Depression und Suizidalität bei Männern in Europa: Ein Problem männlichen psychischen Leidens und männlicher Suizidalität - Krause ...

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Journal für

 Neurologie, Neurochirurgie
 und Psychiatrie
             www.kup.at/
 JNeurolNeurochirPsychiatr   Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems

Depression und Suizidalität bei
                                                                               Homepage:
Männern in Europa: Ein Problem
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männlichen psychischen Leidens und                               JNeurolNeurochirPsychiatr

männlicher Suizidalität                                                Online-Datenbank
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Rutz W
                                                                      und Stichwortsuche
Journal für Neurologie
Neurochirurgie und Psychiatrie
2010; 11 (3), 46-52

                                                                                            Indexed in
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Suizid bei Männern

  Depression und Suizidalität bei Männern in Europa:
  Ein Problem männlichen psychischen Leidens und
               männlicher Suizidalität
                                                                              W. Rutz

 Kurzfassung: Die Lebenserwartung von Män-               dem Ziel, männliche Depressionen früher zu er-        women as clinically depressed. Male premature
 nern in Europa ist 5–15 Jahre niedriger als die         kennen und zu behandeln, andererseits eine            mortality reflected even in excessive male sui-
 von Frauen. Dies mag zumindest teilweise da-            steigende öffentliche Kenntnisnahme und Dis-          cidality is today one of Europe’s most important
 durch bedingt sein, dass Männer allgemein im            kussion des männlichen Depressionsbilds im            public health problems, especially in European
 Vergleich zu Frauen nur halb so oft medizinische        Rahmen öffentlicher Gesundheitsvorsorge.              countries and populations of dramatic social
 Hilfe suchen. 70–90 % aller Suizide werden in                                                                 transition. An explanation seems to be that male
 einem Zustand klinischer Depression begangen.           Schlüsselwörter: Depression, Suizid, männli-          depressive symptoms are different from those
 Nach vorherrschender Lehrbuchmeinung treten             che Depression, männliche Suizidalität, ge-           reported by females, mainly because of men’s
 Depressionen bei Männern jedoch nur halb so             schlechtsspezifische Suizidalität, Selbstmord-        alexithymic difficulties to recognize and report
 häufig auf wie bei Frauen. Trotzdem nehmen              verhütung, vorzeitige Sterblichkeit, geschlechts-     their own depressive symptoms. In addition,
 sich europäische Männer paradoxerweise 3–               spezifische Psychopathologie, gesellschaftliche       male depression often is manifested by abusive,
 10× häufiger das Leben. Die unter anderem da-           Veränderungskrise, männliche Mortalitätskrise,        destructive, and/or antisocial behaviour. More-
 mit zusammenhängende, stark verkürzte Le-               Ausbildungsprogramme in Depression und Selbst-        over, in the case of suicidality, males more fre-
 benserwartung der Männer in Europa ist heute            mordverhütung, allgemeinärztliche Gesundheits-        quently use violent, decisive, and lethal meth-
 eines der wichtigsten Probleme öffentlicher Ge-         versorgung                                            ods. Training of social and healthcare workers in
 sundheit, vor allem in Ländern dramatischen so-                                                               earlier and better detection of male depressive
 zialen Umbruchs. Eine Erklärung hierfür könnte                                                                and often very suicidal conditions including the
 sein, dass sich depressive Symptome bei Män-            Abstract: Depression and Suicide in Euro-             use of screening instruments such as the “Gotland
 nern deutlich von denen unterscheiden, die von          pean Males: A Problem of Male Mental                  Male Depression Scale”, a person-centered ap-
 Frauen gezeigt und berichtet werden: Männliche          Suffering and Suicidality. In Europe, men’s           proach in suicide prevention as well as increas-
 Depressivität kann sich in einem aggressiven,           life expectancy is between 5 and 15 years lower       ing public awareness for male depression are
 antisozialen, „psychopathischen“ klinischen Bild        than that of women. This might partly be related      promising tools in the prevention of male suicide
 und/oder in einem Suchtverhalten manifestie-            to the fact that men in general consume medical       as an important public health problem. J Neurol
 ren, das nicht als Depression erkannt wird. Wich-       services only half as often as women. Up to           Neurochir Psychiatr 2010; 11 (3): 46–52.
 tige Ursachen dafür sind das atypische Depres-          90 % of all suicides are committed in a state of a
 sionsbild zusammen mit männlicher Alexithymie           major psychiatric disorder, most often depres-        Key words: depression, suicide, male depres-
 und ein Mangel an Hilfesuche. Erfolgverspre-            sion. According to the present doctrine, depres-      sion, male suicide, gender-specific suicidality,
 chende Methoden, Depression bei Männern an-             sion in males is only half as often prevalent as in   suicide prevention, premature mortality, gender-
 zugehen, sind einerseits die spezifische Weiter-        females. Paradoxically, however, men commit           specific psychopathology, societal transition,
 bildung von Ärzten und Krankenpflegepersonal,           suicide 3–10 times more often than women in           male mortality, educational programs on depres-
 aber auch professioneller sozialer Helfer mit           spite of being diagnosed only half as often as        sion and suicide, primary health care

