WHO-REGIONALBÜRO FÜR EUROPA UND BZGA STANDARDS FÜR DIE SEXUALAUFKLÄRUNG IN EUROPA - RAHMENKONZEPT FÜR POLITISCHE ENTSCHEIDUNGSTRÄGER ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA Standards für die Sexualaufklärung in Europa Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten
WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA Standards für die Sexualaufklärung in Europa Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Köln 2011
Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 Teil 1: Einführung 9 1. Hintergrund und Zielsetzung 9 1.1 Schulische und außerschulische Sexualaufklärung 10 1.2 Historischer Kontext der schulischen Sexualaufklärung 11 1.3 Entwicklung der schulischen Sexualaufklärung in Europa 12 1.4 Vielfalt der sexualpädagogischen Ansätze in Europa 13 1.5 Europa im globalen Kontext 15 1.6 Internationale Initiativen zur Sexualaufklärung 16 2. Sexualität, sexuelle Gesundheit und Sexualaufklärung – Definitionen und Konzepte 18 3. Grundlagen der Sexualaufklärung 24 3.1 Grundsätzliche Überlegungen zur Sexualaufklärung 24 3.2 Psychosexuelle Entwicklung von Kindern 25 4. Grundsätze und Ziele der Sexualaufklärung 31 5. Zielgruppen und Partner der Sexualaufklärung 32 6. Wie kann Sexualaufklärung gelingen? - Rahmenbedingungen und Anforderungen 33 6.1 Sieben Merkmale der Sexualaufklärung 33 6.2 Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte 35
Teil 2: Matrix Sexualaufklärung 37 1. Einführung 37 1.1 Hintergrundinformationen 37 1.2 Bedeutung von Hilfesystemen 38 1.3 Warum bereits vor dem vierten Lebensjahr mit der Sexualaufklärung begonnen werden sollte 39 1.4 Erläuterungen zur Matrix 40 2. Matrix 41 Literaturverzeichnis 55 A. Zitierte Literatur 55 B. Wissenschaftliche Literatur zur psychosexuellen Entwicklung von Kindern 58 C. Lehrpläne und Lehrbücher 62 D. Webangebote 65
Vorwort Die Europäische Region der WHO ist im Hinblick Zudem sollen diese Standards die Einführung ei- auf das Thema „sexuelle Gesundheit“ mit einer ner ganzheitlichen Sexualaufklärung unterstützen. Reihe von Problemen konfrontiert, etwa dem Eine ganzheitliche Sexualaufklärung vermittelt Anstieg der HIV-Infektionen und weiterer sexu- Kindern und Jugendlichen unvoreingenommene ell übertragbarer Infektionen (STI), ungewollten und wissenschaftlich korrekte Informationen zu Teenagerschwangerschaften und sexueller Gewalt. sämtlichen Aspekten der Sexualität und hilft ih- Kinder und Jugendliche sind eine entscheidende nen gleichzeitig Kompetenzen zu entwickeln, um Zielgruppe bei der Verbesserung der sexuellen Ge- diese Informationen entsprechend zu nutzen. Sie sundheit. Um eine positive und verantwortungs- trägt somit dazu bei, dass sich bei ihnen respekt- volle Haltung zur Sexualität entwickeln zu kön- volle und tolerante Haltungen ausbilden können, nen, brauchen sie Informationen sowohl über die die letztlich auch eine Voraussetzung für sozial Risiken als auch die Potenziale der Sexualität. Dies gerechte Gesellschaften sind. befähigt sie zu einem verantwortungsvollen Um- gang nicht nur mit sich selbst, sondern auch ge- Bisher zielte Sexualaufklärung vorwiegend auf die genüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft, mit Sexualität verbundenen potenziellen Gefah- in der sie leben. ren ab, wie etwa ungeplante Schwangerschaften und sexuell übertragbare Infektionen. Dieser ne- Dieses Rahmenkonzept resultiert aus einem Be- gative Fokus wird von Kindern und Jugendlichen darf an Standards zur Sexualaufklärung inner- häufig als bedrohlich empfunden. Mehr noch, er halb der Europäischen Region der WHO, die sich entspricht nicht ihrem Informations- und Wissens- vom Atlantik bis zum Pazifik erstreckt und zu der bedarf und hat allzu oft nichts mit ihrer Lebens- 53 Länder zählen. Zwar gibt es in den meisten realität zu tun. westeuropäischen Ländern mittlerweile nationale Richtlinien oder Mindeststandards für die Sexual- Der ganzheitliche Ansatz begreift Sexualität als aufklärung, doch sind bisher keine Anstrengungen menschliches Potenzial, als allgemeine Lebens- unternommen worden, Standards für die WHO energie und hilft Kindern und Jugendlichen Europa-Region oder auf EU-Ebene zu empfehlen. grundlegende Fähigkeiten zu entwickeln, mit de- Dieses Konzept stellt einen ersten Schritt dar, um ren Hilfe sie ihre Sexualität und ihre Beziehungen die Lücke für die gesamte Europäische Region der in den verschiedenen Entwicklungsphasen selbst WHO zu schließen. bestimmen können. Dies bestärkt sie darin, ihre Sexualität und Partnerschaften in einer erfüllen- WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 5
Im Rahmen von vier Workshops, die von der BZgA zwischen November 2008 und Dezember 2009 organisiert wurden, entwickelten die Experten gemeinsam die Standards.
