Der Aufstieg Chinas und das neue strategische Konzept der Nato

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Der Aufstieg Chinas und das neue strategische Konzept der Nato
NR. 5 JANUAR 2022                        Einleitung

Der Aufstieg Chinas und das neue
strategische Konzept der Nato
Prioritäten setzen – Platz definieren – Partnerschaften vertiefen
Markus Kaim / Angela Stanzel

Chinas weltpolitischer Aufstieg erschüttert regional wie global etablierte Macht-
verhältnisse und stellt westliche Ordnungsvorstellungen zunehmend in Frage. Auch
die Nato sieht sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich mit den von China aus-
gehenden Herausforderungen zu beschäftigen. Wie die Allianz diese Bedrohungen
angehen sollte, wird unter ihren Mitgliedern jedoch unterschiedlich bewertet. China
wird ein neuer Schwerpunkt des nächsten strategischen Konzepts der Nato sein, das
beim Gipfel im Juni 2022 in Madrid verabschiedet werden wird. Dabei sollte die Nato
für sich einen Platz innerhalb des Gefüges euro-atlantischer Institutionen definieren,
sodass mögliche Aktivitäten des Bündnisses gegenüber China Wirkung entfalten,
Maßnahmen anderer Organisationen aber nicht dupliziert werden.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte    sicherheitspolitische Bedeutung der Volks-
vor dem Nato-Gipfel am 14. Juni 2021 in        republik gerichtet. Lange Zeit dominierte
einem Interview, die Nato-Mitgliedstaaten      eine Sicht, der zufolge die Allianz und Pe-
müssten eine gemeinsame Politik gegen-         king eine Reihe gemeinsamer Interessen in
über einem zunehmend aggressiven China         der internationalen Politik verfolgten, so
entwickeln. »China teilt nicht unsere Wer-     etwa in den Bereichen Krisenmanagement,
te«, so Stoltenberg, und Sorgen bereite auch   Pirateriebekämpfung und Einhegung der
der »Einsatz von moderner Technologie,         Proliferation von Massenvernichtungswaf-
sozialen Netzwerken und Gesichtserken-         fen. Letztlich aber blieben der Umfang der
nung zur Überwachung der Bevölkerung in        Zusammenarbeit und die Zahl hochrangi-
einem bislang nicht gekannten Maß«.            ger diplomatischer Kontakte deswegen be-
Stoltenberg resümierte: »All dies bedeutet,    grenzt, weil sich die Nato als euro-atlanti-
dass es wichtig für die Nato ist, unsere       sche Sicherheitsorganisation begreift, die
Politik hinsichtlich China zu stärken.«        von Entwicklungen im indopazifischen
   Damit vollzog die Allianz endgültig eine    Raum nur am Rande betroffen sei. Erst der
Kehrtwende. Schließlich haben die Staats-      weltpolitische Aufstieg Chinas sowie die
und Regierungschefs der Nato ihr Augen-        daraus resultierende Rivalität mit den USA
merk erst vergleichsweise spät auf die         in den letzten Jahren hat die Sicht der Nato
auf China verändert und bewirkt, dass          den Herausforderungen beschäftigen zu
                Pekings Außenpolitik inzwischen auf der        müssen. Das neue strategische Konzept, das
                Agenda des Bündnisses steht.                   im Juni 2022 verabschiedet werden wird,
                                                               ist das Leitdokument, anhand dessen die
                                                               Allianz diesen Konsens in kohärente und
                Peking auf der Nato-Agenda                     angemessene Maßnahmen umsetzen muss.

                Die Nato hat sich in ihrer Londoner Erklä-
                rung von 2019 erstmals der Volksrepublik       Prioritäten der Nato-Mitglieder
                als sicherheitspolitische Herausforderung
                gewidmet: »Wir erkennen an, dass Chinas        Die Mitglieder der Allianz bewerten die geo-
                wachsender Einfluss und die internationale     politische Herausforderung seitens Chinas
                Politik sowohl Chancen als auch Heraus-        graduell wie prinzipiell unterschiedlich.
                forderungen bieten, die wir als Allianz        Vor allem die USA möchten sich die Nato
                gemeinsam angehen müssen.« In seinem           bei der Austragung ihres Systemkonflikts
                jüngsten Jahresbericht vom März 2021           mit China zunutze machen. Andere geben
                bekräftigte der Nato-Generalsekretär diese     der Bedrohung durch Russlands revisioni-
                etwas ambivalente Position der Nato zu         stische Außenpolitik Vorrang. Wieder ande-
                China: »Der Aufstieg Chinas stellt für die     re wollen die Gefährdung durch terroristi-
                Nato sowohl Herausforderungen als auch         sche Gruppierungen und Cyberangriffe in
                Chancen dar. Die Nato ist bestrebt, eine       den Mittelpunkt der Nato-Planungen stellen.