„ Depressions- und stressgebundene                                                  zeitige Sterblichkeit in Europa vorwiegend ein männliches
  Erkrankungen und Mortalität in Europa:                                            Problem [2, 4].
  Ein Problem männlichen psychischen                                                In einigen ost- und zentraleuropäischen Ländern, die in den
  Leidens und von Suizidalität                                                      1990er-Jahren dramatische und eingreifende soziale Verän-
Die Lebenserwartung von Männern in europäischen Regio-                              derungen durchlitten, sank innerhalb einer Dekade die männ-
nen liegt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation                              liche Lebenserwartung um > 10 Jahre, wobei die Zahlen weib-
zwischen 5 und 15 Jahre unter der von Frauen. Die sich öff-                         licher Morbidität und Mortalität relativ unverändert blieben.
nende Kluft zwischen weiblicher und männlicher Lebenser-                            Hierbei waren erhöhte Suizidziffern einer der wichtigsten bei-
wartung erscheint dabei als ein zuverlässiger Indikator für                         tragenden Faktoren für das Absinken männlicher Lebens-
eine gesteigerte Stressbelastung in einer Gesellschaft [1, 2]. In                   erwartung [5–7]. Diese und andere Erfahrungen internationa-
der Europäischen Kommission wird psychisches Leiden als                             ler Organisationen in Zeiten gesellschaftlicher Konflikte zei-
„Europe’s unseen killer“ („Europas heimlicher Mörder“) an-                          gen, dass sich Männer im Verlauf stressvoller Veränderungen
gesehen und dabei festgestellt, dass die „Gesellschaften, die                       oft als verletzlicher erweisen als Frauen. Frauen scheinen
wir geschaffen haben, psychisches Leiden generieren“ [3].                           in Zeiten gesellschaftlicher und individueller Veränderung
Dabei sind risikoreiches Verhalten, Depressionen, depres-                           widerstandsfähiger zu sein. Männliche Suizidalität reflektiert
sionsbezogenes psychisches Leiden und stressbedingte vor-                           dagegen offensichtlich gesellschaftlichen Stress, häufig auch
                                                                                    bezogen auf veränderte traditionelle Geschlechterrollen samt
                                                                                    Statusverlusten in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz und als
Eingelangt am 2. Juni 2010; angenommen nach Revision am 25. Juni 2010
                                                                                    Familienversorger [1, 8]. Dies korreliert deutlich mit einer im
Aus der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, University of Applied Sciences,
                                                                                    Vergleich zu Frauen um das 5–9-Fache gesteigerten Mortali-
Hochschule Coburg, Deutschland
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Dr. phil. Wolfgang Rutz, Fakultät Soziale      tät aufgrund von Gewalt, risikoreichem Verhalten, Unfällen,
Arbeit und Gesundheit, University of Applied Sciences, Hochschule Coburg,           aber auch kardio- und zerebralvaskulären Erkrankungen in
D-96450 Coburg, Friedrich-Streib-Straße 2; E-Mail: wolfgang@rutz.se                 den Ländern Europas.

46     J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (3)

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Suizid bei Männern

„ Bestimmungsfaktoren psychischer Ge-                            diagnostiziert wird, nehmen sie sich paradoxerweise 3–10×
  sundheit                                                       häufiger das Leben [7, 15–19].

Heute besteht wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer    Suizidversuche werden dagegen öfter von Frauen als von
Konsensus darüber, dass vor allem folgende Voraussetzung         Männern durchgeführt. Eine Teilerklärung dafür ist der häufi-
für psychische, aber auch physische Gesundheit und Wohl-         gere Gebrauch von gewaltsamen und letalen Methoden bei
befinden entscheidend sind:                                      von Männern durchgeführten suizidalen Akten. Nachdem wir
• Autonomie und Selbstbestimmtheit – also die Abwesenheit        wissen, dass sich gerade depressive Suizidalität durch drasti-
  von Hilflosigkeit und Fremdbestimmung                          sche Methoden auszeichnet, bietet sich als Erklärung dafür
• Soziale Verbundenheit und Signifikanz – also die Ab-           die Nicht-Entdeckung und -Behandlung männlicher Depres-
  wesenheit von Entfremdung, Marginalisierung und sozialer       sivität an. Weibliche Suizidversuche haben dagegen öfter
  Deprivation                                                    einen weniger drastischen und repetitiven „Cry-for-help“-
• Existenzielles Eingebundensein und Sinnhaftigkeit –            Charakter und können daher manchmal sogar als suizid-
  also die Abwesenheit von Sinnlosigkeit und existenzieller      präventiv angesehen werden [11, 20].
  Leere
• Würde, Status und Integrität – also die Abwesenheit von        Heute besteht epidemiologische und klinische Evidenz dafür,