Vorwort den und verantwortlichen Weise zu leben. Diese grund wie z.B. Medizin, Psychologie und Sozial- Fähigkeiten sind auch von grundlegender Bedeu- wissenschaften. Sie alle verfügen über umfangrei- tung, um sich vor möglichen Gefahren schützen che theoretische oder praktische Erfahrungen im zu können. Bereich der Sexualaufklärung. Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, internationale Or- Die Sexualaufklärung ist Teil der allgemeinen Er- ganisationen sowie Universitäten waren an diesem ziehung und beeinflusst somit die Entwicklung Prozess beteiligt, der sich über eineinhalb Jahre der kindlichen Persönlichkeit. Aufgrund ihres prä- erstreckte und in dessen Verlauf die Gruppe vier- ventiven Charakters ermöglicht sie, negative Fol- mal im Rahmen von Workshops zusammenkam. gen von Sexualität zu vermeiden; zugleich trägt Die Beteiligten einigten sich auf die vorliegenden sie zu einer Verbesserung der Lebensqualität, der Standards zur Sexualaufklärung, die den Ländern Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens als Richtlinie für die Einführung einer ganzheitli- bei. So gesehen ist Sexualaufklärung ein wichtiger chen Sexualaufklärung dienen sollen. Sie liefern Beitrag zu einer allgemeinen Gesundheitsförde- eine praktische Hilfestellung zur Ausarbeitung ge- rung. eigneter Lehrpläne. Gleichzeitig können sie als Ar- gumentationshilfe zur Einführung einer ganzheit- Die Einführung von Sexualaufklärung ist insbe- lichen Sexualaufklärung in jedem Land dienen. sondere an Schulen nicht immer einfach – es gibt häufig Widerstand aufgrund von Befürchtungen Diese Publikation gliedert sich in zwei Hauptteile: und falschen Vorstellungen über die Ziele und Der erste Teil vermittelt einen Überblick über die Inhalte der Sexualaufklärung. Wir hoffen, durch zugrunde liegende Philosophie, über Hintergrün- diese Standards einen positiven Beitrag zu leisten, de, Definitionen und Prinzipien der Sexualaufklä- damit Länder sich verstärkt um die Einführung rung und ihrer Teilbereiche. Es wird das Konzept von Sexualaufklärung bemühen oder bereits be- der ganzheitlichen Sexualaufklärung vorgestellt stehende Programme im Sinne einer ganzheitli- und erklärt, warum diese gerade für Jugendliche chen Sexualaufklärung ausbauen. und Heranwachsende so wichtig ist. Diese Initiative wurde im Jahr 2008 vom WHO- Im Zentrum des zweiten Teils stellt eine Übersicht Regionalbüro für Europa gestartet und von der (Matrix) die Themen dar, die die Sexualaufklärung Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in den verschiedenen Altersgruppen behandeln (BZgA), einem WHO-Kollaborationszentrum für sollte. Dieser Teil ist stärker auf die praktische sexuelle und reproduktive Gesundheit, in enger Umsetzung einer ganzheitlichen Sexualaufklärung Zusammenarbeit mit einer Expertengruppe wei- in der Schule ausgerichtet, auch wenn diese Stan- terentwickelt. Zu dieser Gruppe zählten 19 Exper- dards nicht unmittelbar als Umsetzungshilfe kon- tinnen und Experten aus neun westeuropäischen zipiert wurden. Ländern mit unterschiedlichem fachlichen Hinter- WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 7
Danksagung Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä- produktive Gesundheit und HIV/AIDS), Professor rung (BZgA) als Herausgeberin dieser Standards Daniel Kunz (Hochschule Luzern), Dr. Margare- ist vielen Menschen zu aufrichtigem Dank ver- ta Larsson (Universität Uppsala), Dr. Olga Loeber pflichtet: Dr. Gunta Lazdane vom WHO-Regio- (European Society for Contraception), Anna Mar- nalbüro für Europa, die diesen wichtigen Pro- tinez (Sex Education Forum, National Children’s zess angestoßen hat, sowie den Mitgliedern der Bureau, Großbritannien), Dr. Kristien Michielsen Expertengruppe: Professor Dan Apter (Klinik (International Centre for Reproductive Health, für sexuelle Gesundheit, Väestöliittoo), Doort- Universität Gent), Ulla Ollendorff (Norwegian Di- je Braeken (International Planned Parenthood rectorate of Health), Dr. Simone Reuter (Contra- Federation – IPPF), Dr. Raisa Cacciatore (Klinik ception and Sexual Health Service, Nottinghams- für sexuelle Gesundheit, Väestöliittoo), Dr. Ma- hire Community Health), Sanderijn van der Doef rina Costa (PLANeS, Schweizerische Stiftung für (World Population Foundation), Dr. Ineke van der sexuelle und reproduktive Gesundheit), Dr. Pe- Vlugt (Rutgers Nisso Group) und Ekua Yankah ter Decat (International Centre for Reproductive (UNESCO), die alle unermüdlich und mit großem Health, Universität Gent), Ada Dortch (IPPF), Eri- Interesse an diesem Projekt gearbeitet haben. Es ka Frans (SENSOA), Olaf Kapella (Österreichisches war eine Freude, mit solch engagierten Kollegin- Institut für Familienforschung, Universität Wien), nen und Kollegen arbeiten zu dürfen. Dr. Evert Ketting (Berater für sexuelle und re-
1 Teil 1: Einführung 1. Hintergrund und Zielsetzung Diese Publikation präsentiert empfohlene Stan- Sexualaufklärung festzulegen, und bieten Orien- dards zur Sexualaufklärung. Die Standards geben tierung bei der Ausgestaltung von Lernzielen, ei- Auskunft darüber, was Kinder und Jugendliche der nem wesentlichen Bestandteil jedes Curriculums.1 verschiedenen Altersstufen wissen und verstehen sollten, welche Situationen und Probleme sie auf Dieses Konzept wurde als Reaktion auf den Be- diesen Stufen bewältigen und welche Haltungen darf an Standards zur Sexualaufklärung innerhalb sie entwickeln sollten, um sich auch in sexueller der Europäischen Region der WHO erstellt. Ver- Hinsicht positiv, gesund und befriedigend entwi- schiedene europäische Länder haben sich mit der ckeln zu können. Bitte um Unterstützung bei der Einrichtung von Programmen zur Sexualaufklärung an das WHO- Diese Standards können als Argumentationshil- Regionalbüro für Europa gewandt. Europäische fe für die Einführung von Sexualaufklärung und Standards, die auf die Erfahrungen europäischer als praktische Unterstützung bei der Entwicklung Länder mit längerer Sexualaufklärungstradition und Erweiterung von Curricula für die verschie- zurückgreifen und die das gesammelte entspre- denen Schultypen dienen. Sie sollen dazu beitra- chende Fachwissen europäischer Expertinnen und gen, die politischen Entscheidungsträger von der Experten in zahlreichen Ländern darstellen, bilden Wichtigkeit der Einführung von Sexualaufklärung die optimale Grundlage zur Entwicklung solcher oder der Erweiterung bereits bestehender Ansätze Programme. zu überzeugen. Die Standards bieten einen guten Ausgangspunkt für einen Dialog über Sexualauf- klärung mit den entsprechenden Entscheidungs- 1 Auf dem Gebiet der Sexualaufklärung gibt es eine Vielzahl von trägern und Interessengruppen in diesem Bereich. Aktivitäten und Initiativen. In Abschnitt C der Literaturhinweise Sollen sie für die Entwicklung oder Optimierung finden sich Materialien und Hilfsmittel zu verschiedenen Aspekten der Sexualaufklärung. Für eine Neuentwicklung von Lehrplänen bestehender Lehrpläne verwendet werden, so sind bieten die Datenbank der UNESCO sowie umfangreiche Übersich- sie an die entsprechenden Bedürfnisse und die Si- ten der BZgA und IPPF über Sexualaufklärung in Europa einen tuation des jeweiligen Landes anzupassen. Sie hel- guten Ausgangspunkt, vgl. UNESCO HIV and AIDS Education Clearinghouse; IPPF (2006a, 2007), Lazarus & Liljestrand (2007) fen, die nächsten Schritte zu einer ganzheitlichen sowie BZgA/WHO-Regionalbüro für Europa (2006). WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 9
