DEMOKRATIE LEBEN UND LERNEN - Erfahrungen der Laborschule Bielefeld - Grüne Fraktion NRW
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DEMOKRATIE LEBEN UND LERNEN Erfah run g e n de r Lab ors ch ule Bielefeld Jupp Asdonk, Reinhild Hugenroth, Annelie Wachendorff (Red.)
DEMOKRATIE LEBEN UND LERNEN Erfahrungen der Laborschule Bielefeld Jupp Asdonk, Reinhild Hugenroth, Annelie Wachendorff (Red.)
Demokratie leben und lernen impressum Herausgeberin: Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag NRW Platz des Landtags 1 40221 Düsseldorf gruene@landtag.nrw.de www.gruene-fraktion-nrw.de Redaktion: Jupp Asdonk, Reinhild Hugenroth, Annelie Wachendorff Autor_innen: Christine Biermann, Rainer Devantié, Nicole Freke, Reinhild Hugenroth, Annelie Wachendorff Gestaltung: die createure (www.die-createure.de) Fotos: veitmettefotografie (www.veitmette.de) Bildnachweise: Außer Fotos Seite 9, 54, 70, 71 (Jupp Asdonk), Seite 47, 57, 61 (Annelie Wachendorff), S.4 [GRÜNE Landtagsfraktion NRW/Guido von Wiecken], Seite 12 (Dennis Rother), alle weiteren: Veit Mette Diese Publikation ist Teil der Reihe „Impuls Grün: Zukunft jetzt gestalten“ ISSN: 2509-4726 Veröffentlicht: März 2017 Alle Beiträge der Reihe „Impuls Grün: Zukunft jetzt gestalten“ können unter www.gruene-fraktion-nrw.de/aktuell/publikationen als PDF-Dateien heruntergeladen werden. | Seite 2 |
Demokratie leben und lernen inhaltsverzeichnis Grußwort (Sigrid Beer) 4 Vorwort Demokratie: Ein Entwicklungsauftrag für die Laborschule (Rainer Devantié) 5 Einführung 6 Momentaufnahmen Versammlungen – Profilmarkt – Stolpersteine 9 Theoretische Rahmung Demokratiepädagogik – Theoretische Bezüge und Diskurse (Reinhild Hugenroth) 14 Demokratie leben und lernen in der Laborschule: Strukturen – Prinzipien – Ziele (Christine Biermann) 24 Einblicke in die demokratiepädagogische Praxis Die eigenen Angelegenheiten regeln: Demokratie in der Primarstufe (Nicole Freke) 30 Gruppeninteressen klären – Entscheidungen finden: Versammlungen als lebendiges Zentrum demokratischer Schulkultur (Rainer Devantié) 36 Inhalte wählen – Lernwege reflektieren – Leistungen bewerten: Das eigene Lernen mitbestimmen (Christine Biermann) 44 Das Wissen über Demokratie durch Erfahrungen erweitern: Curriculum Demokratie (Annelie Wachendorff) 52 Projekte verantwortlich planen – auswählen – umsetzen: Projektwochen (Annelie Wachendorff) 58 Schlusswort Wie kommt Demokratie in die Schule? 64 Glossar 65 Literatur 67 Autor_innen und Redaktion 70 | Seite 3 |
Demokratie leben und lernen Grußwort sigrid beer Demokratie fällt nicht vom Himmel. Sie ist nicht ein- und zu akzeptieren. Es gilt, anderen gegenüber res- fach vorhanden oder anzuordnen. Und sie darf auch pektvoll und tolerant zu sein. Es gilt zu lernen, selber nicht bloß eine theoretische Norm sein. Demokratie kritikfähig zu sein, Informationen zu reflektieren und muss erlernt werden und erfahrbar sein. kritisch hinterfragen zu können. Kinder können schon in der Kita und noch viel mehr in Demokratie leben bedeutet, sich immer wieder mit der Schule erfahren, dass sie mitentscheiden dürfen Standpunkten auseinanderzusetzen, Aussagen zu und mitgestalten können. Die Botschaft muss dabei prüfen, um sich eine Meinung bilden zu können und deutlich werden: letztlich zu transparenten, gut begründeten Entschei- „Du bewirkst etwas. Wir nehmen dich ernst. Wir dungen zu kommen. hören dir zu. Du hast uns etwas zu sagen” – Schü- lerinnen und Schüler erfahren Wertschätzung und Wie entstehen Meinungen, wie entstehen Entschei- Würdigung. dungen? Wie nehme ich Informationen unter die Respekt wird erlebbar und eine engagierte, aber faire Lupe, bewerte die Quellen und gegebenenfalls die Auseinandersetzung. Das schafft den Sinn und das Interessen, die sich dahinter mehr oder weniger ver- Empfinden für eine demokratische Kultur. bergen? Auch das sind Kompetenzen, um demokratische Empathie ist eine Voraussetzung dafür, sich in die Prozesse konstruktiv und kritisch mitgestalten zu Lage und den Standpunkt anderer hineinversetzen können. zu können und einen achtsamen Umgang zu pflegen. Empathie scheint uns gesellschaftlich mehr und mehr Lernprozesse, die von Emanzipation, Ermutigung abhandenzukommen. Dabei brauchen wir sie: vom zum kritischen Diskurs wie vom gegenseitigen Versuch, Andersdenkende zu verstehen, Positionen Respekt und gemeinsamen Gestaltungswillen ge- nachzuvollziehen – ohne sie zu übernehmen – und prägt sind, stiften ein gutes Klima, um Demokratie angemessen darauf reagieren zu können, bis hin zum wachsen zu lassen, sie zu festigen und gegen die Einsatz für Schwächere und Minderheiten, zum Engage- polarisierenden Vereinfacher zu wappnen. ment gegen Ausgrenzung und Aggressivität. Empathiefähigkeit ist ein Faktor im Prozess der Ent- Sigrid Beer wicklung und Stärkung von sozialer und emotionaler (Parlamentarische Geschäftsführerin und Sprecherin Intelligenz. für Schulpolitik der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag NRW) Demokratie lernen und leben ist durchaus an- strengend. Es ist wichtig, demokratische Spielregeln, z.B. für Diskussions- und Entscheidungsprozesse zu lernen | Seite 4 |
Demokratie leben und lernen vorwort Rainer Devantié Demokratie leben und lernen: dungsfreiheit oder der ihrer Eltern liegt. Darüber hinaus Thema und Aufgabe der Laborschule erfolgt über die Leistungsbewertung die Zuweisung oder auch Verhinderung von Lebenschancen. Diese Die Institution Schule bietet neben der Vermitt- Widersprüche müssen den Pädagog_innen bewusst lung von Wissen über Demokratie vielfältige Ge- sein und transparent gemacht werden. staltungsspielräume, um Kinder und Jugendliche Zudem stehen Demokratie und Erziehung auch zu demokratischem Bewusstsein und Verhalten zu deshalb in einem paradoxen Verhältnis, da eine befähigen. So kann sie dazu beitragen, der um sich Erziehung zur Demokratie nicht zwingend eine de- greifenden „gruppenbezogenen Menschenfeindlich- mokratische Erziehung impliziert. Entsprechend ist keit” (vgl. Heitmeyer 2012) in den Hetzschriften und Demokratie-Lernen zu oft darauf beschränkt, politi- Aktionen rechtspopulistischer Parteien und Bewe- sches Wissen über die demokratischen Institutio- gungen wie der AfD und PEGIDA entgegen zu treten. nen zu vermitteln (vgl. Hahn u.a. 2015, 10). Den vereinfachenden Denkmustern der europaweit agierenden Menschenfeinde, die eine Gesellschaft Die in dieser Broschüre