  Gesichtsverlust, Demütigung und Respektlosigkeit [9–12]        dass die Prävalenz von diagnostizierter Depression mit der
                                                                 Frequenz von durchgeführten Suiziden umgekehrt korreliert
Dass männliche und weibliche Individuen verschieden auf          [21, 22]. Dies scheint im Widerspruch zu unserer heutigen
Stressbelastungen reagieren, ist auch aus Tierversuchen be-      Kenntnis über das Vorhandensein spezifischer und kausaler
kannt [13]. Der Verlust sozialer Signifikanz scheint hierbei     Verknüpfungen zwischen Depression und Suizid zu stehen,
der wichtigste Risikofaktor bei Frauen zu sein, wobei Männer     die eine Steigerung von Suiziden bei einer Steigerung von
stärker verletzbar sind gegenüber Risikofaktoren wie Verlust     Depressionserkrankungen annehmen würde. Dieses „Prima-
des sozialen, familiären und gesellschaftlichen Status und der   vista-Paradox“ [23] lässt sich dadurch erklären, dass nur eine
damit verknüpften Würde [8]. Männliche Individuen sind           adäquat erkannte Depression zu einer adäquaten Behandlung
empfindlicher gegenüber hierarchischer Degradierung, wobei       führt, die dann depressiogene Suizide verhindern kann. Ungari-
Frauen stärker auf den Verlust sozialer Wichtigkeit und fami-    sche Forschung und klinische Erfahrung zeigen entsprechend,
liärer Verknüpfung reagieren. In einer 2000 durchgeführten       dass in Gebieten mit unzureichender Depressionserfassung
dänischen Untersuchung von > 800 Suizidopfern fand man           aufgrund von quantitativen oder qualitativen Mängeln in der
[1], dass Arbeitslosigkeit, Pensionierung, Alleinleben und       psychiatrischen und/oder allgemeinärztlichen Gesundheits-
Krankschreibung die wichtigsten Risikofaktoren für Männer        versorgung eine statistisch niedrige Prävalenz diagnostizier-
waren, wohingegen bei Frauen die Betreuung von Kindern           ter Depression mit hoher Suizidalität korreliert – eine Erfah-
einen entscheidenden Schutzfaktor darstellte.                    rung, die bei der Interpretation der niedrigen Depressions-
                                                                 prävalenz bei Männern und ihrer hohen Selbstmordraten be-
Klinische Erfahrungen, aber auch konkrete Erfahrungen aus        rücksichtigt werden muss, und die Hand in Hand geht mit
der internationalen Arbeit der WHO zeigen, dass sowohl bei       den Resultaten der schwedischen Gotland-Studie [22, 24–27].
gesellschaftlichem als auch individuellem Veränderungs-
stress Männer am stärksten auf Arbeitslosigkeit, den Verlust     „ Symptome männlicher Depression und
der Kapazität, die Familie zu versorgen, und sozialen Würde-       Suizidalität: Bedarf an geschlechts-
verlust reagieren, wobei Frauen auch in Krisenzeiten oft ihre      spezifischer Diagnostik?
schützende Fähigkeit behalten, soziale Netzwerke zu bewah-
ren, Familienverantwortung zu übernehmen, existenzielle          Männliche Depression wird oft übersehen oder nicht erkannt
Sinnhaftigkeit zu erleben und alltägliche Kontrollmechanis-      und selten behandelt. Die Gründe sind oftmals eine klinische
men aufrecht zu erhalten.                                        Verschleierung durch Missbrauch bzw. Suchtverhalten,
                                                                 Drogenkonsum, mangelhafte Impulskontrolle und impulsive
„ Paradoxe öffentlicher Gesundheit                               Aggressivität, auch in Familien, was oft zur unvollständigen
                                                                 und fehlerhaften Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung,
Heute können in Europa vor allem 2 Paradoxe öffentlicher         Psychopathie oder Suchterkrankung führen kann [22, 28].
Gesundheit gesehen werden: Das erste ist, dass Männer im         Offensichtlich unterscheiden sich männliche depressive
Allgemeinen medizinische und gesundheitliche Vorsorge und        Symptome von den Depressionssymptomen, die allgemein
Hilfe nur halb so oft in Anspruch nehmen, jedoch 5 (EU) bis      von Frauen beschrieben werden. Da die diagnostischen Krite-
15 (Russische Föderation) Jahre früher sterben als Frauen [2].   rien einer depressiven Erkrankung, wie sie in verschiedensten
Diese vorzeitige Sterblichkeit scheint hierbei im Zusammen-      Depressionsskalen enthalten sind, wiederum meist auf selbst
hang zu stehen mit der geschlechtsbezogenen Unterschied-         beschriebenen Variablen basieren und Männer selten Depres-
lichkeit bei Depression und suizidalem Verhalten.                sionssymptome benennen, sind die gängigen diagnostischen
                                                                 Instrumente oft unzureichend, um „typische atypische“ männ-
Es ist evident, dass 70–90 % aller Suizide in einem Zustand      liche Depressivität zu erkennen und einer Behandlung zuzu-
klinischer Depression und einer daraus folgenden depressi-       führen [23].
ven, „schwarzsehenden“, gefühlsmäßigen und auch kogniti-
ven Realitätswahrnehmung resultieren [14]. Obwohl bei Män-       Darüber hinaus zeigen 2 groß angelegte, gemeindenahe epide-
nern eine Depression weniger als halb so oft wie bei Frauen      miologische Studien deutlich, dass unbehandelte depressive