Teil 1: Einführung „Neuer Bedarf“ an Sexualaufklärung Quellen zählen, insbesondere in den frühen Ent- Mehrere Entwicklungen während der vergange- wicklungsphasen, die Eltern, die in diesem Alter nen Jahrzehnte waren ausschlaggebend für den am wichtigsten sind. Medizinische, pädagogische, Bedarf an Sexualaufklärung. Dazu zählen die sozialpädagogische oder psychologische Fachkräf- Globalisierung und die Migration neuer Bevölke- te spielen in diesem Prozess für gewöhnlich eine rungsgruppen mit unterschiedlichem kulturellen untergeordnete Rolle, was verständlich ist, da pro- und religiösen Hintergrund, die rasche Verbrei- fessionelle Unterstützung fast ausschließlich dann tung neuer Medien, insbesondere von Internet angefordert wird, wenn es Probleme gibt – Proble- und Handy, das Aufkommen und die Verbreitung me, die nur unter Mitwirkung einer Expertin oder von HIV/AIDS, die wachsende Besorgnis über se- eines Experten gelöst werden können. Allerdings xuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wurde durch die im westlichen Kulturkreis allge- und nicht zuletzt eine veränderte Einstellung zur mein zunehmende Bedeutung der Prävention, die Sexualität sowie ein verändertes Sexualverhalten sich mehr und mehr auch auf den intimen und unter Jugendlichen. Diese neuen Entwicklungen sexuellen Bereich erstreckt, die Forderung nach ei- verlangen nach wirksamen Strategien, die den ner stärkeren Einbeziehung von Fachkräften auch Jugendlichen einen sicheren und befriedigenden in diesem Bereich laut. Umgang mit ihrer Sexualität ermöglichen. Eine fundierte schulische Sexualaufklärung bietet gute Die Bedeutung eines positiven Voraussetzungen, um die Mehrheit innerhalb die- professionellen Ansatzes ser Zielgruppe zu erreichen. Wie bereits erwähnt finden sexuelle Lernprozesse zum großen Teil ohne die Mitwirkung von Fach- Darüber hinaus können europäische Standards so- leuten statt. Zweifellos lässt sich die menschli- wohl für weiter als auch für weniger entwickelte che Sexualität kaum durch schulische Erziehung Länder außerhalb Europas eine wertvolle Arbeits- „formen“, und die Rolle der Sexualpädagogik ist hilfe sein. Viele dieser Länder richten ihren Blick tendenziell auf Probleme (wie etwa ungeplan- auf Europa in der Erwartung, von Europa zu ler- te Schwangerschaften und sexuell übertragbare nen, und viele europäische Staaten und Nichtre- Infektionen – STI) und die Möglichkeiten ihrer gierungsorganisationen unterstützen diese Länder Vermeidung fokussiert. Dies führt schnell zu dem bei der Entwicklung ihrer Sexualaufklärung. Vorwurf, ihr Ansatz sei vorwiegend negativ, d.h. problemorientiert. Dieser Fokus auf Probleme und Für ein angemessenes Verständnis der Standards Risiken entspricht nicht immer dem Informations- soll zunächst geklärt werden, welche Rolle sie in bedürfnis, den Interessen, Wünschen und Erfah- der Praxis spielen können – in Anbetracht der se- rungen der Jugendlichen und verfehlt häufig die xuellen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter beabsichtigte Wirkung. Hieraus resultiert die For- und der Vielfalt an sozialen, kulturellen, religiösen derung nach einem positiveren Ansatz, der nicht und sonstigen Faktoren, die diesen Prozess beein- nur wirksam sondern auch realitätsnäher ist. Die flussen. Entwicklung der Sexualaufklärung ist durch das intensive Bemühen gekennzeichnet, einen profes- sionellen und präventiv ausgerichteten Ansatz mit dem Anspruch zu vereinbaren, Jugendlichen rele- 1.1 Schulische und außerschu- vante, nützliche, akzeptable und attraktive Ange- lische Sexualaufklärung bote zu machen. Jugendliche brauchen sowohl schulische als Kinder und Jugendliche erwerben in der Adoles- auch außerschulische Sexualaufklärung zenz schrittweise Wissen über den menschlichen Jugendliche benötigen sowohl schulische als auch Körper, über intime Beziehungen und Sexualität, außerschulische Sexualaufklärung, die einander und sie entwickeln dazu entsprechende Vorstel- ergänzen: Einerseits brauchen Jugendliche in ih- lungen, Haltungen und Fähigkeiten. Für diesen rem gewohnten sozialen Umfeld Liebe, Freiräume Lernprozess nutzen sie viele verschiedene Res- und Unterstützung, um ihre sexuelle Identität zu sourcen. Zu den bedeutendsten außerschulischen entwickeln; auf der anderen Seite müssen sie be- 10 WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung stimmte Kenntnisse, Haltungen und Fähigkeiten in Europa zu Beginn des dritten Jahrtausends ihre erwerben – Expertinnen und Experten spielen da- ersten sexuellen Kontakte im Alter von 16 bis 18 bei eine wichtige Rolle. Die wichtigsten professio- Jahren. Bevor sie mit etwa 25 Jahren heiraten (oder nellen Informations- und Bildungsangebote wer- dauerhaft zusammenleben), hatten sie bereits ver- den durch Schulen, durch Sachbücher, Broschüren, schiedene Partner; ihr erstes Kind bekommen sie CD-ROMs, Internetseiten mit Bildungsangeboten, im Alter von 28 bis 30 Jahren.2 In dieser Phase, Bildungsprogramme und -initiativen in Radio und vor dem Eingehen einer festen Partnerschaft, sind Fernsehen sowie Anbieter von (medizinischen) sowohl aus individueller als auch aus bevölke- Dienstleistungen vermittelt. rungsbezogener Sicht zwei Risiken von besonderer Die Standards konzentrieren sich auf die schuli- Bedeutung: ungewollte Schwangerschaften und sche Sexualaufklärung, was aber nicht bedeutet, sexuelle übertragbare Infektionen. Der Ausbruch dass Schule die einzige wichtige Vermittlungsin- der HIV/AIDS-Epidemie in den 1980er-Jahren des stanz ist. letzten Jahrhunderts brachte nun ein noch weit größeres Risiko mit sich, das zu umfangreichen Präventionsmaßnahmen führte. Für das verstärkte Interesse an Sexualität und sexueller Gesundheit 1.2 Historischer Kontext der Jugendlicher waren zudem weitere Faktoren aus- schlaggebend: Sexueller Missbrauch und sexuelle schulischen Sexualaufklärung Gewalt, von jeher Tabuthemen, wurden vermehrt in der Öffentlichkeit thematisiert, führten zu mo- Die Entstehung des Begriffs „Adoleszenz“ ralischer Empörung und dem Ruf nach wirksamer im Zusammenhang mit der „Sexuellen Re- Prävention. In der „Sexualisierung“ von Medien volution“ in den 1970er-Jahren und Werbung wurden zunehmend negative Ein- Die Einführung der schulischen Sexualaufklärung flüsse auf die sexuelle Entwicklung Jugendlicher in Westeuropa fällt weitgehend mit der Entwick- wahrgenommen und ausgleichende Maßnahmen lung und allgemeinen Verfügbarkeit moderner gefordert. und verlässlicher Verhütungsmethoden zusam- men, hier insbesondere der „Pille“, und mit der Sexualaufklärung an Schulen – als Antwort Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in auf diese sozialen Veränderungen