WHO-REGIONALBÜRO FÜR EUROPA UND BZGA STANDARDS FÜR DIE SEXUALAUFKLÄRUNG IN EUROPA - RAHMENKONZEPT FÜR POLITISCHE ENTSCHEIDUNGSTRÄGER ...

 
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WHO-REGIONALBÜRO FÜR EUROPA UND BZGA STANDARDS FÜR DIE SEXUALAUFKLÄRUNG IN EUROPA - RAHMENKONZEPT FÜR POLITISCHE ENTSCHEIDUNGSTRÄGER ...
WHO-Regionalbüro für Europa
und BZgA
Standards für
die Sexualaufklärung
in Europa

Rahmenkonzept für
politische Entscheidungsträger,
Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden,
Expertinnen und Experten
WHO-Regionalbüro für
Europa und BZgA
Standards für
die Sexualaufklärung
in Europa

Rahmenkonzept für
politische Entscheidungsträger,
Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden,
Expertinnen und Experten

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Köln 2011
Inhaltsverzeichnis
Vorwort                                                          5

Teil 1: Einführung                                               9
1. Hintergrund und Zielsetzung                                    9

    1.1 Schulische und außerschulische Sexualaufklärung          10

    1.2 Historischer Kontext der schulischen Sexualaufklärung    11

    1.3 Entwicklung der schulischen Sexualaufklärung in Europa   12

    1.4 Vielfalt der sexualpädagogischen Ansätze in Europa       13

    1.5 Europa im globalen Kontext                               15

    1.6 Internationale Initiativen zur Sexualaufklärung          16

2. Sexualität, sexuelle Gesundheit und Sexualaufklärung –
   Definitionen und Konzepte                                     18

3. Grundlagen der Sexualaufklärung                               24

    3.1 Grundsätzliche Überlegungen zur Sexualaufklärung         24

    3.2 Psychosexuelle Entwicklung von Kindern                   25

4. Grundsätze und Ziele der Sexualaufklärung                     31

5. Zielgruppen und Partner der Sexualaufklärung                  32

6. Wie kann Sexualaufklärung gelingen? -
   Rahmenbedingungen und Anforderungen                           33

    6.1 Sieben Merkmale der Sexualaufklärung                     33

    6.2 Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte               35
Teil 2: Matrix Sexualaufklärung                                                  37
1. Einführung                                                                    37

    1.1 Hintergrundinformationen                                                 37

    1.2 Bedeutung von Hilfesystemen                                              38

    1.3 Warum bereits vor dem vierten Lebensjahr mit der Sexualaufklärung
        begonnen werden sollte                                                   39

    1.4 Erläuterungen zur Matrix                                                 40

2. Matrix                                                                        41

Literaturverzeichnis                                                             55
    A. Zitierte Literatur                                                        55

    B. Wissenschaftliche Literatur zur psychosexuellen Entwicklung von Kindern   58

    C. Lehrpläne und Lehrbücher                                                  62

    D. Webangebote                                                               65
Vorwort
Die Europäische Region der WHO ist im Hinblick             Zudem sollen diese Standards die Einführung ei-
auf das Thema „sexuelle Gesundheit“ mit einer              ner ganzheitlichen Sexualaufklärung unterstützen.
Reihe von Problemen konfrontiert, etwa dem                 Eine ganzheitliche Sexualaufklärung vermittelt
Anstieg der HIV-Infektionen und weiterer sexu-             Kindern und Jugendlichen unvoreingenommene
ell übertragbarer Infektionen (STI), ungewollten           und wissenschaftlich korrekte Informationen zu
Teenagerschwangerschaften und sexueller Gewalt.            sämtlichen Aspekten der Sexualität und hilft ih-
Kinder und Jugendliche sind eine entscheidende             nen gleichzeitig Kompetenzen zu entwickeln, um
Zielgruppe bei der Verbesserung der sexuellen Ge-          diese Informationen entsprechend zu nutzen. Sie
sundheit. Um eine positive und verantwortungs-             trägt somit dazu bei, dass sich bei ihnen respekt-
volle Haltung zur Sexualität entwickeln zu kön-            volle und tolerante Haltungen ausbilden können,
nen, brauchen sie Informationen sowohl über die            die letztlich auch eine Voraussetzung für sozial
Risiken als auch die Potenziale der Sexualität. Dies       gerechte Gesellschaften sind.
befähigt sie zu einem verantwortungsvollen Um-
gang nicht nur mit sich selbst, sondern auch ge-           Bisher zielte Sexualaufklärung vorwiegend auf die
genüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft,          mit Sexualität verbundenen potenziellen Gefah-
in der sie leben.                                          ren ab, wie etwa ungeplante Schwangerschaften
                                                           und sexuell übertragbare Infektionen. Dieser ne-
Dieses Rahmenkonzept resultiert aus einem Be-              gative Fokus wird von Kindern und Jugendlichen
darf an Standards zur Sexualaufklärung inner-              häufig als bedrohlich empfunden. Mehr noch, er
halb der Europäischen Region der WHO, die sich             entspricht nicht ihrem Informations- und Wissens-
vom Atlantik bis zum Pazifik erstreckt und zu der          bedarf und hat allzu oft nichts mit ihrer Lebens-
53 Länder zählen. Zwar gibt es in den meisten              realität zu tun.
westeuropäischen Ländern mittlerweile nationale
Richtlinien oder Mindeststandards für die Sexual-          Der ganzheitliche Ansatz begreift Sexualität als
aufklärung, doch sind bisher keine Anstrengungen           menschliches Potenzial, als allgemeine Lebens-
unternommen worden, Standards für die WHO                  energie und hilft Kindern und Jugendlichen
Europa-Region oder auf EU-Ebene zu empfehlen.              grundlegende Fähigkeiten zu entwickeln, mit de-
Dieses Konzept stellt einen ersten Schritt dar, um         ren Hilfe sie ihre Sexualität und ihre Beziehungen
die Lücke für die gesamte Europäische Region der           in den verschiedenen Entwicklungsphasen selbst
WHO zu schließen.                                          bestimmen können. Dies bestärkt sie darin, ihre
                                                           Sexualität und Partnerschaften in einer erfüllen-

                                      WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa   5
Im Rahmen von vier Workshops, die von der BZgA zwischen November 2008 und Dezember 2009 organisiert wurden, entwickelten die
Experten gemeinsam die Standards.
Vorwort

den und verantwortlichen Weise zu leben. Diese             grund wie z.B. Medizin, Psychologie und Sozial-
Fähigkeiten sind auch von grundlegender Bedeu-             wissenschaften. Sie alle verfügen über umfangrei-
tung, um sich vor möglichen Gefahren schützen              che theoretische oder praktische Erfahrungen im
zu können.                                                 Bereich der Sexualaufklärung. Regierungs- und
                                                           Nichtregierungsorganisationen, internationale Or-
Die Sexualaufklärung ist Teil der allgemeinen Er-          ganisationen sowie Universitäten waren an diesem
ziehung und beeinflusst somit die Entwicklung              Prozess beteiligt, der sich über eineinhalb Jahre
der kindlichen Persönlichkeit. Aufgrund ihres prä-         erstreckte und in dessen Verlauf die Gruppe vier-
ventiven Charakters ermöglicht sie, negative Fol-          mal im Rahmen von Workshops zusammenkam.
gen von Sexualität zu vermeiden; zugleich trägt            Die Beteiligten einigten sich auf die vorliegenden
sie zu einer Verbesserung der Lebensqualität, der          Standards zur Sexualaufklärung, die den Ländern
Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens               als Richtlinie für die Einführung einer ganzheitli-
bei. So gesehen ist Sexualaufklärung ein wichtiger         chen Sexualaufklärung dienen sollen. Sie liefern
Beitrag zu einer allgemeinen Gesundheitsförde-             eine praktische Hilfestellung zur Ausarbeitung ge-
rung.                                                      eigneter Lehrpläne. Gleichzeitig können sie als Ar-
                                                           gumentationshilfe zur Einführung einer ganzheit-
Die Einführung von Sexualaufklärung ist insbe-             lichen Sexualaufklärung in jedem Land dienen.
sondere an Schulen nicht immer einfach – es gibt
häufig Widerstand aufgrund von Befürchtungen               Diese Publikation gliedert sich in zwei Hauptteile:
und falschen Vorstellungen über die Ziele und              Der erste Teil vermittelt einen Überblick über die
Inhalte der Sexualaufklärung. Wir hoffen, durch            zugrunde liegende Philosophie, über Hintergrün-
diese Standards einen positiven Beitrag zu leisten,        de, Definitionen und Prinzipien der Sexualaufklä-
damit Länder sich verstärkt um die Einführung              rung und ihrer Teilbereiche. Es wird das Konzept
von Sexualaufklärung bemühen oder bereits be-              der ganzheitlichen Sexualaufklärung vorgestellt
stehende Programme im Sinne einer ganzheitli-              und erklärt, warum diese gerade für Jugendliche
chen Sexualaufklärung ausbauen.                            und Heranwachsende so wichtig ist.

