Der Aufstieg Chinas und das neue strategische Konzept der Nato
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NR. 5 JANUAR 2022 Einleitung Der Aufstieg Chinas und das neue strategische Konzept der Nato Prioritäten setzen – Platz definieren – Partnerschaften vertiefen Markus Kaim / Angela Stanzel Chinas weltpolitischer Aufstieg erschüttert regional wie global etablierte Macht- verhältnisse und stellt westliche Ordnungsvorstellungen zunehmend in Frage. Auch die Nato sieht sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich mit den von China aus- gehenden Herausforderungen zu beschäftigen. Wie die Allianz diese Bedrohungen angehen sollte, wird unter ihren Mitgliedern jedoch unterschiedlich bewertet. China wird ein neuer Schwerpunkt des nächsten strategischen Konzepts der Nato sein, das beim Gipfel im Juni 2022 in Madrid verabschiedet werden wird. Dabei sollte die Nato für sich einen Platz innerhalb des Gefüges euro-atlantischer Institutionen definieren, sodass mögliche Aktivitäten des Bündnisses gegenüber China Wirkung entfalten, Maßnahmen anderer Organisationen aber nicht dupliziert werden. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte sicherheitspolitische Bedeutung der Volks- vor dem Nato-Gipfel am 14. Juni 2021 in republik gerichtet. Lange Zeit dominierte einem Interview, die Nato-Mitgliedstaaten eine Sicht, der zufolge die Allianz und Pe- müssten eine gemeinsame Politik gegen- king eine Reihe gemeinsamer Interessen in über einem zunehmend aggressiven China der internationalen Politik verfolgten, so entwickeln. »China teilt nicht unsere Wer- etwa in den Bereichen Krisenmanagement, te«, so Stoltenberg, und Sorgen bereite auch Pirateriebekämpfung und Einhegung der der »Einsatz von moderner Technologie, Proliferation von Massenvernichtungswaf- sozialen Netzwerken und Gesichtserken- fen. Letztlich aber blieben der Umfang der nung zur Überwachung der Bevölkerung in Zusammenarbeit und die Zahl hochrangi- einem bislang nicht gekannten Maß«. ger diplomatischer Kontakte deswegen be- Stoltenberg resümierte: »All dies bedeutet, grenzt, weil sich die Nato als euro-atlanti- dass es wichtig für die Nato ist, unsere sche Sicherheitsorganisation begreift, die Politik hinsichtlich China zu stärken.« von Entwicklungen im indopazifischen Damit vollzog die Allianz endgültig eine Raum nur am Rande betroffen sei. Erst der Kehrtwende. Schließlich haben die Staats- weltpolitische Aufstieg Chinas sowie die und Regierungschefs der Nato ihr Augen- daraus resultierende Rivalität mit den USA merk erst vergleichsweise spät auf die in den letzten Jahren hat die Sicht der Nato
auf China verändert und bewirkt, dass den Herausforderungen beschäftigen zu Pekings Außenpolitik inzwischen auf der müssen. Das neue strategische Konzept, das Agenda des Bündnisses steht. im Juni 2022 verabschiedet werden wird, ist das Leitdokument, anhand dessen die Allianz diesen Konsens in kohärente und Peking auf der Nato-Agenda angemessene Maßnahmen umsetzen muss. Die Nato hat sich in ihrer Londoner Erklä- rung von 2019 erstmals der Volksrepublik Prioritäten der Nato-Mitglieder als sicherheitspolitische Herausforderung gewidmet: »Wir erkennen an, dass Chinas Die Mitglieder der Allianz bewerten die geo- wachsender Einfluss und die internationale politische Herausforderung seitens Chinas Politik sowohl Chancen als auch Heraus- graduell wie prinzipiell unterschiedlich. forderungen bieten, die wir als Allianz Vor allem die USA möchten sich die Nato gemeinsam angehen müssen.