mi- dem bildet sich zwischen den Bakteri- Milliarden Jahren erfunden haben, chigan, die unter ähnlichen Bedin- enmatten und der Wasseroberf läche waren die Tage jedoch um mehrere gungen wie auf der frühen Erde leben. bei kürzeren Tagen ein schwächeres Stunden kürzer als heute. Erst als sich Im sauerstoffarmen Wasser des Sees Gefälle der Sauerstoffkonzentration die Erde aufgrund der Anziehungs- konkurrieren sie mit schwefel aus; das Gas diffundiert daher langsa- kraft des damals noch jungen, ihr nä- oxidierenden Bakterien. Tag für Tag mer aus dem Wasser. Die länger wer- her stehenden Mondes und der brem- führen die Mikroorganismen einen denden Tage in der Erdgeschichte senden Wirkung der Gezeiten langsa- kleinen Tanz auf: Während nachts die könnten also die heutige Sauerstoff- mer drehte, wurden die Tage länger. schwefelfressenden Bakterien über konzentration und damit das Leben, Forschenden des Max-Planck- den Cyanobakterien liegen, wandern wie wir es kennen, erst möglich ge- Instituts für marine Mikrobiologie Letztere bei Sonnenaufgang an die macht haben. www.mpg.de/17312182 Max Planck Forschung · 3 | 2021
KURZ NOTIERT Kernfusion erreicht ein Zwischenziel Mit der Kernfusion könnte sich eine Typ Stellarator haben Wissenschaft- praktisch unerschöpfliche Energie- lerinnen und Wissenschaftler den quelle auftun. Um sie anzuzapfen, Magnetkäfig, in dem das Fusions- konkurrieren weltweit verschiedene plasma eingeschlossen werden soll, Ansätze, die jeweils unterschiedliche so optimiert, dass Energieverluste im Bi l d: M PI f ü r Pl asm aph ysi k Vor- und Nachteile aufweisen. Auf ei- Vergleich zu früheren Anlagen des- nem dieser Wege hat ein Team des selben Typs deutlich minimiert wer- Max-Planck-Instituts für Plasma- den. Damit erfüllt dieser Bautyp eine physik in Greifswald mit der Fusions- Voraussetzung, um künftig einmal als anlage Wendelstein 7-X nun ein Zwi- Kraftwerk realisiert zu werden. schenziel erreicht. In der Anlage vom www.mpg.de/17350399 Gedächtnis Für Corona Historischer Treffer: Manche Menschen besitzen Ge- Im Viertelfinale der dächtnis-Immunzellen, die das neue F o t o: pict u r e a l l i a nc e / GE S / H e lge Pr a ng EM 2016 erzielte Jonas Hector beim Coronavirus Sars-CoV-2 erkennen, Elfmeterschießen das obwohl sie noch nie mit dem Erreger entscheidende Tor Kontakt hatten. Diese sogenannten gegen Italien. Zuvor T-Helferzellen mussten sich offenbar war der Münz- in der Vergangenheit mit harmlose- 12 wurf zugunsten der ren Erkältungscoronaviren ausein deutschen Mann- andersetzen. Ein Team der Berliner schaft ausgegangen. Charité und des Max-Planck-Insti- tuts für molekulare Genetik hat das Immunsystem von fast 800 Men- schen analysiert, die zuvor noch nicht mit Sars-CoV-2 in Kontakt gekom- men waren. Es zeigte sich, dass der Körper T-Helferzellen, die er gegen Erkältungscoronaviren gebildet hat, Münze beeinflusst auch gegen Sars-CoV-2 mobilisiert und so eine Kreuzimmunität ausbil- ElfmeterschieSSen det. Bei Erkältungen mit harmlose- ren Coronaviren baut das Immun Das Viertelfinale der Fußball-Euro- zeigt, dass die Gewinnhäufigkeit der system also eine Art universelles Ge- pameisterschaft 2016 wird manchen zuerst schießenden Mannschaften dächtnis für Coronaviren auf. Das Fans noch in Erinnerung sein. Nach nur bei etwa 51 Prozent liegt. Einen schützt zwar nicht mit Sicherheit vor der Verlängerung musste die deut- Unterschied macht hingegen das Er- Sars-CoV-2, eine frühere Erkältung sche Mannschaft ins Elfmeterschie- gebnis des Münzwurfs vor dem Elf- durch Coronaviren könnte aber den ßen gegen Italien. Wie üblich wurde meterschießen, wie eine Studie von Verlauf der Erkrankung günstig be- per Münzwurf ausgelost, welcher Matthias Sutter, Direktor am Max- einflussen. Zudem kann sie die Wir- Kapitän über den ersten Schuss ent- Planck-Institut zur Erforschung von kung einer Impfung beschleunigen: scheiden darf. Bastian Schweinstei- Gemeinschaftsgütern in Bonn, und Während normale T-Helferzellen ger gewann die Auslosung für das drei Düsseldorfer Kollegen ergab: über einen Zeitraum von zwei Wo- deutsche Team und entschied, der Etwa 60 Prozent der Mannschaften, chen schrittweise aktiviert werden, italienischen Mannschaft den Vor- deren Kapitäne die Auslosung ge- sprechen die kreuzreagierenden tritt zu lassen – zum Unverständnis winnen, können das nachfolgende T-Helferzellen schon innerhalb von vieler Kommentatoren. Nicht nur bei Elfmeterschießen für sich entschei- einer Woche auf die Impfung mit ihnen hält sich hartnäckig die These, den. So war es auch im EM-Viertel dem Vakzin von Biontech an. Die dass die Möglichkeit, als Erster zu finale 2016, in dem die deutsche Forschenden stellten jedoch auch fest, schießen, einen Vorteil bringt. Wis- Mannschaft letztlich mit sechs zu dass die Kreuzimmunität im höheren senschaftlich ist diese Annahme nicht fünf siegte. Lebensalter sinkt. haltbar. Untersuchungen haben ge- www.mpg.de/17101258 www.mpg.de/17406765 Max Planck Forschung · 3 | 2021