                                                                                     J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (3)   47
Suizid bei Männern

Männer ihre depressive Stimmung und andere Depressions-           konnten [36], so ist die typische, andersartige männliche
symptome wesentlich seltener als Frauen beschreiben. In           Depressionssymptomatik immer noch weitgehend unerkannt
einer Studie fand man darüber hinaus [29], dass Männer ihren      und unbehandelt, was zu Problemen sowohl für die betroffe-
klinischen Depressionszustand anders als Frauen bewältigen        nen Männer als auch für ihr soziales Umfeld in Familie, Ge-
– durch Sportaktivitäten, Alkoholkonsum oder Tabakkonsu-          sellschaft und Arbeitsplatz führt. Dazu kommt die Unfähig-
mation – wohingegen Frauen mehr emotionale Entspannung            keit für adäquates Hilfesuchverhalten und die männliche Ten-
suchen, lesen oder sich religiös aktivieren. Der große Prozent-   denz, gefühlte Schwäche und Hilflosigkeit durch „Acting-out“,
satz von Alkoholkonsum und anderem Suchtverhalten bei             selbstmedizierenden Alkoholismus oder Suchtäquivalente
Männern in Bezug auf Hilflosigkeit und Depression ist ein         wie Spielen, Kampfverhalten, exzessiven Sport, „Workaho-
weiteres Indiz für die Selbstmedikation bei Abwesenheit von       lismus“ oder Hypersexualität zu kompensieren. Männer kulti-
spezifischen Behandlungs- und Hilfeangeboten, wobei wie-          vieren in großem Umfang die Illusion, ihre Depression selbst
derum der Alkoholkonsum den auslösenden depressiven Zu-           bewältigen oder behandeln zu können und sozialen wie auch
stand verstärken kann [30, 31].                                   medizinischen Support nicht zu benötigen. Dazu kommt eine
                                                                  oft generell negative Haltung gegenüber gesellschaftlichen,
„ Geringere Depressionsprävalenz bei                              sozialen, unterstützenden und gesundheitsfördernden Ange-
                                                                  boten [37, 38].
  Männern: Ein Artefakt?
In der amerikanischen „Amish-Population“, die konservativ         „ Akzeptanz von Hilfsangeboten: Der Fall
an traditionellen Glaubens- und Verhaltensweisen festhält,          Litauen
sind Suchtverhalten, Alkoholkonsum und Gewalttätigkeit
strikt stigmatisiert und verpönt [32]. Ähnlich sind in amerika-   Litauen wies Mitte und Ende der 1990er-Jahre und bis vor
nischen und israelischen jüdisch-orthodoxen Bevölkerungs-         Kurzem Suizidraten auf, die – gefolgt von anderen baltischen
gruppen Alkohol und physische Gewalt tabu [33]. Interessan-       Staaten, Weißrussland und Russland – an der Weltspitze
terweise ist in diesen Gesellschaften die Depressionspräva-       lagen. Ursachen waren ein maximaler gesellschaftlicher Ver-
lenz bei Männern gleich hoch wie bei Frauen und die Suizid-       änderungsstress, begleitet von dramatischen Belastungen in
ziffern sind bei beiden Geschlechtern gleich niedrig.             den bereits beschriebenen Bestimmungsfaktoren psychischer
                                                                  und physischer Gesundheit. Besonders in Litauen, das sich in
Andererseits ist in den europäischen Ländern, in denen Alko-      den 1990er-Jahren in einer starken gesellschaftlichen Umwäl-
hol- und Suchtverhalten häufig vorkommt und relativ wenig         zung und quasi in einer Art soziologischer Laborsituation be-
stigmatisiert ist, die Prävalenz von Depression bei Frauen        fand, war die hohe Selbstmordrate begleitet von hohem männ-
2–3× höher als die von Männern. In diesen Gruppen ist             lichem Alkoholkonsum, einem geringen Grad von Hilfesuch-
andererseits die Frequenz männlicher Suizide 3× höher als die     verhalten und einer niedrigen Prävalenz diagnostizierter und
von Frauen [7, 18, 19, 29]. Alkoholsucht, die Depression          statistisch registrierter Depression bei Männern. Suizide wur-
überdecken könnte, ist bis zu 10× höher in einer russischen       den in bis zu 90 % von Männern durchgeführt, vor allem in
männlichen Bevölkerung als bei russischen Frauen. Anderer-        ländlichen Gebieten. In einem Versuch der Regierung, diesen
seits ist die Suizidquote Männer : Frauen dort 1:6 [5] bis 1:9    Zustand verantwortungsvoll zu verbessern, wurden im Land
[7] und Depressionen bei Männern in diesem Land kaum dia-         gemeindenahe Krisenzentren etabliert, die professionell und
gnostiziert. Dies wiederum exemplifiziert, dass die unzurei-      relativ gut bemannt Rat, Unterstützung und Behandlung an-
chende Diagnostik von Depressionen bei Männern in hohen           boten und teilweise rund um die Uhr in Anspruch genommen
Suizidraten resultiert.                                           wurden. Diese Dienstleistungen wurden jedoch in einer über-
                                                                  wältigenden Mehrzahl von Fällen (80 %) von Frauen genutzt,
„ Folgende Fragen scheinen berechtigt!                            wobei die Suizidalität der Männer und damit verknüpfte Pro-
                                                                  bleme im Wesentlichen unverändert blieben.
Sind depressive Männer in Europa heute, wie in Ungarn ge-
zeigt, unterdiagnostiziert und -behandelt, daher in unnötig       Hier zeigt sich eines der Hauptprobleme männlicher Depres-
großem Umfang suizidal und betroffen von anderen Kon-             sion und der Selbstmordverhütung: Für Männer akzeptable
sequenzen einer depressionsbezogenen, risikoreichen und           Hilfsarenen und Plattformen werden nicht in erwünschter
selbstdestruktiven Lebensweise? Kann die scheinbar gestei-        Weise errichtet oder benutzt. Wie auch die später beschrie-
gerte Häufigkeit von Depressionen bei Frauen durch eine un-       bene Gotland-Studie zeigt, reicht es nicht aus, männliche
zureichende Diagnostik und Therapie männlicher Depression         Depressionen innerhalb gängiger sozialer oder medizinischer
erklärt werden und ist sie als solche ein Artefakt? Könnte eine   Versorgungssysteme anzugehen – sie müssen aufgesucht und
Problemlösung hier durch eine Verbesserung der Diagnose,          in einer für Männer akzeptablen Weise angeboten werden, die
Behandlung und Compliance depressiver Männer erreicht             oft wenig mit konventionellen psychotherapeutischen und kli-
werden?                                                           nischen Hilfsangeboten zu tun hat. Hierbei dürfte es wichtig
                                                                  sein, auch traditionelle Selbstverständnisse von Maskulinität,
„ Probleme bei der Erkennung männlicher                           wie immerwährende Stärke und Selbstbestimmtheit, zu ak-
  Depression und Suizidalität                                     zeptieren, wie sie häufig in betroffenen Bevölkerungen ländli-
                                                                  cher oder küstennaher Gebiete – und nicht nur da – angetrof-
Allgemein ist bereits die Diagnose klassischer und typisch        fen werden. Gewerkschaften, Bauernverbände, Fischerei-
depressiver Zustände unzureichend. Sie lag 1991 bei ca. 15 %      organisationen, Betriebe oder Sportvereine könnten hier neue
[34, 35]. Auch wenn gewisse Verbesserungen gezeigt werden         Möglichkeiten eröffnen. Am wichtigsten scheint jedoch das