« In seinem bei der Austragung ihres Systemkonflikts jüngsten Jahresbericht vom März 2021 mit China zunutze machen. Andere geben bekräftigte der Nato-Generalsekretär diese der Bedrohung durch Russlands revisioni- etwas ambivalente Position der Nato zu stische Außenpolitik Vorrang. Wieder ande- China: »Der Aufstieg Chinas stellt für die re wollen die Gefährdung durch terroristi- Nato sowohl Herausforderungen als auch sche Gruppierungen und Cyberangriffe in Chancen dar. Die Nato ist bestrebt, eine den Mittelpunkt der Nato-Planungen stellen. konstruktive Beziehung zu China aufrecht- Politisch nachvollziehbar ist, dass die zuerhalten, die auf gegenseitigem Respekt Nato-Mitglieder versuchen, die genannten und gemeinsamen Interessen beruht. Auf Sicherheitsbedenken mit ihren jeweiligen dieser Grundlage hat die Nato auch im Jahr Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu 2020 den Dialog mit China fortgesetzt, um China in Einklang zu bringen. Besonders das gegenseitige Verständnis zu verbessern, für die EU und Deutschland ist das eine Missverständnisse auszuräumen und einen schwierige Aufgabe. Entsprechend vieltönig Raum zu schaffen, in dem Meinungsver- klangen die Staats- und Regierungschefs in schiedenheiten angesprochen werden kön- Brüssel: Während des Gipfels vertrat die nen.« Gleichzeitig konstatierte Stoltenberg, Bundesregierung eine relativ weiche Linie nicht die Nato sei näher an China heran- gegenüber China und erklärte, dass »vor gerückt, sondern China an die Nato – allen Dingen auch Russland eine große Her- nämlich durch sein Handeln in der Arktis ausforderung« für die Nato und »China in und in Afrika, durch seine Investitionen in vielen Fragen ein Rivale und gleichzeitig kritische Infrastruktur in Europa sowie in für viele Fragen ein Partner« sei. Der franzö- seinen Aktivitäten im Cyber- und Informa- sische Präsident Emmanuel Macron stellte tionsraum. derweil die Frage, ob die Nato überhaupt Vor diesem Hintergrund war der Brüsse- das richtige Format sei, um die Art von ler Gipfel der Nato am 14. Juni 2021 beson- Herausforderungen zu bewältigen, die von ders bemerkenswert, denn im Gipfel-Kom- China ausgehen. Er unterstrich, dass »die muniqué wurde China in ungewöhnlicher Nato eine nordatlantische Organisation ist, Offenheit als destabilisierende Kraft und China nichts mit dem Nordatlantik zu tun systemische Herausforderung bezeichnet, hat« und »wir unsere Beziehung zu China deren Agieren die regelbasierte internatio- nicht einseitig betrachten sollten – sie ist nale Ordnung bedrohe. Obwohl die Nato in viel größer als nur das Militär«. ihrer Erklärung vermied, China als direkte Angesichts dieser unterschiedlichen Posi- Bedrohung für das Bündnis darzustellen, tionen war die Nato bislang weder in der ließ sie erkennen, dass unter ihren Mitglie- Lage, ihre politischen Zuständigkeiten in dern grundsätzlich Konsens besteht, sich Bezug auf die Volksrepublik China festzu- mit den von der Volksrepublik ausgehen- legen, noch eine klare Politik zu definieren, SWP-Aktuell 5 Januar 2022 2
mit der sie die durch China hervorgerufe- Hafenbetreibern. Offen ist, ob die Nato-Län- nen sicherheitspolitischen Herausforderun- der diese Häfen verlässlich nutzen können, gen bewältigen will. Dass das Land im Nato- sollte die Allianz Europa verteidigen müs- Kommuniqué erwähnt wird, signalisiert sen. Es ist zumindest nicht selbstverständ- einen vorsichtigen, bisher aber lediglich lich, dass die chinesischen Eigentümer ihr rhetorischen Konsens über die Natur der erlauben werden, Schiffe in diesen Häfen Aufgaben, die dem Bündnis aus Chinas aufzutanken, zu versorgen oder zu reparie- Aufstieg erwachsen. Schwerer wird es der ren. Die europäischen Nato-Partner sind Allianz fallen, aus diesem Konsens heraus sich dieser potentiellen Beschränkung zu- gemeinsam konkrete Ziele und Schritte nehmend bewusst. zu bestimmen, um diese Aufgaben zu Besondere Sorge bereiten den Nato- meistern. Mitgliedern drittens die Versuche Chinas, europäische