aufgeführten demokratiepäda- in der Tradition völkischer Ausgrenzung durchsetzen gogischen Überlegungen und die Beschreibung der wollen, muss Schule, müssen Lehrerinnen und Lehrer schulischen Praxis der Erziehung zur Demokratie sich entschieden widersetzen. stellen dagegen Konzeptionen und Erfahrungen der Laborschule vor, die die Gestaltungs- und Beteili- In der pluralistischen und demokratischen Gesell- gungsansprüche von Kindern und Jugendlichen ernst schaft stellt sich für die Pädagogik die Frage, „wie nehmen und ihnen reale Mitbestimmungsmöglich- demokratische Haltungen und Werte erworben wer- keiten für die sie betreffenden Entscheidungen im den und wie dieser Prozess gefördert, wie also zur Unterricht und im Schulleben geben. Demokratie befähigt werden kann” (Weyers 2015, 23). In demokratischen Schulen geschieht dies durch In einer Situation, in der antidemokratische und rassi- „ein humanistisches, demokratisches und auf Bildung stische Bewegungen versuchen, immer mehr Einfluss verpflichtetes Denken und Handeln.” (Hahn u.a. zu gewinnen, ist es eine Aufgabe gerade der Schulen, 2015, 7) Doch auch wenn die Schulen und ihre Päda- Kindern und Jugendlichen Mut zu machen und „mehr gog_innen sich ihrer wichtigen Aufgabe der Erziehung Demokratie zu wagen” (Regierungserklärung von zur Demokratie bewusst sind, begegnen sie und ihre Willy Brandt im Jahr 1969). Schüler_innen sich dennoch nicht als Gleiche unter Gleichen, die sich im herrschaftsfreien Diskurs ihre Rainer Devantié Regeln geben. Vielmehr treffen hier mit „Hoheitsauf- (Leiter der Laborschule) gaben” betraute Pädagog_innen auf Kinder und Jugendliche, die der Schulpflicht unterliegen und deren Schulbesuch deshalb außerhalb ihrer Entschei- | Seite 5 |
Demokratie leben und lernen Einführung „Demokratie leben und lernen“ ist ein in der demokra- Einen theoretische Rahmen für die Konzeptionen tiepädagogischen Literatur immer wieder diskutier- und die Praxis der Laborschule spannen die beiden tes Thema. Doch der Schritt von der theoretischen folgenden Beiträge auf: Reflexion zur schulischen Praxis ist groß, zu selten wird dieser Ansatz bisher in den Schulen umgesetzt. Reinhild Hugenroth diskutiert unter dem Titel Wir sind dennoch der Überzeugung, dass es möglich „Demokratiepädagogik – Theoretische Bezüge und und nötig ist, diese Konzeption zur Grundlage schu- Diskurse“ zunächst die immer noch Maß gebenden lischen Lehrens und Lernens zu machen. Dazu be- Überlegungen John Deweys und stellt daran an- darf es allerdings auch eines unterstützenden politi- schließend aktuelle demokratiepädagogische Ansätze schen Willens und – vor allem – praktischer Beispiele, vor. Sie betont hier insbesondere die Verbindung von dass und wie es gelingen kann, eine demokratische Wissensvermittlung und einer offenen Schulkultur Schulkultur konzeptionell (weiter) zu entwickeln und mit Partizipations-, Verantwortungs- und Handlungs- im Schulalltag zu praktizieren. möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler. Vor die- sem Hintergrund schließt sie mit der Forderung von Wir sehen die Laborschule Bielefeld, die Versuchs- Jürgen Habermas, eine Kultur der Schule als „de- schule des Landes NRW, als einen Ort, an dem es mokratische Lebensform“ zu entwickeln. seit vielen Jahren erfolgreich gelingt, eine demokra- tische Schulkultur konzeptionell auszuarbeiten und Christine Biermann stellt in ihrem Beitrag im alltäglichen Unterricht praktisch umzusetzen. „Demokratie leben und lernen in der Laborschule: Darum wollen wir mit dieser Broschüre die Ziele, Strukturen – Prinzipien – Ziele“ die Leitgedanken der Konzeptionen und vor allem die Erfahrungen der La- demokratischen Gestaltung der Lernprozesse in der borschule in einer Reihe von Beispielen darstellen Laborschule Bielefeld dar. Sie begründet, dass „De- Sie sollen engagierten Lehrer_innen, Schüler_innen mokratie lernen“ Wissen, Fähigkeiten und Haltungen und nicht zuletzt interessierten Eltern Anregungen meint, die unter den Bedingungen von Vielfalt, we- geben und motivieren, in der eigenen Schule „Hand chselseitiger Wertschätzung sowie Teilhabe und Ver- anzulegen“. antwortung in der Gemeinschaft erlernt werden kön- nen. Diese Ziele verfolgt die Laborschule in einer von Zu den Beiträgen: Transparenz und Partizipation geprägten Schulkultur. Drei „Momentaufnahmen“ – zu den Regeln der Versammlungen, der Präsentation individuel- „Einblicke in die demokratiepädagogische Praxis“ ler Arbeitsprodukte auf dem Profilmarkt und den geben sodann fünf Beispiele aus den verschiedenen „Stolpersteinen“ als Erinnerung an die Opfer des Altersstufen und Lernbereichen: Nationalsozialismus – geben erste Einblicke in die Nicole Freke wendet sich mit ihrem Text „Die praktische Umsetzung der demokratiepädagogi- eigenen Angelegenheiten regeln: Demokratie in schen Konzeption der Laborschule. der Primarstufe“ den Kindern der Jahrgänge 0 | Seite 7 |
Demokratie leben und lernen (Vorschuljahr) bis 2 zu und stellt deren Mitsprache- In ihrem zweiten Beitrag „Projekte verantwortlich rechte bei der Regelung der Gruppenangelegenhei- planen – auswählen – umsetzen: Projektwochen“ be- ten und der Wahl ihrer Lernvorhaben vor. Sie be- schreibt Annelie Wachendorff eine Unterrichtsform, richtet über den Schulentwicklungsprozess, in dem die nicht nur offen ist für die Mitbestimmung der die Regeln und Verfahrensweisen der Partizipation Schüler_innen, sondern von ihren Ideen und ihrem entwickelt worden sind, die nun in den „Kindergre- Engagement „lebt“. Sie zeigt insbesondere auf, wel- mien“, u.a. im „Gruppenrat“ und im „Haus-1-Parla- che Möglichkeiten der Mitbestimmung die Schüler_ ment“, angewendet werden. innen in den verschiedenen Phasen der Themenfin- dung, Vorbereitung, Durchführung und Präsentation Rainer Devantié unterstreicht in seinem Beitrag der Projekte haben und wie sie dies wahrnehmen. „Gruppeninteressen klären, Entscheidungen finden: Die Versammlungen als lebendiges Zentrum de- Mit besonderer Sorgfalt haben wir die vielen Fotos mokratischer Schulkultur“ die besondere Bedeutung ausgewählt. Sie sollen nicht nur die Texte illustrie- des Austauschs und gemeinsamer Beratungen und ren, sondern stellen eine eigenständige Ebene der Entscheidungen in allen Jahrgängen. Dafür sind ver- Information über einen Alltag dar, in dem Kinder schiedene Formen und Gremien entwickelt worden, so und Jugendliche ihre Unterschiedlichkeit akzeptie- z.B. der „Morgenkreis“, die „Jungen- und Mädchenkon- ren und achten, Verantwortung für Aufgaben und ferenzen“ oder die „Jahrgangsversammlung“. Als zunehmend für den eigenen Lernweg übernehmen Perspektive für die weitere Entwicklung weist er und gemeinsame Angelegenheiten friedlich und abschließend auf das Prinzip der „Soziokratie“ hin. vernünftig regeln. In ihrem Beitrag „Das eigene Lernen mitbestim- Ein Glossar am Ende der Broschüre erläutert die in men: Inhalte wählen – Lernwege reflektieren – Lei- der Laborschule gebräuchlichen Termini und Beson- stungen bewerten“ stellt Christine Biermann dar, derheiten der Strukturen. Ausführlichere Informatio- dass und wie auch im Kernbereich des Lehrer_in- nen finden sich im Internet: www.uni-bielefeld.de/LS. nenhandelns Partizipation und Mitentscheidung von Schülerinnen und Schülern möglich sind. Als Wir danken den Autor_innen für ihre Bereitschaft, die Beispiele nennt sie den Sach- und den Projektun- aktive Teilhabe von Schülerinnen und Schülern an der terricht, die Portfolioarbeit und die Jahresarbeiten. Gestaltung ihres Lernens in den verschiedenen Alter- Als wichtige Rahmenbedingungen beschreibt sie sstufen mit vielen Beispielen vorzustellen. Wir dan- die Auswahl von Inhalten, dialogische Lernbeglei- ken ebenso Veit Mette für eine Vielzahl „sprechender“ tung, Gelegenheit zur Reflexion und die Verbindung Fotos und Holger Biermann für die ausgezeichnete von Selbst- und Fremdbewertung. grafische Gestaltung der Broschüre. Schließlich dan- ken wir der Landtagsfraktion BÜNDNIS 90 / DIE Annelie Wachendorff greift in ihrem Beitrag GRÜNEN im Land NRW für die finanzielle Unter- „Das Wissen über Demokratie durch Erfahrungen stützung dieser Broschüre. erweitern: Curriculum Demokratie“ die grundlegen- de Orientierung des Lernens und Lehrens an der Laborschule auf: Auch im Erfahrungsbereich Ge- Bielefeld, September 2016 schichte/Politik/Gesellschaftslehre geht es nicht Jupp Asdonk, Reinhild Hugenroth, allein um Wissensvermittlung und -erwerb, son- Annelie Wachendorff dern um die individuelle wie gemeinsame handeln- de Auseinandersetzung mit einem Problem, einem Thema, einem Projekt. Beispiele sind Kinder- und Menschenrechte, Zeitzeug_innen zu dem Gewaltre- gime des Nationalsozialismus, Räte und Parlamen- te, außerparlamentarisches Engagement. | Seite 8 |
Demokratie leben und lernen Momentaufnahmen: versammlungen „ Jeden Montag- morgen in der ersten Stunde ... ... treffen sich die Labor- schüler_innen in ihren Gruppen: Mädchen und Jungen sitzen auf Bänken, Stühlen oder auf dem Boden im Kreis...“ | Seite 9 |
Demokratie leben und lernen profilmarkt Schüler_innen erfahren sich als Handelnde in der Gestaltung ihres Bildungsprofils: Mit dem Profilmarkt würdigt die Laborschule die individuellen Produkte und Reflexionsprozesse. © Veit Mette | Seite 10 |
Demokratie leben und lernen Der Profilmarkt der Jahrgänge 7 und 10 fin- „Ich war schon in Jahrgang 3 gerne in der Werk- det jedes Jahr Ende Mai in der Laborschule statt. statt. Später habe ich so viele Stunden, wie es ging, Die Mädchen und Jungen haben überlegt, welche da gearbeitet, und jetzt mache ich eine Ausbildung- ihrer schulischen und außerschulischen Produkte zum Tischler.“ aus den letzten Jahren ihre Interessen und Lern- (Mirko) schwerpunkte am besten zeigen. Zu sehen sind z.B. Elektrobaukästen, Kleider, Mathe-Portfolios, Gemäl- „Sprachen sind für mich der Zugang zur ganzen de, Praktikums- und Reiseberichte, kleine Filme, Welt. Deshalb lerne ich jetzt schon drei und nach Essays, eine restaurierte Schwalbe, aber auch ein dem Abschluss gehe ich erstmal ins Ausland.“ Fußballpokal oder ein Reitabzeichen. (Julia) Eingeladen sind die Eltern und das Kollegium. Auch die Schüler_innen haben in einem Rotationssystem Die Bandbreite der oft in längeren Prozessen Gelegenheit, die Produkte der anderen anzusehen, entstandenen Produkte wird auf diesem Markt für sie zu kommentieren und sich für eigene Vorhaben alle sichtbar; in vielen Feedbackgesprächen wird die Ideen zu holen. eigenständige Gestaltung der Lernprofile gewürdigt Zur Eröffnung gibt es immer einen Live-Auftritt, und die Jugendlichen werden zu weiteren Entschei- z.B. einen selbst komponierten Song, eine Theater- dungen und Erfahrungen ermuntert. improvisation, eine Kunstaktion – auch das sind wichtige Produkte! An Tischen geben die Schüler_ „Bei den Wahlkursen war mir wichtig, dass ich innen dann Auskunft über ihre Exponate und be- meine Persönlichkeit ausbauen kann. Deshalb schreiben deren Bedeutung für ihren Lernprozess. habe ich den Jungenkurs gewählt. Und Kochen, In Jg 10 zeigen „bis jetzt – ab jetzt“ - Plakate, wie die damit ich mich später selbst versorgen kann.“ Jugendlichen ihren bisherigen Bildungsgang sehen (Malte) und mit welchen Zielen sie ihren zukünftigen (Aus-) Bildungsweg angehen. „In der Gruppe meinen sie, dass ich eine gute Ver- Die Erwachsenen interessieren sich für die unter- trauensperson bin. Beim Praktikum im Altenheim schiedlichen Produkte und Lernwege; sie geben haben sie das auch gesagt: Meine Ausbildung im auch Ratschläge, wie man Interessen weiter verfol- sozialen Bereich schaffe ich!“ gen kann – bis hin zur beruflichen Orientierung. (Nadine) „Danke, dass ihr mir in Jahrgang 7 gesagt habt, Die Schüler_innen werden so angeleitet, sich als dass Ethik auch was für mich ist! Jetzt, nach dem Subjekte in ihrem Bildungsprozess zu begreifen: Kurs, werde ich in der Sek. II Philosophie wählen.“ Sie entwickeln Kriterien, reflektieren ihre Produkte, (Arne in Jg. 10) nutzen Feedback, sprechen ihren Suchbewegungen und Bemühungen einen Sinn zu – und schätzen dies Als inklusive Schule bietet die Laborschule von Be- an anderen. Ihre erworbenen und neu angestrebten ginn an verschiedene Lernzugänge und Arbeitsfor- Fähigkeiten und Erfahrungen betrachten sie als men an. Schon in der Primarstufe werden die Kinder Schritte auf dem Weg, ihre eigene Orientierung in angeregt, ihre Lernspuren zu sammeln. Von Stufe der Welt zu definieren, und übernehmen so immer ei- zu Stufe erhalten sie mehr Wahlangebote, die sie genständiger die Verantwortung für weitere Entwick- zur Vertiefung und Spezialisierung nutzen können. lungsaufgaben. In Jahrgang 7 ist zu sehen, wie sich individuelle Schwerpunkte herausbilden, zugleich beginnt für die Jugendlichen eine wichtige Orientierung auf die Abschlussphase hin. Zum Ende der Sek. I lassen sich an den Produkten und an der Darstellung der persönlichen Reflexion dann ganz unterschiedliche Bildungsprofile erkennen. | Seite 11 |