KURZ NOTIERT Kosmisches Festmahl Pausen Bi l d: A . S. C a rva l ho/A . Buona n no, D. M i hay l ov, J. S t e i n hoff In einer Entfernung von mehr als 900 Millionen Lichtjahren haben sich nicht kurz hintereinander zwei kosmische Katastrophen ereignet: Zwei schwarze vergessen ( M PI f ü r Gr av i tat ionsph ysi k) Löcher verschlangen – unabhängig voneinander – innerhalb von zehn Schnell Gelerntes ist oft auch wieder Tagen jeweils einen Neutronenstern. schnell vergessen. Dies gilt auch für Die dabei ausgesandten Gravitations Mäuse: In einem Experiment am wellen gingen den beiden Detektor- Max-Planck-Institut für Neurobiolo- anlagen LIGO und Virgo ins Netz. gie sollten sich die Nager die Position Die Signale gelten als erster sicherer eines in einem Labyrinth versteckten Nachweis der Verschmelzung eines Stücks Schokolade merken. Zwi- schwarzen Lochs mit einem Neutro- schen den Lernphasen im Labyrinth nenstern. Dabei verschluckten die mussten die Mäuse unterschiedlich schwarzen Löcher ihre Nahrung am lange Pausen einlegen. Mit längeren Stück. Die Ereignisse erlauben erste Unterbrechungen prägten sich die Rückschlüsse auf die Entstehung die- Tiere die Position der Schokolade ser seltenen Doppelsysteme und dar- zwar nicht so schnell ein, dafür aber auf, wie oft sie fusionieren. „Die Gra- dauerhafter. Während des Tests ma- Kollisionen im All: Im Stil eines Film- vitationswellen stammen von schwar- ßen die Forschenden die Nervenzell plakats hat ein Künstler dargestellt, wie zen Löchern mit neun und sechs aktivität im präfrontalen Kortex – ei- ein schwarzes Loch einen Neutronen- Sonnenmassen, die mit zwei leichte- ner Gehirnregion, die an komplexen stern verschluckt. Das Bild zeigt die ren Objekten von 1,9 und 1,5 Sonnen Denkaufgaben beteiligt ist. Bei kur- Gravitationswellen-Ereignisse GW200105 massen verschmolzen“, sagt Ales- zen Pausen schwankte das Aktivie- und GW200115 – die ersten sicheren sandra Buonanno, Direktorin am rungsmuster in diesem Bereich des Nachweise von Verschmelzungen schwar- Max-Planck-Institut für Gravitati- Gehirns stärker als bei langen Pausen. zer Löcher mit Neutronensternen. onsphysik. Ihr Institut war an Entde- Offenbar werden dann unterschied ckung und Analyse beteiligt. Die bei- 13 liche Nervenzellen für die Aufgabe den Signale tragen die Bezeichnun- aktiviert. Nach längeren Unterbre- gen GW200105 und GW200115 und chungen nutzten die Tiere dagegen wurden am 5. und am 15. Januar 2020 dieselben Nervenzellen wie in der beobachtet. www.mpg.de/16793202 ersten Lernphase. Das Erinnerungs- vermögen profitiert also möglicher- weise davon, dass einmal gebildete Verknüpfungen zwischen den Zellen bei langen Pausen gestärkt werden www.mpg.de/17299970 Gegen den Klimaeffekt von Kondensstreifen Durch Kondensstreifen trägt die CO2-Bilanz auf, sondern verursa- Raumfahrt und der Nasa auch For- Luftfahrt mehr zur Erderwärmung chen auch weniger Rußpartikel, an schende des Max-Planck-Instituts bei als durch ihren CO2-Ausstoß. denen Eis kristallisiert. Bei einem für Chemie in Mainz beteiligt waren. Denn die darin entstehenden Eiskris- Flugzeug, das mit einer Eins-zu-eins- Infolge der kleineren Zahl an Eis talle können in Höhen von etwa acht Mischung aus herkömmlichem Kero- kristallen, die dafür etwas größer bis zwölf Kilometern Zirruswolken sin und nachhaltigem Kraftstoff un- sind, reduziert sich der wärmende bilden, die wie CO2 einen Treibhaus terwegs ist, bilden sich deshalb in den Effekt von Kondensstreifen um 20 effekt bewirken. Dieser Klimaeffekt Kondensstreifen nur halb so viele bis 30 Prozent. Die Ergebnisse bele- lässt sich durch nachhaltige Kraft- Eiskristalle wie bei einem mit rein gen, dass nachhaltige Kraftstoffe den stoffe reduzieren. Diese werden ent- fossilem Kerosin betriebenen Flieger. Beitrag des Luftverkehrs zum Kli- weder aus Pflanzen oder aus CO2 Das hat ein internationales Team he- mawandel kurzfristig spürbar verrin- und Wasserstoff gewonnen und wei- rausgefunden, an dem neben dem gern können. sen nicht nur eine deutlich bessere Deutschen Zentrum für Luft- und www.mpg.de/17075626 Max Planck Forschung · 3 | 2021