Positionen zu politischen Fragen zu beeinflussen und Differenzen Dimensionen der chinesischen zwischen europäischen Ländern zu ver- Herausforderung tiefen, indem es beispielsweise die wirt- schaftlichen Abhängigkeiten ausnutzt, die Es ist nichts Neues, dass Chinas Aufstieg es durch seine Seidenstraßeninitiative andere Staaten und internationale Organi- (Belt and Road Initiative, BRI) erzeugt hat. sationen vor neue Herausforderungen stellt, So dienen Pekings Bemühungen, europäi- da er regional wie global etablierte Macht- sche Regierungen mit chinesischen Inve- verhältnisse erschüttert und weltanschau- stitionen zu locken, nicht zuletzt dazu, die liche Alternativen zu westlichen Ordnungs- EU nicht nur ökonomisch, sondern auch vorstellungen stärkt. Interessant ist, wie politisch zu spalten. jeder einzelne Akteur in der internationa- Viertens haben chinesische Cyberangriffe len Politik sich je nach Aufgabengebiet, auf europäische und amerikanische Firmen innerer Verfasstheit und unterschiedlicher sowie andere Formen militärtechnischer Betroffenheit darauf einstellt. Der Nato und Spionage massiv zugenommen. Laut dem ihren Mitgliedern könnten mehrere Aus- Bericht des deutschen Verfassungsschutzes prägungen von Chinas Verhalten zusetzen. 2020 demonstrierten in den vergangenen Da sind erstens Pekings Versuche, chine- Jahren chinesische Cyberakteure eine be- sische Technologieunternehmen in die achtliche technologische Weiterentwick- digitale Infrastruktur westlicher Länder zu lung bei der Verschleierung ihrer Angriffe. integrieren und so Einfluss auf diese zu In der Vergangenheit konzentrierten sich nehmen. Dies ist besonders relevant für die die Attacken chinesischer Cyberakteure vor anhaltende Debatte in Europa über die allem auf wirtschaftliche Akteure. Seit 2019 drahtlose Technologie der fünften Genera- traten Angriffe auf politische Ziele durch tion (5G). mutmaßlich chinesische Stellen hinzu. Ein zweites Thema ist Chinas zunehmen- Für die größten Bedenken, und zwar im des Interesse an Investitionen in Europas engsten sicherheitspolitischen Sinne, sorgt kritische Infrastrukturen. Neben Stromnet- fünftens die zunehmende Nähe zwischen zen, 5G-Netzwerken, Smart-City-Projekten, China und Russland – besonders die mili- Unterseekabeln und vielem mehr zeigen tärische Zusammenarbeit der beiden Staa- chinesische Staatsunternehmen und deren ten. Noch ist der Umfang russisch-chinesi- teils als Privatfirmen getarnte Tochter- scher Militärkooperation sehr begrenzt und gesellschaften ein hohes Interesse an Häfen, nicht Ausdruck einer strategischen Fest- besonders in europäischen Nato-Staaten. legung beider Seiten. Im Jahr 2015 schlossen Die chinesische Staatsreederei Cosco und sich drei Schiffe der chinesischen Marine ihr Schwesterunternehmen China Merchant dem russischen Flottenverband im östlichen besitzen schon in 14 europäischen Häfen Mittelmeer für eine fünftägige Marine- eigene Terminals oder halten Anteile an übung an – Chinas und Russlands erste SWP-Aktuell 5 Januar 2022 3
Kooperation dieser Art in der Peripherie Grenzgebieten, mit den Anrainern im Ost- Europas. 2017 entsandte China im Rahmen und im Südchinesischen Meer und mit einer achttägigen Übung einen Zerstörer, Taiwan, das von China aktiv bedroht wird. eine Fregatte und ein Versorgungsschiff in die russische Exklave Kaliningrad. In der Ostsee war dies die erste solche Militär- Der Blick aus Peking auf die Nato übung und ist bislang die einzige geblieben. Überschaubar ist auch die bisherige Zusam- Aus Peking folgten postwendend Reaktio- menarbeit bei den Landstreitkräften: Im nen auf den Nato-Gipfel vom Juni 2021. Jahr 2018 erregte Chinas Teilnahme an Laut Chen Weihua, Chef des Brüsseler Russlands groß angelegter