Demokratie leben und lernen Stolpersteine „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name oder einfach nur mutige Menschen, die Widerstand vergessen ist" – zitiert der Künstler Gunter Demnig leisteten. eine jüdische Lebensweisheit. Die Stolpersteine enthalten unter der Überschrift Mit 10x10x10 cm großen Betonwürfeln, in die eine HIER WOHNTE knappe Hinweise auf den Namen, glänzende Messingplatte eingelassen ist, auf dem das Geburtsjahr, manchmal auch das Todesjahr Gehweg vor den Häusern, in denen einst jene Men- und den –ort, und sollen damit die Passanten ge- schen wohnten, die der nationalasozialistischen Ge- danklich über ein menschliches Schicksal „stol- waltherrschaft zum Opfer fielen, hält er die Erinne- pern” lassen. rung an sie weiter lebendig. In den meisten Städten sind es verschieden Opfergruppen, an die erinnert Seit 1995 werden diese Steine als ein „Dezentrales wird: Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, Sinti Mahnmal Europas” von dem Künstler verlegt. 20 und Roma, Mitglieder von Gewerkschaften und der Jahre später – Ende 2015 - sind es bereits 56.000 politischen Parteien, religiös Verfolgte, Homosexuelle Steine in 1099 Orten in 20 Europäischen Ländern. © Dennis Rother | Seite 12 |
Demokratie leben und lernen Gedenksteine glänzen wieder Laborschüler polieren „Stolpersteine“ / Erinnerung an Opfer des Nazi-Regimes Mitte. Nur wenige Zentimeter ist er groß, der Gedenkstein für Hermann Wörmann. Der KPD-Politiker wurde im Jahr 1944 von den Nationalsozialisten ermordet – daran soll der so genannte „Stolperstein“ vor seinem ehe- maligen Wohnsitz in der Althoffstraße erinnern. Doch er fiel fast nicht mehr auf, so mattschwarz wie er aussah. Jetzt glänzt das Messing aber wieder. Dafür haben Zehntklässler der Laborschule Bielefeld gesorgt. Die Schüler waren längst nicht nur in Mitte unterwegs. „Alle 61 Zehntklässler sind freiwillig zum Putzen in der ganzen Stadt ausgeschwärmt“, sagt Christine Biermann. Die didaktische Leiterin der Laborschule hat im Jahr 2005 die Stolperstein-Verlegung mit Eva Hartog zusammen initiiert. 94 Steine liegen mittlerweile in der Stadt. Das Stolpern ist nur sinngemäß gemeint: Es geht darum, kurz inne- zuhalten im Alltag und das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus nicht zu vergessen, von Juden über politisch Verfolgte bis zu Homosexuellen. Damit die Menschen gedanklich stolpern, müssen die Steine vor allem eines: auffallen. Viele der zu Beginn blitzblanken Messingsteine glänzen nach ein paar Jahren nicht mehr, son- dern sehen aus, als seien sie voller Ruß. „Eine chemische Reaktion“, sagt Christine Biermann. Doch dagegen gibt es Mittel – und Sophie Weiß, Michelle Strach und Luna Herné hatten sie gestern dabei. „Zuerst wird saubergemacht“, sagt Michelle. Dafür nehmen die drei 16-Jährigen eine Art Lauge aus Essig, Zitronensaft, Mehl und Salz. „Altes Haushaltsrezept“, sagt Christine Biermann. Drei mal wischt Michelle mit einem Schwamm drüber – und schon kommt die Ursprungsfarbe wieder zum Vorschein. „Und jetzt kommt Messingputzmittel zum Einsatz“, sagt Luna. Wenig später ist der Stolperstein auf Hochglanz poliert. Nur fünf Minuten dauert die Aktion. Für die Zehntklässlerinnen war der Stein von Hermann Wörmann bereits der vierte, um den sie sich gestern gekümmert haben. Zuvor waren sie unter anderem an der Finkenstraße. Dort erinnert ein Stolperstein an Wilhelm Hünerhoff, einen ehemaligen Verwaltungsinspektor, der wegen Widerstands gegen die Nazis im KZ Neuengamme ermordet wurde. „Als wir geputzt haben, kam sein Sohn vor die Tür.“ Der über 90-Jährige wohnt noch im Haus seines Vaters. „Eine beeindruckende Begegnung“, berichteten Sophie, Luna und Michelle. Für ihr Engagement bekamen die fleißigen Putzerinnen ein Extralob. Für Laborschüler ist der Einsatz aber fast schon Tradition. Seit fünf Jahren säubern Zehntklässler die Steine, immer kurz vor ihrem Abschluss im Sommer. Im letzten Jahr befassen sie sich intensiv mit dem Thema Faschismus. In: DENNIS ROTHER – NEUE WESTFÄLISCHE, Mi., 18. Juni 2014 | Seite 13 |
„ Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.“ (John Dewey) © Veit Mette
Demokratie leben und lernen Demokratiepädagogik - Theoretische Bezüge und Diskurse Reinhild Hugenroth Schon vor einem Jahrhundert hat John Dewey John Dewey bestimmt das Verhältnis von Theorie gedacht und geschrieben – ist er noch aktuell? und Erfahrung auf eine Art und Weise, die den Prin- Doch gerade heute, wo viele Menschen den Sinn zipien des Schullebens der Laborschule Bielefeld von Demokratie hinterfragen, Mühe haben, deren sehr nahe kommt: Wert zu erkennen, kann Deweys pragmatische „Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Philosophie für die Gestaltung einer demokrati- Theorie, einfach deswegen, weil jede Theorie nur schen Schulkultur ein guter Ratgeber sein. Denn: in der Erfahrung lebendige und der Nachprüfung Lernen durch Erfahrung, Erwerb von demokrati- zugängliche Bedeutung hat. Eine Erfahrung, selbst scher Handlungskompetenz und Wertevermitt- eine sehr bescheidene Erfahrung, kann Theorie in lung gehören mehr denn je zu den Begründungen jedem Umfange erzeugen und tragen, aber eine The- einer modernen Erziehung. So findet der „gute orie ohne Bezugnahme auf irgendwelche Erfahrung Ratgeber“ Dewey „100 Jahre danach“ seine kann nicht einmal als Theorie bestimmt und klar er- (wehmütige) Würdigung. Michael Hampe, Philo- fasst werden“ (Dewey 1916/2000, 193). soph an der Eidgenössischen Technischen Hoch- Dieser Leitsatz soll (und kann) für den Inhalt und schule (ETH) Zürich, schreibt am 4.5.2016 in der die Methode dieses Beitrages stehen. Insbesondere „ZEIT“ ein leidenschaftliches „Plädoyer wider die Christine Biermann macht in diesem Band darauf enthemmte Konkurrenz der Einzelkämpfer“. Er aufmerksam, dass der Start der Laborschule Biele- befasst sich mit der moralischen Entkernung der feld mit der Demokratietheorie Deweys verbunden westlichen Demokratien und wie man ihr entkom- ist: Aushandlungsprozesse über das gemeinsa- men könne: me Lernen und Leben in der Schule gehören dazu, „Man kann unter ‚Demokratie‘ mit John Dewey, genauso wie der Erwerb einer demokratischen dem großen amerikanischen Philosophen des Handlungskompetenz, wie sie im Unterricht und im Pragmatismus im letzten Jahrhundert, ein