Diese Initiative wurde im Jahr 2008 vom WHO-               Im Zentrum des zweiten Teils stellt eine Übersicht
Regionalbüro für Europa gestartet und von der              (Matrix) die Themen dar, die die Sexualaufklärung
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung              in den verschiedenen Altersgruppen behandeln
(BZgA), einem WHO-Kollaborationszentrum für                sollte. Dieser Teil ist stärker auf die praktische
sexuelle und reproduktive Gesundheit, in enger             Umsetzung einer ganzheitlichen Sexualaufklärung
Zusammenarbeit mit einer Expertengruppe wei-               in der Schule ausgerichtet, auch wenn diese Stan-
terentwickelt. Zu dieser Gruppe zählten 19 Exper-          dards nicht unmittelbar als Umsetzungshilfe kon-
tinnen und Experten aus neun westeuropäischen              zipiert wurden.
Ländern mit unterschiedlichem fachlichen Hinter-

                                      WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa   7
Danksagung
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä-       produktive Gesundheit und HIV/AIDS), Professor
rung (BZgA) als Herausgeberin dieser Standards       Daniel Kunz (Hochschule Luzern), Dr. Margare-
ist vielen Menschen zu aufrichtigem Dank ver-        ta Larsson (Universität Uppsala), Dr. Olga Loeber
pflichtet: Dr. Gunta Lazdane vom WHO-Regio-          (European Society for Contraception), Anna Mar-
nalbüro für Europa, die diesen wichtigen Pro-        tinez (Sex Education Forum, National Children’s
zess angestoßen hat, sowie den Mitgliedern der       Bureau, Großbritannien), Dr. Kristien Michielsen
Expertengruppe: Professor Dan Apter (Klinik          (International Centre for Reproductive Health,
für sexuelle Gesundheit, Väestöliittoo), Doort-      Universität Gent), Ulla Ollendorff (Norwegian Di-
je Braeken (International Planned Parenthood         rectorate of Health), Dr. Simone Reuter (Contra-
Federation – IPPF), Dr. Raisa Cacciatore (Klinik     ception and Sexual Health Service, Nottinghams-
für sexuelle Gesundheit, Väestöliittoo), Dr. Ma-     hire Community Health), Sanderijn van der Doef
rina Costa (PLANeS, Schweizerische Stiftung für      (World Population Foundation), Dr. Ineke van der
sexuelle und reproduktive Gesundheit), Dr. Pe-       Vlugt (Rutgers Nisso Group) und Ekua Yankah
ter Decat (International Centre for Reproductive     (UNESCO), die alle unermüdlich und mit großem
Health, Universität Gent), Ada Dortch (IPPF), Eri-   Interesse an diesem Projekt gearbeitet haben. Es
ka Frans (SENSOA), Olaf Kapella (Österreichisches    war eine Freude, mit solch engagierten Kollegin-
Institut für Familienforschung, Universität Wien),   nen und Kollegen arbeiten zu dürfen.
Dr. Evert Ketting (Berater für sexuelle und re-
1
Teil 1:
Einführung
1. Hintergrund und Zielsetzung
Diese Publikation präsentiert empfohlene Stan-            Sexualaufklärung festzulegen, und bieten Orien-
dards zur Sexualaufklärung. Die Standards geben           tierung bei der Ausgestaltung von Lernzielen, ei-
Auskunft darüber, was Kinder und Jugendliche der          nem wesentlichen Bestandteil jedes Curriculums.1
verschiedenen Altersstufen wissen und verstehen
sollten, welche Situationen und Probleme sie auf          Dieses Konzept wurde als Reaktion auf den Be-
diesen Stufen bewältigen und welche Haltungen             darf an Standards zur Sexualaufklärung innerhalb
sie entwickeln sollten, um sich auch in sexueller         der Europäischen Region der WHO erstellt. Ver-
Hinsicht positiv, gesund und befriedigend entwi-          schiedene europäische Länder haben sich mit der
ckeln zu können.                                          Bitte um Unterstützung bei der Einrichtung von
                                                          Programmen zur Sexualaufklärung an das WHO-
Diese Standards können als Argumentationshil-             Regionalbüro für Europa gewandt. Europäische
fe für die Einführung von Sexualaufklärung und            Standards, die auf die Erfahrungen europäischer
als praktische Unterstützung bei der Entwicklung          Länder mit längerer Sexualaufklärungstradition
und Erweiterung von Curricula für die verschie-           zurückgreifen und die das gesammelte entspre-
denen Schultypen dienen. Sie sollen dazu beitra-          chende Fachwissen europäischer Expertinnen und
gen, die politischen Entscheidungsträger von der          Experten in zahlreichen Ländern darstellen, bilden
Wichtigkeit der Einführung von Sexualaufklärung           die optimale Grundlage zur Entwicklung solcher
oder der Erweiterung bereits bestehender Ansätze          Programme.
zu überzeugen. Die Standards bieten einen guten
Ausgangspunkt für einen Dialog über Sexualauf-
klärung mit den entsprechenden Entscheidungs-
                                                          1   Auf dem Gebiet der Sexualaufklärung gibt es eine Vielzahl von
trägern und Interessengruppen in diesem Bereich.              Aktivitäten und Initiativen. In Abschnitt C der Literaturhinweise
Sollen sie für die Entwicklung oder Optimierung               finden sich Materialien und Hilfsmittel zu verschiedenen Aspekten
                                                              der Sexualaufklärung. Für eine Neuentwicklung von Lehrplänen
bestehender Lehrpläne verwendet werden, so sind               bieten die Datenbank der UNESCO sowie umfangreiche Übersich-
sie an die entsprechenden Bedürfnisse und die Si-             ten der BZgA und IPPF über Sexualaufklärung in Europa einen
tuation des jeweiligen Landes anzupassen. Sie hel-            guten Ausgangspunkt, vgl. UNESCO HIV and AIDS Education
                                                              Clearinghouse; IPPF (2006a, 2007), Lazarus & Liljestrand (2007)
fen, die nächsten Schritte zu einer ganzheitlichen            sowie BZgA/WHO-Regionalbüro für Europa (2006).