Militärübung Büros der China Daily, könne die Tatsache, Wostok-18 zwar erhebliche mediale Auf- dass China auf dem Nato-Gipfel erstmals merksamkeit, doch stellte China nicht mehr ausdrücklich erwähnt worden sei, »ein als 3.000 der beteiligten 300.000 Soldaten. Wettrüsten auslösen und den Weltfrieden Außerdem beschränkte sich Chinas militä- untergraben«. Die Global Times hatte schon rische Präsenz während des Manövers auf vor dem Nato-Gipfel gewarnt, die Nato- die Regionen östlich des Baikalsees. Mitglieder könnten, »um den USA zu gefal- Gleichwohl ist eine wachsende Interessen- len«, den Weltfrieden bedrohen, indem konvergenz und strategische Koordination sie »imaginäre Feinde« (nämlich China) zwischen China und Russland nicht zu schüfen. Seit Ende des Kalten Krieges und übersehen – immer öfter auch in Europa. dem Zusammenbruch des Warschauer Dies trifft nicht nur auf die militärische Pakts habe die Nato nämlich ihre Existenz- und militärtechnische Zusammenarbeit zu. berechtigung verloren. Das entspricht dem Es gilt auch für die Rohstoffförderung in herrschenden chinesischen Narrativ, dem der Arktis, den Ausbau von Internetzensur, zufolge die amerikanische Hegemonie im die 5G-Netz-Entwicklung (für die Russland Niedergang begriffen sei. Diesen »Befund« Huawei als vertrauenswürdigen Anbieter macht die Führung in Peking zum Dreh- akzeptiert hat) sowie für Dual-Use-Techno- und Angelpunkt ihrer Außenpolitik. Im logien wie Weltraumsysteme, Satelliten- Kontext des globalen Systemwettbewerbs navigation, Softwareentwicklung und un- wird so das Mantra »Der Westen steigt ab bemannte Systeme. Russland und China und der Osten steigt auf« immer häufiger öffnen ihre strategische Kooperation zudem wiederholt. Wenig überraschend werteten vermehrt für Drittländer. So fand im No- die chinesischen Medien den Abzug von vember 2019 die erste trilaterale russisch- USA und Nato aus Afghanistan im August chinesisch-südafrikanische Marineübung 2021 als weiteren Beleg für Schwäche, Un- statt, gefolgt von einer russisch-chinesisch- entschlossenheit und mangelnde Attrak- iranischen Marineübung im Indischen tivität der westlichen Allianz. Ozean im Monat darauf. In der chinesischen Lesart benutzen die Darüber hinaus betreffen Chinas militä- USA die Nato nicht zuletzt als Instrument, rische Ambitionen in Asien und besonders um die EU und Europa zu dominieren. im Indopazifik die Nato-Mitglieder, allen Washington wolle die Systemkonfrontation voran die USA. China nutzt seine verstärkte mit der Volksrepublik verschärfen und Beteiligung an Friedensmissionen der dabei auch die EU und andere Verbündete Vereinten Nationen, um seinen Soldaten gegen China aufbringen. Chen Weihua ging Operationserfahrung zu verschaffen, leistet aber davon aus, dass viele Nato-Mitglieder damit zugleich aber auch einen Beitrag zu die Haltung der USA nicht teilen würden, Stabilität und Sicherheit in Krisenregionen, wonach das Bündnis sich im »Kalten Krieg« vor allem in Afrika. In ihrer unmittelbaren mit China befinde. Er rief sie auf, sich nicht Peripherie dagegen befeuert die Volksrepu- von den USA manipulieren zu lassen. blik Konflikte mit ihren Nachbarn, zum Hier ist allerdings zu unterscheiden Beispiel mit Indien in chinesisch-indischen zwischen der offiziellen Rhetorik und den SWP-Aktuell 5 Januar 2022 4