48   J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (3)
Suizid bei Männern

aufgeklärte Engagement von Verwandten, Freunden und vor           kungen, Krankschreibungen und der allgemeinen Inanspruch-
allen Dingen der nahen Familie zu sein, zugängliche Hilfe         nahme der verschiedenen Systeme der Krankenversorgung.
anzubieten, zu vermitteln oder anzufordern.                       Diese positive Veränderung betraf jedoch nur den weiblichen
                                                                  Teil der Bevölkerung, bei dem sich die Suizidalität auf ein
„ Suizidalität, Aggressivität und Gewalt-                         Minimum reduzierte. Die Anzahl männlicher Suizide blieb
                                                                  unverändert.
  tätigkeit
Männliche Suizidalität deutet auf einen komplexen Zusam-          Eine im Folgenden durchgeführte psychologische Autopsie
menhang zwischen Depression, Selbstmord, autoaggressiver          aller männlichen Suizide der 1980er-Jahre zeigte, dass diese
Selbstvernachlässigung und heteroaggressiver Gewalttätig-         Männer vor ihrem Suizid kaum mit dem Gesundheitssystem
keit. So haben sich z. B. die Fälle von Totschlag und Mord in     in Berührung gekommen waren. Dagegen existierten häufige
Russland in den 1990er-Jahren verneunfacht, parallel zu einer     und meistens gegenseitig frustrierende und irritierende Kon-
ähnlich dramatischen Steigerung von Todesfällen verursacht        takte mit der Polizei, den Steuerbehörden, dem sozialen
durch Alkoholvergiftung, Unfälle sowie kardio- und zere-          Dienst und der Alkoholfürsorge der Insel.
bralvaskuläre Erkrankungen [39]. Dagegen ist in den noch
stärker stressexponierten Ländern des Balkans, besonders in       Bei näherer Analyse aller männlichen Suizide der 1980er- und
dessen islamischen Kulturen, Suizidalität relativ selten – auch   beginnenden 1990er-Jahre zeigten Nachfragen sowohl bei
in Zeiten sozialer Belastung, interner politischer Konflikte      diesen Instanzen als auch den Hinterbliebenen ein typisches
und gesellschaftlichen posttraumatischen Stresses, z. B. nach     Verhaltensmuster von Hilflosigkeit, Aggressivität und Un-
der bürgerkriegsähnlichen Situation beim Zusammenbruch            vermögen, um Hilfe zu bitten und Schwäche zu signalisieren.
Jugoslawiens. Dort erhöhte sich stattdessen die Mortalität        Klinisch bestand das Symptombild einer plötzlichen Persön-
aufgrund von kardiovaskulären Krankheiten und Unfällen            lichkeitsveränderung in fast „psychopathische“ Richtung mit
dramatisch, oft parallel mit einer Steigerung verschiedener       allgemeiner Unruhe, Rastlosigkeit, Aggressivität, Selbst-
Typen von Gewalttätigkeiten und Aggression.                       bemitleidung, Unzufriedenheit, Irritation, Beschlussunfähig-
                                                                  keit, mangelhafter Impulskontrolle, generellem Pessimismus
In lateinamerikanischen Ländern ist Depression bei Männern        und in der Mehrzahl aller Fälle ein selbstbehandelndes Sucht-
selten diagnostiziert und kaum bekannt, während die Präva-        verhalten. In den seltenen Fällen, in denen ein therapeutischer
lenz weiblicher Depression bis zu 10× höher ist. Andererseits     Kontakt zustande gekommen war, war dieser gekennzeichnet
besteht in diesen Ländern ein stark erhöhtes Vorkommen von        durch Negativismus, Unzufriedenheit und „Non-compliance“
Homizid, Gewalt und Alkoholismus – jedoch nicht Suizidali-        [22, 44, 45].
tät – bis zu 10× häufiger bei Männern als im weiblichen Be-
völkerungsteil [40]. Zusammenhänge zwischen Depression,           Diese Symptome wurden in der „Gotland Male Depression
Suizid, Missbrauch, Sucht und Gewalt werden klar herausgear-      Scale“ (GMDS) zusammengefasst als einem klinischen
beitet, sowohl im Weltgesundheitsreport 2001 [41] über psy-       Screening-Instrument, um die „typisch atypische“ männliche
chische Gesundheit als auch im Weltgesundheitsreport 2003         Depression rechtzeitig zu erkennen [22, 44, 45]. Nach einer
[42] über Gewalt. Beide Berichte zeigen auf, dass eine Steige-    ersten wissenschaftlichen Auswertung der Originalstudie
rung männlicher Suizidalität oder ein gesteigertes Vorkom-        1994, die den drastischen Rückgang weiblicher Suizidalität
men von Aggressivität, Familiengewalt, krimineller Gewalt         zeigte, wurde ein neuerliches Ausbildungsprogramm mit
und risikoreicher Nachlässigkeit oder Selbstdestruktivität        regelmäßigen Kursen in den 1990er-Jahren angeboten. Die-
mit dem Vorkommen männlicher Depressivität verknüpft ist          sem Programm, gerichtet wiederum an die Allgemeinärzte
und durch Verbesserung entsprechender Diagnostik, Be-             der Insel, aber dieses Mal auch an das Personal der sozialen
handlung und Langzeitverfolgung positiv beeinflusst wer-          Dienste und des Suchtprogramms, wurden nun auch Module
den könnte.                                                       hinzugefügt über die atypische Symptomatologie männlicher
                                                                  Depression und Möglichkeiten, diese zu erkennen und zu be-
                                                                  handeln. Das Ausbildungsprogramm war gleichzeitig ver-
„ Was tun? Erfahrungen der Gotland-Studie                         knüpft mit medialen Aktivitäten via Fernsehen und lokaler
Auf der schwedischen Insel Gotland erfolgte von 1983–1986         Presse und führte zu einem erheblichen öffentlichen Re-
ein Interventionsprogramm zur Prävention, Diagnostik, Be-         sponse, wobei vor allem Frauen Kontakt aufnahmen und zu-
handlung und Vermeidung der Langzeitfolgen von Depres-            sahen, dass ihre Männer, die dem Bild männlicher Depressivi-
sion und Suizidversuchen, das so gut wie alle Allgemeinärzte      tät und Suizidalität entsprachen, einer sozialen, ärztlichen und
der Insel umfasste [22, 43]. Die Ausgangssituation war eine       bei Bedarf psychiatrischen Versorgung zugeführt wurden.
dramatische Steigerung der Suizidalität auf der Insel aufgrund    Ein Resultat war, dass zum ersten Mal in den 1990er-Jahren
von tiefgreifenden sozialen Umschichtungen, die zu den            auf Gotland dann auch die männliche Suizidalität signifikant
höchsten Suizidziffern in Schweden führten. In dieser Situati-    vermindert werden konnte [22].
on initiierten die Allgemeinärzte der Insel zusammen mit der
lokalen Psychiatrie ein Ausbildungsprogramm zur Diagnose          „ Verbesserung der Diagnose, Früherken-
und Behandlung von Depressionen, Depressionsäquivalenten            nung und Behandlung männlicher De-
und Selbstmordverhütung. Das Resultat dieser Intervention           pression und Suizidalität
war eine dramatische Senkung der Anzahl von vollendeten
Suiziden und drastischen Suizidversuchen, zusammen mit            Wie bereits erwähnt, zeigen und berichten Männer seltener
einer Verminderung üblicher depressionsbezogener Erkran-          Depressionsgefühle oder klassische depressive Symptome als

                                                                                       J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (3)   49
Suizid bei Männern