                konstruktive Beziehung zu China aufrecht-         Politisch nachvollziehbar ist, dass die
                zuerhalten, die auf gegenseitigem Respekt      Nato-Mitglieder versuchen, die genannten
                und gemeinsamen Interessen beruht. Auf         Sicherheitsbedenken mit ihren jeweiligen
                dieser Grundlage hat die Nato auch im Jahr     Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu
                2020 den Dialog mit China fortgesetzt, um      China in Einklang zu bringen. Besonders
                das gegenseitige Verständnis zu verbessern,    für die EU und Deutschland ist das eine
                Missverständnisse auszuräumen und einen        schwierige Aufgabe. Entsprechend vieltönig
                Raum zu schaffen, in dem Meinungsver-          klangen die Staats- und Regierungschefs in
                schiedenheiten angesprochen werden kön-        Brüssel: Während des Gipfels vertrat die
                nen.« Gleichzeitig konstatierte Stoltenberg,   Bundesregierung eine relativ weiche Linie
                nicht die Nato sei näher an China heran-       gegenüber China und erklärte, dass »vor
                gerückt, sondern China an die Nato –           allen Dingen auch Russland eine große Her-
                nämlich durch sein Handeln in der Arktis       ausforderung« für die Nato und »China in
                und in Afrika, durch seine Investitionen in    vielen Fragen ein Rivale und gleichzeitig
                kritische Infrastruktur in Europa sowie in     für viele Fragen ein Partner« sei. Der franzö-
                seinen Aktivitäten im Cyber- und Informa-      sische Präsident Emmanuel Macron stellte
                tionsraum.                                     derweil die Frage, ob die Nato überhaupt
                   Vor diesem Hintergrund war der Brüsse-      das richtige Format sei, um die Art von
                ler Gipfel der Nato am 14. Juni 2021 beson-    Herausforderungen zu bewältigen, die von
                ders bemerkenswert, denn im Gipfel-Kom-        China ausgehen. Er unterstrich, dass »die
                muniqué wurde China in ungewöhnlicher          Nato eine nordatlantische Organisation ist,
                Offenheit als destabilisierende Kraft und      China nichts mit dem Nordatlantik zu tun
                systemische Herausforderung bezeichnet,        hat« und »wir unsere Beziehung zu China
                deren Agieren die regelbasierte internatio-    nicht einseitig betrachten sollten – sie ist
                nale Ordnung bedrohe. Obwohl die Nato in       viel größer als nur das Militär«.
                ihrer Erklärung vermied, China als direkte        Angesichts dieser unterschiedlichen Posi-
                Bedrohung für das Bündnis darzustellen,        tionen war die Nato bislang weder in der
                ließ sie erkennen, dass unter ihren Mitglie-   Lage, ihre politischen Zuständigkeiten in
                dern grundsätzlich Konsens besteht, sich       Bezug auf die Volksrepublik China festzu-
                mit den von der Volksrepublik ausgehen-        legen, noch eine klare Politik zu definieren,

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mit der sie die durch China hervorgerufe-      Hafenbetreibern. Offen ist, ob die Nato-Län-
nen sicherheitspolitischen Herausforderun-     der diese Häfen verlässlich nutzen können,
gen bewältigen will. Dass das Land im Nato-    sollte die Allianz Europa verteidigen müs-
Kommuniqué erwähnt wird, signalisiert          sen. Es ist zumindest nicht selbstverständ-
einen vorsichtigen, bisher aber lediglich      lich, dass die chinesischen Eigentümer ihr
rhetorischen Konsens über die Natur der        erlauben werden, Schiffe in diesen Häfen
Aufgaben, die dem Bündnis aus Chinas           aufzutanken, zu versorgen oder zu reparie-
Aufstieg erwachsen. Schwerer wird es der       ren. Die europäischen Nato-Partner sind
Allianz fallen, aus diesem Konsens heraus      sich dieser potentiellen Beschränkung zu-
gemeinsam konkrete Ziele und Schritte          nehmend bewusst.