                                     WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa           9
Teil 1: Einführung

     „Neuer Bedarf“ an Sexualaufklärung                                 Quellen zählen, insbesondere in den frühen Ent-
     Mehrere Entwicklungen während der vergange-                        wicklungsphasen, die Eltern, die in diesem Alter
     nen Jahrzehnte waren ausschlaggebend für den                       am wichtigsten sind. Medizinische, pädagogische,
     Bedarf an Sexualaufklärung. Dazu zählen die                        sozialpädagogische oder psychologische Fachkräf-
     Globalisierung und die Migration neuer Bevölke-                    te spielen in diesem Prozess für gewöhnlich eine
     rungsgruppen mit unterschiedlichem kulturellen                     untergeordnete Rolle, was verständlich ist, da pro-
     und religiösen Hintergrund, die rasche Verbrei-                    fessionelle Unterstützung fast ausschließlich dann
     tung neuer Medien, insbesondere von Internet                       angefordert wird, wenn es Probleme gibt – Proble-
     und Handy, das Aufkommen und die Verbreitung                       me, die nur unter Mitwirkung einer Expertin oder
     von HIV/AIDS, die wachsende Besorgnis über se-                     eines Experten gelöst werden können. Allerdings
     xuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen                    wurde durch die im westlichen Kulturkreis allge-
     und nicht zuletzt eine veränderte Einstellung zur                  mein zunehmende Bedeutung der Prävention, die
     Sexualität sowie ein verändertes Sexualverhalten                   sich mehr und mehr auch auf den intimen und
     unter Jugendlichen. Diese neuen Entwicklungen                      sexuellen Bereich erstreckt, die Forderung nach ei-
     verlangen nach wirksamen Strategien, die den                       ner stärkeren Einbeziehung von Fachkräften auch
     Jugendlichen einen sicheren und befriedigenden                     in diesem Bereich laut.
     Umgang mit ihrer Sexualität ermöglichen. Eine
     fundierte schulische Sexualaufklärung bietet gute                  Die Bedeutung eines positiven
     Voraussetzungen, um die Mehrheit innerhalb die-                    professionellen Ansatzes
     ser Zielgruppe zu erreichen.                                       Wie bereits erwähnt finden sexuelle Lernprozesse
                                                                        zum großen Teil ohne die Mitwirkung von Fach-
     Darüber hinaus können europäische Standards so-                    leuten statt. Zweifellos lässt sich die menschli-
     wohl für weiter als auch für weniger entwickelte                   che Sexualität kaum durch schulische Erziehung
     Länder außerhalb Europas eine wertvolle Arbeits-                   „formen“, und die Rolle der Sexualpädagogik ist
     hilfe sein. Viele dieser Länder richten ihren Blick                tendenziell auf Probleme (wie etwa ungeplan-
     auf Europa in der Erwartung, von Europa zu ler-                    te Schwangerschaften und sexuell übertragbare
     nen, und viele europäische Staaten und Nichtre-                    Infektionen – STI) und die Möglichkeiten ihrer
     gierungsorganisationen unterstützen diese Länder                   Vermeidung fokussiert. Dies führt schnell zu dem
     bei der Entwicklung ihrer Sexualaufklärung.                        Vorwurf, ihr Ansatz sei vorwiegend negativ, d.h.
                                                                        problemorientiert. Dieser Fokus auf Probleme und
     Für ein angemessenes Verständnis der Standards                     Risiken entspricht nicht immer dem Informations-
     soll zunächst geklärt werden, welche Rolle sie in                  bedürfnis, den Interessen, Wünschen und Erfah-
     der Praxis spielen können – in Anbetracht der se-                  rungen der Jugendlichen und verfehlt häufig die
     xuellen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter                     beabsichtigte Wirkung. Hieraus resultiert die For-
     und der Vielfalt an sozialen, kulturellen, religiösen              derung nach einem positiveren Ansatz, der nicht
     und sonstigen Faktoren, die diesen Prozess beein-                  nur wirksam sondern auch realitätsnäher ist. Die
     flussen.                                                           Entwicklung der Sexualaufklärung ist durch das
                                                                        intensive Bemühen gekennzeichnet, einen profes-
                                                                        sionellen und präventiv ausgerichteten Ansatz mit
                                                                        dem Anspruch zu vereinbaren, Jugendlichen rele-
     1.1 Schulische und außerschu-                                      vante, nützliche, akzeptable und attraktive Ange-
     lische Sexualaufklärung                                            bote zu machen.

                                                                        Jugendliche brauchen sowohl schulische als
     Kinder und Jugendliche erwerben in der Adoles-                     auch außerschulische Sexualaufklärung
     zenz schrittweise Wissen über den menschlichen                     Jugendliche benötigen sowohl schulische als auch
     Körper, über intime Beziehungen und Sexualität,                    außerschulische Sexualaufklärung, die einander
     und sie entwickeln dazu entsprechende Vorstel-                     ergänzen: Einerseits brauchen Jugendliche in ih-
     lungen, Haltungen und Fähigkeiten. Für diesen                      rem gewohnten sozialen Umfeld Liebe, Freiräume
     Lernprozess nutzen sie viele verschiedene Res-                     und Unterstützung, um ihre sexuelle Identität zu
     sourcen. Zu den bedeutendsten außerschulischen                     entwickeln; auf der anderen Seite müssen sie be-

10   WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung

stimmte Kenntnisse, Haltungen und Fähigkeiten              in Europa zu Beginn des dritten Jahrtausends ihre
erwerben – Expertinnen und Experten spielen da-            ersten sexuellen Kontakte im Alter von 16 bis 18
bei eine wichtige Rolle. Die wichtigsten professio-        Jahren. Bevor sie mit etwa 25 Jahren heiraten (oder
nellen Informations- und Bildungsangebote wer-             dauerhaft zusammenleben), hatten sie bereits ver-
den durch Schulen, durch Sachbücher, Broschüren,           schiedene Partner; ihr erstes Kind bekommen sie
CD-ROMs, Internetseiten mit Bildungsangeboten,             im Alter von 28 bis 30 Jahren.2 In dieser Phase,
Bildungsprogramme und -initiativen in Radio und            vor dem Eingehen einer festen Partnerschaft, sind
Fernsehen sowie Anbieter von (medizinischen)               sowohl aus individueller als auch aus bevölke-
Dienstleistungen vermittelt.                               rungsbezogener Sicht zwei Risiken von besonderer
Die Standards konzentrieren sich auf die schuli-           Bedeutung: ungewollte Schwangerschaften und
sche Sexualaufklärung, was aber nicht bedeutet,            sexuelle übertragbare Infektionen. Der Ausbruch
dass Schule die einzige wichtige Vermittlungsin-           der HIV/AIDS-Epidemie in den 1980er-Jahren des
stanz ist.                                                 letzten Jahrhunderts brachte nun ein noch weit
                                                           größeres Risiko mit sich, das zu umfangreichen
                                                           Präventionsmaßnahmen führte. Für das verstärkte
                                                           Interesse an Sexualität und sexueller Gesundheit
1.2 Historischer Kontext der                               Jugendlicher waren zudem weitere Faktoren aus-
                                                           schlaggebend: Sexueller Missbrauch und sexuelle
schulischen Sexualaufklärung
                                                           Gewalt, von jeher Tabuthemen, wurden vermehrt
                                                           in der Öffentlichkeit thematisiert, führten zu mo-
Die Entstehung des Begriffs „Adoleszenz“                   ralischer Empörung und dem Ruf nach wirksamer
im Zusammenhang mit der „Sexuellen Re-                     Prävention. In der „Sexualisierung“ von Medien
volution“ in den 1970er-Jahren                             und Werbung wurden zunehmend negative Ein-
Die Einführung der schulischen Sexualaufklärung            flüsse auf die sexuelle Entwicklung Jugendlicher
in Westeuropa fällt weitgehend mit der Entwick-            wahrgenommen und ausgleichende Maßnahmen
lung und allgemeinen Verfügbarkeit moderner                gefordert.
und verlässlicher Verhütungsmethoden zusam-
men, hier insbesondere der „Pille“, und mit der            Sexualaufklärung an Schulen – als Antwort
Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in              auf diese sozialen Veränderungen
den meisten Ländern während der 1970er- und                Diese grundlegenden sozialen Veränderungen und
1980er-Jahre. Diese innovativen Entwicklungen              insbesondere die Herausbildung einer neuen sozi-
eröffneten vollkommen neue Möglichkeiten, Se-              alen Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein
xualität und Fortpflanzung voneinander zu tren-            mit einer eigenen Kultur, eigenen Verhaltensmus-
nen. Dieser Wandel löste um 1970 eine „Sexuelle            tern und Bedürfnissen, verlangten nach neuen
Revolution“ aus und förderte in Kombination mit            Antworten seitens der Gesellschaft. Im Bereich der
anderen Faktoren den Emanzipationsprozess der              Sexualität wurden neue Gesundheitsdienste oder
Frauen. Es setzte eine Verschiebung sexueller Nor-         die Anpassung bestehender Angebote sowie neue
men und Werte ein, und auch das Sexualverhal-              Aufklärungs- und Bildungsinitiativen gebraucht.
ten begann sich zu verändern bzw. verlor seinen            Die Forderung nach Sexualaufklärung in der zwei-
extremen Tabucharakter. Sexualität entwickelte             ten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Euro-
sich zu einem Thema, über das man öffentlich               pa ist in erster Linie unter diesem Aspekt zu verste-
sprechen konnte. In diesem Prozess entstand auch           hen. Insbesondere Menschenrechtsauffassungen
eine neue Lebensphase zwischen Kindheit und                und damit verbundene veränderte Einstellungen
Erwachsensein, die als „Adoleszenz“ bezeichnet             zu (sexuellen) Rechten und Rollen dieser spezifi-
wurde. Diese Zwischenphase ist charakterisiert als         schen Altersgruppe in der Gesellschaft haben stark
Zeit einer zunehmenden Unabhängigkeit von den              dazu beigetragen, dass Sexualaufklärung nun als
Eltern, erster Liebesbeziehungen und sexueller             Notwendigkeit angesehen wurde. Dieser Prozess
Kontakte (weit) vor der Ehe, des Zusammenlebens
ohne Trauschein und des Aufschiebens von Heirat
und Familiengründung auf einen späteren Zeit-
                                                           2   Vgl. OECD (2008). Siehe auch WHO-Regionalbüro für Europa
punkt. Im Großen und Ganzen haben Jugendliche                  (2008).

