Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg mit Unterstützung des Generali Zukunftsfonds. www.generali-zukunftsfonds.de
2 | Inhalt und Impressum Inhalt 4 Teil 1 Zusammenfassung der theoretisch- methodischen Konzeption, der Ergebnisse und der Folgerungen Generali Zukunftsfonds Christoph Zeckra, Gesamtverantwortlicher Tel. 0221 4203-3574 | christoph.zeckra@generali.de 6 1. Die Problematik der Gleichsetzung Uwe Amrhein von hohem Alter mit Verlusten und die Tel. 0221 4203-2692 | uwe.amrhein@generali.de Notwendigkeit einer differenzierten Analyse dieses Lebensabschnitts Loring Sittler Tel. 0221 4203-2675 | loring.sittler@generali.de 1.1 Die strikte Trennung zwischen drittem und vier- tem Lebensalter birgt die Gefahr einer Abwer- Kontakt tung des Menschen im hohen Alter Generali Deutschland Holding AG Generali Zukunftsfonds 1.2 Das hohe Alter bedeutet nicht nur Verlust, son- Tunisstraße 19 –23 | 50667 Köln dern auch Gewinn – die Integration der Verletz- lichkeits- und Potentialperspektive 7 1.3 Entwicklungspotentiale bestehen bis zum Ende des Lebens – das Schöpferische des Menschen in Grenzsituationen des Lebens Institut für Gerontologie 1.4 Die daseinsthematische Analyse als Zugang Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse zum umfassenden Verständnis der Person Tel. 06221 54 81 81 sekretariat@gero.uni-heidelberg.de 8 1.5 Epidemiologische Befunde veranschaulichen www.gero.uni-heidelberg.de die erhöhte Verletzlichkeit, sprechen aber zugleich gegen die Gleichsetzung von hohem Kontakt Alter und Krankheit Universität Heidelberg | Institut für Gerontologie Bergheimer Straße 20 | 69115 Heidelberg 10 2. Zentrale Elemente einer Psychologie des hohen Alters Der Generali Zukunftsfonds 2.1 Was alte Menschen geben können: der Beitrag des hohen Alters zu e iner intra- und intergenera- Unter dem Leitthema „Der demografische Wandel – unsere tionellen Sorgekultur gemeinsame Herausforderung“ bündelt die Generali Deutschland Holding AG seit 2008 die Aktivitäten ihres 12 2.2 Welche psychischen Qualitäten sich im hohen gesellschaftlichen Engagements im Generali Zukunftsfonds. Alter beobachten lassen – Introversion, Offen- heit und Generativität als Potentiale des hohen Insgesamt fördert die Generali Deutschland rund 40 Pro- Alters jekte mit dem Schwerpunkt „Förderung des Engagements von und für die Generation 55 plus“. Darüber hinaus ist der Generali Zukunftsfonds als Change-Manager, Vernetzer und Initiator im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements tätig. Wurden in der Aufbauphase besonders wirksame Best-Practice-Initiativen gefördert, erfolgen heute zuneh- mend Investitionen in die Infrastruktur von Freiwilligenarbeit. Mehr zur Generali Hochaltrigenstudie unter www.generali-zukunftsfonds.de im Bereich Wissen.