den meisten Ländern während der 1970er- und Diese grundlegenden sozialen Veränderungen und 1980er-Jahre. Diese innovativen Entwicklungen insbesondere die Herausbildung einer neuen sozi- eröffneten vollkommen neue Möglichkeiten, Se- alen Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein xualität und Fortpflanzung voneinander zu tren- mit einer eigenen Kultur, eigenen Verhaltensmus- nen. Dieser Wandel löste um 1970 eine „Sexuelle tern und Bedürfnissen, verlangten nach neuen Revolution“ aus und förderte in Kombination mit Antworten seitens der Gesellschaft. Im Bereich der anderen Faktoren den Emanzipationsprozess der Sexualität wurden neue Gesundheitsdienste oder Frauen. Es setzte eine Verschiebung sexueller Nor- die Anpassung bestehender Angebote sowie neue men und Werte ein, und auch das Sexualverhal- Aufklärungs- und Bildungsinitiativen gebraucht. ten begann sich zu verändern bzw. verlor seinen Die Forderung nach Sexualaufklärung in der zwei- extremen Tabucharakter. Sexualität entwickelte ten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Euro- sich zu einem Thema, über das man öffentlich pa ist in erster Linie unter diesem Aspekt zu verste- sprechen konnte. In diesem Prozess entstand auch hen. Insbesondere Menschenrechtsauffassungen eine neue Lebensphase zwischen Kindheit und und damit verbundene veränderte Einstellungen Erwachsensein, die als „Adoleszenz“ bezeichnet zu (sexuellen) Rechten und Rollen dieser spezifi- wurde. Diese Zwischenphase ist charakterisiert als schen Altersgruppe in der Gesellschaft haben stark Zeit einer zunehmenden Unabhängigkeit von den dazu beigetragen, dass Sexualaufklärung nun als Eltern, erster Liebesbeziehungen und sexueller Notwendigkeit angesehen wurde. Dieser Prozess Kontakte (weit) vor der Ehe, des Zusammenlebens ohne Trauschein und des Aufschiebens von Heirat und Familiengründung auf einen späteren Zeit- 2 Vgl. OECD (2008). Siehe auch WHO-Regionalbüro für Europa punkt. Im Großen und Ganzen haben Jugendliche (2008). WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 11
Teil 1: Einführung fand in allen europäischen Ländern statt, wenn- so lange Geschichte wie nirgendwo sonst auf der gleich einige Länder diesen Weg früher oder zü- Welt. Offiziell begann sie 1955 in Schweden, als giger als andere gegangen sind. Sexualaufklärung, sie an sämtlichen Schulen zum Pflichtfach erklärt insbesondere die schulische Sexualaufklärung, ist wurde. In der Praxis dauerte die Integration dieses ein wesentlicher Bestandteil dieses Anpassungs- Fachs in die Lehrpläne viele Jahre, da die Entwick- prozesses. Die Gründe, die Einführung schulischer lung von Richtlinien, Handbüchern und sonstigem Sexualaufklärung einzufordern, haben sich im Lehrmaterial und die Lehrerausbildung sehr viel Laufe der Jahre geändert und sind von Land zu Zeit in Anspruch nahmen. Land verschieden. Sie reichen von der Vermeidung ungewollter Schwangerschaften bis zur Präventi- Sexualaufklärung fand in Westeuropa on von HIV und sonstigen sexuell übertragbaren früher statt … Infektionen. Auch Skandale um sexuellen Miss- In den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen brauch förderten das öffentliche Interesse an Jahrhunderts wurde in vielen weiteren westeuro- Sexualaufklärung und ließen Forderungen nach päischen Ländern Sexualaufklärung eingeführt: Sexualaufklärung für jüngere Kinder laut werden. zunächst in den anderen skandinavischen, dann Sie gründen sich auf eine allgemein veränderte auch in den übrigen Ländern. In Deutschland ge- Wahrnehmung von Kindern, die nun als Subjekte schah dies beispielsweise 1968 und in Österreich gesehen wurden.3 Diese unterschiedlichen Moti- 1970. In den Niederlanden und der Schweiz be- vationen haben sich einander allmählich angenä- gann sie ebenfalls in den 1970er-Jahren, obwohl hert und in eine Richtung entwickelt, die durch sie dort aufgrund der weitgehenden Selbststän- ein eher ganzheitliches Verständnis von Sexual- digkeit der Schulen (oder Kantone im Falle der aufklärung gekennzeichnet ist. Ausschlaggebend Schweiz) nicht sofort zum Pflichtfach wurde.5 hierfür war die Überzeugung, dass Jugendliche Die Einführung der schulischen Sexualaufklärung unterstützt, gestärkt und befähigt werden sollen, dauerte bis in das letzte Jahrzehnt des 20. und in einer verantwortlichen, sicheren und befriedi- das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts an. Zu- genden Art und Weise mit Sexualität umzugehen. nächst in Frankreich, Großbritannien und einigen Einzelthemen oder Risiken sollten dabei nicht im westeuropäischen Ländern eingeführt, folgten Vordergrund stehen. Dieser ganzheitliche Ansatz, später nach und nach auch südeuropäische Län- der einen viel weiter gefassten, nicht ausschließ- der, insbesondere Portugal und Spanien. Sogar in lich auf Geschlechtsverkehr fokussierten Begriff Irland, wo es traditionell eine stark religiös mo- von Sexualität vermittelt, wird gegenwärtig von tivierte Ablehnung gab, wurde Sexualaufklärung den meisten Fachleuten für Sexualität und sexuel- im Jahr 2003 Pflichtfach in der Grund- und der le Gesundheit in Europa vertreten. weiterführenden Schule. Nur in einigen wenigen alten EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere in Süd- europa, gibt es bislang keine Sexualaufklärung an Schulen. 1.3 Entwicklung der schulischen Sexualaufklärung … als in Mittel- und Osteuropa In Mittel- und Osteuropa begann die Entwicklung in Europa4 der Sexualaufklärung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Zuvor hatte es einige Vorstöße Sexualaufklärung als Unterrichtsfach hat in Eu- in einzelnen Ländern gegeben, die jedoch rückbli- ropa eine bereits über fünfzigjährige und damit ckend kaum als Initiativen zur Sexualaufklärung bezeichnet werden können. In den meisten Fällen handelte es sich um Maßnahmen zur „Vorberei- 3 Demnach wird das Kind als eigenständige Person mit besonderen tung auf Ehe und Familie“, bei denen die Tat- Fähigkeiten und Bedürfnissen wahrgenommen, insbesondere sache verleugnet wurde, dass Jugendliche schritt- hinsichtlich der Art und Weise, wie es Nähe, Sinnlichkeit und (körperliche) Neugier ausdrückt. Das Potenzial des Kindes bedarf einer angemessenen Förderung. 4 Informationen zu schulischer Sexualaufklärung basieren vorwie- 5 In den Niederlanden erlangte sie niemals wirklich den Status eines gend auf den SAFE-Berichten, s. IPPF (2006a, 2007), Lazarus & Pflichtfaches und in der Schweiz erst zwei Jahrzehnte später nach Liljestrand (2007). Beginn der HIV-Epidemie. 