tatsächlichen Sorgen der chinesischen Füh- im indopazifischen Raum spielen können rung hinsichtlich der Nato. Denn die chine- – nicht weil sie dessen politische Bedeu- sischen Überlegungen folgen einer simplen, tung nicht anerkennen wollen, sondern vor aber zutreffenden Analyse: Je mehr militä- allem weil sie nicht in der Lage sind, den rische Fähigkeiten vor allem die USA aus amerikanischen Verbündeten wirksame dem euro-atlantischen Raum abziehen, um militärische Unterstützung zu bieten. Eine sie in den Indopazifik zu verlegen, desto militärische Rolle in Asien würde eine weniger Raum bleibt für Chinas Aufstieg. gewaltige Anstrengung bedeuten. Mit den Pekings größte Befürchtung ist, dass die derzeitigen maritimen Fähigkeiten und Nato eines Tages zum militärisch global Verteidigungsbudgets der europäischen agierenden Akteur avancieren und Chinas Staaten ist sie in den kommenden Jahren Präsenz im Indopazifik als Teil der militä- nicht zu bewältigen. Ebenso unwahrschein- rischen Bedrohung für den euro-atlanti- lich ist, dass sich die Europäer politisch schen Raum definieren könnte. auf ein militärisches Engagement in Asien Europa spielt in der chinesischen Wahr- einigen. nehmung bislang eine untergeordnete Chinas militärischer Aufstieg im Indo- Rolle, weckt aber verstärkt Pekings Wach- pazifik ist zunächst auch keine direkte mili- samkeit. Es ist der Führung um Präsident Xi tärische Bedrohung für die Nato. Ohnehin Jinping keineswegs entgangen, dass Frank- gehört Asien nicht zum geographischen reich, Großbritannien und die Niederlande Einflussgebiet der Allianz. Beides läuft dem inzwischen eigene Flottenverbände in der Bestreben der USA zuwider, die Nato-Mit- indopazifischen Region stationiert haben glieder sicherheitspolitisch stärker in Asien oder dorthin entsenden. Zudem hat die einzubinden. Nicht einmal Chinas Vor- Bundesmarine im August 2021 die Fregatte rücken in die europäische Peripherie, be- Bayern in den Pazifik geschickt. Damit woll- sonders im militärischen Schulterschluss te Deutschland ein Signal gegen die chine- mit Russland, stellt eine unmittelbare sischen Machtansprüche dort setzen, auf Bedrohung dar. die Regelbasiertheit der internationalen wie Neben der sich abzeichnenden mili- regionalen Ordnung pochen und sich als tärischen Zusammenarbeit Russlands und sicherheitspolitischer Partner asiatischer Chinas beunruhigen vielmehr die wirt- Staaten anbieten. Als freundliche Geste in schaftlichen und politischen Herausforde- Richtung Peking war ein Besuch der deut- rungen, die sich aus Pekings Vorgehen im schen Fregatte in China geplant. Diesen euro-atlantischen Raum ergeben. Chinas lehnte die chinesische Führung jedoch ab Investitionen in Häfen und andere Infra- und machte damit klar, dass sie ein ver- strukturen sind Ausdruck seines Strebens, stärktes sicherheitspolitisches Engagement westliche Wirtschaftsprozesse zu beeinflus- Deutschlands im Indopazifik grundsätzlich sen, indem es, wenn auch schrittweise und zurückweist. subtil, Abhängigkeiten schafft und dann von diesen zu profitieren sucht. Peking be- weist dabei große Geduld und plant seinen Die Grenzen der Nato Wettbewerb mit dem Westen auf lange Sicht. Chinesische Investitionen sollen ein Die Vorstöße der europäischen Nato-Staa- Einflusspotential aufbauen, auf das sich ten in den indopazifischen Raum werden zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen vor allem von Beobachtern und Autoren lässt und das in der Zwischenzeit die demo- befürwortet, die nach einer (militärischen) kratischen politischen Systeme anfälliger China-Strategie der Nato rufen. Europa sind Nationen untergraben kann. aber militärisch enge Grenzen gesetzt. So Pekings Politik, in wichtige europäische werden die europäischen Nato-Mitglieder Häfen und technologische Infrastrukturen mit Ausnahme Großbritanniens und Frank- zu investieren und diese teilweise zu besit- reichs keine gewichtige militärische Rolle zen, erfordert vor allem eine wirtschaftliche SWP-Aktuell 5 Januar 2022 5