KURZ NOTIERT Leben auf der Venus? Keine Spur! Die Venus ist kein angenehmer Ort phin-Quelle für wahrscheinlich. F o t o: NA SA /J PL - C a lt ech zum Leben: Auf der Oberfläche Nun hat ein internationales Team, zu herrschen hoher Druck und Tempe- dem auch Paul Hartogh vom Max- raturen um die 460 Grad Celsius; in Planck-Institut für Sonnensystem- der dichten Wolkendecke toben hef- forschung zählt, die Originaldaten tige Stürme und schweben große noch einmal geprüft – und keinerlei Mengen ätzender Schwefelsäure. Hinweise auf Phosphin gefunden. Könnten sich dennoch Bakterien die- Vielmehr ergab die Analyse, dass das sen extremen Bedingungen ange- seltene Gas mit Schwefeldioxid ver- passt und dort überdauert haben? wechselt worden sein könnte, welches Das behaupten Forschende der Car- in der Venusatmosphäre reichlich diff University in Wales. In Daten, vorkommt. Denn unter den dortigen die sie vor einem Jahr mit irdischen Bedingungen liegen die Wellenlän- Teleskopen von der Venushülle emp- gen mancher Molekülsorten sehr eng Kein Hort des Lebens: Eine dichte fingen, wollen sie winzige Mengen beieinander, was die Identifizierung Wolkendecke umhüllt die Venus in des Spurengases Phosphin entdeckt ihrer Fingerabdrücke im Spektrum einer Höhe von etwa 50 bis 70 haben. Seitdem diskutieren die Fach- massiv erschwert. Kilometern. Phosphin gibt es in der leute über den Fund, denn die briti- www.mpg.de/17208522 Atmosphäre wohl nicht. sche Gruppe hält Bakterien als Phos- 14 F o t o: xbl ickw i n k e l/AGA MI/ R .Ma rt i n wind von achtern Der Flug über offenes Meer kann für routen mit globalen Atmosphären- Landvögel gefährlich sein, denn an- daten verknüpft. Die Ergebnisse zei- ders als etwa Möwen oder Alba gen, dass die Greifvögel über dem trosse, die an ein Leben im Ozean Wasser aufsteigende Luftmassen angepasst sind, können sie nicht auf nutzen. Mithilfe der Thermik spa- dem Wasser landen. Sie müssen ren sie Energie und können so lange Meere deshalb ohne Zwischenlan- Strecken nonstop zurücklegen. Zu- dungen überfliegen. Nur mithilfe vor hatten Forschende schon heraus- von Muskelkraft sind lange Strecken gefunden, dass Vögel auf ihrem Zug Schopfwespenbussarde fliegen während jedoch ohne Erholungspausen be- die Windrichtung berücksichtigen des Herbstzuges über 700 Kilometer sonders für große Arten nicht zu und sich von Rückenwind über von Japan nach Südostasien. Diesen bewältigen. Forschende des Max- Meere tragen lassen. Zugvögel über- rund 18 Stunden dauernden Flug über das Ostchinesische Meer unternehmen Planck-Instituts für Verhaltensbiolo- fliegen größere Meeresgebiete also die Vögel nur bei optimalen Wind- gie haben nun verschiedene Bus- nur bei geeigneten Rücken- und und Wetterbedingungen. Sie nutzen sard-, Falken- und Adlerarten auf Aufwindbedingungen. Auf diese Aufwinde über dem Meer und kön- mehr als hundert Langstrecken Weise können sie Hunderte Kilome- nen so bis zu tausend Meter über der flügen über dem offenen Meer mit ter über offener See zurücklegen. Meeresoberfläche segeln. GPS-Technik verfolgt und die Flug- www.mpg.de/17439730 Max Planck Forschung · 3 | 2021
KURZ NOTIERT Im Ton verschätzt Wie gut treffen professionelle Sänge- Tonhöhengenauigkeit – also die Fä- rinnen den richtigen Ton? Und wie higkeit, die Töne richtig zu treffen. beurteilen sie ihre Leistungen? Die- Die meisten Teilnehmerinnen lagen I l lust r at ion: i st o ckpho t o/ du nca n18 9 0 sen Fragen ist ein Forschungsteam in ihrer Selbsteinschätzung erstaun- des Frankfurter Max-Planck-Insti- lich falsch und bewerteten die eige- tuts für empirische Ästhetik, der nen Leistungen zu hoch. Auffälli- New York University und der Uni- gerweise schätzten allerdings gerade versität Hamburg nachgegangen. die besonders guten Sängerinnen Professionelle Sopranistinnen san- ihren eigenen Gesang realistisch ein. Stimmt der Ton? gen einzeln im Studio Happy Birth- Das deutet darauf hin, dass die Fä- Eine Studie er- day ein. Anschließend bewerteten higkeit zur Selbsteinschätzung eine gab, dass mittel- sie die Aufnahmen ihrer eigenen Voraussetzung ist, um herausra- mäßige Profi- Gesangsdarbietungen sowie die ih- gende musikalische Fähigkeiten zu sängerinnen ihre rer Kolleginnen. Als objektives Maß entwickeln. eigenen Leis- für musikalische Qualität diente die www.mpg.de/17073065 tungen oftmals überschätzen. Vorsorge geht vor Bäume haushalten mit ihren Reser- Verhungern droht oder sie die Ener- Spaziergang ven anders als bislang angenommen. gie für die Abwehr von Schädlingen Sie bilden nämlich auch in Hunger- nicht mehr aufbringen können. Bis- fürs Gehirn phasen, also etwa während langer lang ging die biologische Forschung Trockenperioden, energiereiche davon aus, dass Pflanzen nur Reser- 15 Erwachsene verbringen durch- Kohlenstoffverbindungen, die ihnen ven bilden, wenn genügend Fotosyn- schnittlich 80 bis 90 Prozent des Ta- für noch schlechtere Zeiten als Vor- theseprodukte vorhanden sind und ges in geschlossenen Räumen – eine räte dienen. Dafür verzichten sie da- auch der Bedarf für ihr Wachstum recht junge Entwicklung in der rauf weiterzuwachsen und verdauen gedeckt ist. Anhand der neuen Er- menschlichen Evolution. Besonders im Extremfall sogar eigene energie- kenntnisse lassen