12 WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung weise ein starkes Interesse an Liebesbeziehungen leicht der Eindruck entstehen, dass in Europa kein entwickeln und bereits vor der Ehe sexuell aktiv Interesse an Studien zur Sexualaufklärung beste- sein können. Die Vorbereitung auf Sexualität war he, was aber – wie schon dargelegt – nicht der kaum ein Thema. Aus diesem Grund begannen die Fall ist. Europa verfügt über einen reichhaltigen Länder in Mittel- und Osteuropa mit der Sexual- Erfahrungsschatz sowie vermutlich über eine gut aufklärung, wie sie heute in den meisten Ländern dokumentierte nationale Evidenz. Eine systemati- definiert und praktiziert wird, 20 oder 30 Jahre schere Veröffentlichung der Studien und Studien- später als in Westeuropa. Nur in einigen dieser ergebnisse könnte gewährleisten, dass diese Daten Länder, insbesondere in der Tschechischen Repu- auch international zugänglich werden. blik und Estland, wurde der ernsthafte Versuch unternommen, moderne Konzepte der Sexualauf- klärung zu entwickeln, die sich von der „Sexual- aufklärung zur Vorbereitung auf das Familienle- 1.4 Vielfalt der sexualpädago- ben“ unterscheiden. In einer Reihe anderer Länder gischen Ansätze in Europa Mittel- und Osteuropas wurde die Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch das Auf- kommen eines (politisch, kulturell und religiös Wie die hier vorgelegten Standards verwendet motivierten) Fundamentalismus in verschiedenen werden können, hängt weitgehend von der Orga- öffentlichen Bereichen verlangsamt. nisation und Vermittlung von Sexualaufklärung ab. Innerhalb Europas gibt es hierbei enorme Un- Kein Austausch von Standards und Richt terschiede. Um die Standards sinnvoll nutzen zu linien zwischen den Ländern können, ist es wichtig, einige Informationen über Hinsichtlich der Entwicklung von Richtlinien, Lehr- diese Unterschiede und ihre Hintergründe voraus- plänen oder Standards zur Sexualaufklärung hat zuschicken. zwischen den europäischen Staaten bisher auffal- lend wenig Austausch stattgefunden. Dies ist wohl Für eine umfassende und frühzeitige hauptsächlich auf Sprachbarrieren zurückzufüh- Sexualaufklärung ren, zumal nur wenige Dokumente übersetzt und Innerhalb Europas gibt es große Unterschiede in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht hinsichtlich des Alters, in dem mit Sexualaufklä- wurden. Das Gleiche gilt für die Forschung auf rung begonnen wird. Laut SAFE-Bericht7 liegt die diesem Gebiet. Wissenschaftliche Forschungen Spanne zwischen fünf Jahren in Portugal und 14 zum Bildungsbedarf von Jugendlichen oder zur Jahren in Spanien, Italien und Zypern. Bei nähe- Qualität und Wirksamkeit von Bildungsmaßnah- rer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Unter- men wurden hauptsächlich für nationale Zwecke schiede nicht so groß sind, wie sie auf den ersten durchgeführt und in der jeweiligen Landessprache Blick scheinen. Sie haben viel damit zu tun, was veröffentlicht und flossen nicht in den internatio- unter „Sexualaufklärung“ verstanden wird. In die- nalen Forschungssstand ein. Aus diesem Grund ist sem Konzept wird eine weit gefasste Definition es wenig überraschend, dass in dem 2009 erschie- verwendet, die nicht nur körperliche, emotionale nenen Überblick über Studien zur Auswirkung von und zwischenmenschliche Aspekte der Sexualität Sexualaufklärung – enthalten in der Publikation und sexueller Kontakte, sondern auch eine Reihe „International Technical Guidance on Sexuality weiterer Aspekte wie Freundschaft oder Gefühle Education“ der UNESCO6 – nur elf Studien aus der Sicherheit, Geborgenheit und Anziehung um- „anderen Industrieländern“ aufgenommen werden fasst. Von diesem ganzheitlichen Begriff ausge- konnten gegenüber 47 Studien, die in den Verei- hend wird verständlich, warum Sexualaufklärung nigten Staaten durchgeführt wurden. Der größte in mehreren Ländern bereits in der Grundschule Teil dieser elf europäischen Studien stammt aus beginnt. In den Ländern, in denen Aufklärung Großbritannien und nur einige wenige aus den erst in der weiterführenden Schule beginnt, wird anderen europäischen Staaten. Hierdurch kann in der Regel eine wesentlich enger gefasste De- 6 Vgl. UNESCO (2009a). 7 S. IPPF (2006a). WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 13
Teil 1: Einführung finition von Sexualität verwendet. Diese begriff- aufklärung ein eigenständiges Unterrichtsfach, in lichen Unterschiede erklären auch, warum in ei- der Regel wird sie jedoch in andere Fächer inte- nigen Ländern die Bezeichnung „Sexualität und griert. Das Fach Biologie erscheint naheliegend, Partnerschaftserziehung“ oder ähnliche Ausdrücke doch je nach Land, Schultyp und sonstigen Be- gegenüber der Bezeichnung „Sexualaufklärung“ dingungen kann sie auch in den Fächern Politi- bevorzugt werden. sche Bildung, Soziale Orientierung oder Soziale Kompetenz, Gesundheitsförderung, Philosophie, Es war eine bewusste Entscheidung, sich für einen Religion, in Sprachen oder Sport unterrichtet wird. Ansatz auszusprechen, bei dem Sexualaufklärung Die Inhalte und verwendeten Methoden hängen mit der Geburt beginnt. Von Geburt an erfahren weitgehend vom Unterrichtsfach und der Vorbil- Babys, welchen Wert Körperkontakt, Wärme und dung der Lehrperson ab. Wird Sexualaufklärung Intimität haben und welches Wohlbefinden sie be- im Rahmen des Biologieunterrichts oder der Ge- reiten. Sie lernen, was „sauber“ und was „schmut- sundheitserziehung unterrichtet, so liegt der Fo- zig“ ist, und später lernen sie den Unterschied kus tendenziell eher auf den physischen Aspekten, zwischen Männern und Frauen sowie zwischen während bei geisteswissenschaftlichen Fächern die vertrauten und fremden Personen kennen. Tatsa- sozialen, interpersonalen oder ethischen Elemente che ist, dass besonders Eltern ihren Kindern von im Vordergrund stehen. Geburt an Botschaften in Bezug auf den mensch- lichen Körper und die Intimität vermitteln. Mit an- Für eine ganzheitliche Sexualaufklärung ist es von deren Worten: Sie leisten Sexualaufklärung. Vorteil, wenn sie von Lehrkräften verschiedener Fächer unterrichtet und auf diese Weise interdiszi- Sexualaufklärung muss altersgerecht sein plinär behandelt wird.8 Die Erfahrung zeigt jedoch, In diesem Zusammenhang ist die Bezeichnung dass es wichtig ist, die Verantwortung für die zen- „altersgerecht“ von Bedeutung. Richtiger wäre trale Koordination der verschiedenen Materialien eigentlich der Ausdruck „entwicklungsgerecht“, und Inputs einer einzelnen Lehrkraft zu übertra- da sich Kinder unterschiedlich schnell entwickeln. gen. Ein weiterer üblicher Ansatz besteht darin, Dennoch wird hier „altersgerecht“ stellvertretend Fachleute in die Schule zu holen, die dann vor Ort für beide Begriffe verwendet. „Altersgerecht“ be- bestimmte Themen behandeln. Das können spe- zieht sich auf die schrittweise Erarbeitung der ziell in Sexualaufklärung ausgebildete Ärztinnen Themen, die in einer gewissen Alters- oder Ent- und Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Sozi- wicklungsphase interessant und relevant sind und alarbeiterinnen und -arbeiter oder Psychologinnen die Frage, wie tiefgehend auf Detailaspekte ein- und Psychologen sein. Häufig werden zu diesem gegangen werden soll. Wenn ein vierjähriges Kind Zweck Nichtregierungsorganisationen im Bereich fragt, woher die Babys kommen, ist die Antwort der sexuellen Gesundheit oder Gesundheitsdienst- „aus Mamis Bauch“ in der Regel ausreichend und leister für Jugendliche eingesetzt. In einigen Län- altersgerecht. Erst später fragt das Kind vielleicht: dern wie etwa Schweden oder Estland findet ein „Wie kommt das Baby in Mamis Bauch?