zu bestimmen, um diese Aufgaben zu                Besondere Sorge bereiten den Nato-
meistern.                                      Mitgliedern drittens die Versuche Chinas,
                                               europäische Positionen zu politischen
                                               Fragen zu beeinflussen und Differenzen
Dimensionen der chinesischen                   zwischen europäischen Ländern zu ver-
Herausforderung                                tiefen, indem es beispielsweise die wirt-
                                               schaftlichen Abhängigkeiten ausnutzt, die
Es ist nichts Neues, dass Chinas Aufstieg      es durch seine Seidenstraßeninitiative
andere Staaten und internationale Organi-      (Belt and Road Initiative, BRI) erzeugt hat.
sationen vor neue Herausforderungen stellt,    So dienen Pekings Bemühungen, europäi-
da er regional wie global etablierte Macht-    sche Regierungen mit chinesischen Inve-
verhältnisse erschüttert und weltanschau-      stitionen zu locken, nicht zuletzt dazu, die
liche Alternativen zu westlichen Ordnungs-     EU nicht nur ökonomisch, sondern auch
vorstellungen stärkt. Interessant ist, wie     politisch zu spalten.
jeder einzelne Akteur in der internationa-        Viertens haben chinesische Cyberangriffe
len Politik sich je nach Aufgabengebiet,       auf europäische und amerikanische Firmen
innerer Verfasstheit und unterschiedlicher     sowie andere Formen militärtechnischer
Betroffenheit darauf einstellt. Der Nato und   Spionage massiv zugenommen. Laut dem
ihren Mitgliedern könnten mehrere Aus-         Bericht des deutschen Verfassungsschutzes
prägungen von Chinas Verhalten zusetzen.       2020 demonstrierten in den vergangenen
   Da sind erstens Pekings Versuche, chine-    Jahren chinesische Cyberakteure eine be-
sische Technologieunternehmen in die           achtliche technologische Weiterentwick-
digitale Infrastruktur westlicher Länder zu    lung bei der Verschleierung ihrer Angriffe.
integrieren und so Einfluss auf diese zu       In der Vergangenheit konzentrierten sich
nehmen. Dies ist besonders relevant für die    die Attacken chinesischer Cyberakteure vor
anhaltende Debatte in Europa über die          allem auf wirtschaftliche Akteure. Seit 2019
drahtlose Technologie der fünften Genera-      traten Angriffe auf politische Ziele durch
tion (5G).                                     mutmaßlich chinesische Stellen hinzu.
   Ein zweites Thema ist Chinas zunehmen-         Für die größten Bedenken, und zwar im
des Interesse an Investitionen in Europas      engsten sicherheitspolitischen Sinne, sorgt
kritische Infrastrukturen. Neben Stromnet-     fünftens die zunehmende Nähe zwischen
zen, 5G-Netzwerken, Smart-City-Projekten,      China und Russland – besonders die mili-
Unterseekabeln und vielem mehr zeigen          tärische Zusammenarbeit der beiden Staa-
chinesische Staatsunternehmen und deren        ten. Noch ist der Umfang russisch-chinesi-
teils als Privatfirmen getarnte Tochter-       scher Militärkooperation sehr begrenzt und
gesellschaften ein hohes Interesse an Häfen,   nicht Ausdruck einer strategischen Fest-
besonders in europäischen Nato-Staaten.        legung beider Seiten. Im Jahr 2015 schlossen
Die chinesische Staatsreederei Cosco und       sich drei Schiffe der chinesischen Marine
ihr Schwesterunternehmen China Merchant        dem russischen Flottenverband im östlichen
besitzen schon in 14 europäischen Häfen        Mittelmeer für eine fünftägige Marine-
eigene Terminals oder halten Anteile an        übung an – Chinas und Russlands erste

                                                                                              SWP-Aktuell 5
                                                                                               Januar 2022

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Kooperation dieser Art in der Peripherie        Grenzgebieten, mit den Anrainern im Ost-
                Europas. 2017 entsandte China im Rahmen         und im Südchinesischen Meer und mit
                einer achttägigen Übung einen Zerstörer,        Taiwan, das von China aktiv bedroht wird.
                eine Fregatte und ein Versorgungsschiff in
                die russische Exklave Kaliningrad. In der
                Ostsee war dies die erste solche Militär-       Der Blick aus Peking auf die Nato
                übung und ist bislang die einzige geblieben.
                Überschaubar ist auch die bisherige Zusam-      Aus Peking folgten postwendend Reaktio-
                menarbeit bei den Landstreitkräften: Im         nen auf den Nato-Gipfel vom Juni 2021.