                                      WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa       11
Teil 1: Einführung

     fand in allen europäischen Ländern statt, wenn-                        so lange Geschichte wie nirgendwo sonst auf der
     gleich einige Länder diesen Weg früher oder zü-                        Welt. Offiziell begann sie 1955 in Schweden, als
     giger als andere gegangen sind. Sexualaufklärung,                      sie an sämtlichen Schulen zum Pflichtfach erklärt
     insbesondere die schulische Sexualaufklärung, ist                      wurde. In der Praxis dauerte die Integration dieses
     ein wesentlicher Bestandteil dieses Anpassungs-                        Fachs in die Lehrpläne viele Jahre, da die Entwick-
     prozesses. Die Gründe, die Einführung schulischer                      lung von Richtlinien, Handbüchern und sonstigem
     Sexualaufklärung einzufordern, haben sich im                           Lehrmaterial und die Lehrerausbildung sehr viel
     Laufe der Jahre geändert und sind von Land zu                          Zeit in Anspruch nahmen.
     Land verschieden. Sie reichen von der Vermeidung
     ungewollter Schwangerschaften bis zur Präventi-                        Sexualaufklärung fand in Westeuropa
     on von HIV und sonstigen sexuell übertragbaren                         früher statt …
     Infektionen. Auch Skandale um sexuellen Miss-                          In den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen
     brauch förderten das öffentliche Interesse an                          Jahrhunderts wurde in vielen weiteren westeuro-
     Sexualaufklärung und ließen Forderungen nach                           päischen Ländern Sexualaufklärung eingeführt:
     Sexualaufklärung für jüngere Kinder laut werden.                       zunächst in den anderen skandinavischen, dann
     Sie gründen sich auf eine allgemein veränderte                         auch in den übrigen Ländern. In Deutschland ge-
     Wahrnehmung von Kindern, die nun als Subjekte                          schah dies beispielsweise 1968 und in Österreich
     gesehen wurden.3 Diese unterschiedlichen Moti-                         1970. In den Niederlanden und der Schweiz be-
     vationen haben sich einander allmählich angenä-                        gann sie ebenfalls in den 1970er-Jahren, obwohl
     hert und in eine Richtung entwickelt, die durch                        sie dort aufgrund der weitgehenden Selbststän-
     ein eher ganzheitliches Verständnis von Sexual-                        digkeit der Schulen (oder Kantone im Falle der
     aufklärung gekennzeichnet ist. Ausschlaggebend                         Schweiz) nicht sofort zum Pflichtfach wurde.5
     hierfür war die Überzeugung, dass Jugendliche                          Die Einführung der schulischen Sexualaufklärung
     unterstützt, gestärkt und befähigt werden sollen,                      dauerte bis in das letzte Jahrzehnt des 20. und
     in einer verantwortlichen, sicheren und befriedi-                      das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts an. Zu-
     genden Art und Weise mit Sexualität umzugehen.                         nächst in Frankreich, Großbritannien und einigen
     Einzelthemen oder Risiken sollten dabei nicht im                       westeuropäischen Ländern eingeführt, folgten
     Vordergrund stehen. Dieser ganzheitliche Ansatz,                       später nach und nach auch südeuropäische Län-
     der einen viel weiter gefassten, nicht ausschließ-                     der, insbesondere Portugal und Spanien. Sogar in
     lich auf Geschlechtsverkehr fokussierten Begriff                       Irland, wo es traditionell eine stark religiös mo-
     von Sexualität vermittelt, wird gegenwärtig von                        tivierte Ablehnung gab, wurde Sexualaufklärung
     den meisten Fachleuten für Sexualität und sexuel-                      im Jahr 2003 Pflichtfach in der Grund- und der
     le Gesundheit in Europa vertreten.                                     weiterführenden Schule. Nur in einigen wenigen
                                                                            alten EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere in Süd-
                                                                            europa, gibt es bislang keine Sexualaufklärung an
                                                                            Schulen.
     1.3 Entwicklung der
     schulischen Sexualaufklärung                                           … als in Mittel- und Osteuropa
                                                                            In Mittel- und Osteuropa begann die Entwicklung
     in Europa4                                                             der Sexualaufklärung nach dem Zusammenbruch
                                                                            des Kommunismus. Zuvor hatte es einige Vorstöße
     Sexualaufklärung als Unterrichtsfach hat in Eu-                        in einzelnen Ländern gegeben, die jedoch rückbli-
     ropa eine bereits über fünfzigjährige und damit                        ckend kaum als Initiativen zur Sexualaufklärung
                                                                            bezeichnet werden können. In den meisten Fällen
                                                                            handelte es sich um Maßnahmen zur „Vorberei-
     3   Demnach wird das Kind als eigenständige Person mit besonderen      tung auf Ehe und Familie“, bei denen die Tat-
         Fähigkeiten und Bedürfnissen wahrgenommen, insbesondere            sache verleugnet wurde, dass Jugendliche schritt-
         hinsichtlich der Art und Weise, wie es Nähe, Sinnlichkeit und
         (körperliche) Neugier ausdrückt. Das Potenzial des Kindes bedarf
         einer angemessenen Förderung.
     4   Informationen zu schulischer Sexualaufklärung basieren vorwie-     5   In den Niederlanden erlangte sie niemals wirklich den Status eines
         gend auf den SAFE-Berichten, s. IPPF (2006a, 2007), Lazarus &          Pflichtfaches und in der Schweiz erst zwei Jahrzehnte später nach
         Liljestrand (2007).                                                    Beginn der HIV-Epidemie.