Inhalt | 3 14 3. Die empirische Studie – Konzeption, 28 Teil 2 Stichprobe, Ergebnisse Fragebogenerhebung in Kommunen und Institutionen 3.1 Aufbau der Studie 3.1.1 Daten zur Stichprobe 30 1. Erhebungsinstrument und 15 3.2 Welche Daseinsthemen charakterisieren die Anwendungsbereich Gruppe der 85- bis 98-jährigen Frauen und Männer? 1.1 Inhaltliche Aspekte der Befragung 16 3.2.1 Soziale Beziehungen und Mitverantwortung – als Ausdruck der „Weltgestaltung“ – besitzen große 31 1.2 Ziehung der Stichprobe Bedeutung für die Lebensqualität im hohen Alter 3.2.2 Es werden auch Grenzen der Teilhabe im hohen 1.3 Pilotstudie Alter sichtbar – gegen die unsere Gesellschaft viel tun könnte 17 3.2.3 Auch die Selbstgestaltung ist alten Menschen sehr 32 2. Ablauf und Ergebnisse der wichtig Fragebogenerhebung 18 3.2.4 Die zunehmende Verletzlichkeit bildet eine Grenzer- fahrung im h ohen Alter 2.1 Soziodemografische Daten 3.2.5 Die Sorge vor fehlender Achtung, Zustimmung und Aufmerksamkeit 35 2.2 Institutionelle Rahmenbedingungen für Engagement 19 3.3 Inwiefern finden sich Gruppenunterschiede im Hinblick auf die Häufigkeit, mit der einzelne 38 2.3 Grenzen des Engagements und praktische Daseinsthemen angesprochen werden? Anforderungen an das Engagement 3.3.1 Unterschiede zwischen den Altersgruppen 20 3.3.2 Unterschiede zwischen den Geschlechtern 44 2.4 Alter(n) und Altersbilder 21 3.3.3 Unterschiede im Hinblick auf den sozioökonomi- schen Status 22 3.3.4 Unterschiede im Hinblick auf die subjektiv geschil- derte Gesundheit 23 3.4 Welche spezifischen Sorgeformen sind erkennbar? 24 3.5 Welche Personen-, Situations- und Umwelt- merkmale fördern im Erleben der alten Men- schen die Sorge für und um Andere? 25 3.6 Verarbeitungs- und Bewältigungsformen 26 3.7 Grundlegende Engagement-Orientierungen
Teil 1 Zusammenfassung der theoretisch- methodischen Konzeption, der Ergebnisse und der Folgerungen
6 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1 1. Die Problematik der Gleichsetzung von hohem Alter mit Verlusten und die Notwendigkeit einer differenzierten Analyse dieses Lebensabschnitts 1.1 Die strikte Trennung zwischen drittem 1.2 Das hohe Alter bedeutet nicht nur und viertem Lebensalter birgt die Ge- Verlust, sondern auch Gewinn – die fahr einer Abwertung des Menschen Integration der Verletzlichkeits- und im hohen Alter Potentialperspektive Im wissenschaftlichen wie auch im gesellschaftlichen Diskurs Es erscheint gerade mit Blick auf das hohe Lebensalter, also hat sich mehr und mehr die Differenzierung zwischen einem das Alter jenseits des 85. Lebensjahres, als sinnvoll und not- dritten und einem vierten Lebensalter durchgesetzt, wobei wendig, zwei Perspektiven systematisch miteinander zu verbin Ersterem die Gruppe der 65- bis 85-jährigen, Letzterem die den: nämlich die Verletzlichkeits- mit der Potentialperspektive. Gruppe der über 85-jährigen Frauen und Männer zugeordnet Die Vulnerabilitätsperspektive beschreibt dabei die erhöhte wird. Mit dieser Differenzierung ist die Annahme verbunden, Verletzlichkeit des Menschen, wie sich diese in einer deutlichen dass das Individuum im dritten Lebensalter über weitgehend Zunahme des Risikos, an einer chronischen Erkrankung zu lei- erhaltene körperliche, emotionale und kognitive Ressourcen den, hilfe- oder pflegebedürftig zu werden, zeigt. Die Potenti- verfüge und sozial gut eingebunden sei, dass hingegen im alperspektive beschreibt hingegen das umfassende Lebens- vierten Lebensalter die Verletzlichkeit des Menschen in den wissen, die differenzierte Sicht auf das eigene Selbst, die Vordergrund trete, die sich in einem wachsenden Verlust der Fähigkeit, Grenzsituationen auszuhalten oder innerlich zu körperlichen, emotionalen und geistigen Ressourcen wider- überwinden, sowie