“ und in Teil der Sexualaufklärung in den nahe gelegenen diesem Alter ist eine andere Antwort altersgerecht. Gesundheitszentren für Jugendliche statt. Es wird Eine nicht angemessene Antwort wäre: „Dafür davon ausgegangen, dass so die Hemmschwelle bist du noch zu klein.“ Der Begriff „altersgerecht“ für einen Besuch gesenkt und die spätere Inan- erklärt, warum bei der Sexualaufklärung die glei- spruchnahme erleichtert wird. chen Themen in verschiedenen Altersstufen erneut angesprochen werden sollten – mit zunehmendem Die Aufnahme von Sexualaufklärung (und Part- Alter werden sie intensiver behandelt. nerschaftserziehung) in das Curriculum spielt eine wichtige Rolle für die Unterrichtung dieses Fachs. Sexualaufklärung als interdisziplinäres Wie die Erfahrung in einigen Ländern zeigt, wird Lehrfach der Sexualaufklärung tendenziell weniger Auf- Auch das Unterrichtsfach, in dem Sexualaufklä- rung unterrichtet wird, sowie die Qualifikation der verantwortlichen Lehrkraft sind innerhalb Europas 8 In Frankreich wird Sexualaufklärung von vielen verschiedenen Lehrkräften unterrichtet. durchaus unterschiedlich. Manchmal ist Sexual- 14 WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung merksamkeit zuteil, sobald der Pflichtstatus auf- 1.5 Europa im globalen gehoben wird. Andererseits führt die Anerkennung Kontext als verpflichtendes Unterrichtsfach nicht automa- tisch zu guter Qualität und ganzheitlicher Bildung. Es bedarf auch eines „Bottom-Up“-Prozesses, in Ein von der UNESCO herausgegebener internatio- dem die Lehrkräfte motiviert, ausgebildet und un- naler Überblick über Evaluationsstudien zu Sexu- terstützt werden. In den vergangenen Jahrzehnten alaufklärungsprogrammen zeigt, dass diese heute ging der Trend in Europa insgesamt dahin, Sexu- in vielen Industrie- und Entwicklungsländern um- alaufklärung zum Pflichtfach zu machen. Es gibt gesetzt werden.9 Viele der in Entwicklungsländern keine Ausnahmeregeln für Eltern, ihre Kinder vom durchgeführten Programme orientieren sich an Unterricht freistellen zu lassen, falls sie Einwände denen der Industrieländer, insbesondere aus den gegen die Lerninhalte haben sollten. In der Praxis USA und Westeuropa, z. T. erhalten sie auch ent- unterstützen Eltern (auch die anderer kultureller sprechende Unterstützung. Herkunft) häufig die schulische Sexualaufklärung, da sie sich selbst nicht zutrauen, das Thema auf- Drei Kategorien von Programmen zugreifen oder es ihnen peinlich ist. Aus historischer, global ausgerichteter Perspektive Dabei ist wichtig anzumerken, dass Sexualauf- lassen sich Programme zur Sexualaufklärung grob klärung kaum je Prüfungsfach ist. Für Teile ihres in drei Kategorien aufteilen. Themenspektrums wäre dies denkbar, sofern sie in ein Pflichtfach wie etwa Biologie aufgenommen 1. Programme, die primär oder ausschließlich den würde. Auf jeden Fall würde Sexualaufklärung als Verzicht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr Prüfungsfach mehr Bedeutung erlangen. zum Ziel haben und als „Enthaltsamkeitspro- gramme“ bekannt sind (Typ 1). Für die Ausarbeitung des Lehrplans ist es sinnvoll, eine feste Form der Zusammenarbeit mit den Eltern 2. Programme, die zwar Enthaltsamkeit als Op- zu etablieren – nicht nur um sich deren notwen- tion einschließen, doch auch Verhütung und dige Unterstützung zu sichern, sondern auch um geschützten Sexualverkehr thematisieren. Die- eine optimale Abstimmung zwischen der außer- se Programme werden häufig, im Vergleich zu schulischen Rolle der Eltern und der institutionellen „Enthaltsamkeit pur“, als „umfassende Sexual- Rolle der Schule zu gewährleisten. Diese Zusam- aufklärung“ bezeichnet (Typ 2). menarbeit ist in mindestens einem europäischen Land (Österreich) sogar offiziell vorgeschrieben. Die 3. Programme, die Elemente aus Typ 2 enthalten Schule ist gewiss nicht die einzige Institution oder und diese darüber hinaus in einen größeren Zu- Organisation, die in diesem Bereich eine wichtige sammenhang von Heranwachsen und persönli- Rolle übernehmen kann. Viele andere Organisati- cher und sexueller Entwicklung stellen. Diese onen, die in engem Kontakt mit Kindern und Ju- Programme werden hier als „ganzheitliche Se- gendlichen stehen, und auch die Medien können xualaufklärung“ bezeichnet (Typ 3). wertvolle Beiträge leisten. Programme des ersten Typs wurden über viele Jah- Letztlich unterscheidet sich auch der Grad der Zu- re von der Republikanischen Partei in den Verei- ständigkeit in Bezug auf die Entwicklung und Im- nigten Staaten intensiv gefördert und unterstützt plementierung schulischer Curricula auch für die und haben auch die Entwicklungen in anderen Sexualaufklärung. Aus diesem Grund kann Sexu- Teilen der Welt, insbesondere in einigen Entwick- alaufklärung in einzelnen Staaten höchst unter- lungsländern und osteuropäischen Staaten, beein- schiedlich gestaltet sein. In einem Land wie Schwe- flusst. Programme des zweiten Typs wurden als Re- den etwa, mit einem traditionell zentral gelenkten aktion auf den Enthaltsamkeitsansatz entwickelt. Bildungssystem, werden Lehrpläne auch zentral Eine vergleichende Studie zu den Auswirkungen festgelegt. In kulturell vergleichbaren Ländern, wie des ersten und zweiten Typs in den Vereinigten etwa in Dänemark oder den Niederlanden, wer- den diese Entscheidungen hingegen von örtlichen Schulbehörden oder einzelnen Schulen getroffen. 9 S. UNESCO et al. (2009a), S.13 ff. WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 15
Teil 1: Einführung Staaten zeigt, dass Abstinenzprogramme keine tät, so wie sie sich bei Jugendlichen herausbildet positiven Effekte auf das Sexualverhalten haben und entwickelt, in erster Linie nicht als Problem und weiterhin das Risiko von Teenagerschwanger- und Bedrohung empfunden, sondern als wertvolle schaften bergen, während umfassende Strategien Bereicherung der eigenen Persönlichkeit. die gewünschte positive Wirkung haben.10 Die Grenzen zwischen den Programmen des zwei- ten und dritten Typs sind, abhängig von der je- 1.6 Internationale Initiativen weiligen Ausprägung, fließend. zur Sexualaufklärung Leider gibt es in den Vereinigten Staaten nahezu ausschließlich Programme der ersten und zweiten Die vorliegende Empfehlung für Europäische Stan- Kategorie, während in Westeuropa mehrheitlich dards zur Sexualaufklärung ist eine Ergänzung zu Programme des dritten Typs durchgeführt werden. weiteren europäischen und weltweiten Initiativen Die internationale Fachliteratur zur Sexualaufklä- zur Förderung einer qualitativ hochwertigen Se- rung wird – man könnte fast sagen selbstverständ- xualaufklärung. lich – in englischer Sprache publiziert. Die meisten Dokumente über Sexualaufklärung in Europa, wie Im Jahr 2001 wurde die „WHO European Re- etwa Richtlinien, Handbücher, Lehrmaterial oder gional Strategy on Sexual and Reproductive auch Evaluationsberichte, sind jedoch in der je- Health“ veröffentlicht.11 Diese für zehn Jahre gel- weiligen Landessprache abgefasst. Da diese in der tende Strategie forderte die Mitgliedsstaaten dazu Regel der internationalen Leserschaft nicht