oder politische Reaktion. Dafür ist die Nato mittelbarste Bedrohung. Die militärische nicht gut gerüstet. Daher sollte sie ver- Herausforderung durch Moskau entspricht meiden, etwas anderes zu suggerieren und genau einer jener Aufgaben, für die das China so ungewollt zu einer militärischen Bündnis vor über siebzig Jahren geschaffen Gefahr für den euro-atlantischen Raum zu wurde und die entsprechenden Instrumen- überhöhen. Einzelne Nato-Mitgliedstaaten te entwickelt hat. Die Nato sollte die rus- und vor allem die EU mit ihren jeweiligen sisch-chinesische militärische Zusammen- politischen Kompetenzen verfügen über arbeit aufmerksam verfolgen, aber kein mehr Instrumente als der Akteur Nato, um Missverständnis darüber aufkommen lassen, mit einem außenpolitisch ambitionierten dass Russland die größere Wachsamkeit China umzugehen. Bis China tatsächlich verlangt. Alles andere wäre für zahlreiche eine militärische Bedrohung im Nordatlan- Mitglieder nicht akzeptabel, würde einen tikraum darstellen könnte, vermag die Nato Keil in die Allianz treiben und so die not- als Institution, die zur regionalen kollekti- wendige innere Geschlossenheit gefährden. ven Verteidigung geschaffen wurde, nur Gleiches gilt für die chinesische Heraus- eine begrenzte, wenngleich nicht unwichti- forderung: Bislang besteht in der Allianz ge Rolle bei der Bewältigung der Pekinger nur wenig Einigkeit darin, welchen Part sie Herausforderung zu spielen. im Umgang mit Peking spielen sollte. Vieles bleibt vage, Differenzen werden mit diplo- matischen Floskeln überspielt, hauptsäch- Vorschläge für eine China-Agenda lich weil niemand die »Wiederentdeckung« der Nato durch die Regierung von Präsident Die Nato sollte erstens ihre eigenen Möglich- Biden gefährden möchte. So wie die Einheit keiten beim Umgang mit den nichtmili- des Bündnisses angesichts der russischen tärischen Bedrohungen seitens Chinas reali- Aggression von entscheidender Bedeutung stisch einschätzen. Angesichts der skizzier- ist, so sollte die Nato auch in der China- ten Differenzen innerhalb des Bündnisses Frage eine Spaltung vermeiden. über die Interessen an sowie die Perzeptio- Zudem wird Chinas Rüstungsentwicklung nen von China kann es nicht darum gehen, sicherstellen, dass die Allianz weiterhin ein ein alle Aktivitäten der Allianz überwölben- nukleares Bündnis bleiben wird. Pekings des neues Handlungsparadigma für die Rüstungspolitik könnte drittens mittelfristig kommenden Jahre zu formulieren – eine eine Anpassung der Nato-Nuklearstrategie Art China-Doktrin der Nato. Vielmehr sollte erfordern, denn China ist eine Atommacht die Allianz für sich einen Platz im komple- mit strategischer Reichweite. Erst im Som- xen Gefüge euro-atlantischer Institutionen mer 2021 wurden Berichte bekannt, denen definieren, sodass mögliche Aktivitäten des zufolge China mit dem Bau von 250–300 Bündnisses funktional Sinn ergeben, ent- neuen Silos für Interkontinentalraketen sprechende Planungen anderer Organisatio- begonnen hat. Das könnte auf eine bedeu- nen aber nicht dupliziert werden. Aller- tende Erweiterung der nuklearen Fähig- dings müssten sich die politischen Entschei- keiten Pekings hinweisen. Solange die Län- dungsträger der Mitgliedstaaten weiterhin der des euro-atlantischen Raums von irgend- auf eine robuste konventionelle und nukle- einem Punkt der Welt einer atomaren Be- are Abschreckung durch die Allianz ver- drohung ausgesetzt sind, wird die Nato ein lassen können. nukleares Bündnis bleiben. Die Allianz sollte sich zweitens weder ver- Zugleich sollten die Nato-Mitglieder zetteln noch ablenken lassen, sondern die ihre Bestrebungen intensivieren, China in bestehenden sicherheitspolitischen Heraus- Rüstungskontroll- und Abrüstungsverein- forderungen klar priorisieren. Für die Nato barungen einzubeziehen. So hat Nato- bleibt bis auf weiteres, schon aufgrund der Generalsekretär Jens Stoltenberg in seinem geographischen Nähe, Russlands aggressive Gespräch mit dem chinesischen Außen- und revisionistische Außenpolitik die un- minister Wang Yi am 27. September 2021 SWP-Aktuell 5 Januar 2022 6