sich Modelle ver- gesund ist dieses Verhalten vermut- reiche Bestandteile. Auf diese Weise bessern, die vorhersagen, wie sich lich nicht. Zeit im Freien zu verbrin- verhindern Bäume, dass sie ihre Re- Wälder mit dem fortschreitenden gen, wirkt sich nachweislich positiv serven aufbrauchen und ihnen Klimawandel entwickeln werden. auf die Gesundheit aus. Und auch schlimmstensfalls der Tod durch www.mpg.de/17341650 unsere Gehirnstruktur profitiert von Aufenthalten draußen, wie eine Un- tersuchung des Max-Planck-Instituts F o t o: Ma rt i n Si e pm a n n/i m age B ROK ER /F O T OF IN DER .C OM für Bildungsforschung und des Uni- versitätsklinikums Hamburg-Eppen- dorf nun ergab. Das gilt auch bereits bei recht kurzen Phasen im Freien – und unabhängig davon, ob wir in der Stadt oder im Grünen sind. Die Er- gebnisse zeigen, dass die Zeit, die die Teilnehmenden im Freien verbrach- ten, in einem positiven Zusammen- hang mit der grauen Substanz in ei- nem bestimmten Teil der Großhirn- rinde steht. Dieser Teil des Kortex ist an der Planung und Regulation von Handlungen und an der Steuerung des Verhaltens beteiligt. Zudem ist bekannt, dass viele psychiatrische Störungen mit einer Reduktion der grauen Substanz in diesem Bereich Mit Durst droht der Hungertod: In Trockenzeiten können Bäume des Gehirns einhergehen. wie diese Fichten in Oberbayern nicht genügend Kohlehydrate bilden. Dann www.mpg.de/17194664 müssen sie auf Reserven zurückgreifen, die sie vorher angelegt haben. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Der Waldbau braucht frische Wurzeln Den Wäldern in Deutschland und anderen Teilen Europas setzt der Klimawandel sehr heftig zu. Bislang nicht hinter- fragte Überzeugungen, welche Bäume Hitze und Trocken- heit widerstehen, gelten nicht mehr. Daher plädiert der Ökophysiologe Henrik Hartmann dafür, ein interdisziplinäres 16 Institut für Waldumbau zu schaffen. Es soll wissenschaft- liche Erkenntnisse liefern, wie der Wald gestaltet werden kann, um die fortschreitende Erderwärmung auszuhalten. Der Wald sieht schlecht aus. Um seine Veränderung zu dokumentieren, haben wir in den vergangenen Jahren Wälder in der Umgebung Jenas immer wieder mit einer Drohne überflogen. Die Aufnahmen zeigen Erschreckendes. Viele der Wälder sind gespickt mit absterbenden und toten Bäumen, die Kronen vieler Bäume sind licht, dürre Äste ragen heraus, wo vor wenigen Jahren noch sattes Grün zu sehen war. Auch die Farbe der Baumkronen gibt Grund zur Sorge, schon im August sehen viele Bäume so aus, wie man es sonst erst Ende September erwartet, wenn das Grün der Blätter langsam in Gelb übergeht. Diese Beobachtun- gen sind beispielhaft für eine generelle Entwicklung: Der Klimawandel bedroht die Nachhaltigkeit der mitteleuropäischen und auch der deut- schen Land- und Forstwirtschaft. Schon jetzt sind viele Ökosysteme in ihrer derzeitigen Form bedroht, und die Aussichten für die kommenden Jahrzehnte sind auch eher düster. Die Extremsommer 2018 und 2019 haben vor allem im Wald verheerende Schäden hinterlassen, mehrere Hunderttausend Hektar wurden zerstört, oftmals Fichtenmonokulturen, die dem Borkenkäfer zum Opfer fielen. Aber nicht nur die Fichte war betroffen. Auch andere Baumarten haben stark gelitten, darunter viele Laubbäume und die Kiefer, die bislang als vergleichsweise resistent gegen Trockenheit gegolten hatten. Die Absterberaten der verschiedenen Baumarten sind Max Planck Forschung · 3 | 2021
ZUR Sache Henrik Hartmann 17 Henrik Hartmann studierte Forstwissenschaft und Biologie an den kanadischen Universitäten von Neu-Braunschweig und Quebec, wo er auch promovierte. Seit 2014 leitet er am Max-Planck- Institut für Biogeochemie in Jena eine Forschungsgruppe. Diese untersucht beispielsweise, wie Bäume auf Stress durch Trockenheit reagieren und wie sie generell mit knappen Ressourcen umgehen. Ferner wird untersucht, I l lust r at ion: S oph i e K ett e r e r f ü r M P G wie Bäume die Speicherung von Nährstoffen, vor allem Kohlenstoff und Stickstoff, steuern. Der Zustand der hiesigen Wälder macht Hartmann große Sorgen. Daher will er Fachleute aus der Forstwissenschaft und der Forstwirtschaft, aus der Biologie, aber auch aus den Sozialwissen- schaften zusammenbringen, um den Wald gegen den Klimawandel zu wappnen. Max Planck Forschung · 3 | 2021