zu- auf, Jugendliche über alle Aspekte der Sexualität gänglich sind, kann leicht der Eindruck entstehen, und Fortpflanzung zu informieren, aufzuklären dass es außer englischsprachigen Programmen, und ihnen dabei zu helfen, die notwendigen Le- von denen die meisten aus den USA stammen, benskompetenzen zu entwickeln, um mit diesen kaum weitere gibt. Belangen in zufriedenstellender und verantwort- licher Weise umgehen zu können. Außerdem soll- Es muss an dieser Stelle betont werden, dass den ten gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen Programmen des Typs 3 eine andere Philosophie werden, die Gesetze und politische Programme zugrunde liegt als denjenigen des Typs 1 und 2. daraufhin überprüfen, ob sie einen gleichberech- Letztere zielen tendenziell stärker auf messbare tigten Zugang zu reproduktiver und sexueller Ge- Ergebnisse ab und konzentrieren sich insbesonde- sundheit gewährleisten. re auf Verhaltensänderung. Wichtige Fragen zur Evaluation der Curricula über Sexualaufklärung Im November 2006 richteten die BZgA und das sind unter anderem: Verzögert sich der Zeitpunkt WHO-Regionalbüro für Europa unter dem Titel des ersten Geschlechtsverkehrs? Verringert sich die „Youth Sex Education in a Multicultural Euro- Zahl der Sexualpartner/-partnerinnen? Oder gar: pe“ in Köln eine europaweite Konferenz aus. Die- Verringert sich die Häufigkeit des Sexualverkehrs? se Konferenz bot 100 Expertinnen und Experten aus 26 Ländern ein Forum zur Vorstellung und In Europa ist Sexualaufklärung in erster Linie Diskussion von Strategien und erfolgreichen In- auf die Persönlichkeitsentwicklung ausgerich- itiativen zur Sexualaufklärung in den einzelnen tet, während sie in den USA primär der Prob- Ländern. Darüber hinaus setzte sie sich für eine lemlösung oder der Prävention dient. Für diesen stärkere Vernetzung und Zusammenarbeit inner- grundlegenden Unterschied gibt es eine Vielzahl halb der Europäischen Region der WHO ein. Im historischer, sozialer und kultureller Gründe, die Zuge der Konferenzvorbereitung wurde als erster in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden Schritt eine Sammlung von „Country Papers on können, dennoch ist es wichtig, an dieser Stelle Youth Sex Education in Europe“12 zusammen- darauf hinzuweisen. In Westeuropa wird Sexuali- 11 Vgl. WHO-Regionalbüro für Europa (1999/2001). 10 Vgl. Kohler et al. (2008). 12 BZgA/WHO-Regionalbüro für Europa (2006). 16 WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung gestellt, um die Erfahrungen zu bündeln, die in Im Jahr 2009 veröffentlichte der Population Coun- 16 europäischen Staaten zur Sexualaufklärung cil ein Handbuch zur Sexualaufklärung mit dem bereits vorliegen. Die nun vorliegenden Standards Titel: „It is All One Curriculum. Guidelines and sind ein weiterer Entwicklungsschritt hin zu einer Activities for a Unified Approach to Sexuality, einheitlichen Sexualaufklärung in Europa. Gender, HIV, and Human Rights Education“. Die- ser Leitfaden wurde von einer Arbeitsgruppe unter Fast zeitgleich mit der Konferenz in Köln wurden Beteiligung mehrerer Nichtregierungsorganisatio- die ersten Ergebnisse des „SAFE-Projekts“ (Sexu- nen, darunter auch des IPPF, erstellt.16 al Awareness for Europe) herausgegeben. Dieses Projekt startete im Jahr 2005 als Initiative des Diese Zusammenfassung macht deutlich, dass im europäischen Netzwerks IPPF und dessen 26 Mit- ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine ganze gliedsverbänden unter Beteiligung der Universität Reihe von Initiativen zur Sexualaufklärung ent- Lund (Schweden) und des WHO-Regionalbüros standen sind. Ziel der vorliegenden Standards ist für Europa. Die Europäische Kommission (Gene- es, unter Bezugnahme auf frühere und aktuelle raldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz) Publikationen eine spezifische Lücke in Europa zu war an seiner Finanzierung beteiligt. Ziel dieser schließen. Partnerschaft ist es, die sexuelle und reprodukti- ve Gesundheit sowie entsprechende Rechte von Jugendlichen in Europa zu fördern. Aus diesem umfangreichen, innovativen Projekt entstanden drei grundlegende Berichte:13 Auf einen dieser Berichte, den „Reference Guide to Policies and Practices in Sexuality Education in Europe“, wird in dieser Einführung ausführlich Bezug genom- men. In dessen Projektrichtlinien wurde unter anderem die Empfehlung gegeben, „sicherzustel- len, dass umfassende Sexualaufklärung ein ob- ligatorisches Fach ist sowohl in der Grund- als auch in der weiterführenden Schule mit klaren Minimalstandards und Lernzielen.“14 Trotz ihrer eigenständigen Konzeption sind die vorliegenden Standards zur Sexualaufklärung als Ergänzung zu den Ergebnissen dieses SAFE-Projekts anzusehen. Im Jahr 2009 veröffentlichte die UNESCO (ge- meinsam mit weiteren UN-Organisationen) einen zweibändigen Leitfaden mit dem Titel „Technical Guidance on Sexuality Education“.15 Ein Infor- mations- und Meinungsaustausch mit den Verfas- sern dieses Leitfadens fand in der zweiten Ent- wicklungsphase dieser Standards statt. In Teilen überschneiden sich die beiden Dokumente. Wäh- rend die Empfehlungen des UNESCO-Dokuments globalen Charakter haben, sind die Standards eher auf Europa bezogen. 13 Vgl. IPPF (2006a, 2007, Lazarus & Liljestrand 2007). 14 IPPF (2007), S.18. 15 UNESCO (2009a, 2009b). 16 Vgl. Population Council (2009). WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 17
Teil 1: Einführung 2. Sexualität, sexuelle Gesundheit und Sexual aufklärung – Definitionen und Konzepte Die Begriffe Geschlecht, Sexualität, sexuelle Ge- Eine von der WHO vorgeschlagene umfangreichere sundheit und sexuelle Rechte und die damit ver- Definition lautet: bundenen Vorstellungen werden bis zu einem gewissen Grad in verschiedenen Ländern und „Sexuality is a central aspect of being human Kulturen verschieden interpretiert.17 Werden sie in throughout life and encompasses sex, gender andere Sprachen übersetzt, so können sie wieder- identities and roles, sexual orientation, eroticism, um unterschiedlich verstanden werden. Es bedarf pleasure, intimacy and reproduction. Sexuality is deshalb einiger klärender Bemerkungen zur Ver- experienced and expressed in thoughts, fanta- wendung dieser Begriffe. sies, desires, beliefs, attitudes, values, behaviours, practices, roles and relationships. While sexuali- Im Januar 2002 berief die Weltgesundheitsorga- ty can include all of these dimensions, not all of nisation (WHO) im Rahmen einer breit angelegten them are always experienced or expressed. Sexua- Initiative eine Fachkonferenz mit dem Ziel ein, lity is influenced by the interaction of biological, einige dieser Begriffe und Konzepte zu definie- psychological, social, economic, political, ethical, ren, da bislang keine international abgestimmten legal, historical, religious and spiritual factors“. 