die Bereitschaft, das eigene Leben in eine spiegele, dessen Ursachen in chronischen Erkrankungen, Generationenfolge zu stellen und dabei Sorge für die nachfol- Multimorbidität und Demenz zu suchen seien. genden Generationen zu tragen, wobei sich diese Sorge in dem intensiven, anteilnehmenden Nachdenken über das Schicksal So richtig es ist, dass die körperliche, zum Teil auch die kog- nachfolgender Generationen wie auch in konkreten Formen nitive Verletzlichkeit im Alter zunimmt, so problematisch ist ihrer Unterstützung widerspiegeln kann. es, wenn man eine strikte Trennung zwischen dem dritten und vierten Lebensalter vornimmt und mit Ersterem generalisierend Hier sei nun ausdrücklich festgestellt: Mit der Verletzlichkeits „Ressourcen“ und mit Letzterem generalisierend „Ressourcen- perspektive wird ausgedrückt, dass ein (allerdings deutlich) verlust“ verbindet. Abgesehen davon, dass auch im dritten erhöhtes Risiko besteht, an einer chronischen Erkrankung zu Lebensalter, ja, dass schon in früheren Lebensaltern die kör- leiden oder hilfe- bzw. pflegebedürftig zu werden. Dies heißt perliche, die kognitive und die emotionale Verletzlichkeit des nun aber nicht, dass bei allen alten Menschen jenseits des 85. Menschen deutlich in Erscheinung treten können, kommt es Lebensjahres Multimorbidität, Anzeichen einer Demenz oder einer Abwertung des vierten Lebensalters gleich, wenn man Pflegebedürftigkeit bestünden – diese Gleichsetzung von dieses generalisierend mit Begriffen wie „Ressourcenabbau“, erhöhter Verletzlichkeit und faktisch gegebener Multimorbidi- „Defizit“, „Verluste“ umschreibt und unberücksichtigt lässt, tät, Demenz oder Pflegebedürftigkeit ist nicht erlaubt. dass auch in dieser Lebensphase seelisch-geistige Entwick- lungsprozesse und Stärken beobachtet werden können. Über Mit der (Entwicklungs-)Potentialperspektive wird ausge- diese geht man vielfach hinweg, weil man sich ausschließlich drückt, dass Menschen auch jenseits des 85. Lebensjahres oder primär auf körperliche Prozesse konzentriert und dabei über Ressourcen verfügen und diese weiterentwickeln, weiter seelisch-geistige ebenso wie sozialkommunikative Prozesse ausbauen können – wie zum Beispiel das Lebenswissen, wie ausklammert. zum Beispiel die Bereitschaft und Fähigkeit, differenziert und selbstkritisch auf sich zu blicken, wie zum Beispiel die Fähig- Die Trennung zwischen drittem und viertem Lebensalter ist keit, Grenzen auszuhalten und innerlich zu überwinden (zu nen- mittlerweile so pauschal geworden, dass man sich fragt, ob nen sind hier chronische Schmerzen oder der Verlust nahe- diese überhaupt noch geeignet ist, um Differenzierungen inner- stehender Menschen), wie zum Beispiel die Bereitschaft, das halb des höheren Alters angemessen zu umschreiben. eigene Leben auch in den Dienst nachfolgender Generationen zu stellen. Dies heißt nun aber nicht, dass diese Ressourcen bei allen Menschen jenseits des 85. Lebensjahres erkennbar
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 7 wären und alle Menschen in diesem Lebensabschnitt – poten- 1.4 Die daseinsthematische Analyse als tialgetriebene – Entwicklungsschritte zeigten. Sowohl mit Blick Zugang zum umfassenden Verständ- auf die Verletzlichkeit als auch mit Blick auf die Entwicklungs- nis der Person potentiale wird hier also vor einer Generalisierung gewarnt. Diese differenzierte Sicht soll in der vorliegenden Studie vom Noch wichtiger ist uns aber die Feststellung, dass auch bei Standpunkt jener Menschen aus eingenommen werden, die erhöhter Verletzlichkeit von Entwicklungspotentialen ausge jenseits des 85. Lebensjahres stehen. Das heißt, dass in der gangen werden kann: Auch wenn Menschen in ihrer Mobilität, vorliegenden Studie die Interviewpartner gebeten werden, das