12   WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung

weise ein starkes Interesse an Liebesbeziehungen           leicht der Eindruck entstehen, dass in Europa kein
entwickeln und bereits vor der Ehe sexuell aktiv           Interesse an Studien zur Sexualaufklärung beste-
sein können. Die Vorbereitung auf Sexualität war           he, was aber – wie schon dargelegt – nicht der
kaum ein Thema. Aus diesem Grund begannen die              Fall ist. Europa verfügt über einen reichhaltigen
Länder in Mittel- und Osteuropa mit der Sexual-            Erfahrungsschatz sowie vermutlich über eine gut
aufklärung, wie sie heute in den meisten Ländern           dokumentierte nationale Evidenz. Eine systemati-
definiert und praktiziert wird, 20 oder 30 Jahre           schere Veröffentlichung der Studien und Studien-
später als in Westeuropa. Nur in einigen dieser            ergebnisse könnte gewährleisten, dass diese Daten
Länder, insbesondere in der Tschechischen Repu-            auch international zugänglich werden.
blik und Estland, wurde der ernsthafte Versuch
unternommen, moderne Konzepte der Sexualauf-
klärung zu entwickeln, die sich von der „Sexual-
aufklärung zur Vorbereitung auf das Familienle-            1.4 Vielfalt der sexualpädago-
ben“ unterscheiden. In einer Reihe anderer Länder          gischen Ansätze in Europa
Mittel- und Osteuropas wurde die Entwicklung
zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch das Auf-
kommen eines (politisch, kulturell und religiös            Wie die hier vorgelegten Standards verwendet
motivierten) Fundamentalismus in verschiedenen             werden können, hängt weitgehend von der Orga-
öffentlichen Bereichen verlangsamt.                        nisation und Vermittlung von Sexualaufklärung
                                                           ab. Innerhalb Europas gibt es hierbei enorme Un-
Kein Austausch von Standards und Richt­                    terschiede. Um die Standards sinnvoll nutzen zu
linien zwischen den Ländern                                können, ist es wichtig, einige Informationen über
Hinsichtlich der Entwicklung von Richtlinien, Lehr-        diese Unterschiede und ihre Hintergründe voraus-
plänen oder Standards zur Sexualaufklärung hat             zuschicken.
zwischen den europäischen Staaten bisher auffal-
lend wenig Austausch stattgefunden. Dies ist wohl          Für eine umfassende und frühzeitige
hauptsächlich auf Sprachbarrieren zurückzufüh-             Sexual­aufklärung
ren, zumal nur wenige Dokumente übersetzt und              Innerhalb Europas gibt es große Unterschiede
in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht        hinsichtlich des Alters, in dem mit Sexualaufklä-
wurden. Das Gleiche gilt für die Forschung auf             rung begonnen wird. Laut SAFE-Bericht7 liegt die
diesem Gebiet. Wissenschaftliche Forschungen               Spanne zwischen fünf Jahren in Portugal und 14
zum Bildungsbedarf von Jugendlichen oder zur               Jahren in Spanien, Italien und Zypern. Bei nähe-
Qualität und Wirksamkeit von Bildungsmaßnah-               rer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Unter-
men wurden hauptsächlich für nationale Zwecke              schiede nicht so groß sind, wie sie auf den ersten
durchgeführt und in der jeweiligen Landessprache           Blick scheinen. Sie haben viel damit zu tun, was
veröffentlicht und flossen nicht in den internatio-        unter „Sexualaufklärung“ verstanden wird. In die-
nalen Forschungssstand ein. Aus diesem Grund ist           sem Konzept wird eine weit gefasste Definition
es wenig überraschend, dass in dem 2009 erschie-           verwendet, die nicht nur körperliche, emotionale
nenen Überblick über Studien zur Auswirkung von            und zwischenmenschliche Aspekte der Sexualität
Sexualaufklärung – enthalten in der Publikation            und sexueller Kontakte, sondern auch eine Reihe
„International Technical Guidance on Sexuality             weiterer Aspekte wie Freundschaft oder Gefühle
Education“ der UNESCO6 – nur elf Studien aus               der Sicherheit, Geborgenheit und Anziehung um-
„anderen Industrieländern“ aufgenommen werden              fasst. Von diesem ganzheitlichen Begriff ausge-
konnten gegenüber 47 Studien, die in den Verei-            hend wird verständlich, warum Sexualaufklärung
nigten Staaten durchgeführt wurden. Der größte             in mehreren Ländern bereits in der Grundschule
Teil dieser elf europäischen Studien stammt aus            beginnt. In den Ländern, in denen Aufklärung
Großbritannien und nur einige wenige aus den               erst in der weiterführenden Schule beginnt, wird
anderen europäischen Staaten. Hierdurch kann               in der Regel eine wesentlich enger gefasste De-

6   Vgl. UNESCO (2009a).                                   7   S. IPPF (2006a).

                                      WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa    13
Teil 1: Einführung

     finition von Sexualität verwendet. Diese begriff-                  aufklärung ein eigenständiges Unterrichtsfach, in
     lichen Unterschiede erklären auch, warum in ei-                    der Regel wird sie jedoch in andere Fächer inte-
     nigen Ländern die Bezeichnung „Sexualität und                      griert. Das Fach Biologie erscheint naheliegend,
     Partnerschaftserziehung“ oder ähnliche Ausdrücke                   doch je nach Land, Schultyp und sonstigen Be-
     gegenüber der Bezeichnung „Sexualaufklärung“                       dingungen kann sie auch in den Fächern Politi-
     bevorzugt werden.                                                  sche Bildung, Soziale Orientierung oder Soziale
                                                                        Kompetenz, Gesundheitsförderung, Philosophie,
     Es war eine bewusste Entscheidung, sich für einen                  Religion, in Sprachen oder Sport unterrichtet wird.
     Ansatz auszusprechen, bei dem Sexualaufklärung                     Die Inhalte und verwendeten Methoden hängen
     mit der Geburt beginnt. Von Geburt an erfahren                     weitgehend vom Unterrichtsfach und der Vorbil-
     Babys, welchen Wert Körperkontakt, Wärme und                       dung der Lehrperson ab. Wird Sexualaufklärung
     Intimität haben und welches Wohlbefinden sie be-                   im Rahmen des Biologieunterrichts oder der Ge-
     reiten. Sie lernen, was „sauber“ und was „schmut-                  sundheitserziehung unterrichtet, so liegt der Fo-
     zig“ ist, und später lernen sie den Unterschied                    kus tendenziell eher auf den physischen Aspekten,
     zwischen Männern und Frauen sowie zwischen                         während bei geisteswissenschaftlichen Fächern die
     vertrauten und fremden Personen kennen. Tatsa-                     sozialen, interpersonalen oder ethischen Elemente
     che ist, dass besonders Eltern ihren Kindern von                   im Vordergrund stehen.
     Geburt an Botschaften in Bezug auf den mensch-
     lichen Körper und die Intimität vermitteln. Mit an-                Für eine ganzheitliche Sexualaufklärung ist es von
     deren Worten: Sie leisten Sexualaufklärung.                        Vorteil, wenn sie von Lehrkräften verschiedener
                                                                        Fächer unterrichtet und auf diese Weise interdiszi-
     Sexualaufklärung muss altersgerecht sein                           plinär behandelt wird.8 Die Erfahrung zeigt jedoch,
     In diesem Zusammenhang ist die Bezeichnung                         dass es wichtig ist, die Verantwortung für die zen-
     „altersgerecht“ von Bedeutung. Richtiger wäre                      trale Koordination der verschiedenen Materialien
     eigentlich der Ausdruck „entwicklungsgerecht“,                     und Inputs einer einzelnen Lehrkraft zu übertra-
     da sich Kinder unterschiedlich schnell entwickeln.                 gen. Ein weiterer üblicher Ansatz besteht darin,
     Dennoch wird hier „altersgerecht“ stellvertretend                  Fachleute in die Schule zu holen, die dann vor Ort
     für beide Begriffe verwendet. „Altersgerecht“ be-                  bestimmte Themen behandeln. Das können spe-
     zieht sich auf die schrittweise Erarbeitung der                    ziell in Sexualaufklärung ausgebildete Ärztinnen
     Themen, die in einer gewissen Alters- oder Ent-                    und Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Sozi-
     wicklungsphase interessant und relevant sind und                   alarbeiterinnen und -arbeiter oder Psychologinnen
     die Frage, wie tiefgehend auf Detailaspekte ein-                   und Psychologen sein. Häufig werden zu diesem
     gegangen werden soll. Wenn ein vierjähriges Kind                   Zweck Nichtregierungsorganisationen im Bereich
     fragt, woher die Babys kommen, ist die Antwort                     der sexuellen Gesundheit oder Gesundheitsdienst-
     „aus Mamis Bauch“ in der Regel ausreichend und                     leister für Jugendliche eingesetzt. In einigen Län-
     altersgerecht. Erst später fragt das Kind vielleicht:              dern wie etwa Schweden oder Estland findet ein
     „Wie kommt das Baby in Mamis Bauch?“ und in                        Teil der Sexualaufklärung in den nahe gelegenen
     diesem Alter ist eine andere Antwort altersgerecht.                Gesundheitszentren für Jugendliche statt. Es wird
     Eine nicht angemessene Antwort wäre: „Dafür                        davon ausgegangen, dass so die Hemmschwelle
     bist du noch zu klein.“ Der Begriff „altersgerecht“                für einen Besuch gesenkt und die spätere Inan-
     erklärt, warum bei der Sexualaufklärung die glei-                  spruchnahme erleichtert wird.
     chen Themen in verschiedenen Altersstufen erneut
     angesprochen werden sollten – mit zunehmendem                      Die Aufnahme von Sexualaufklärung (und Part-
     Alter werden sie intensiver behandelt.                             nerschaftserziehung) in das Curriculum spielt eine
                                                                        wichtige Rolle für die Unterrichtung dieses Fachs.
     Sexualaufklärung als interdisziplinäres                            Wie die Erfahrung in einigen Ländern zeigt, wird
     Lehrfach                                                           der Sexualaufklärung tendenziell weniger Auf-
     Auch das Unterrichtsfach, in dem Sexualaufklä-
     rung unterrichtet wird, sowie die Qualifikation der
     verantwortlichen Lehrkraft sind innerhalb Europas                  8 In Frankreich wird Sexualaufklärung von vielen verschiedenen
                                                                           Lehrkräften unterrichtet.
     durchaus unterschiedlich. Manchmal ist Sexual-