seit 2017 exponentiell um ein Vielfaches gestiegen. Spätestens seit dem Sommer 2018 ist die Frage der Resilienz des deutschen Waldes gegen- über dem Klimawandel auch in der öffentlichen Debatte angekommen. Das Thema Wald(-sterben) wird fast täglich in Zeitungen, im Radio und im Fernsehen aufgegriffen und in der Öffentlichkeit oft kontrovers diskutiert. Lange bevor die Öffentlichkeit sich für den Wald zu interessieren begann, haben sich Forstwissenschaftler mit der Frage befasst, ob beziehungs- weise wie gut einige der bei uns heimischen Baumarten für die künftigen Klimaverhältnisse geeignet sind. So hat zum Beispiel eine Gruppe um Heinz Renneberg von der Universität Freiburg bereits 2004 untersucht, ob sich die Buche für den zukünftigen Waldbau unter verschärftem Klimawandel eignet. Die Studie bescheinigte der „Trockenstress- Forstwirt- und Überflutungs-sensitiven Baumart“ ein bereits deutlich „reduziertes Wachstum und reduzierte Konkurrenzkraft“, eine und Forst- Entwicklung „die sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen und wahrscheinlich verstärken wird“. Zu diesem Artikel gab es wissenschaft eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Stellungnahmen, die sogar bis ins Jahr 2016 darauf beharrten, dass die Buche in den können nicht Wäldern Deutschlands auch bei fortschreitendem Klimawandel 18 mehr vOrgehen eine vorherrschende Baumart bleiben könne. Und das, obwohl sich inzwischen herausgestellt hatte, dass es sich um einen Folge- wie seit Jahr- schaden handelt, wenn die Buche bei Trockenheit ihre Blätter abwirft – und keineswegs um einen Schutzmechanismus, um Tro- hunderten ckenstress zu vermeiden. Die Buche lässt ihre Blätter also nicht welken, um Blattfläche und somit die Verdunstung zu reduzieren. Die Blätter welken vielmehr, da ihre Wasserversorgung unter- bunden ist. Die Ereignisse von 2018 und 2019 haben zudem gezeigt, dass die Buche auf Klimawandel nicht nur mit dem von Heinz Renneberg und seinen Mitautorinnen und -autoren prognostizierten reduzierten Wachstum und mit reduzierter Konkurrenzkraft reagiert, sondern dass sie starke Schäden erleidet. Oft stirbt sie sogar ab, was noch vor wenigen Jahren nur wenige für möglich gehalten hätten. Bei anderen Baumarten sind ähn- liche Bedenken ebenso angebracht, vor allem angesichts des fort- schreitenden Klimawandels. Ahorne, Eschen, Kiefern und andere Arten sind ebenfalls betroffen, und derzeit kann sicherlich niemand vorhersagen, unter welchen klimatischen Bedingungen bisher robuste Arten wie bei- spielsweise die Eiche an ihre Belastungsgrenzen kommen. In Anbetracht des fortschreitenden Klimawandels können die Forstwirt- schaft und die Forstwissenschaft nicht mehr so vorgehen, wie sie es seit Jahrhunderten getan haben. Denn sie können nicht mehr auf Erfahrungen der Vergangenheit aufbauend in die Zukunft planen. Wie das Beispiel der Max Planck Forschung · 3 | 2021
Zur Sache Buche zeigt, sind Erkenntnisse, die unter anderen Rahmenbedingungen gesammelt wurden, nur noch bedingt auf die zu erwartenden klimatischen Entwicklungen anwendbar. Diese Rückspiegelmethode ist demnach auch nicht zielführend in öffentlichen Debatten um die Zukunftsfähigkeit der Forstwirtschaft, die oft von selbst ernannten Experten und Fernseh- förstern maßgeblich beeinflusst werden. Die Forderung etwa, mehr auf den oft gepriesenen artenreichen Laubmischwald als resilienten Wald der Zukunft zu setzen, entbehren einer wissenschaftlichen Grundlage, wie die hohen Absterberaten vieler Laubbaumarten zeigen. So geht aus einer gerade erschienenen Analyse der Waldinventurdatensätze der USA und Kanadas unter anderem hervor, dass in Wäldern gemäßigter Klimazonen Mortalitätsraten mit wachsender Artenvielfalt ansteigen, beson- ders unter klimatisch extremen Bedingungen. Selbstverständlich Gerade groSSe kann und soll diese Beobachtung kein Argument für einen Aus- bau von Monokulturen sein, sie begründet jedoch starke Zweifel und alte an einfachen Lösungsansätzen, die zwar zunächst schlüssig und richtig erscheinen mögen (wer würde schon Vorteile von Bäume leiden Vielfalt intuitiv anzweifeln?), aber nur emotional und nicht empi- unter Dürre risch begründet sind. am meisten Das gilt auch für die von Greenpeace e. V. in Auftrag gegebene 19 und 2018 veröffentlichte Studie Waldvision für Klima, Mensch und Natur, die sich als Wegweiser für die Waldwirtschaft der kommenden Jahrzehnte versteht. Demnach sollen Bäume erst dann geern- tet werden, „wenn sie älter und dicker sind“, und es soll „seltener und weniger stark in den Wald eingegriffen“ werden, um den Vorrat an dicken Bäumen im Vergleich zur herkömmlichen Bewirtschaftung fast zu verdrei- fachen. Das in dieser Studie vermittelte, geradezu idyllische Bild von „bunt gemischt nebeneinanderstehenden großen und kleinen, dicken und dünnen Bäumen“ ist zwar emotional ansprechend, kann aber eine wissen- schaftliche Grundlage für die in der Studie suggerierte Nachhaltigkeit älterer Wälder nicht ersetzen. Denn inzwischen ist das Gegenteil erwiesen: Gerade große und alte Bäume leiden unter Dürre am meisten, und es ist sogar damit zu rechnen, dass Wälder unter zukünftigen klimatischen Bedingungen generell jünger und kleiner werden, da große und alte Bäume stärker den Belastungen