                Jahr 2018 erregte Chinas Teilnahme an           Laut Chen Weihua, Chef des Brüsseler
                Russlands groß angelegter Militärübung          Büros der China Daily, könne die Tatsache,
                Wostok-18 zwar erhebliche mediale Auf-          dass China auf dem Nato-Gipfel erstmals
                merksamkeit, doch stellte China nicht mehr      ausdrücklich erwähnt worden sei, »ein
                als 3.000 der beteiligten 300.000 Soldaten.     Wettrüsten auslösen und den Weltfrieden
                Außerdem beschränkte sich Chinas militä-        untergraben«. Die Global Times hatte schon
                rische Präsenz während des Manövers auf         vor dem Nato-Gipfel gewarnt, die Nato-
                die Regionen östlich des Baikalsees.            Mitglieder könnten, »um den USA zu gefal-
                   Gleichwohl ist eine wachsende Interessen-    len«, den Weltfrieden bedrohen, indem
                konvergenz und strategische Koordination        sie »imaginäre Feinde« (nämlich China)
                zwischen China und Russland nicht zu            schüfen. Seit Ende des Kalten Krieges und
                übersehen – immer öfter auch in Europa.         dem Zusammenbruch des Warschauer
                Dies trifft nicht nur auf die militärische      Pakts habe die Nato nämlich ihre Existenz-
                und militärtechnische Zusammenarbeit zu.        berechtigung verloren. Das entspricht dem
                Es gilt auch für die Rohstoffförderung in       herrschenden chinesischen Narrativ, dem
                der Arktis, den Ausbau von Internetzensur,      zufolge die amerikanische Hegemonie im
                die 5G-Netz-Entwicklung (für die Russland       Niedergang begriffen sei. Diesen »Befund«
                Huawei als vertrauenswürdigen Anbieter          macht die Führung in Peking zum Dreh-
                akzeptiert hat) sowie für Dual-Use-Techno-      und Angelpunkt ihrer Außenpolitik. Im
                logien wie Weltraumsysteme, Satelliten-         Kontext des globalen Systemwettbewerbs
                navigation, Softwareentwicklung und un-         wird so das Mantra »Der Westen steigt ab
                bemannte Systeme. Russland und China            und der Osten steigt auf« immer häufiger
                öffnen ihre strategische Kooperation zudem      wiederholt. Wenig überraschend werteten
                vermehrt für Drittländer. So fand im No-        die chinesischen Medien den Abzug von
                vember 2019 die erste trilaterale russisch-     USA und Nato aus Afghanistan im August
                chinesisch-südafrikanische Marineübung          2021 als weiteren Beleg für Schwäche, Un-
                statt, gefolgt von einer russisch-chinesisch-   entschlossenheit und mangelnde Attrak-
                iranischen Marineübung im Indischen             tivität der westlichen Allianz.
                Ozean im Monat darauf.                             In der chinesischen Lesart benutzen die
                   Darüber hinaus betreffen Chinas militä-      USA die Nato nicht zuletzt als Instrument,
                rische Ambitionen in Asien und besonders        um die EU und Europa zu dominieren.
                im Indopazifik die Nato-Mitglieder, allen       Washington wolle die Systemkonfrontation
                voran die USA. China nutzt seine verstärkte     mit der Volksrepublik verschärfen und
                Beteiligung an Friedensmissionen der            dabei auch die EU und andere Verbündete
                Vereinten Nationen, um seinen Soldaten          gegen China aufbringen. Chen Weihua ging
                Operationserfahrung zu verschaffen, leistet     aber davon aus, dass viele Nato-Mitglieder
                damit zugleich aber auch einen Beitrag zu       die Haltung der USA nicht teilen würden,
                Stabilität und Sicherheit in Krisenregionen,    wonach das Bündnis sich im »Kalten Krieg«
                vor allem in Afrika. In ihrer unmittelbaren     mit China befinde. Er rief sie auf, sich nicht
                Peripherie dagegen befeuert die Volksrepu-      von den USA manipulieren zu lassen.