gesell- Schulleben vermittelt werden. schaftliches (und nicht nur politisches) Projekt verstehen. In ihm versuchen egalitäre Gemein- schaften, sich in Autonomie so zu entwickeln, Die lebendige Sachlage dass sie in der Lage sind, sich selbst Normen und Ziele zu geben. Sie lassen sich dies nicht von einer Von Bielefeld zurück zu Dewey: Dieser stellte sich religiösen, wissenschaftlichen oder militärischen die Frage, wie es sich erklären lasse, dass Kinder Elite vorgeben. Heute muss man feststellen, dass außerhalb der Schule so voller Fragen sind, während Demokratie im Deweyschen Sinne kaum noch ein sie gegenüber dem Unterrichtsstoff „keinerlei Wissbe- lebendiges Projekt ist. Denn westliche Demokra- gier“ entfalten würden. Hier wird erstmals der Ge- tien sind, wie unter anderem Colin Crouch in seine danke der sogenannten „Gelegenheitsstrukturen für Büchern zeigt, dabei, sich moralisch zu entkernen“ Erfahrung und Lernen“ ausgesprochen, wie ihn Wolf- (Hampe 2016, „DIE ZEIT“ Nr. 20, 44). gang Edelstein (vgl. Edelstein 2007) später aufgreift: | Seite 15 |
Demokratie leben und lernen „Wir brauchen mehr wirklichen Stoff, mehr greifba- – so Dewey (Dewey 1916/2000, 121). re Gegenstände, mehr Gerät und Werkzeug, mehr Die Schulen sieht Dewey als den relevanten Ort der Gelegenheit zum wirklichen Tun, wenn diese Kluft Erziehung zur Demokratie. Die Erziehung solle den überbrückt werden soll“ (Dewey 1916/2000, 208). Ungleichheiten der wirtschaftlichen Lage entge- Dewey will das tatsächliche Interesse der Schülerin- genwirken und allen Kindern und Jugendlichen die nen und Schüler wecken und das Gelernte soll an- „gleiche Ausrüstung“ mit auf den Lebensweg ge- wendbar sein: ben. Das setzt voraus, dass die Schulen vernünftig „Wie viel der Schüler hört oder liest, darauf kommt ausgestattet sind. Alle Kinder und Jugendlichen es nicht an; je mehr, desto besser, gewiss – aber müssten in die Lage versetzt werden, selbst ihr Le- nur, wenn er ein Bedürfnis nach dem Gehörten ben wirtschaftlich und sozial zu meistern. Das be- oder Gelesenen hat und es in einer lebendige Sach- deutet, dass Schulen auch Teilhabe an der Demokra- lage anzuwenden imstande ist“ (Dewey 1916/ tie ermöglichen müssen: 2000, 248). „So fern der heutigen Wirklichkeit dieses Ideal auch Dazu zählen viele praktische Tätigkeiten; dabei ver- erscheinen mag: das demokratische Erziehungs- folgt Dewey zwei wesentliche Grundsätze: Zum ei- ideal ist ein lächerlicher, aber zugleich tragischer nen müssen alle Tätigkeiten dem erzieherischen Schein, wenn und soweit es nicht unser öffentliches Wert untergeordnet werden und die pädagogische Schulwesen mehr und mehr beherrscht“ (Dewey, Entwicklung fördern. Zum anderen soll die Tätigkeit 1916/2000, 135). auf ein Ganzes gerichtet sein, ebenfalls im pädago- Völkerverständigung, wie sie auch in der Labor- gischen Sinne. Diese Grundsätze speisen sich aus schule Bielefeld praktiziert wird, gehört für Dewey Deweys grundlegendem Verständnis von Erkennt- zur Erziehung zur Demokratie dazu. Es genüge nicht, nis und deren Gewinn für Schüler_innen: die Schrecken der Kriege zu vermitteln, sondern im „Erkenntnis lediglich aus zweiter Hand, die für den Zentrum stünden gemeinsame menschliche Ziele Lernenden eben ‚Erkenntnis der anderen‘ bleibt, und Zwecke, die die Völker verbinden: wird leicht bloßes Wortwissen“ (Dewey 1916/ „Diese Schlüsse hängen mit der Idee der Erziehung als 2000, 250). einer Befreiung der individuellen Fähigkeiten in fort- Aus den praktischen Tätigkeiten sollen echte Pro- schreitendem Wachstum und im Dienste sozialer Zwe- bleme erwachsen, z. B. aus dem Arbeiten mit Holz, cke aufs engste zusammen. Weicht man ihnen aus, so Metall, der Gartenarbeit usw. Aus Fehlern solle man gibt man die Folgerichtigkeit in der Anwendung des Kri- lernen können: teriums der demokratischen Erziehung auf“ (ebd.). „Wenn die Schüler reifer werden, sehen sie aus sol- cher Arbeit Probleme heranwachsen, die von den ursprünglichen Zwecken der Gartenarbeit mehr Mehr Bildungsgerechtigkeit oder weniger unabhängig sind, die aber ihr Interes- se erwecken und zum Zwecke neuer Entdeckungen Demokratietheorie und Erziehungstheorie werden und Feststellungen verfolgt werden können, etwa bei Dewey zusammen gedacht und sind „Zwillings- die Probleme des Keimens, der Ernährung der Pflan- schwestern“, wie Axel Honneth Deweys pragmati- ze, der Fortpflanzung usw.; diese Arbeit bildet einen sche Philosophie beschreibt (vgl. Honneth 2012). Übergang zu planmäßigerem, wissenschaftlichem Dewey betont, dass in der Demokratie nicht nur Forschen“ (Dewey 1916 /2000, 266). von allen wertvolle Leistungen zur Unterstützung der Gesellschaft verlangt würden, sondern dass allen auch die Chance gegeben werden müsse, Wider den tragischen Schein ihre Fähigkeiten zu entwickeln (vgl. Dewey 1916 /2000, 165). Die Demokratie bedarf der Erziehung, da Menschen Er beschreibt weiter, dass Arbeit und Muße in sich (nur) durch Einsicht einer Regierung unter- einer modernen Gesellschaft sich von der grie- ordnen. Dies sei aber nicht der einzige Grund: chischen Lebens- und Bildungsphilosophie unter- „Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie scheiden und die Begriffe Freiheit, Geist und Wert ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der sich so auswirkten, dass eine demokratische gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ Gesellschaft für alle entstehe: | Seite 16 |
Demokratie leben und lernen verteidigen aufklären kritisieren hinterfragen mitfühlen gerecht demonstrieren kandidieren unterstützen mitverantworten verbessern vermitteln gewaltfrei spenden argumentieren verändern teilen mitbestimmen nachgeben mitentscheiden vorschlagen verhandeln fordern helfen verstehen mitmachen ablehnen friedlich beeinflussen verhindern begründen motivieren aushalten solidarisieren standhaft eingreifen einbeziehen protestieren verzichten wählen diskutieren „Es ist nicht nur so, dass ein neuer Kulturbegriff, „Das Schulsystem aufzuspalten, den weniger gut ein veränderter Begriff der geistigen Freiheit und gestellten Kindern eine hauptsächlich als Berufsvor- des Dienstes an der Gemeinschaft eine Erziehungs- bereitung gedachte Bildung zu geben, heißt aber reform fordert; die Erziehungsreform ist vielmehr die Schulen herabwürdigen zu einem Mittel, um die auch erforderlich, damit die Wandlungen im sozialen alten Gegensätze von Arbeit und Muße, Kultur und