in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit, vielleicht auch in ihrer hohe Lebensalter in Kategorien ihrer Erlebens- und Erfahrungs kognitiven Leistungsfähigkeit (zum Beispiel in der Umstel- welt zu beschreiben. Folglich werden in den Interviews nur lungsfähigkeit, in der Geschwindigkeit der Wahrnehmung und wenige Fragen zum Lebensalter, zum Familienstand, zum sozi- Informationsverarbeitung, in der Inhibitionsfähigkeit) Einbußen alen Netzwerk (welche Personen konstituieren dieses, welche zeigen, so können sie doch im emotionalen und motivationalen Art der persönlichen Beziehung und des Kontakts bestehen zu Bereich, im Bereich der Persönlichkeit (vor allem des Selbst) den einzelnen Netzwerkmitgliedern?), zum Bildungsstand, zu und schließlich im Bereich des Wissens bemerkenswerte Stär- den finanziellen Ressourcen, zur Erwerbsbiografie, zum bür- ken und auch bemerkenswerte Entwicklungsschritte zeigen, gerschaftlichen Engagement in den verschiedenen Lebensal- die deutlich machen, wie sehr es Menschen auch in der Ver- tern, zum Gesundheitszustand sowie zur Selbstständigkeit im letzlichkeit gelingen kann, seelisch-geistige und sozialkommu- Alltag gestellt. Vielmehr stehen die persönliche Biografie und nikative Qualitäten zu verwirklichen. Zukunftsperspektive (welche biografischen Stationen sind im Erleben des Interviewpartners bedeutsam gewesen, wie blickt dieser in seine Zukunft?), vor allem aber die Anliegen, Ziele, 1.3 Entwicklungspotentiale bestehen bis grundlegenden Orientierungen, Bedürfnisse und Werte des zum Ende des Lebens – das Schöpfe- Interviewpartners im Zentrum der Interviews. Um diese erfas- rische des Menschen in Grenzsituati- sen zu können, ist eine daseinsthematische Analyse notwendig. onen des Lebens Eine solche Analyse zielt darauf, jene Themen zu erfassen, auf die das Individuum in der Schilderung seiner Biografie, Gegen- Gerade hier liegt der Nachteil einer strikten Trennung zwi- wart und Zukunft spontan immer wieder zu sprechen kommt, schen „drittem“ und „viertem“ Lebensalter: nämlich über die Themen also, die in der Schilderung unterschiedlichster Situa- Entwicklungspotentiale, über die Kräfte des Menschen in der tionen spontan angesprochen werden. Nur dadurch, dass man erhöhten Verletzlichkeit des Lebens hinwegzugehen und dabei dem Individuum die Möglichkeit gibt, angestoßen durch einige zu übersehen, wie schöpferisch Menschen im hohen Alter, wenige Fragen ausführlich auf sein Leben in der Vergangenheit, auch im Falle eingetretener gesundheitlicher Grenzen sein kön- der Gegenwart und der Zukunft einzugehen, wird man auch nen. Diese strikte Trennung und die mit ihr verbundene Gene- auf dessen Daseinsthemen stoßen – teilen sich diese doch vor ralisierung spiegelt die Gefahr wider, sich bei der Betrachtung allem in einem möglichst freien Interview mit, das nicht durch des Alters, vor allem des hohen Alters, vorwiegend oder sogar zu spezifische, konkrete Fragen eingeengt wird. ausschließlich an körperlichen Momenten zu orientieren und über die seelisch-geistigen, auch über die sozialkommunikati- Mit Daseinsthemen sind dabei die aktuellen Anliegen, Ziele, ven Qualitäten der Persönlichkeit hinwegzugehen. Orientierungen und Bedürfnisse wie auch die (zeitlich überdau- ernden) Werte des Individuums gemeint. Bei den Daseinsthe- Die Verletzlichkeits- und Potentialperspektive miteinander men geht es weniger darum, wie das Individuum spezifische zu verbinden, also beide Perspektiven systematisch zu inte Anforderungen und Belastungen zu verarbeiten versucht. Viel- grieren, bedeutet nicht, ein „positives“ Altersbild zu vertreten mehr umschreiben diese das Gesamterleben und die Gesamt und ein „negatives“ Altersbild zu verwerfen. Wir argumentieren haltung des Individuums, die