nicht nur grundsätzlich die Beziehungen durch regelmäßige militärische Übungen zwischen der Nato und China erörtert und (vor allem Luft-, See- und Spezialkräfte- den sich ausweitenden Dialog zwischen übungen), darunter auch solche, die der den beiden Akteuren begrüßt. Stoltenberg Freiheit der Schifffahrt dienen. Derartige forderte Peking zudem auf, sich in puncto Unternehmungen unter der Flagge der Nato nukleare Fähigkeiten und Nukleardoktrin wären eine sinnvolle Ergänzung zu den Chinas sinnvoll am Dialog, an vertrauens- amerikanischen See- und Luftübungen im bildenden Maßnahmen und an Transpa- Pazifik, an denen seit Langem auch euro- renzmaßnahmen zu beteiligen. Er betonte, päische Verbündete teilnehmen. An frühe- dass sowohl die Nato als auch China von ren RIMPAC (Rim of the Pacific)-Übungen einem Dialog über Rüstungskontrolle profi- der USA beteiligten sich beispielsweise Mili- tieren würden. Schon geraume Zeit verlan- tärflugzeuge, Schiffe und Stäbe aus Däne- gen die USA, dass China an den Verhand- mark, Deutschland, Frankreich, Großbritan- lungen über das New-Start-Abkommen teil- nien, Kanada, den Niederlanden und Nor- nimmt. Die Volksrepublik weigert sich wegen. aber bis heute, über ihr wachsendes Atom- Für eine optimierte Lagebildgewinnung waffenarsenal zu verhandeln. Umso ener- und einen entsprechenden Informations- gischer sollten auch die EU-Mitglieder in austausch wäre es sechstens von Vorteil, im ihrem Dialog mit der Volksrepublik ver- indopazifischen Raum und dort vielleicht suchen, China an den Verhandlungstisch in einem der Partnerstaaten ein Center of zu holen, wenn es um nukleare Rüstungs- Excellence einzurichten. Eine solche Initia- kontrolle geht. tive trüge dazu bei, das Verständnis der Angesichts der skizzierten internen Dif- Allianz für den indopazifischen Raum zu ferenzen erscheint es fraglich, ob die Nato verbessern, ihre Präsenz in der Region zu eine Militärstrategie eigens für China for- institutionalisieren und die Partner besser mulieren sollte. Denn lediglich für einige mit den Aufgaben, Strukturen und Abläu- ihrer Mitglieder ist China ein wichtiger fen der Nato vertraut zu machen. Treiber der Außen- und Sicherheitspolitik. Schließlich gilt es siebentens Form und Dies gilt besonders für die USA und in ge- Themen des direkten Austausches mit ringerem Maß für Kanada, Frankreich und China zu definieren. Ausgangspunkt ist die Großbritannien. Und selbst die strukturelle Annahme, dass die Volksrepublik anzustre- Dominanz der USA in der Allianz entfaltet ben scheint, auf Dauer eine »europäische nur begrenzte Wirkung, da die Nato für Macht« zu werden. Einige Vorschläge zu sie nur eines unter mehreren relevanten einem Nato-China-Dialog oder gar einem Bündnissen ist. Die Nato könnte aber viertens ständigen Nato-China-Rat wurden vor die Mitgliedstaaten ermuntern, ihre jeweili- diesem Hintergrund bereits unterbreitet. gen Strategiedokumente zum Thema China Auch Bundeskanzlerin Merkel hat im zumindest zu koordinieren. Militärische Kontext des Brüsseler Gipfels dafür plädiert, Übungen im Indopazifik und Operationen China ein Angebot zu einem institutiona- für freie Schifffahrt im Südchinesischen lisierten Dialog zu machen. Dieser würde Meer sollten die Mitgliedstaaten auf multi- analog zum Nato-Russland-Rat gebildet lateraler oder bilateraler Ebene abstimmen. werden, dessen Wurzeln bis ins Jahr 2002 Dabei sollten sie auch Nato-Partnerländer zurückreichen. Damit würden die Realität wie Australien, Finnland, Japan, Neusee- von Chinas wachsendem Einfluss und zu- land, Schweden und Südkorea einbeziehen. nehmender Reichweite anerkannt. Die Die Nato sollte außerdem fünftens die Bündnismitglieder würden angespornt, sich Beziehungen zu ihren Partnern im pazifi- mit den von China ausgehenden Heraus- schen Raum vertiefen, das heißt zu Austra- forderungen koordiniert und umfassend zu lien, Neuseeland, Südkorea und Japan. Sie beschäftigen. Ein solches Forum würde sollte die politisch-konsultative Dimension unterstreichen, dass diese Dimension des dieser Verbindungen erweitern, und zwar Großmachtwettbewerbs nicht zwischen SWP-Aktuell 5 Januar 2022 7