14   WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung

merksamkeit zuteil, sobald der Pflichtstatus auf-           1.5 Europa im globalen
gehoben wird. Andererseits führt die Anerkennung            Kontext
als verpflichtendes Unterrichtsfach nicht automa-
tisch zu guter Qualität und ganzheitlicher Bildung.
Es bedarf auch eines „Bottom-Up“-Prozesses, in              Ein von der UNESCO herausgegebener internatio-
dem die Lehrkräfte motiviert, ausgebildet und un-           naler Überblick über Evaluationsstudien zu Sexu-
terstützt werden. In den vergangenen Jahrzehnten            alaufklärungsprogrammen zeigt, dass diese heute
ging der Trend in Europa insgesamt dahin, Sexu-             in vielen Industrie- und Entwicklungsländern um-
alaufklärung zum Pflichtfach zu machen. Es gibt             gesetzt werden.9 Viele der in Entwicklungsländern
keine Ausnahmeregeln für Eltern, ihre Kinder vom            durchgeführten Programme orientieren sich an
Unterricht freistellen zu lassen, falls sie Einwände        denen der Industrieländer, insbesondere aus den
gegen die Lerninhalte haben sollten. In der Praxis          USA und Westeuropa, z. T. erhalten sie auch ent-
unterstützen Eltern (auch die anderer kultureller           sprechende Unterstützung.
Herkunft) häufig die schulische Sexualaufklärung,
da sie sich selbst nicht zutrauen, das Thema auf-           Drei Kategorien von Programmen
zugreifen oder es ihnen peinlich ist.                       Aus historischer, global ausgerichteter Perspektive
Dabei ist wichtig anzumerken, dass Sexualauf-               lassen sich Programme zur Sexualaufklärung grob
klärung kaum je Prüfungsfach ist. Für Teile ihres           in drei Kategorien aufteilen.
Themenspektrums wäre dies denkbar, sofern sie in
ein Pflichtfach wie etwa Biologie aufgenommen               1. Programme, die primär oder ausschließlich den
würde. Auf jeden Fall würde Sexualaufklärung als               Verzicht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr
Prüfungsfach mehr Bedeutung erlangen.                          zum Ziel haben und als „Enthaltsamkeitspro-
                                                               gramme“ bekannt sind (Typ 1).
Für die Ausarbeitung des Lehrplans ist es sinnvoll,
eine feste Form der Zusammenarbeit mit den Eltern           2. Programme, die zwar Enthaltsamkeit als Op-
zu etablieren – nicht nur um sich deren notwen-                tion einschließen, doch auch Verhütung und
dige Unterstützung zu sichern, sondern auch um                 geschützten Sexualverkehr thematisieren. Die-
eine optimale Abstimmung zwischen der außer-                   se Programme werden häufig, im Vergleich zu
schulischen Rolle der Eltern und der institutionellen          „Enthaltsamkeit pur“, als „umfassende Sexual-
Rolle der Schule zu gewährleisten. Diese Zusam-                aufklärung“ bezeichnet (Typ 2).
menarbeit ist in mindestens einem europäischen
Land (Österreich) sogar offiziell vorgeschrieben. Die       3. Programme, die Elemente aus Typ 2 enthalten
Schule ist gewiss nicht die einzige Institution oder           und diese darüber hinaus in einen größeren Zu-
Organisation, die in diesem Bereich eine wichtige              sammenhang von Heranwachsen und persönli-
Rolle übernehmen kann. Viele andere Organisati-                cher und sexueller Entwicklung stellen. Diese
onen, die in engem Kontakt mit Kindern und Ju-                 Programme werden hier als „ganzheitliche Se-
gendlichen stehen, und auch die Medien können                  xualaufklärung“ bezeichnet (Typ 3).
wertvolle Beiträge leisten.
                                                            Programme des ersten Typs wurden über viele Jah-
Letztlich unterscheidet sich auch der Grad der Zu-          re von der Republikanischen Partei in den Verei-
ständigkeit in Bezug auf die Entwicklung und Im-            nigten Staaten intensiv gefördert und unterstützt
plementierung schulischer Curricula auch für die            und haben auch die Entwicklungen in anderen
Sexualaufklärung. Aus diesem Grund kann Sexu-               Teilen der Welt, insbesondere in einigen Entwick-
alaufklärung in einzelnen Staaten höchst unter-             lungsländern und osteuropäischen Staaten, beein-
schiedlich gestaltet sein. In einem Land wie Schwe-         flusst. Programme des zweiten Typs wurden als Re-
den etwa, mit einem traditionell zentral gelenkten          aktion auf den Enthaltsamkeitsansatz entwickelt.
Bildungssystem, werden Lehrpläne auch zentral               Eine vergleichende Studie zu den Auswirkungen
festgelegt. In kulturell vergleichbaren Ländern, wie        des ersten und zweiten Typs in den Vereinigten
etwa in Dänemark oder den Niederlanden, wer-
den diese Entscheidungen hingegen von örtlichen
Schulbehörden oder einzelnen Schulen getroffen.             9 S. UNESCO et al. (2009a), S.13 ff.

                                       WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa    15
Teil 1: Einführung

     Staaten zeigt, dass Abstinenzprogramme keine                       tät, so wie sie sich bei Jugendlichen herausbildet
     positiven Effekte auf das Sexualverhalten haben                    und entwickelt, in erster Linie nicht als Problem
     und weiterhin das Risiko von Teenagerschwanger-                    und Bedrohung empfunden, sondern als wertvolle
     schaften bergen, während umfassende Strategien                     Bereicherung der eigenen Persönlichkeit.
     die gewünschte positive Wirkung haben.10