zwar die Verarbeitung spezifi- hier nicht in Termini des positiven oder negativen Altersbildes. scher Anforderungen und Belastungen beeinflussen, doch Etwas ganz anderes ist gemeint: Nämlich die differenzierte weit über diese hinausgehen: Was ist dem Individuum in sei- Sicht auf die conditio humana, die differenzierte Anthropolo nem Leben besonders wichtig? In welchen Situationen erlebt gie bis an das Ende des Lebens eines Individuums aufrechtzu es sein Leben als stimmig und sinnerfüllt? Von welchen Wer- erhalten und diese differenzierte Sicht bzw. die differenzierte ten lässt es sich in seinen Entscheidungen und Handlungen Anthropologie zugunsten einer einseitigen, ausschließlichen leiten? Auf welche (letzten) Ziele sind seine Motive gerichtet? Konzentration (a) auf das Körperliche, (b) auf die Verluste auf- Den Kern ebendieser Fragen bilden die zentralen Lebens- oder zugeben. Und eine derartige differenzierte Sicht geht auch von Daseinsthemen, die sich unter dem Eindruck neuer Erlebnisse dem bis ans Ende des Lebens gegebenen Entwicklungspoten und Erfahrungen im Lebenslauf verändern können, in denen tial des Menschen aus, oder wie es der Heidelberger Philosoph sich aber zugleich frühere Erlebnisse, Erfahrungen und Orien- Karl Jaspers einmal ausgedrückt hat: „Im Leben gilt alles nur tierungen widerspiegeln. In den Daseinsthemen kommt somit bis so weit, noch ist Möglichkeit, noch ein Leben in die Zukunft, die Wechselwirkung zwischen Biografie einerseits und aktu aus der neue Wirklichkeit, neue Tat auch das Zurückliegende eller Situation andererseits zum Ausdruck. Mit Blick auf das neu und anders deuten kann“. hohe Alter bedeutet dies: Das Individuum gibt seine im Lebens- lauf entwickelten Anliegen, Ziele, Orientierungen und Werte
8 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1 – mithin seine Grundeinstellung und Grundhaltung gegenüber Individuums für neue Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen, dem Leben – nicht auf. Aber unter dem Eindruck der körperli- die zu weiteren Veränderungen in der thematischen Gesamt- chen, seelisch-geistigen und sozialen Veränderungen wie auch struktur führen kann. Eine solche daseinsthematische Analyse der Veränderungen in der Zeitperspektive können sich diese wurde mit Blick auf das hohe Alter bislang nicht vorgenommen. Anliegen, Ziele, Orientierungen und Werte weiter differenzie- ren, verstärken oder abschwächen (dies ist von Individuum zu Individuum verschieden), können auch neue Anliegen und 1.5 Epidemiologische Befunde veran- Ziele hinzutreten, andere hingegen in den Hintergrund treten: schaulichen die erhöhte Verletzlich- In diesen Wandlungen drückt sich der dynamische Charakter keit, sprechen aber zugleich gegen der Person aus, hier zeigt sich die Veränderungs- und Wand die Gleichsetzung von hohem Alter lungsfähigkeit des Selbst. und Krankheit Bei den Daseinsthemen handelt es sich nicht um stabile Nachfolgend sei auf einige wenige epidemiologische Befunde Eigenschaften. Die Annahme einer Konstanz oder Stabilität zur Auftretenshäufigkeit von Herzinsuffizienz, Diabetes, Schlag- trifft auf die Daseinsthemen gerade nicht zu. Das Verständ- anfall, Tumoren, Demenz und Pflegebedürftigkeit im hohen nis von Persönlichkeit als Prozess lässt sich vielmehr von der Alter eingegangen, da sich in diesen Befunden die erhöhte Annahme leiten, dass Daseinsthemen als dynamische Quali- Verletzlichkeit in diesem Lebensabschnitt widerspiegelt, da täten zu interpretieren sind, in denen sich biografische Erleb- diese aber gleichzeitig zeigen, dass das hohe Alter nicht mit nisse und Erfahrungen verdichten, die sich aber durch neue Krankheit und Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt werden darf. Eindrücke, Anforderungen und Möglichkeiten