und Störungen ausgesetzt sind, die mit dem Klimawandel einhergehen, und vermehrt absterben. In die Debatte über die Zukunft des Waldes müssen natürlich vielfältige Meinungen und Auffassungen einfließen. Emotional anregende, aber irre- führende und wissenschaftlich fragwürdige Berichte sollten hingegen die Diskussionen nicht bestimmen dürfen. Leider haben aber gerade solche Beiträge oft einen bedeutenden Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Eine zukunftsorientierte Strategie für den Wald muss auf wissenschaft- liche Erkenntnisse und Fakten bauen, nicht auf Überzeugungen und Wunschvorstellungen. Grundlage für Erkenntnisse kann nur eine systema- tische Erfassung des Waldgeschehens liefern, die dann auch bisherige standort- und vegetationskundliche Positionen korrigieren und ergänzen kann. So liefern zum Beispiel Absterberaten gerade dann wichtige Infor- mationen, wenn man daraus erkennen kann, welche Baumart auf welchen Standorten ganz besonders betroffen ist. In dieser Hinsicht fehlt aber noch ein gleichermaßen umfassender wie detaillierter Überblick darüber, wie die klimatische Entwicklung die Absterberaten an verschiedenen Standorten beeinflusst. Zwar gibt es zahlreiche Erhebungen des Waldzu- stands: von der Bundeswaldinventur über Erfassungen der Länder bis hin zur Erfassung im Rahmen des International Cooperative Programme on Assessment and Monitoring of Air Pollution Effects on Forests (kurz: ICP Forests). Doch keine dieser Erhebungen bietet die räumliche und zeit- liche Auflösung, die notwendig ist, um zwischen Entwicklungen an einzelnen Standorten und klimatischen Ereignissen Kausal- für die Zusam- zusammenhänge zu ermitteln. Außerdem sind die Daten der Erhe- menführung bungen meist in nicht offen zugänglichen Archiven hinterlegt, was eine dezentrale Auswertung durch die wissenschaftliche Gemein- 20 von Daten in schaft erschwert. einer offenen In den letzten Jahren wird das Waldgeschehen vermehrt auch Infrastruktur mittels fernerkundlicher Zeitreihen (etwa über Satellitendaten) erfasst. Hierbei ist die zeitliche Auflösung sehr hoch (einige Tage fehlt der bis Wochen), die räumliche Auflösung erlaubt allerdings meist keine Auswertung der Waldschäden auf der Ebene einzelner legale Rahmen Bäume. Es entsteht also zwischen nah- und fernerkundlicher Erfassung eine Lücke bei der zeitlichen und räumlichen Auflösung. So lässt sich nicht auf klimabedingte Bestandsschäden auf regionaler Ebene schließen, was wiederum den Ausbau standortbezoge- ner vegetationskundlicher Erkenntnisse erschwert. Diese Lücke kann durch eine systematische Zusammenführung der verschiedenen Daten- sätze geschlossen werden, wobei die im Wald gesammelten Informatio- nen zur besseren Auswertung der Fernerkundungsdaten dienen und nahezu zu einem Echtzeitmonitoring des Waldgeschehens beitragen. Der- zeit fehlt jedoch für die systematische Zusammenführung der Daten in einer offen zugänglichen Infrastruktur der notwendige legale Rahmen, der die Bereitstellung der Daten durch die verantwortlichen Institutionen ermöglicht oder gar einfordert. Daher muss der Gesetzgeber die Idee, Daten zu teilen, gezielt fördern und ihre Umsetzung auch einfordern. Zudem muss Kompetenzgerangel unter Institutionen unterbunden werden, das dem Teilen von Daten oft im Wege steht. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Zur Sache Ferner sollten Synergien zwischen den verschiedenen Institutionen des Bundes und der Länder sowie der an der Auswertung der Daten interes- sierten akademischen Experten (Lehrstühle, Forschungsinstitute, wissen- schaftliche Netzwerke etc.) durch forstpolitische Koordination gefördert und die Zusammenarbeit der für den Waldumbau wichtigen Disziplinen gestärkt werden. Die in Deutschland vorhandenen Kompetenzen in diesen Disziplinen (etwa Vegetationsmodellierung, Waldökologie oder Ökophysiologie, aber auch Ökonomie und Sozialwissenschaften) sind enorm, die Zersplitterung aber auch. Diese Kompetenzen Ein inter- in einem (virtuellen) Institut für Waldumbau zusammenzuführen, disziplinäres würde der Zersplitterung entgegenwirken und viele Synergien ermöglichen. Neben der zeitnahen Erfassung des Waldgesche- Institut für hens müssen dabei relevante Forschungsthemen identifiziert und der Modellierung für die forstliche Planung eine viel wichtigere die Planung Rolle zugewiesen werden. Bislang verwendete empirische zum Wald der Modelle, die aus vergangenen Entwicklungen der Bestände deren zukünftige Veränderung prognostizieren, sind für Projektio- Zukunft nen in die klimatisch unsichere Zukunft wenig geeignet. Und mechanistische Modelle, die grundlegende Prozesse in Bäumen abbilden, brauchen mehr Informationen über die physiologischen 21 Eigenschaften und Anpassungsfähigkeiten unserer Baumarten. Diese