                blik Konflikte mit ihren Nachbarn, zum             Hier ist allerdings zu unterscheiden
                Beispiel mit Indien in chinesisch-indischen     zwischen der offiziellen Rhetorik und den

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tatsächlichen Sorgen der chinesischen Füh-     im indopazifischen Raum spielen können
rung hinsichtlich der Nato. Denn die chine-    – nicht weil sie dessen politische Bedeu-
sischen Überlegungen folgen einer simplen,     tung nicht anerkennen wollen, sondern vor
aber zutreffenden Analyse: Je mehr militä-     allem weil sie nicht in der Lage sind, den
rische Fähigkeiten vor allem die USA aus       amerikanischen Verbündeten wirksame
dem euro-atlantischen Raum abziehen, um        militärische Unterstützung zu bieten. Eine
sie in den Indopazifik zu verlegen, desto      militärische Rolle in Asien würde eine
weniger Raum bleibt für Chinas Aufstieg.       gewaltige Anstrengung bedeuten. Mit den
Pekings größte Befürchtung ist, dass die       derzeitigen maritimen Fähigkeiten und
Nato eines Tages zum militärisch global        Verteidigungsbudgets der europäischen
agierenden Akteur avancieren und Chinas        Staaten ist sie in den kommenden Jahren
Präsenz im Indopazifik als Teil der militä-    nicht zu bewältigen. Ebenso unwahrschein-
rischen Bedrohung für den euro-atlanti-        lich ist, dass sich die Europäer politisch
schen Raum definieren könnte.                  auf ein militärisches Engagement in Asien
   Europa spielt in der chinesischen Wahr-     einigen.
nehmung bislang eine untergeordnete               Chinas militärischer Aufstieg im Indo-
Rolle, weckt aber verstärkt Pekings Wach-      pazifik ist zunächst auch keine direkte mili-
samkeit. Es ist der Führung um Präsident Xi    tärische Bedrohung für die Nato. Ohnehin
Jinping keineswegs entgangen, dass Frank-      gehört Asien nicht zum geographischen
reich, Großbritannien und die Niederlande      Einflussgebiet der Allianz. Beides läuft dem
inzwischen eigene Flottenverbände in der       Bestreben der USA zuwider, die Nato-Mit-
indopazifischen Region stationiert haben       glieder sicherheitspolitisch stärker in Asien
oder dorthin entsenden. Zudem hat die          einzubinden. Nicht einmal Chinas Vor-
Bundesmarine im August 2021 die Fregatte       rücken in die europäische Peripherie, be-
Bayern in den Pazifik geschickt. Damit woll-   sonders im militärischen Schulterschluss
te Deutschland ein Signal gegen die chine-     mit Russland, stellt eine unmittelbare
sischen Machtansprüche dort setzen, auf        Bedrohung dar.
die Regelbasiertheit der internationalen wie      Neben der sich abzeichnenden mili-
regionalen Ordnung pochen und sich als         tärischen Zusammenarbeit Russlands und
sicherheitspolitischer Partner asiatischer     Chinas beunruhigen vielmehr die wirt-
Staaten anbieten. Als freundliche Geste in     schaftlichen und politischen Herausforde-
Richtung Peking war ein Besuch der deut-       rungen, die sich aus Pekings Vorgehen im
schen Fregatte in China geplant. Diesen        euro-atlantischen Raum ergeben. Chinas
lehnte die chinesische Führung jedoch ab       Investitionen in Häfen und andere Infra-
und machte damit klar, dass sie ein ver-       strukturen sind Ausdruck seines Strebens,
stärktes sicherheitspolitisches Engagement     westliche Wirtschaftsprozesse zu beeinflus-
Deutschlands im Indopazifik grundsätzlich      sen, indem es, wenn auch schrittweise und
zurückweist.                                   subtil, Abhängigkeiten schafft und dann
                                               von diesen zu profitieren sucht. Peking be-
                                               weist dabei große Geduld und plant seinen
Die Grenzen der Nato                           Wettbewerb mit dem Westen auf lange
                                               Sicht. Chinesische Investitionen sollen ein
Die Vorstöße der europäischen Nato-Staa-       Einflusspotential aufbauen, auf das sich
ten in den indopazifischen Raum werden         zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen
vor allem von Beobachtern und Autoren          lässt und das in der Zwischenzeit die demo-
befürwortet, die nach einer (militärischen)    kratischen politischen Systeme anfälliger
China-Strategie der Nato rufen. Europa sind    Nationen untergraben kann.