Frauen. Spezifische diagnostische Instrumente für das „Scree-     Depression und Suizidalität biologisch zu instrumentalisieren
ning“ und zur Früherkennung scheinen deswegen vonnöten,           oder aber in fokussierten Einzelgesprächen oder Fokusgrup-
in allgemeiner ärztlicher Praxis, aber auch in Sozialfürsorge,    pen von primären Symptomen wie beispielsweise Schlaf-
bei Steuerbehörden und anderen gesellschaftlichen Hilfs- und      losigkeit auszugehen. Wichtig scheint auch – gerade bei der
Kontrollorganen. Die „Gotland Male Depression Scale“ ist          überwiegend weiblichen Personalbesetzung in psychiatri-
ein für diesen Zweck gut anwendbares und relativ einfaches        schen Organisationen – Einsicht, Verständnis und Interesse
Instrument sowohl zur Selbsterkennung als auch für die ob-        dafür zu wecken, dass sich männliche Hilflosigkeit, Depres-
jektive Beurteilung. Mit ihr können typische Symptome             sion und Suizidalität auch in weniger „stubenreinen“ Äuße-
männlicher Depressivität und Suizidalität gefunden werden,        rungen zeigen kann, gekennzeichnet von verbaler und manch-
die vor allen Dingen in verminderter Stresstoleranz, gestei-      mal auch physischer Aggressivität und allgemeiner negativis-
gerter Aggressivität und Kontrollverlust, depressiver Leere       tischer Dysphorie. Ein guter Ansatz kann darin bestehen, indi-
und Burn-out bestehen. Weitere typische Zeichen sind uner-        viduelle Therapeuten und therapeutische Teams zu identifi-
klärliche Müdigkeit, gesteigerte Irritabilität, Rastlosigkeit     zieren, die besonders motiviert sind, dieser wichtigen Gruppe
und Frustrationstendenz, Entscheidungsunfähigkeit bei frü-        zu helfen.
herer Beschlussfreudigkeit, Schlafprobleme, Überkonsum von
Alkohol, anderen Drogen oder Drogenäquivalenten, plötzliche       „ Spezifische Hilfsangebote und deren
Persönlichkeitsveränderung in Richtung einer „Pseudopsy-
chopathie“ bei früher sozial kompetenten Männern, Arbeits-          Gestaltung
kollegen, Partnern und Familienvätern, allgemeiner Negativis-     Oft besteht ein Bedürfnis, unrealistische Bilder konventionel-
mus und Hoffnungslosigkeit, regressives Selbstmitleid samt        ler und traditioneller Maskulinität, die in unserer Gesellschaft
Heredität für Drogen oder Alkoholsucht, Suizidalität oder         existieren, infrage zu stellen: z. B. immer stark sein zu müs-
Risikosuche. In einer Zeit, in der Prävention und Psycho-         sen, nicht klagen, weinen oder um Hilfe bitten zu dürfen.
samt Pharmakotherapie von Männern oft durch eine Vernach-         Möglicherweise könnten psychotherapeutische und beson-
lässigung von Geschlechtsspezifizität oder einen „Gender-         ders kognitive psychotherapeutische Programme hier von
Bias“ gekennzeichnet sind, hat sich diese Skala als fruchtbar     Nutzen sein – angesichts der Tatsache, dass Männer oft wenig
erwiesen. Sie ist heute wissenschaftlich ausreichend validiert,   geneigt sind, in psychodynamischen oder psychoanalytischen
in verschiedene Sprachen übersetzt und trifft auf steigendes      Referenzrahmen ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Hier wie-
Interesse [30, 46, 47]. Als Ergänzung der „Gotland Male           derum ist wichtig, persönlichkeitsmäßig passende und positiv
Depression Scale“ hat sich die „WHO-5 Well-Being Scale“           interessierte Therapeuten beiderlei Geschlechts zu engagie-
als sehr hilfreich erwiesen. Diese fragt nicht nach depressiven   ren, die sowohl den Willen als auch die Fähigkeit zeigen, die
Symptomen, sondern nach mehr oder weniger ausgeprägtem            von Männern oft vorgetragene Motivationslosigkeit, Non-
Wohlbefinden – eine Frage, die auch alexithyme Männer ohne        Compliance und Respektlosigkeit gegenüber therapeutischen
Einsicht oder Einfühlung in die eigene Depression relativ         Vorgehensweisen als eine positive Herausforderung anzuge-
leicht beantworten können. Diese Skala ist erfolgreich benutzt    hen. Ein weiteres Problem ist, dass ambulante Angebote psy-
worden in verschiedenen größeren Untersuchungen und               chiatrischer und sozialer Versorgung oft auf die Bedürfnisse
scheint ein nützliches erstes Screening-Instrument in der         weiblicher Patienten zugeschnitten sind, da die meisten Kli-
Diagnose männlicher Depressionen zu sein, auch in nicht-          enten, die sowohl psychiatrisch also auch sozial versorgt wer-
medizinischen Bereichen [30, 48].                                 den, Frauen sind. Hinzu kommt, dass auch die Mehrzahl aller
                                                                  Therapeuten und professioneller Helfer in der freiwilligen
„ Entdeckung und Vorbeugung männlicher                            psychischen Gesundheitsfürsorge weiblichen Geschlechts ist,
  Depression im öffentlichen Bereich                              nicht selten unvorbereitet oder unwillig, sich mit den weniger
                                                                  erfreulichen Kennzeichen männlicher depressiver Pathologie
Wie bereits erwähnt, ist die Verbesserung von Angeboten der       zu befassen. So wird beispielsweise in Skandinavien als Vor-
öffentlichen Gesundheitsförderung und medizinischer Ver-          aussetzung für die psychiatrische Behandlung das Vorhanden-
sorgung oft nicht ausreichend, wenn es um männliche Depres-       sein von typischen Charakteristika weiblichen Hilfesuchver-
sivität und Suizidalität geht. Depressive, aggressive, manch-     haltens vorausgesetzt, wie Motivation, Compliance, Einsicht
mal gewaltsame und zu Suchtverhalten tendierende Männer           und Veränderungswillen – Voraussetzungen, die der typische
sind oft der Auslöser für immense Probleme, sowohl für sich       männliche depressive und suizidale Patient nur selten und
selbst als auch für die nächste Umgebung. Diese Männer soll-      schwer erfüllen kann.
ten aktiv aufgesucht werden, um ihre Suizidalität, aber auch
ihre sowohl introverte als auch extroverte Aggressivität zu       Ein Resultat dieser geschlechtsbezogenen Dysbalance ist
verringern und ihrer Depressivität, Selbstdestruktivität und      eine artifizielle Situation, existierend in vielen Ländern, in
Risikofreudigkeit mit allen Konsequenzen vorzubeugen. Hier        der psychiatrische, forensische oder kriminalpsychiatrische
haben Kontakte mit Berufsgenossenschaften, Organisationen         Zwangsbehandlung überwiegend von Männern in Anspruch
von Landwirten und Fischern, Steuerbehörden, Sportvereini-        genommen wird, dagegen jedoch 80 % aller mehr supporti-
gungen und sowohl kirchlichen als auch säkularen Interes-         ven, psychiatrischen und sozialen Stützangebote von Frauen
sensgemeinschaften gute Resultate gezeigt. Wichtig ist hier-      genutzt werden. Eine andere Folgeerscheinung ist die seltene
bei davon auszugehen, dass Männer selten Hilfe suchen, sich       Behandlung von männlicher Depression – als Konsequenz der
ihrer Depression und Suizidalität wenig bewusst sind und auf      geringeren Hilfesuche von Männern, aber auch als Folge der
spezifische Weise angesprochen und motiviert werden müs-          nicht ausreichenden Diagnose männlicher Depressivität [29,
sen. Manchmal führt es hier zu gutem Erfolg, den Begriff der      48].