Leben voll und frei zur Auswirkung gelangen. Die Dienst, Geist und Körper, herrschender und geleite- fortschreitende politische und wirtschaftliche Befrei- ter Klasse in die neue demokratische Gesellschaft ung der Massen ist in der Erziehung sichtbar und hineinzutragen“ (Dewey 1916/2000, 410 f.). wirksam geworden; sie hat ein für alle gemeinsa- Das lehnt Dewey ab. mes, öffentliches und schulgeldfreies System von Bildungseinrichtungen hervorgebracht. Sie hat den Gedanken zerstört, dass Bildung von Rechts wegen Das individuelle Denken ist gefordert nur den wenigen zukomme, die von der Natur dazu bestimmt sind, die öffentlichen Angelegenheiten zu Das individuelle Denken, das frei mache, beschreibt leiten“ (Dewey 1916/2000, 337). Dewey sehr ausführlich. Individualismus 1 führe zu Das Schulsystem selbst müsse inklusiv für alle eigenständigem Denken. Eigene Fragen entwickeln, sein und sollte keine Schulen nur für die einfache Verlangen nach helfendem Wissen, Bedingungen Berufsbildung vorsehen. Diese lange Auseinander- schaffen, die erfolgreiches Denken begünstigen, setzung mit der Funktion des Lebens in der Schule Initiative, Phantasie, Umsicht, eigene Absichten führt John Dewey zu dem Schluss: beim Handeln erringen – das alles gehöre zum | Seite 17 |
Demokratie leben und lernen freien Lernen. Und er grenzt dies wie folgt ab: und Interessen können nur in einer echt sozialen „Im anderen Fall ist seine scheinbare Aufmerk- Umwelt entwickelt werden, in einer Umwelt, wo samkeit, seine Gelehrigkeit, sein Lernen und Wie- eine gemeinsame Erfahrung im wechselseitigen dergeben nichts als geistige Unterwürfigkeit. Sol- Geben und Nehmen aufgebaut wird“ (Dewey 1916 che geistige Unterordnung ist erforderlich, wo /2000, 456). man von den Massen keine eigenen Ziele und Ge- Ein Zusammenhang mit dem Leben außerhalb der danken erwartet, sondern wo sie ihre Weisungen Schule solle mit dem Lernen innerhalb der Schule von den wenigen, die über sie gesetzt sind, entge- hergestellt werden – für Dewey ein „freies Wech- genzunehmen haben. Sie paßt aber nicht in eine selspiel“. Gesellschaft, die demokratisch sein will“ (Dewey Er bejaht sehr eindeutig die Vermittlung von Werten 1916/2000, 395). in der Schule und sieht zugleich ein Problem darin, Die Notwendigkeit, sich in heterogener Gesellschaft dass die Werte nur von dem jeweiligen Fach abgelei- angemessen zu verhalten, sieht Axel Honneth als tet werden. Dabei gehe es vielmehr darum, dass je- größte aktuelle Herausforderung des Erziehungs- des Fach einen Beitrag zur umfassenden Mannigfal- systems (vgl. Honneth 2012). Die Größe dieser Her- tigkeit unmittelbarer Werte leiste: ausforderung konnte Dewey noch nicht erahnen, „Die Neigung, jedem Fache besondere Werte zu- aber er sah in der Anerkennung des Individualismus zuschreiben und den Lehrplan als Ganzes als eine einen Weg, die Verschiedenheit in der Gesellschaft Zusammensetzung einzelner Werte zu betrachten, anzuerkennen: ist die Wirkung der Isolierung sozialer Gruppen und „Für eine fortschrittliche Gesellschaft aber sind in- Klassen voneinander. In einer demokratischen Ge- dividuelle Verschiedenheiten von unschätzbarem sellschaft hat die Erziehung daher Aufgaben, gegen Wert, da sie in ihnen die Werkzeuge ihres eigenen diese Isolierung anzukämpfen, damit einzelne Inter- Wachstums findet. Eine demokratische Gesell- essen einander verstärken und wechselseitig för- schaft muss daher in Übereinstimmung mit ihrem dern“ (Dewey 1916/2000, 328). Ideal in ihren Erziehungsmaßnahmen dem Spiele Dieser Gedanke der Reziprozität gehört zu den im- verschiedenster Gaben und Interessen im Sinne mer wiederkehrenden Momenten im Deweyschen geistiger Freiheit Raum gewähren“ (Dewey 1916 Werk und hat auch in modernen Methoden wie /2000, 396). dem Lehr-Lernarrangement „Lernen durch Verant- In seiner Erkenntnistheorie betont Dewey, dass das wortung“ (vgl. Sliwka 2004) nicht zuletzt aufgrund Lernen eine sittliche Erkenntnis sei. Daraus folgt, Deweys Philosophie einen hohen Stellenwert. dass Weltoffenheit, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung auch für die Auswirkungen der Dewey lehnt die dualistische Philosophie – das Denken Ideen, denen man zustimmt, Aufrichtigkeit etc. zu in Geist und Welt, Individuum und Gruppe etc. – ab: diesen sittlichen Eigenschaften zählen. Es wäre „Wir dagegen gelangten zu einer Philosophie, für die falsch, sittliche Eigenschaften mit der Anpassung an Ursprung, Stelle und Funktion des Geistes innerhalb autoritative Vorschriften gleichzusetzen: einer die Umwelt gestaltenden Tätigkeit liegen. (…) „Darum hat eine solche Handlung zwar (äußere) sitt- Alle diese Auffassungen fügen sich widerspruchslos liche Wirkungen; aber diese Wirkungen sind vom ein in eine Philosophie, die unter ,Intelligenz‘ die ziel- sittlichen Standpunkt aus unerwünscht, vor allem in strebige Neuordnung des Erfahrungsstoffes durch einer demokratischen Gesellschaft, wo so vieles von Handeln versteht; sie stehen aber im Widerspruch persönlichen Dispositionen des einzelnen abhängt“ zu den erwähnten dualistischen Philosophien“ (Dewey 1916 / 2000, 455). (Dewey 1916/2000, 416). Lernern durch Erfahrung und Handlungsorientier- ung in der Schule – das sind die Grundsäulen der Er- Lernen durch Erfahrung ziehungstheorie bei John Dewey. Die grundlegende Neuorientierung in der Er- Um aber diesen „sozialen Geist“ im Schulleben zu ziehungswissenschaft und der Ruf nach pädagogi- entwickeln, müssten gewisse Bedingungen ge- schen Reformen seien notwendig, weil die Gesell- schaffen werden. Ein „Gemeinschaftsleben“ müsse schaft sich in zentralen Feldern stetig wandelt. die Schule prägen – denn „soziale Auffassungen Die Entwicklung der Demokratie ist dabei | Seite 18 |