     Die Grenzen zwischen den Programmen des zwei-
     ten und dritten Typs sind, abhängig von der je-                    1.6 Internationale Initiativen
     weiligen Ausprägung, fließend.                                     zur Sexualaufklärung
     Leider gibt es in den Vereinigten Staaten nahezu
     ausschließlich Programme der ersten und zweiten                    Die vorliegende Empfehlung für Europäische Stan-
     Kategorie, während in Westeuropa mehrheitlich                      dards zur Sexualaufklärung ist eine Ergänzung zu
     Programme des dritten Typs durchgeführt werden.                    weiteren europäischen und weltweiten Initiativen
     Die internationale Fachliteratur zur Sexualaufklä-                 zur Förderung einer qualitativ hochwertigen Se-
     rung wird – man könnte fast sagen selbstverständ-                  xualaufklärung.
     lich – in englischer Sprache publiziert. Die meisten
     Dokumente über Sexualaufklärung in Europa, wie                     Im Jahr 2001 wurde die „WHO European Re-
     etwa Richtlinien, Handbücher, Lehrmaterial oder                    gional Strategy on Sexual and Reproductive
     auch Evaluationsberichte, sind jedoch in der je-                   Health“ veröffentlicht.11 Diese für zehn Jahre gel-
     weiligen Landessprache abgefasst. Da diese in der                  tende Strategie forderte die Mitgliedsstaaten dazu
     Regel der internationalen Leserschaft nicht zu-                    auf, Jugendliche über alle Aspekte der Sexualität
     gänglich sind, kann leicht der Eindruck entstehen,                 und Fortpflanzung zu informieren, aufzuklären
     dass es außer englischsprachigen Programmen,                       und ihnen dabei zu helfen, die notwendigen Le-
     von denen die meisten aus den USA stammen,                         benskompetenzen zu entwickeln, um mit diesen
     kaum weitere gibt.                                                 Belangen in zufriedenstellender und verantwort-
                                                                        licher Weise umgehen zu können. Außerdem soll-
     Es muss an dieser Stelle betont werden, dass den                   ten gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen
     Programmen des Typs 3 eine andere Philosophie                      werden, die Gesetze und politische Programme
     zugrunde liegt als denjenigen des Typs 1 und 2.                    daraufhin überprüfen, ob sie einen gleichberech-
     Letztere zielen tendenziell stärker auf messbare                   tigten Zugang zu reproduktiver und sexueller Ge-
     Ergebnisse ab und konzentrieren sich insbesonde-                   sundheit gewährleisten.
     re auf Verhaltensänderung. Wichtige Fragen zur
     Evaluation der Curricula über Sexualaufklärung                     Im November 2006 richteten die BZgA und das
     sind unter anderem: Verzögert sich der Zeitpunkt                   WHO-Regionalbüro für Europa unter dem Titel
     des ersten Geschlechtsverkehrs? Verringert sich die                „Youth Sex Education in a Multicultural Euro-
     Zahl der Sexualpartner/-partnerinnen? Oder gar:                    pe“ in Köln eine europaweite Konferenz aus. Die-
     Verringert sich die Häufigkeit des Sexualverkehrs?                 se Konferenz bot 100 Expertinnen und Experten
                                                                        aus 26 Ländern ein Forum zur Vorstellung und
     In Europa ist Sexualaufklärung in erster Linie                     Diskussion von Strategien und erfolgreichen In-
     auf die Persönlichkeitsentwicklung ausgerich-                      itiativen zur Sexualaufklärung in den einzelnen
     tet, während sie in den USA primär der Prob-                       Ländern. Darüber hinaus setzte sie sich für eine
     lemlösung oder der Prävention dient. Für diesen                    stärkere Vernetzung und Zusammenarbeit inner-
     grundlegenden Unterschied gibt es eine Vielzahl                    halb der Europäischen Region der WHO ein. Im
     historischer, sozialer und kultureller Gründe, die                 Zuge der Konferenzvorbereitung wurde als erster
     in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden                     Schritt eine Sammlung von „Country Papers on
     können, dennoch ist es wichtig, an dieser Stelle                   Youth Sex Education in Europe“12 zusammen-
     darauf hinzuweisen. In Westeuropa wird Sexuali-

                                                                        11 Vgl. WHO-Regionalbüro für Europa (1999/2001).
     10 Vgl. Kohler et al. (2008).                                      12 BZgA/WHO-Regionalbüro für Europa (2006).

16   WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung

gestellt, um die Erfahrungen zu bündeln, die in                          Im Jahr 2009 veröffentlichte der Population Coun-
16 europäischen Staaten zur Sexualaufklärung                             cil ein Handbuch zur Sexualaufklärung mit dem
bereits vorliegen. Die nun vorliegenden Standards                        Titel: „It is All One Curriculum. Guidelines and
sind ein weiterer Entwicklungsschritt hin zu einer                       Activities for a Unified Approach to Sexuality,
einheitlichen Sexualaufklärung in Europa.                                Gender, HIV, and Human Rights Education“. Die-
                                                                         ser Leitfaden wurde von einer Arbeitsgruppe unter
Fast zeitgleich mit der Konferenz in Köln wurden                         Beteiligung mehrerer Nichtregierungsorganisatio-
die ersten Ergebnisse des „SAFE-Projekts“ (Sexu-                         nen, darunter auch des IPPF, erstellt.16
al Awareness for Europe) herausgegeben. Dieses
Projekt startete im Jahr 2005 als Initiative des                         Diese Zusammenfassung macht deutlich, dass im
europäischen Netzwerks IPPF und dessen 26 Mit-                           ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine ganze
gliedsverbänden unter Beteiligung der Universität                        Reihe von Initiativen zur Sexualaufklärung ent-
Lund (Schweden) und des WHO-Regionalbüros                                standen sind. Ziel der vorliegenden Standards ist
für Europa. Die Europäische Kommission (Gene-                            es, unter Bezugnahme auf frühere und aktuelle
raldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz)                           Publikationen eine spezifische Lücke in Europa zu
war an seiner Finanzierung beteiligt. Ziel dieser                        schließen.
Partnerschaft ist es, die sexuelle und reprodukti-
ve Gesundheit sowie entsprechende Rechte von
Jugendlichen in Europa zu fördern. Aus diesem
umfangreichen, innovativen Projekt entstanden
drei grundlegende Berichte:13 Auf einen dieser
Berichte, den „Reference Guide to Policies and
Practices in Sexuality Education in Europe“, wird
in dieser Einführung ausführlich Bezug genom-
men. In dessen Projektrichtlinien wurde unter
anderem die Empfehlung gegeben, „sicherzustel-
len, dass umfassende Sexualaufklärung ein ob-
ligatorisches Fach ist sowohl in der Grund- als
auch in der weiterführenden Schule mit klaren
Minimalstandards und Lernzielen.“14 Trotz ihrer
eigenständigen Konzeption sind die vorliegenden
Standards zur Sexualaufklärung als Ergänzung zu
den Ergebnissen dieses SAFE-Projekts anzusehen.

Im Jahr 2009 veröffentlichte die UNESCO (ge-
meinsam mit weiteren UN-Organisationen) einen
zweibändigen Leitfaden mit dem Titel „Technical
Guidance on Sexuality Education“.15 Ein Infor-
mations- und Meinungsaustausch mit den Verfas-
sern dieses Leitfadens fand in der zweiten Ent-
wicklungsphase dieser Standards statt. In Teilen
überschneiden sich die beiden Dokumente. Wäh-
rend die Empfehlungen des UNESCO-Dokuments
globalen Charakter haben, sind die Standards eher
auf Europa bezogen.

13 Vgl. IPPF (2006a, 2007, Lazarus & Liljestrand 2007).
14 IPPF (2007), S.18.
15 UNESCO (2009a, 2009b).                                                16 Vgl. Population Council (2009).