können durch Intensivmonitoring im Wald, aber auch durch Experimente im Wald und im Gewächshaus gewonnen werden. Ein derart interdisziplinär aufgestelltes Institut böte beste Voraussetzungen für die Planung der forstwissen- und forstwirtschaftlichen Marschrichtung hin zum Wald der Zukunft. Die Verzahnung von Ressortforschung, forst- wirtschaftlicher Expertise, Grundlagenforschung und Forstpolitik kann ein gesamtheitliches Verständnis des Systems Wald als Grundlage für zukunfts- orientierten Waldbau liefern. In die forstpolitische Planung sollten auch Interessenverbände einbezogen werden, von Naturschutzinitiativen bis hin zu Jagdverbänden, um die gesellschaftlichen Anforderungen an den Wald, aber auch die Bedürfnisse des Waldes zu definieren. Ein solcher Ansatz für die zukünftige Forstwirt- und Forstwissenschaft soll also durch Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit geprägt sein – so wie der Wald selbst. Max Planck Forschung · 3 | 2021
infografik Viele Stimmen im Vogelchor So unterschiedlich die Vögel, so verschieden Graurücken-Leierschwanz auch ihr Gesang. In dem hier kreisförmig Australien angeordneten Stammbaum der Sperlingsvögel 103 cm sind Arten mit tiefen Stimmen rot, solche mit hohen Stimmen blau hervorgehoben. Die Farb- verteilung zeigt, dass im Stammbaum benach- barte – also nah verwandte – Vogelarten oft ähn- liche Stimmhöhen haben. Wie hoch ein Vogel singt, wird folglich größtenteils von der Stimm- höhe der Vorfahren bestimmt. (Die gezeigten Vögel stehen jeweils stellvertretend für eine von zehn Gruppen innerhalb der Sperlingsvögel.) Anzahl Arten 0 5 10 Raggi-Paradiesvogel Papua-Neuguinea Maximale Tonhöhen 34 cm von Sperlingsvögeln in Kilohertz (kHz). 22 (Durchschnitt: ca. 4 kHz) Rallenflöter Südostasien 29 cm Rotscheitel-Zistensänger Afrika 14 cm Unterschiedliche Akustik Im Wald hört eine Amsel den Gesang eines Artgenossen in doppelter Entfernung wie in der Stadt mit ihrem hohen Lärmpegel. Wanderdrossel Tigerwaldsänger Nordamerika Nordamerika 25 cm 13 cm 164 Meter 83 Meter Max Planck Forschung · 3 | 2021
infografik Mehrstimmiger Gesang Luftausstrom Singvögel singen mit der sogenannten Syrinx, die an der Aufspaltung Luftröhre der Luftröhre liegt. Die Syrinx kann in den beiden Bronchien jeweils eigene Syrinx Muskulatur Töne produzieren. Die Vögel können deshalb zwei Laute gleichzeitig Seitliche singen oder sehr schnell Stimmlippe Rotrücken-Sensenschnabel von einem zum anderen Südamerika wechseln. Mittlere 25 cm Pessulus Stimmlippe Innere Paukenmembran Hörbereich Mensch 20 kHz 23 Langlappen-Schirmvogel Goldschwingenpipra Südamerika Südamerika 41 cm 11,9 kHz Höchster Gesang eines Vogels 4,6 kHz Höchster Ton Piccoloflöte Niedrigster Graukopf-Breitrachen 0,04 kHz Gesang eines Tiefster Ton Vogels Afrika Nacktkehl-Schirmvogel Kontrabass 0,2 kHz Gr af i k : G C O nach M i k u l a et a l ., Ec ol o gy L ett e r s 2 02 0 17 cm Mittelamerika 0,02 kHz Felsschlüpfer Neuseeland 10 cm Weitere Einflüsse Außer von der evolutionären Geschichte hängt die Gesangs- höhe eines Vogels auch maß- Grösse Sexualdemorphismus geblich von seiner Größe und damit der seiner Syrinx ab. Zudem beeinflusst der Größen- unterschied zwischen Männ- chen und Weibchen die maximale Tonhöhe. Max Planck Forschung · 3 | 2021
IM FOKUS IM FOKUS Künstliche Intelligenz macht sich schlau 24 | Nicht ohne Grund! 32 | Wenn Maschinen mitmischen 38 | Eine Software scannt die Psyche 24 I l lust r at ion: Lu i sa J u ng f ü r M PG Lernen wie ein Mensch: Systeme mit künstlicher Intelligenz sollen zukünftig nicht mehr nur Muster in großen Daten- mengen erkennen, sondern auch nachvollziehbar machen, nach welchen Kriterien sie ihre Ent- scheidungen treffen. Max Planck Forschung · 3 | 2021
IM FOKUS Nicht ohne Grund ! Text: Thom as Br andstetter 25 Künstliche Intelligenz erkennt Muster schon lange viel besser als wir. Um aber ihren Namen wirklich zu verdienen, müsste sie auch kausale Zusammenhänge verstehen. Am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen arbeiten Forschende genau daran. Max Planck Forschung · 3 | 2021