Demokratie leben und lernen © Veit Mette ausschlaggebend: „Wenn heute ein besonders malt wird, keinen, auch keinen Grund, nicht die von Bedürfnis nach einer Neugestaltung der Erziehung Kant, Durkheim und Dewey begründete Tradition besteht, wenn dieses Bedürfnis eine Überprüfung noch einmal wiederzubeleben und die öffentliche der grundlegenden Prinzipien der überlieferten Erziehung als zentrales Organ der Selbstrepro- philosophischen Systeme notwendig macht, so ist duktion von Demokratien zu begreifen“ (Honneth dies eine Folge der grundlegenden Wandlungen 2012, S. 429-442). im sozialen Leben, die durch den Fortschritt der Diese Krise fordert auf, ein wenig genauer nach Wissenschaft, die industrielle Umwälzung und die dem Wesen von Demokratie, auch im Kontext Entwicklung der Demokratie herbeigeführt worden von Schule und Erziehung, zu fragen. Dies lässt sind“ (Dewey 1916/2000, 426). sich, bewährt und erprobt, im Rahmen der politi- schen Bildung unternehmen; und ebenso können Elemente einer Demokratiepädagogik das Hon- Demokratie in Zeiten der Krise nethsche Postulat nach einer „Wiederbelebung“ flankieren und unterstützen. Axel Honneth wählte kaum umsonst den Kon- Demokratie ist keineswegs selbstverständlich. gress der Erziehungswissenschaftler_innen im Sie muss immer wieder begriffen werden, damit Jahre 2012 als Anlass, um den Zusammenhang von man sie leben kann. Für „die neue Demokratiefor- Demokratietheorie und Erziehungstheorie aufzuzei- schung“ steht deshalb die Frage im Mittelpunkt, gen; auch hier, geradezu selbstverständlich, auch „welche sozialmoralischen Voraussetzungen die unter Rückgriff auf Dewey. Sein Fazit zur De- demokratische Gesellschaft und die politische De- mokratiekrise lautete (und wird zur hymnischen mokratie an ihrer Basis braucht, um langfristig Eloge auf Dewey & Co.): stabil und lebensfähig zu bleiben.“ (Himmelmann „Es gibt daher in Zeiten, in denen allerorten von wach- 2005, 250) Gerhard Himmelmann dekliniert De- sender politischer Apathie gesprochen und sogar mokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herr- die Gefahr einer ‚Postdemokratie‘ an die Wand ge- schaftsform. Demokratie als Herrschaftsform | Seite 19 |
Demokratie leben und lernen meint das politische System, in dem es um Macht zepte. Die Klassensprecherwahl als Akt der De- und Herrschaft geht. Demokratie als Gesellschafts- mokratie ist ihm ebenso wichtig wie neue Formen form findet ihren Ort z.B. bei vielen freien Trägern wie den Klassenrat; auch das bürgerschaftliche En- und Verbänden und ist gelebte Praxis (vgl. auch Ha- gagement möchte Detjen kognitiv vermitteln. fenenger 2012). Schließlich ist Demokratie Lebens- form, wenn der Einzelne sich im täglichen Leben, auch in Bildungsinstitutionen, in demokratischer Die Schulkultur des Demokratie-Ler- Form äußern und beteiligen kann. Gemäß seiner nens akademischen Herkunft – Himmelmann ist Politik- wissenschaftler – sieht er eine Verankerung der Eine weitere Verbindungslinie für unseren Zusam- Demokratiekompetenz im Rahmen der politischen menhang schlägt Peter Henkenborg vor, wenn er Bildung und spricht (oder hofft?!) von der „Rückkehr die „about-Perspektive“ als den unverzichtbaren der Demokratie“ in die neuere politische Bildung Kern von politischer Bildung deutet; hier gehe es (Himmelmann 2005, 254). um kognitives Wissen und Urteilsfähigkeit. Die „through-Perspektive“ stehe für politische Bildung als Schulprinzip – schließlich hatte John Dewey Demokratie und politische Bildung Schulen mit seiner berühmten Formel als „embryo- nic society“, als demokratische Gesellschaft im Unternehmen wir, es erscheint für unseren Zusam- Kleinen, bezeichnet: menhang hilfreich zu sein, einen weiteren Ausflug „Die wichtigen sozialen Demokratiekompetenzen, in den Bereich der politischen Bildung. Diese geht Perspektivenübernahme sowie Anteilnahme und in Deutschland nach 1945 auf die Re-Educa- Mitgefühl, entwickeln sich relativ unabhängig von tion-Programme der Alliierten zurück, die sich in der Wissensvermittlung und können in der Schule – Deutschland eine Bürgerschaft wünschten, die wenn überhaupt – eher durch eine offene Schulkul- „demokratietauglich“ sei: tur mit selbständigen Partizipations-, Verantwor- „Der Wille, die Demokratie in den Köpfen und Herzen tungs- und Handlungsrahmen für Schülerinnen und der Bürger zu verankern, durchzieht vielmehr die Schüler beeinflusst werden. Deshalb: Demokra- gesamte Geschichte der politischen Bildung in der tie-Lernen ohne Schulkultur, ohne Möglichkeiten Bundesrepublik Deutschland. Die Schulgesetze, die der Partizipation und Verantwortungsübernahme Bildungsaufträge für die diversen Schulformen, die bleibt sozial und emotional leer“ (Henkenborg in Fachlehrpläne und nicht zuletzt die kultusministe- Himmelmann / Lange 2005, 311). riellen Erlasse legen hierfür ein klares Zeugnis ab“ Der Grundgedanke der Demokratiepädagogik (Detjen in Himmelmann / Lange 2005, 286). entstand im Modellprojekt „Demokratie lernen und Weiter ist zu erinnern an den Darmstädter Ap- leben“, das 2002 bis 2007 an 180 Schulen in zwölf pell von 1995 2 , der von drei Komponenten der Bundesländern der Bund-Länder-Kommission Demokratiekompetenz spricht: Wissen über Po- (BLK) durchgeführt wurde. In dem dazu verfass- litik, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit zur ten Gutachten von Wolfgang Edelstein und Peter Einmischung in die Politik sowie Einstellungs- Fauser tauchte erstmals der Begriff „Demokra- und Verhaltensdispositionen. Von hier ist es kein tiepädgogik“ auf. Die Autoren woll(t)en Schule als großer Schritt, die Aufgaben einer oder vielmehr Teil der gesellschaftlichen Modernisierung und De- der Demokratiepädagogik in den Blick zu nehmen. mokratisierung verstanden wissen (vgl. Edelstein Während sich das „kognitive Demokratielernen in / Fauser 2001, 21). Sie suchten einen demokrati- erster Linie der Makroebene der demokratischen schen Ansatz für die Schulentwicklung: politischen Ordnung (…) annehmen muss“, ist es „Folglich erscheint es wichtig, an Schulen jeweils „der Demokratiepädagogik aufgegeben, die Mikro- individuell und institutionell angemessene und ebene der Bürger im Sinne demokratieadäquater spezifische Kooperations- und Mitgestaltungsfor- Einstellungen und Praxen zu formen“ (ebd., 290). men auszuhandeln, die es Schülern, Lehrern, El- Für Joachim Detjen konzentriert sich politische tern und ggf. anderen zivilgesellschaftlich oder Bildung weitgehend auf den schulischen Bereich kommunal ausgewiesenen Akteuren erlauben, und damit verbundene moderne Unterrichtskon- sich die Schule gemeinsam ‚anzueignen‘, diese im | Seite 20 |