20 Definitionen vorlagen.18 Dies führte zu einer vor- läufigen Festlegung der Begriffe Geschlecht, Se- Diese Definition ist aus vielen Gründen sehr hilf- xualität, sexuelle Gesundheit und sexuelle Rechte. reich. Sie hebt hervor, dass Sexualität ein zentraler Bei diesen Definitionen handelt es sich zwar noch Bestandteil des Menschseins ist, sie beschränkt sich nicht um offizielle WHO-Definitionen, doch ste- nicht auf bestimmte Altersgruppen, sie steht in en- hen sie bereits auf der Internetseite der WHO zur ger Beziehung zum sozialen Geschlecht (Gender), Verfügung und werden immer häufiger genutzt. sie berücksichtigt verschiedene sexuelle Orientie- Auch in diesem Konzept werden sie als Arbeitsbe- rungen und geht weit über die Fortpflanzung hin- griffe verwendet: aus. Sie stellt ferner klar, dass zur Sexualität mehr als nur Verhaltensweisen gehören und dass sie in „Geschlecht“ bezeichnet die biologischen Merk- Abhängigkeit von einer Vielzahl von Einflussfak- male, durch die Menschen generell in männlich toren stark variieren kann. Diese Definition macht und weiblich unterschieden werden. indirekt deutlich, dass eine so verstandene Sexual- aufklärung zudem einen wesentlich größeren und „Sexualität“ im umfassenden Sinn wird gemäß vielfältigeren Bereich abdeckt als eine Aufklärung, den vorläufigen Definitionen der WHO wie folgt die nur auf die Veränderung des Sexualverhaltens definiert: „Human sexuality is a natural part of zielt („education on sexual behaviour“). human development through every phase of life Bedauerlicherweise wird dies häufig missverstan- and includes physical, psychological and social den. components […].“19 20 „Sexualität bezieht sich auf einen zentralen Aspekt des Mensch- seins über die gesamte Lebensspanne hinweg, der das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt. 17 Siehe auch Kapitel 1. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, 18 WHO (2006). Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltens- 19 „Die menschliche Sexualität ist ein natürlicher Teil der menschli- mustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Während Sexualität chen Entwicklung in jeder Lebensphase und umfasst physische, all diese Aspekte beinhaltet, werden nicht alle ihre Dimensionen psychische und soziale Komponenten […]“ WHO Regional Office jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst for Europe (1999/2001), S.13. (Die Quellenangaben beziehen durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer, sich immer auf die englischen Zitate im Text; die Übersetzungen wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, religiöser und entstanden im Rahmen dieser Publikation). spiritueller Faktoren.“ WHO (2006), S.10. 18 WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung „Sexuelle Gesundheit“ wurde von der WHO erst- Literatur über HIV und AIDS bei diesem Thema malig 1972 bei einer Fachkonferenz mit folgen- häufig geschieht. Kurzum, es handelt sich um eine dem Wortlaut definiert: ausgewogene Definition. „Sexual health is the integration of the somatic, Sexuelle Gesundheit ist eines der fünf Kernthemen emotional, intellectual and social aspects of se- der globalen Strategie der WHO zur reproduktiven xual being in ways that are positively enriching Gesundheit, die von der Weltgesundheitsversamm- and that enhance personality, communication and lung im Jahr 2004 verabschiedet wurde.23 love.“21 Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die WHO in Obwohl es sich hier um eine veraltete Definition Bezug auf „Gesundheit“ seit den frühen 50er-Jah- handelt, wird sie dennoch häufig verwendet. Wäh- ren des vergangenen Jahrhunderts eine sehr weit rend der Fachkonferenz 2002 wurde ein neuer De- gefasste und positive Definition und Herangehens- finitionsentwurf verabschiedet: weise gewählt hat, indem sie diese als „menschli- ches Potenzial“ und nicht einfach als Abwesenheit „Sexual health is a state of physical, emotional, von Krankheit bezeichnet, und darunter nicht nur mental and social well-being in relation to se- körperliche, sondern auch emotionale, geistige, xuality; it is not merely the absence of disease, soziale und sonstige Aspekte zusammenfasst. dysfunction or infirmity. Sexual health requires a Aus diesen zuletzt genannten Gründen gelten die positive and respectful approach to sexuality and WHO-Definitionen als akzeptabler und geeigneter sexual relationships, as well as the possibility of Ausgangspunkt für eine Diskussion über Sexual- having pleasurable and safe sexual experiences, aufklärung. So wird in diesem Konzept zwar die free of coercion, discrimination and violence. For Bezeichnung „sexuelle Gesundheit“ verwendet, sexual health to be attained and maintained, the diese beinhaltet jedoch auch die Bedeutung des sexual rights of all persons must be respected, „sexuellen Wohlbefindens“. Sexuelle Gesundheit protected and fulfilled.“22 wird nicht nur durch persönliche, sondern auch durch soziale und kulturelle Faktoren beeinflusst. Dieser Definitionsentwurf betont nicht nur die Notwendigkeit eines positiven Ansatzes, den we- Sexuelle Rechte – unter ausdrücklicher Einbezie- sentlichen Aspekt der Lust und die Vorstellung, hung des Rechts auf Information und Bildung. dass zu sexueller Gesundheit nicht allein körperli- Wie bereits erwähnt, verabschiedete die WHO- che, sondern auch emotionale, geistige und soziale Fachkonferenz von 2002 einen Definitionsentwurf Aspekte gehören. Er weist auch auf die möglichen zu sexuellen Rechten mit folgendem Wortlaut: negativen Seiten hin und erwähnt erstmalig die Existenz sexueller Rechte – zwei Themenbereiche, „Sexual rights embrace human rights that are al- die in der Definition von 1972 kaum Erwähnung ready recognized in national laws, international finden. Darüber hinaus werden die möglichen ne- human rights documents and other consensus gativen Aspekte nicht speziell betont, wie es in der statements. They include the right of all persons, free of coercion, discrimination and violence, to: the highest attainable standard of sexual 21 „Sexuelle Gesundheit ist die Integration der körperlichen, emo- health, including access to sexual and repro- tionalen, geistigen und sozialen Aspekte des sexuellen Daseins ductive health care services; in einer positiven Art eine Weise, die zu einer Bereicherung und Weiterentwicklung von Persönlichkeit, Kommunikation und Liebe seek, receive and impart information related beiträgt.“ WHO (1975). to sexuality; 22 „Sexuelle Gesundheit ist der Zustand körperlichen, emotionalen, sexuality education; geistigen und sozialen Wohlbefindens bezogen auf die Sexualität und bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktions- respect for bodily integrity; störungen oder Schwäche. Sexuelle Gesundheit erfordert sowohl choose their partner; eine positive, respektvolle Herangehensweise an Sexualität und sexuelle Beziehungen als auch die Möglichkeit für lustvolle und decide to be sexually active or not; sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unterdrückung, Diskri- minierung und Gewalt. Wenn sexuelle Gesundheit erreicht und bewahrt werden soll, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und eingehalten werden.“ WHO (2006), S.10. 23 WHO (2004), S.21 WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa 19
Sie können auch lesen