50   J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (3)
Suizid bei Männern

Dies wiederum unterstreicht die Wichtigkeit, nicht nur die
                                                                  kation zwischen den Geschlechtern zu verbessern. Dies sollte
Zugänglichkeit, sondern auch die Akzeptabilität von Hilfs-
                                                                  auch bedeuten, männliches Erleben von Gefühlen von sozia-
angeboten zu prüfen. So wissen wir, dass Suizidanten vor
                                                                  ler Identität, Signifikanz und existenzieller Sinnhaftigkeit zu
ihrem Suizid wesentlich öfter mit Allgemeinärzten Kontakt
                                                                  berücksichtigen und in nicht-orthodoxer, unideologischer
gehabt haben als mit Psychiatern, unter ihnen wiederum sehr
                                                                  Weise Verständnis zu schaffen für traditionelle männliche
viel mehr Frauen als Männer, was sicherlich als Angst vor
                                                                  Bedürfnisse nach Integrität, Stolz, Status und Würde – auch in
Stigmatisierung und als fehlendes männliches Hilfesuchen
                                                                  heutigen und modernen Gesellschaften des Umbruchs der
gedeutet werden muss. Trotz allem muss gesagt werden, dass
                                                                  Geschlechterrollen.
männliche Depression behandelt und männlichen Suiziden
vorgebeugt werden kann. Sowohl antidepressive, pharmako-          Anstrengungen dieser Art müssen selbstverständlich einge-
logische als auch psychotherapeutische Behandlungsange-           bunden werden in die Anforderungen einer modernen Gesell-
bote, die geschlechtersensibel zugeschnitten mit empathi-         schaft, männliche traditionelle Wertungen, Machtstrukturen,
scher Professionalität angeboten werden, können hier die          Blindheiten und unrealistische Ich-Ideale zu überdenken und
Compliance und das Vertrauen schaffen, das für gute thera-        zu verändern. Ein sich ausbreitender professioneller Fokus
peutische Resultate notwendig ist.                                auf eine „personenzentrierte Psychiatrie“ schafft hier ent-
                                                                  scheidende Möglichkeiten, individualisiert, narrativ und ge-
„ Genderspezifische wissenschaftliche                             schlechtspezifisch Prävention, Diagnostik und Behandlung
  Herausforderungen                                               männlicher Depression und Suizidalität zu verbessern. Ent-
                                                                  sprechende Strategien sollten auf die spezifische Stärke und
Weitere Forschung, sowohl was die Ursachen als auch die           Verletzlichkeit, die spezifischen Rollenerwartungen und
Strategien zur Vorbeugung und Behandlung männlicher De-           Schwächen von Männern fokussieren, besonders das männli-
pression und Suizidalität angeht, muss in größerem Umfang         che Bedürfnis nach Status, professioneller Identität und sozi-
als bisher genderspezifisch durchgeführt werden und dann          aler Würde berücksichtigen und damit männlichem Aus-
auch zu personenzentrierten genderspezifischen Programmen         agieren und gewaltsamer Überkompensation bei Kontroll-
führen. Alter, Ethnizität, demographische Faktoren, Sexuali-      verlust und Hilflosigkeit entgegenzuwirken.
tät und kulturelle Phänomene mit Hinblick auf männliche
Identität, soziales Selbstbild und familiäre Rolle müssen hier    Der Autor verneint Interessenkonflikte.
berücksichtigt werden. Suizidforschung sollte berücksichti-
gen, dass genderspezifisches suizidales Verhalten unter-
schiedlich typologisiert werden kann. Zum einen findet man         „ Relevanz für die Praxis
aggressive entschlossene Suizidversuche, die meist zum             Die geschlechtsspezifische personenbezogene Diagnostik
suizidalen Tod führen und – wenn sie missglücken – dann            und Therapie psychischer Erkrankungen, insbesondere
doch als missglückte Suizide klassifiziert werden müssen.          depressiver Zustände und von Selbstmordneigung ist ein
Diese Art von suizidalen Handlungen wird vorwiegend von            neues und zunehmend wichtiges Feld öffentlicher und indi-
Männern begangen. Andere suizidale Verhaltensweisen sind           vidueller Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbehand-
repetitiv, multipel und weniger entschlossen und haben oft         lung. Die allzu frühzeitige Sterblichkeit von Männern in
appellativen Charakter. Sie werden vorwiegend von Frauen           individueller und gesellschaftlicher Krise wird hierbei als
begangen [15–17]. Diese Suizidversuche haben oft den Cha-          bedeutendes Problem öffentlicher Gesundheit erkannt, für
rakter eines Hilferufs und können letztlich als suizidpräventiv    die betroffenen Männer selbst, aber auch ihr Umfeld in der
angesehen werden [14]. Es ist deswegen wissenschaftlich            Familie, bei Freunden, auf Arbeitsplätzen und in der sozia-
fragwürdig, diese demographisch und konsequenzmäßig un-            len Umgebung.
terschiedlichen Typen suizidalen Verhaltens als „selbstschä-
digend“ in einer einzigen Kategorie zusammenzufassen, was          Die Kosten und das Leiden, die direkt und indirekt mit un-
aus statistischen Gründen immer wieder geschieht und sichere       erkannter und unbehandelter männlicher Depressivität,
wissenschaftliche oder klinisch relevante Schlussfolgerungen       von ihr bedingter Gewalt, Selbstdestruktivität, Krankheit
aufgrund der Heterogenität des Materials trotz gesteigerter        und gesellschaftlichem Stress verknüpft sind, sind immens.
statistischer „Power“ dennoch erschwert.                           Europäische Regierungen, vor allem in Osteuropa, sowie
                                                                   internationale Organisationen wie die WHO und die Euro-
„ Schlussfolgerung und Ausblick                                    päische Union, haben das Problem identifiziert, Maßnah-
                                                                   men angemahnt und Projekte initiiert.
Eine hohe Suizidrate bei Männern scheint ein sicherer Indika-      Eines der Hauptprobleme hierbei ist die mangelhafte Er-
tor für Defizite männlicher psychischer Gesundheit und             kennung männlicher Depression und Suizidalität und die
männlichen Wohlbefindens zu sein. In Anbetracht der beson-         männliche Unwilligkeit, Hilfsangebote konventioneller
ders starken Verknüpfung von Depression und Suizidalität           Art in Anspruch zu nehmen.
bei Männern entsteht hier die große Herausforderung, Vor-
                                                                   Im Hinblick auf dieses fehlende Hilfesuchenverhalten und
aussetzungen und Bestimmungsfaktoren männlichen Wohl-
                                                                   die alexithymische Unfähigkeit von Männern, eigene De-
befindens und männlicher Gesundheit sowohl individuell als
                                                                   pression zu erkennen und Schwäche und Hilfebedürfnis
auch auf gesellschaftlicher Ebene zu verbessern. Dies sollte
                                                                   rechtzeitig zu signalisieren, wird Hilfe in neuer Art ange-
bedeuten, Mängel an männlicher Autonomie auszugleichen,
                                                                   boten werden müssen. Screeninginstrumente und aufsu-
der Hilflosigkeit immer größerer Männergruppen entgegen-
                                                                   chende Strategien – auf Arbeitsplätzen und in Familien, in
zuarbeiten und eine wechselseitige Toleranz und Kommuni-