aber militärisch enge Grenzen gesetzt. So         Pekings Politik, in wichtige europäische
werden die europäischen Nato-Mitglieder        Häfen und technologische Infrastrukturen
mit Ausnahme Großbritanniens und Frank-        zu investieren und diese teilweise zu besit-
reichs keine gewichtige militärische Rolle     zen, erfordert vor allem eine wirtschaftliche

                                                                                               SWP-Aktuell 5
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                                                                                                          5
oder politische Reaktion. Dafür ist die Nato     mittelbarste Bedrohung. Die militärische
                nicht gut gerüstet. Daher sollte sie ver-        Herausforderung durch Moskau entspricht
                meiden, etwas anderes zu suggerieren und         genau einer jener Aufgaben, für die das
                China so ungewollt zu einer militärischen        Bündnis vor über siebzig Jahren geschaffen
                Gefahr für den euro-atlantischen Raum zu         wurde und die entsprechenden Instrumen-
                überhöhen. Einzelne Nato-Mitgliedstaaten         te entwickelt hat. Die Nato sollte die rus-
                und vor allem die EU mit ihren jeweiligen        sisch-chinesische militärische Zusammen-
                politischen Kompetenzen verfügen über            arbeit aufmerksam verfolgen, aber kein
                mehr Instrumente als der Akteur Nato, um         Missverständnis darüber aufkommen lassen,
                mit einem außenpolitisch ambitionierten          dass Russland die größere Wachsamkeit
                China umzugehen. Bis China tatsächlich           verlangt. Alles andere wäre für zahlreiche
                eine militärische Bedrohung im Nordatlan-        Mitglieder nicht akzeptabel, würde einen
                tikraum darstellen könnte, vermag die Nato       Keil in die Allianz treiben und so die not-
                als Institution, die zur regionalen kollekti-    wendige innere Geschlossenheit gefährden.
                ven Verteidigung geschaffen wurde, nur               Gleiches gilt für die chinesische Heraus-
                eine begrenzte, wenngleich nicht unwichti-       forderung: Bislang besteht in der Allianz
                ge Rolle bei der Bewältigung der Pekinger        nur wenig Einigkeit darin, welchen Part sie
                Herausforderung zu spielen.                      im Umgang mit Peking spielen sollte. Vieles
                                                                 bleibt vage, Differenzen werden mit diplo-
                                                                 matischen Floskeln überspielt, hauptsäch-
                Vorschläge für eine China-Agenda                 lich weil niemand die »Wiederentdeckung«
                                                                 der Nato durch die Regierung von Präsident
                Die Nato sollte erstens ihre eigenen Möglich-    Biden gefährden möchte. So wie die Einheit
                keiten beim Umgang mit den nichtmili-            des Bündnisses angesichts der russischen
                tärischen Bedrohungen seitens Chinas reali-      Aggression von entscheidender Bedeutung
                stisch einschätzen. Angesichts der skizzier-     ist, so sollte die Nato auch in der China-
                ten Differenzen innerhalb des Bündnisses         Frage eine Spaltung vermeiden.
                über die Interessen an sowie die Perzeptio-          Zudem wird Chinas Rüstungsentwicklung
                nen von China kann es nicht darum gehen,         sicherstellen, dass die Allianz weiterhin ein
                ein alle Aktivitäten der Allianz überwölben-     nukleares Bündnis bleiben wird. Pekings
                des neues Handlungsparadigma für die             Rüstungspolitik könnte drittens mittelfristig
                kommenden Jahre zu formulieren – eine            eine Anpassung der Nato-Nuklearstrategie
                Art China-Doktrin der Nato. Vielmehr sollte      erfordern, denn China ist eine Atommacht
                die Allianz für sich einen Platz im komple-      mit strategischer Reichweite. Erst im Som-
                xen Gefüge euro-atlantischer Institutionen       mer 2021 wurden Berichte bekannt, denen
                definieren, sodass mögliche Aktivitäten des      zufolge China mit dem Bau von 250–300
                Bündnisses funktional Sinn ergeben, ent-         neuen Silos für Interkontinentalraketen
                sprechende Planungen anderer Organisatio-        begonnen hat. Das könnte auf eine bedeu-
                nen aber nicht dupliziert werden. Aller-         tende Erweiterung der nuklearen Fähig-
                dings müssten sich die politischen Entschei-     keiten Pekings hinweisen. Solange die Län-
                dungsträger der Mitgliedstaaten weiterhin        der des euro-atlantischen Raums von irgend-
                auf eine robuste konventionelle und nukle-       einem Punkt der Welt einer atomaren Be-
                are Abschreckung durch die Allianz ver-          drohung ausgesetzt sind, wird die Nato ein
                lassen können.                                   nukleares Bündnis bleiben.