Demokratie leben und lernen empathischen Sinn zu ‚ihrer Schule‘ und Schule Vielfalt der Konzeptionen und Er- damit zu einem kommunalen und zivilgesellschaft- fahrungen lichen Mittelpunkt gemeinsamer Gestaltung und Verantwortung werden zu lassen“ (Edelstein/ Gemäß dieses „inneren Geländers“ wurden im Fauser 2001, 35). Rahmen des erwähnten Modellprojektes neue Das Gutachten von Edelstein und Fauser legte den demokratiepädagogische Ansätze wie beispiels- Fokus auf die Prävention gegen Rechtsextremis- weise „Service Learning" oder „Lernen durch En- mus und nahm dabei Deweys pragmatische Phi- gagement“ an den Schulen erprobt und theoretisch losophie von Erfahrung und Handeln als theoreti- begründet. Damit erfahren besondere Lehr-Lernar- schen Bezugspunkt: rangements Bedeutung, die das Lernen in Projekten „Allgemein können wir (…) davon ausgehen, dass systematisch auf den Unterricht beziehen; was wie- die Individuen vor allem durch Erfahrung zu De- derum eine Anregung für die Verbindung von außer- mokraten werden, also durch Bildungsprozesse schulischem und schulischem Lernen sein kann. in demokratisch gestalteten Lebenswelten einen „Service Learning" stammt aus den USA. Die- demokratischen Habitus erwerben und demokrati- ses Konzept geht ebenfalls auf John Dewey und sche Überzeugungen entwickeln. Wir sollten also, sein Konzept „Lernen durch und für Erfahrung“ wenn uns der Bestand der Demokratie am Herzen zurück, verankert den Gedanken der Reziprozität liegt, junge Menschen durch das Angebot einer und wurde dann im Rahmen des Modellprojekts demokratisch strukturierten Erfahrungswelt zu „Demokratie lernen und leben“ in Deutschland Demokraten erziehen“ (Edelstein 2007, 2). erstmalig auf breiterer Basis angewendet. unterstützend ausgleichend widerstandsfähig basisdemokratisch interessiert gerecht gewaltfrei kritikfähig reflektiert verständnisvoll kooperativ konfliktfähig hilfsbereit fair diskussionsfreudig gemeinschaftlich respektvoll demokratisch partnerschaftlich engagiert zukunftsorientiert konstruktiv verantwortungsvoll zugewandt offen empathisch selbstverantwortlich friedlich mutig handlungsfähig egalitär unhierachisch tolerant standhaft solidarisch kritisch vermittelnd sozial | Seite 21 |
Demokratie leben und lernen © Veit Mette Folgende Merkmale sind dabei typisch für eine Gelegenheitsstrukturen für Demokratie Umsetzung von „Service Learning"-Projekten: „Ganz praktisch“ wurde zudem der „Klassenrat“ 1. „Die Projekte erzeugen realen Nutzen für die nach der Methode von Freinet im Projekt „De- Schule und / oder die Gemeinde. mokratie lernen und leben“ in verschiedenen Al- 2. Schüler können im Rahmen der Projekte indivi- tersstufen erprobt und theoretisch begründet. duell Verantwortung übernehmen. Wolfgang Edelstein sieht die basisdemokratische 3. Die Projekte enthalten Aufgaben, welche die Regulierung der Klasse über den Klassenrat als ei- Fähigkeit zur komplexen Planung und zum kriti- nen gangbaren Weg, Demokratie zu erfahren und schen Denken schulen. tatsächlich auszuführen und (auch) auszuhalten. 4. Im Rahmen der Projekte können Schüler selb- Der Klassenrat ist eine der Gelegenheitsstruktu- ständig Entscheidungen treffen. ren für Demokratie, wie er sie fordert – und wie sie 5. Im Rahmen der Projekte arbeiten unterschied- in der Laborschule Bielefeld ebenfalls umgesetzt liche Generationen und soziale Gruppen im gegen- wird (vgl. u. a. Devantié in diesem Band). seitigen Respekt gleichberechtigt zusammen. So übernehmen Kinder und Jugendliche in der 6. Die Projekte bieten Gelegenheit zur syste- Schule „Verantwortungsrollen“ (vgl. Klages 1999) matischen und strukturieren Reflexion der und erwerben darüber Kompetenzen, die Gesell- Erfahrungen“ schaft im Kleinen und im Großen zu gestalten. (Conrad / Hedin 1982, 57; zitiert nach Edelstein Oskar Negt hat schon in den frühen 1990er / Fauser 2001, 41). Jahren die Kompetenzen für die Gestaltung | Seite 22 |
Demokratie leben und lernen einer Gesellschaft formuliert. Dazu gehören John Dewey sprach in seinen Schriften von „Identitätskompetenz, interkulturelle Kompetenz, „Selbsttätigkeit“, ein Begriff, dem die Subjekt- technologische Kompetenz, Gerechtigkeitskom- orientierung innewohnt(e) (vgl. Dewey 1916 / petenz, ökologische Kompetenz, historische Kom- 2000, 392). Der Psychologe Albert Bandura hat petenz, ökonomische Kompetenz“ (zitiert nach in seiner Folge die Konzeption von „Selbstwirk- Zeuner 2009, 271). Die OECD hat 2006 die samkeit“ und „Selbstwirksamkeitsüberzeugun- Schlüsselkompetenzen, die in Schule und außer- gen“ entwickelt. Wolfgang Edelstein wiederum schulischer Bildung erworben werden, in einem hat daraus und gemäß der Forderung von Jürgen langwierigen Forschungsprozess ermittelt. Die drei Habermas nach „entgegenkommenden Verhält- Schlüsselbereiche sind die Anwendung von Medien nissen in der Schule“ seine Anforderungen an und Mitteln (z. B. Sprache, Technologie), das Inter- demokratiepädagogische Prozesse formuliert. agieren in heterogenen Gruppen und die autonome Diese Verhältnisse müssten im alltäglichen Handlungsfähigkeit. Diese drei Schlüsselkompe- Schulleben verankert sein: tenzen werden detailliert ausdifferenziert und sind „Dafür muss sie [die Schulkultur] eine demokrati- – so die OECD – für die Gestaltung der Zukunft in sche Lebensform realisieren. Im Regelfall des hier- der heutigen Gesellschaft unerlässlich. archisch strukturierten Schulsystems sind solche Alle Formen der Beteiligung in der Schule, sei es Lebensformen (noch) utopisch. Das gilt natürlich Unterricht, außer-unterrichtliche Arbeitsgruppen, nicht für alle Einzelschulen. Im Vorgriff auf eine demokratische Gremien, Engagement in außer- verantwortungsdemokratische Lebensform haben schulischen Lernorten oder seien es Austausch- sich nicht wenige Schulen auf den Weg gemacht, programme, sollten auch unter dem Blickwin- Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwor- kel betrachtet werden, ob sie demokratischen tungsübernahme als demokratiepädagogische Kompetenzen fördern. Und nicht zu vergessen: Prozessmerkmale in ihrer Schulkultur zu veran- Utopiekompetenz gehört dabei sicherlich zu je- kern“ (Edelstein 2007, 2). nen besonderen Qualitäten, deren Anwendung nachfolgenden Generationen ein gutes Leben Das Schulleben der Laborschule Bielefeld kann ermöglichen sollen (vgl. Hugenroth 2011 und sich in diesen demokratiepädagogischen Prozess- 2013). merkmalen wiederfinden. 1 Individualismus bezieht sich hier auf eigenständiges Denken und Dewey setzt diesen als Gegenpunkt zu autoritärer Gefolgschaft. 2 Der Darmstädter Appell war eine Zusammenkunft namhafter Politikwissenschaftler und Politikdidaktiker 1995. Vgl. „Darmstädter Appell". Aufruf zur Reform der politischen Bildung in der Schule, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/96, S. 35. | Seite 23 |
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