IM FOKUS Ursache und Wirkung sind überall. Und nicht immer ist einflusst eine Größe die andere, oder es gibt eine zu- das ungleiche Paar so leicht zu erkennen wie beim Do- sätzliche, dritte Variable, die beide kausal beeinflusst. minoeffekt, wo ein Stein den nächsten umstößt. So ha- ben menschliche Entscheidungen oft sehr komplexe Die Korrelation selbst zu ermitteln, ist für eine Maschine Ursachen – und mitunter noch komplexere Auswir- ein Leichtes. Dazu muss der Algorithmus lediglich kungen. Manchmal beeinflussen sich Dinge auch einschlägige Statistiken durchforsten und etwaige wechselseitig, etwa wenn unser CO2-Ausstoß die Erde Muster erkennen. Um den Zusammenhang zu verste- erwärmt und auftauende Permafrostböden weiteres hen und eine mögliche Erklärung zu finden, braucht es Treibhausgas freisetzen. Und wer ein idyllisches aber zusätzliche Informationen. Uns Menschen hilft Landschaftsfoto betrachtet, sieht dabei in der Regel dabei in der Regel ein allgemeines Verständnis darüber, Schatten, die ihre Ursache im Licht der Sonne haben. wie die Welt funktioniert. Wir haben schon Schoko- lade gegessen und wissen, dass sie Während wir dank unseres Gehirns kausale Zusammen- keinen Einfluss auf die Intelligenz hänge meist intuitiv erkennen, bereiten diese unseren hat. Und weshalb sollte ein gewon intelligenten Maschinen noch gehörige Schwierigkei- nener Nobelpreis den Schokolade- ten. Die Maschinen mögen uns zwar im Auffinden konsum ankurbeln? Unsere Überle- Auf den Punkt von Mustern und Korrelationen übertreffen, das Kon- gungen werden also schnell in Rich- gebracht zept von Ursache und Wirkung bleibt ihnen aber in al- tung einer dritten Variablen gelenkt, Algorithmen des maschinellen ler Regel verborgen. Die Wissenschaftlerinnen und etwa eines starken Wirtschaftssys- Lernens trainieren anhand Wissenschaftler der Abteilung für Empirische Infe- tems, das einerseits zu Wohlstand großer Datenmengen, Muster renz am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme und Schokolade und andererseits zu zu erkennen, um etwa aus betrachten diese Unzulänglichkeit als Herausforde- einem guten Bildungssystem führt. physiologischen Parametern auf rung. Unter der Leitung von Bernhard Schölkopf ver- Da aber einem Computeralgorith- eine Erkrankung zu schließen. Ursache und Wirkung suchen sie, lernenden Maschinen einen Sinn für Kau- mus dieses allgemeine Verständnis verstehen sie jedoch nicht. 26 salität zu verleihen – und das in so unterschiedlichen fehlt, tappt er angesichts der bloßen Bereichen wie der Suche nach Exoplaneten, dem Kli- Datenlage zwangsläufig im Dun- Forschende des Max-Planck- mawandel oder der Vergabe von Krediten. keln. „Interessanter sind da schon Instituts für Intelligente im Experiment gesammelte Daten, Systeme wollen Computern ein wo jemand aktiv in ein System ein- Verständnis für Kausali- Experimente bringen greift und etwas verändert“, sagt täten beibringen. Anders als etwa Kinder können Algo- Verständnis von Kügelgen. Zum Beispiel zeigt zwar eine genaue Beobachtung rithmen die entsprechenden Modelle bislang nicht selbst schnell eine Korrelation zwischen erlernen, sie müssen von Ein Ansatzpunkt ihrer Arbeit ist die Qualität der zur Ver- nassem Boden und Regen auf. Doch Menschen für spezielle fügung stehenden Daten. Die meisten Big-Data-Sätze ein Experiment, bei dem der Boden Anwendungen entwickelt werden. entstehen aus rein passiver Beobachtung und enthal- mit einem Gartenschlauch und ten keinerlei zusätzliche Informationen darüber, wie nicht durch Regen nass gemacht Die Max-Planck-Forschenden sie zustande gekommen sind. So sagen etwa Konto wird, enttarnt den vermeintlichen entwickeln kausale Modelle umsätze, die nur die reinen Geldbeträge und die dazu- kausalen Zusammenhang. etwa für eine nachvollziehbare gehörigen Uhrzeiten beinhalten, nichts darüber aus, Kreditvergabe, für die Suche warum sie getätigt wurden. „Wenn ein System nur In seiner aktuellen Forschungsarbeit nach Exoplaneten oder für die klimapolitische Steuerung passiv Daten sammeln kann, reicht das gewöhnlich beschäftigt sich von Kügelgen aller- eines Wirtschaftssystems. nicht aus, um einen kausalen Zusammenhang zu er- dings mit noch schwierigeren Fällen. kennen“, erklärt Julius von Kügelgen, der in der Abtei- Ihn treiben Was-wäre-wenn-Fragen lung für Empirische Inferenz an seiner Dissertation um, konkret etwa: Hätte ich den arbeitet. „Leider sind aber 99 Prozent der heute ver- Kredit vielleicht doch bekommen, fügbaren Daten rein passiv gesammelt oder werden wenn mein Einkommen höher gewesen wäre? „Künst- zumindest in ihrer Auswertung so behandelt.“ Ein liche Intelligenz trifft immer öfter Entscheidungen für Beispiel dafür sind etwa statistische Daten, aus denen Menschen, etwa bei der Einschätzung von Kreditwür- Zusammenhänge wie die Korrelation zwischen dem digkeit“, sagt der Forscher. „Unser System kann den Schokoladekonsum pro Kopf und der Anzahl der ge- Leuten bei der Beantwortung der Frage helfen, was sie wonnenen Nobelpreise eines Landes abgeleitet werden machen sollen, um ein positives Ergebnis zu errei- können. In diesem Fall gilt das Common Cause Prin- chen.“ Dazu konstruiert er gemeinsam mit seinem ciple, das viele derartige Muster letztlich auf einen Kollegen Amir Hossein Karimi Parallelwelten. Dort kausalen Zusammenhang zurückführt: Entweder be- ist zwar vieles genau so wie in der echten Welt, es gibt Max Planck Forschung · 3 | 2021
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