                   Die Allianz sollte sich zweitens weder ver-       Zugleich sollten die Nato-Mitglieder
                zetteln noch ablenken lassen, sondern die        ihre Bestrebungen intensivieren, China in
                bestehenden sicherheitspolitischen Heraus-       Rüstungskontroll- und Abrüstungsverein-
                forderungen klar priorisieren. Für die Nato      barungen einzubeziehen. So hat Nato-
                bleibt bis auf weiteres, schon aufgrund der      Generalsekretär Jens Stoltenberg in seinem
                geographischen Nähe, Russlands aggressive        Gespräch mit dem chinesischen Außen-
                und revisionistische Außenpolitik die un-        minister Wang Yi am 27. September 2021

SWP-Aktuell 5
Januar 2022

6
nicht nur grundsätzlich die Beziehungen         durch regelmäßige militärische Übungen
zwischen der Nato und China erörtert und        (vor allem Luft-, See- und Spezialkräfte-
den sich ausweitenden Dialog zwischen           übungen), darunter auch solche, die der
den beiden Akteuren begrüßt. Stoltenberg        Freiheit der Schifffahrt dienen. Derartige
forderte Peking zudem auf, sich in puncto       Unternehmungen unter der Flagge der Nato
nukleare Fähigkeiten und Nukleardoktrin         wären eine sinnvolle Ergänzung zu den
Chinas sinnvoll am Dialog, an vertrauens-       amerikanischen See- und Luftübungen im
bildenden Maßnahmen und an Transpa-             Pazifik, an denen seit Langem auch euro-
renzmaßnahmen zu beteiligen. Er betonte,        päische Verbündete teilnehmen. An frühe-
dass sowohl die Nato als auch China von         ren RIMPAC (Rim of the Pacific)-Übungen
einem Dialog über Rüstungskontrolle profi-      der USA beteiligten sich beispielsweise Mili-
tieren würden. Schon geraume Zeit verlan-       tärflugzeuge, Schiffe und Stäbe aus Däne-
gen die USA, dass China an den Verhand-         mark, Deutschland, Frankreich, Großbritan-
lungen über das New-Start-Abkommen teil-        nien, Kanada, den Niederlanden und Nor-
nimmt. Die Volksrepublik weigert sich           wegen.
aber bis heute, über ihr wachsendes Atom-           Für eine optimierte Lagebildgewinnung
waffenarsenal zu verhandeln. Umso ener-         und einen entsprechenden Informations-
gischer sollten auch die EU-Mitglieder in       austausch wäre es sechstens von Vorteil, im
ihrem Dialog mit der Volksrepublik ver-         indopazifischen Raum und dort vielleicht
suchen, China an den Verhandlungstisch          in einem der Partnerstaaten ein Center of
zu holen, wenn es um nukleare Rüstungs-         Excellence einzurichten. Eine solche Initia-
kontrolle geht.                                 tive trüge dazu bei, das Verständnis der
   Angesichts der skizzierten internen Dif-     Allianz für den indopazifischen Raum zu
ferenzen erscheint es fraglich, ob die Nato     verbessern, ihre Präsenz in der Region zu
eine Militärstrategie eigens für China for-     institutionalisieren und die Partner besser
mulieren sollte. Denn lediglich für einige      mit den Aufgaben, Strukturen und Abläu-
ihrer Mitglieder ist China ein wichtiger        fen der Nato vertraut zu machen.
Treiber der Außen- und Sicherheitspolitik.          Schließlich gilt es siebentens Form und
Dies gilt besonders für die USA und in ge-      Themen des direkten Austausches mit
ringerem Maß für Kanada, Frankreich und         China zu definieren. Ausgangspunkt ist die
Großbritannien. Und selbst die strukturelle     Annahme, dass die Volksrepublik anzustre-
Dominanz der USA in der Allianz entfaltet       ben scheint, auf Dauer eine »europäische
nur begrenzte Wirkung, da die Nato für          Macht« zu werden. Einige Vorschläge zu
sie nur eines unter mehreren relevanten         einem Nato-China-Dialog oder gar einem
Bündnissen ist. Die Nato könnte aber viertens   ständigen Nato-China-Rat wurden vor
die Mitgliedstaaten ermuntern, ihre jeweili-    diesem Hintergrund bereits unterbreitet.