China und den Vereinigten Staaten besteht, dazu beitragen, den durch die AUKUS-Ent- sondern zwischen China und der transatlan- scheidung verursachten Schaden abzumil- tischen Gemeinschaft an sich, die durch dern. In einer Zeit, in der Nato und EU ein gemeinsame Werte und Interessen sowie aufeinander abgestimmtes Engagement in eine gemeinsame Geschichte verbunden ist. der indopazifischen Region anstreben, soll- Auch könnte ein Nato-China-Dialog oder ten unkoordinierte und potentiell kon- Nato-China-Rat dazu dienen, Möglichkeiten kurrierende sicherheitspolitische Schritte einer konstruktiven Zusammenarbeit mit vermieden werden. China zu ermitteln und zu fördern, etwa bei der Pirateriebekämpfung. Noch er- © Stiftung Wissenschaft scheint dies verfrüht und angesichts der und Politik, 2022 Spannungen unter den Nato-Partnern Alle Rechte vorbehalten wenig realistisch. Einstweilen wäre es ver- dienstvoll, die Koordinierung der china- Das Aktuell gibt die Auf- politischen Strategiedebatten in der Nato fassung des Autors und der Autorin wieder. und der EU in Gang zu bringen. Als Fehlschlag einer solchen Koordina- In der Online-Version dieser tion muss das im September 2021 verkün- Publikation sind Verweise dete trilaterale Militärbündnis zwischen auf SWP-Schriften und Australien, Großbritannien und den USA wichtige Quellen anklickbar. (AUKUS) im Indopazifik gewertet werden. SWP-Aktuells werden intern Diese Gründung ging mit Australiens einem Begutachtungsverfah- Entscheidung einher, nuklear betriebene ren, einem Faktencheck und (aber nicht nuklear bewaffnete) U-Boote einem Lektorat unterzogen. aus amerikanischer statt, wie ursprünglich Weitere Informationen geplant, französischer Fertigung zu erwer- zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- ben. Die mangelhafte oder gänzlich fehlen- Website unter https://www. de Kommunikation von AUKUS mit Frank- swp-berlin.org/ueber-uns/ reich und der EU hat der transatlantischen qualitaetssicherung/ Allianz diplomatischen (und Frankreich auch wirtschaftlichen) Schaden zugefügt, SWP Stiftung Wissenschaft und den der Sicherheitsgewinn am Pazifik nur Politik schwer ausgleichen dürfte. Deutsches Institut für Das AUKUS-Bündnis wurde gleichzeitig Internationale Politik und mit der am 16. September 2021 vorgelegten Sicherheit Indopazifik-Strategie der EU-Kommission und des Hohen Vertreters der EU ins Leben Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin gerufen. Eine neue Nato-Strategie wäre Telefon +49 30 880 07-0 nicht nur ein erster Schritt auf dem Weg, Fax +49 30 880 07-100 die Präsenz der EU in der indopazifischen www.swp-berlin.org Region zu verbessern. Die Strategie der swp@swp-berlin.org Allianz wäre auch Türöffner für ein kom- ISSN (Print) 1611-6364 biniertes Vorgehen der EU-Mitglieder, wenn ISSN (Online) 2747-5018 es darum geht, die entstandenen Heraus- doi: 10.18449/2022A05 forderungen zu bewältigen. Sie böte einen Ansatz, die Indopazifik-Strategie der EU mit jener der USA zu koordinieren. Ein ent- sprechender künftiger Austausch könnte Dr. habil. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien. SWP-Aktuell 5 Januar 2022 8
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