                                                    WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa    17
Teil 1: Einführung

     2. Sexualität, sexuelle Gesundheit und Sexual­
     aufklärung – Definitionen und Konzepte
     Die Begriffe Geschlecht, Sexualität, sexuelle Ge-                       Eine von der WHO vorgeschlagene umfangreichere
     sundheit und sexuelle Rechte und die damit ver-                         Definition lautet:
     bundenen Vorstellungen werden bis zu einem
     gewissen Grad in verschiedenen Ländern und                              „Sexuality is a central aspect of being human
     Kulturen verschieden interpretiert.17 Werden sie in                     throughout life and encompasses sex, gender
     andere Sprachen übersetzt, so können sie wieder-                        identities and roles, sexual orientation, eroticism,
     um unterschiedlich verstanden werden. Es bedarf                         pleasure, intimacy and reproduction. Sexuality is
     deshalb einiger klärender Bemerkungen zur Ver-                          experienced and expressed in thoughts, fanta-
     wendung dieser Begriffe.                                                sies, desires, beliefs, attitudes, values, behaviours,
                                                                             practices, roles and relationships. While sexuali-
     Im Januar 2002 berief die Weltgesundheitsorga-                          ty can include all of these dimensions, not all of
     nisation (WHO) im Rahmen einer breit angelegten                         them are always experienced or expressed. Sexua-
     Initiative eine Fachkonferenz mit dem Ziel ein,                         lity is influenced by the interaction of biological,
     einige dieser Begriffe und Konzepte zu definie-                         psychological, social, economic, political, ethical,
     ren, da bislang keine international abgestimmten                        legal, historical, religious and spiritual factors“. 20
     Definitionen vorlagen.18 Dies führte zu einer vor-
     läufigen Festlegung der Begriffe Geschlecht, Se-                        Diese Definition ist aus vielen Gründen sehr hilf-
     xualität, sexuelle Gesundheit und sexuelle Rechte.                      reich. Sie hebt hervor, dass Sexualität ein zentraler
     Bei diesen Definitionen handelt es sich zwar noch                       Bestandteil des Menschseins ist, sie beschränkt sich
     nicht um offizielle WHO-Definitionen, doch ste-                         nicht auf bestimmte Altersgruppen, sie steht in en-
     hen sie bereits auf der Internetseite der WHO zur                       ger Beziehung zum sozialen Geschlecht (Gender),
     Verfügung und werden immer häufiger genutzt.                            sie berücksichtigt verschiedene sexuelle Orientie-
     Auch in diesem Konzept werden sie als Arbeitsbe-                        rungen und geht weit über die Fortpflanzung hin-
     griffe verwendet:                                                       aus. Sie stellt ferner klar, dass zur Sexualität mehr
                                                                             als nur Verhaltensweisen gehören und dass sie in
     „Geschlecht“ bezeichnet die biologischen Merk-                          Abhängigkeit von einer Vielzahl von Einflussfak-
     male, durch die Menschen generell in männlich                           toren stark variieren kann. Diese Definition macht
     und weiblich unterschieden werden.                                      indirekt deutlich, dass eine so verstandene Sexual-
                                                                             aufklärung zudem einen wesentlich größeren und
     „Sexualität“ im umfassenden Sinn wird gemäß                             vielfältigeren Bereich abdeckt als eine Aufklärung,
     den vorläufigen Definitionen der WHO wie folgt                          die nur auf die Veränderung des Sexualverhaltens
     definiert: „Human sexuality is a natural part of                        zielt („education on sexual behaviour“).
     human development through every phase of life                           Bedauerlicherweise wird dies häufig missverstan-
     and includes physical, psychological and social                         den.
     components […].“19

                                                                             20 „Sexualität bezieht sich auf einen zentralen Aspekt des Mensch-
                                                                                seins über die gesamte Lebensspanne hinweg, der das biologische
                                                                                Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle
                                                                                Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt.
     17 Siehe auch Kapitel 1.
                                                                                Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien,
     18 WHO (2006).                                                             Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltens-
     19 „Die menschliche Sexualität ist ein natürlicher Teil der menschli-      mustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Während Sexualität
        chen Entwicklung in jeder Lebensphase und umfasst physische,            all diese Aspekte beinhaltet, werden nicht alle ihre Dimensionen
        psychische und soziale Komponenten […]“ WHO Regional Office             jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst
        for Europe (1999/2001), S.13. (Die Quellenangaben beziehen              durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer,
        sich immer auf die englischen Zitate im Text; die Übersetzungen         wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, religiöser und
        entstanden im Rahmen dieser Publikation).                               spiritueller Faktoren.“ WHO (2006), S.10.

18   WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa
Teil 1: Einführung

„Sexuelle Gesundheit“ wurde von der WHO erst-                           Literatur über HIV und AIDS bei diesem Thema
malig 1972 bei einer Fachkonferenz mit folgen-                          häufig geschieht. Kurzum, es handelt sich um eine
dem Wortlaut definiert:                                                 ausgewogene Definition.

„Sexual health is the integration of the somatic,                       Sexuelle Gesundheit ist eines der fünf Kernthemen
emotional, intellectual and social aspects of se-                       der globalen Strategie der WHO zur reproduktiven
xual being in ways that are positively enriching                        Gesundheit, die von der Weltgesundheitsversamm-
and that enhance personality, communication and                         lung im Jahr 2004 verabschiedet wurde.23
love.“21
                                                                        Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die WHO in
Obwohl es sich hier um eine veraltete Definition                        Bezug auf „Gesundheit“ seit den frühen 50er-Jah-
handelt, wird sie dennoch häufig verwendet. Wäh-                        ren des vergangenen Jahrhunderts eine sehr weit
rend der Fachkonferenz 2002 wurde ein neuer De-                         gefasste und positive Definition und Herangehens-
finitionsentwurf verabschiedet:                                         weise gewählt hat, indem sie diese als „menschli-
                                                                        ches Potenzial“ und nicht einfach als Abwesenheit
„Sexual health is a state of physical, emotional,                       von Krankheit bezeichnet, und darunter nicht nur
mental and social well-being in relation to se-                         körperliche, sondern auch emotionale, geistige,
xuality; it is not merely the absence of disease,                       soziale und sonstige Aspekte zusammenfasst.
dysfunction or infirmity. Sexual health requires a                      Aus diesen zuletzt genannten Gründen gelten die
positive and respectful approach to sexuality and                       WHO-Definitionen als akzeptabler und geeigneter
sexual relationships, as well as the possibility of                     Ausgangspunkt für eine Diskussion über Sexual-
having pleasurable and safe sexual experiences,                         aufklärung. So wird in diesem Konzept zwar die
free of coercion, discrimination and violence. For                      Bezeichnung „sexuelle Gesundheit“ verwendet,
sexual health to be attained and maintained, the                        diese beinhaltet jedoch auch die Bedeutung des
sexual rights of all persons must be respected,                         „sexuellen Wohlbefindens“. Sexuelle Gesundheit
protected and fulfilled.“22                                             wird nicht nur durch persönliche, sondern auch
                                                                        durch soziale und kulturelle Faktoren beeinflusst.
Dieser Definitionsentwurf betont nicht nur die
Notwendigkeit eines positiven Ansatzes, den we-                         Sexuelle Rechte – unter ausdrücklicher Einbezie-
sentlichen Aspekt der Lust und die Vorstellung,                         hung des Rechts auf Information und Bildung.
dass zu sexueller Gesundheit nicht allein körperli-                     Wie bereits erwähnt, verabschiedete die WHO-
che, sondern auch emotionale, geistige und soziale                      Fachkonferenz von 2002 einen Definitionsentwurf
Aspekte gehören. Er weist auch auf die möglichen                        zu sexuellen Rechten mit folgendem Wortlaut:
negativen Seiten hin und erwähnt erstmalig die
Existenz sexueller Rechte – zwei Themenbereiche,                        „Sexual rights embrace human rights that are al-
die in der Definition von 1972 kaum Erwähnung                           ready recognized in national laws, international
finden. Darüber hinaus werden die möglichen ne-                         human rights documents and other consensus
gativen Aspekte nicht speziell betont, wie es in der                    statements. They include the right of all persons,
                                                                        free of coercion, discrimination and violence, to:
                                                                           ŽŽ the highest attainable standard of sexual
21 „Sexuelle Gesundheit ist die Integration der körperlichen, emo-
                                                                              health, including access to sexual and repro-
   tionalen, geistigen und sozialen Aspekte des sexuellen Daseins             ductive health care services;
   in einer positiven Art eine Weise, die zu einer Bereicherung und
   Weiterentwicklung von Persönlichkeit, Kommunikation und Liebe           ŽŽ seek, receive and impart information related
   beiträgt.“ WHO (1975).                                                     to sexuality;
22 „Sexuelle Gesundheit ist der Zustand körperlichen, emotionalen,
                                                                           ŽŽ sexuality education;
   geistigen und sozialen Wohlbefindens bezogen auf die Sexualität
   und bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktions-        ŽŽ respect for bodily integrity;
   störungen oder Schwäche. Sexuelle Gesundheit erfordert sowohl           ŽŽ choose their partner;
   eine positive, respektvolle Herangehensweise an Sexualität und
   sexuelle Beziehungen als auch die Möglichkeit für lustvolle und         ŽŽ decide to be sexually active or not;
   sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unterdrückung, Diskri-
   minierung und Gewalt. Wenn sexuelle Gesundheit erreicht und
   bewahrt werden soll, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen
   anerkannt, geschützt und eingehalten werden.“ WHO (2006), S.10.      23 WHO (2004), S.21

                                                   WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa    19
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