gen Strategiedokumente zum Thema China          Auch Bundeskanzlerin Merkel hat im
zumindest zu koordinieren. Militärische         Kontext des Brüsseler Gipfels dafür plädiert,
Übungen im Indopazifik und Operationen          China ein Angebot zu einem institutiona-
für freie Schifffahrt im Südchinesischen        lisierten Dialog zu machen. Dieser würde
Meer sollten die Mitgliedstaaten auf multi-     analog zum Nato-Russland-Rat gebildet
lateraler oder bilateraler Ebene abstimmen.     werden, dessen Wurzeln bis ins Jahr 2002
Dabei sollten sie auch Nato-Partnerländer       zurückreichen. Damit würden die Realität
wie Australien, Finnland, Japan, Neusee-        von Chinas wachsendem Einfluss und zu-
land, Schweden und Südkorea einbeziehen.        nehmender Reichweite anerkannt. Die
   Die Nato sollte außerdem fünftens die        Bündnismitglieder würden angespornt, sich
Beziehungen zu ihren Partnern im pazifi-        mit den von China ausgehenden Heraus-
schen Raum vertiefen, das heißt zu Austra-      forderungen koordiniert und umfassend zu
lien, Neuseeland, Südkorea und Japan. Sie       beschäftigen. Ein solches Forum würde
sollte die politisch-konsultative Dimension     unterstreichen, dass diese Dimension des
dieser Verbindungen erweitern, und zwar         Großmachtwettbewerbs nicht zwischen

                                                                                                SWP-Aktuell 5
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                                                                                                           7
China und den Vereinigten Staaten besteht,                     dazu beitragen, den durch die AUKUS-Ent-
                               sondern zwischen China und der transatlan-                     scheidung verursachten Schaden abzumil-
                               tischen Gemeinschaft an sich, die durch                        dern. In einer Zeit, in der Nato und EU ein
                               gemeinsame Werte und Interessen sowie                          aufeinander abgestimmtes Engagement in
                               eine gemeinsame Geschichte verbunden ist.                      der indopazifischen Region anstreben, soll-
                               Auch könnte ein Nato-China-Dialog oder                         ten unkoordinierte und potentiell kon-
                               Nato-China-Rat dazu dienen, Möglichkeiten                      kurrierende sicherheitspolitische Schritte
                               einer konstruktiven Zusammenarbeit mit                         vermieden werden.
                               China zu ermitteln und zu fördern, etwa
                               bei der Pirateriebekämpfung. Noch er-
© Stiftung Wissenschaft        scheint dies verfrüht und angesichts der
und Politik, 2022              Spannungen unter den Nato-Partnern
Alle Rechte vorbehalten        wenig realistisch. Einstweilen wäre es ver-
                               dienstvoll, die Koordinierung der china-
Das Aktuell gibt die Auf-
                               politischen Strategiedebatten in der Nato
fassung des Autors und der
Autorin wieder.                und der EU in Gang zu bringen.
                                  Als Fehlschlag einer solchen Koordina-
In der Online-Version dieser   tion muss das im September 2021 verkün-
Publikation sind Verweise      dete trilaterale Militärbündnis zwischen
auf SWP-Schriften und
                               Australien, Großbritannien und den USA
wichtige Quellen anklickbar.
                               (AUKUS) im Indopazifik gewertet werden.
SWP-Aktuells werden intern     Diese Gründung ging mit Australiens
einem Begutachtungsverfah-     Entscheidung einher, nuklear betriebene
ren, einem Faktencheck und     (aber nicht nuklear bewaffnete) U-Boote
einem Lektorat unterzogen.     aus amerikanischer statt, wie ursprünglich
Weitere Informationen
                               geplant, französischer Fertigung zu erwer-
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP-    ben. Die mangelhafte oder gänzlich fehlen-
Website unter https://www.     de Kommunikation von AUKUS mit Frank-
swp-berlin.org/ueber-uns/      reich und der EU hat der transatlantischen
qualitaetssicherung/           Allianz diplomatischen (und Frankreich
                               auch wirtschaftlichen) Schaden zugefügt,
SWP
Stiftung Wissenschaft und
                               den der Sicherheitsgewinn am Pazifik nur
Politik                        schwer ausgleichen dürfte.
Deutsches Institut für            Das AUKUS-Bündnis wurde gleichzeitig
Internationale Politik und     mit der am 16. September 2021 vorgelegten
Sicherheit                     Indopazifik-Strategie der EU-Kommission
                               und des Hohen Vertreters der EU ins Leben
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin                   gerufen. Eine neue Nato-Strategie wäre
Telefon +49 30 880 07-0        nicht nur ein erster Schritt auf dem Weg,
Fax +49 30 880 07-100          die Präsenz der EU in der indopazifischen
www.swp-berlin.org             Region zu verbessern. Die Strategie der
swp@swp-berlin.org
                               Allianz wäre auch Türöffner für ein kom-
ISSN (Print) 1611-6364
                               biniertes Vorgehen der EU-Mitglieder, wenn
ISSN (Online) 2747-5018        es darum geht, die entstandenen Heraus-
doi: 10.18449/2022A05          forderungen zu bewältigen. Sie böte einen
                               Ansatz, die Indopazifik-Strategie der EU
                               mit jener der USA zu koordinieren. Ein ent-
                               sprechender künftiger Austausch könnte

                               Dr. habil. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
                               Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.

      SWP-Aktuell 5
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