                                                                                       J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (3)   51
Suizid bei Männern

                                                                                                   of Depression. Acta Psychiatr Scand 1992;         37. Jorm AF, Kelly CM, Wright A, Parslow RA,
  Gemeinden, Vereinen und Gewerkschaften – sind gefor-                                             85: 83–88.                                        Harris MG, McGorry PD. Belief in dealing
                                                                                                                                                     with depression alone, results for community
  dert.                                                                                            26. Rihmer Z, Rutz W, Pihlgren H. Depression
                                                                                                                                                     surveys of adolescents and adults. J Affect
                                                                                                   and suicide on Gotland. An intensive study of
                                                                                                                                                     Disord 2006; 96: 59–65.
  Lösungsmodelle, teilweise in der Praxis erprobt, wurden in                                       all suicides before and after a depression
                                                                                                   training programme for general practitioners.     38. De Leo D, Cerin E, Spathonis K, Burgis S.
  in diesem Kapitel aufgezeigt. Eine weitere Steigerung des                                        J Affect Disord 1995; 35: 147–52.                 Life time risk of suicidal ideation and attempts
  Problembewusstseins sowohl professioneller als auch poli-                                        27. Isaksson G. Suicide prevention – a medi-      in an Australian community, prevalence, sui-
                                                                                                   cal breakthrough. Acta Psychiatr Scand 2000;      cidal process, and help-seeking behaviour.
  tischer Entscheidungsträger ist jedoch vonnöten. Weitere                                                                                           J Affect Disord 2005; 86: 215–24.
                                                                                                   102: 113–7.
  Evalierungsforschung und Strategieentwicklung sind an-                                           28. Rutz W, von Knorring L, Pihlgren H, Rihmer    39. Rutz W. Social psychiatry and public men-
  gezeigt und mögliche Wege wurden beschrieben.                                                    Z, Wålinder J. Prevention of male suicides,       tal health – present situation and future ob-
                                                                                                   lessons from the Gotland study. Lancet 1995;      jectives. Time for rethinking and renaissance?
  Gefordert ist auch eine Verbesserung der Kommunikation                                           345: 524.                                         Acta Psychiatr Scand 2006; 113 (Suppl 429):
                                                                                                                                                     95–100.
  zwischen den Geschlechtern, ein gesteigertes Interesse an                                        29. Angst J, Gamma A, Gastpar M, Lépine JP,
                                                                                                                                                     40. Levav I et al. World Health Organisation –
                                                                                                   Mendlewicz J, Tylee A; Depression Research
  familienbezogener Aufklärungsarbeit und eine Zusam-                                              in European Society Study. Gender differences     Regional Office for the Americas (PAHO).
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                                                                                                   the European DEPRES I and II studies. Eur Arch    41. World Health Organisation. The World
  sellschaft – wie dem Arbeits- und Ausbildungssektor, dem                                         Psychiatry Clin Neurosci 2002; 252: 201–9.        Health Report 2001. Mental Health, new
  sozialen Sektor, der Krankheits- und Gesundheitsfürsorge                                         30. Bech P. Male depression. Stress and ag-       understanding, new hope, World Health
                                                                                                   gression as pathways to major depression.         Organisation, Geneva, 2001.
  und der Justiz. Dabei bedarf es eines multiprofessionellen,
                                                                                                   In: Davson A, Tylee A (eds). Depression – so-     42. World Health Organisation. World Health
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                                                                                                   Journal Books, London, 2001; 63–6.                tion, Geneva, 2003,
  Männlicher Depressivität und Suizidalität und ihren viel-                                        31. Szadoczky E, Rihmer Z, Papp Z, Vitrai J,      43. Rutz W, von Knorring L, Wålinder J,
  fältigen Folgen kann vorgebeugt werden. Sie kann erkannt,                                        Füredi J. Gender differences in major depres-     Wistedt B. Effect of an educational program
  behandelt und überwacht werden.                                                                  sive disorder in a Hungarian community sur-       for general practitioners on Gotland on the
                                                                                                   vey. Int J Psychiatry Clin Pract 2002; 6: 31–7.   pattern of prescription of psychotropic drugs.
  Psychiatrie und allgemeinärztliche Versorgung stehen hier                                        32. Egeland JA, Hostetter AM, Eshleman SK.        Acta Psychiatr Scand 1990; 82: 399–403.
                                                                                                   Amish study III, the impact of cultural factors   44. Rutz W. [Male depression and Gotland
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                                                                                                   PE, Skodol AE, Schwartz S, Link BG, Naveh G.      suffering from depression, the need for com-
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                                                  25. Rutz W, von Knorring L, Wålinder J. Long-
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13. Jackson ED, Payne JD, Nadel L, Jacobs         general practitioners given by the Swedish         ternational Mental Health“.
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52       J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (3)
Mitteilungen aus der Redaktion

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