wandeln können. Auch bei chronischer thematischer Strukturierung – wenn sich also bestimmte Anliegen, Ziele und Haltungen mehr und mehr Herzinsuffizienz verfestigen – ist nicht von einer Konstanz der Daseinsthemen auszugehen, impliziert doch die Annahme der grundlegenden In der medizinischen Literatur werden unterschiedliche Offenheit der Persönlichkeit, dass eine Struktur wieder flie- Angaben zur Häufigkeit der Herzinsuffizienz (Herzschwäche) ßend, wieder zu einem Prozess wird, sich die Persönlichkeit getroffen, da unterschiedliche Definitionen der Erkrankung (wenn auch nur in Aspekten, wenn auch nur in begrenztem verwendet werden. In der Regel werden nur Patienten erfasst, Maße) verändert, wandelt. deren Herzschwäche nach dem Schema der New York-Heart Association (NYHA) als Stadium II-IV klassifiziert ist. (Es sei Die Analyse der Daseinsthemen erfolgt grundsätzlich von angemerkt, dass das NYHA-Stadium I keine Beschwerden ver- einer biografischen Perspektive aus, die nach jenen Vorgängen ursacht und am ehesten durch eine Ultraschalluntersuchung fragt, die zu einer chronischen thematischen Strukturierung des Herzens erkennbar ist.) Wenn man dem Schema der NYHA geführt haben, aber auch nach jenen Vorgängen, die Verände- folgt, so sind zur Häufigkeit der Herzinsuffizienz folgende rungen in dieser thematischen Strukturierung in Gang gesetzt Angaben zu treffen: Die Zahl der an Herzinsuffizienz erkrank- haben, und schließlich nach dem Maß der Offenheit des ten Personen liegt in der Bundesrepublik Deutschland bei 7 pro Doris Ebert hat selten Zeit für Privates. Mit 86 Jahren widmet sie ihr Leben der Erforschung der Klosterkirche in ihrem Heimatort Lobenfeld, führt Schulklassen und Kunstinteressierte durch den historischen Bau. Engagement gehört seit der Schulzeit fest zu ihrem Leben. Diese Einstellung gibt sie weiter.
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 9 1.000 Einwohner (0,7 %). Die Anzahl der jährlich neu erkannten Fälle pro 100.000. Während die Erkrankungsraten im mittle- Fälle liegt in der Gruppe der über 75-Jährigen bei ungefähr 30 ren Erwachsenenalter bei Frauen etwas höher sind als bei den pro 1.000 Einwohner (3,0 %), in der Gruppe der 80-Jährigen bei Männern, ist bei Ersteren der Anstieg im höheren Alter etwas ungefähr 35 pro 1.000 Einwohner (3,5 %); Männer sind dabei geringer als bei Letzteren. Bei 45- bis 49-jährigen Frauen dreimal so häufig wie Frauen von dieser Erkrankung betroffen. beträgt die altersspezifische Inzidenz von Krebserkrankungen Die im hohen Alter deutlich steigende Zahl der Herzinsuffizi- 375 Fälle pro 100.000, bei den 65- bis 69-jährigen Frauen 1.094 enz-Erkrankungen ist darauf zurückzuführen, dass deutlich pro 100.000 und bei den 85-jährigen und älteren Frauen 1.892 mehr Menschen in diesem Lebensabschnitt an einer korona- Fälle pro 100.000. ren Herzkrankheit (KHK) und einem Bluthochdruck leiden: bei diesen beiden Krankheiten handelt es sich um die zentralen Risikofaktoren der Herzinsuffizienz. Demenz In Deutschland leben gegenwärtig ungefähr 1,4 Millionen Diabetes demenzkranke Menschen; zwei Drittel von ihnen sind dabei von der Alzheimer-Demenz betroffen. Jährlich treten ca. 280.000 Die Lebenszeitprävalenz des Diabetes steigt mit dem Neuerkrankungen auf. Die Anzahl der Demenzkranken steigt mit Lebensalter und zeigt bei Betrachtung nach dem Geschlecht dem Lebensalter erkennbar an. In der Altersgruppe der 65- bis ein unterschiedliches Bild. In der Altersgruppe der 50- bis 69-Jährigen liegt der Anteil der Demenzkranken bei 1,6 Prozent, 59-Jährigen Männer wird bei 7,3 Prozent ein manifester Diabe- in der Altersgruppe der 80- bis 84-Jährigen bei 15,7 Prozent, tes diagnostiziert, in der Gruppe der 60- bis 69-jährigen Män- in der Altersgruppe der über 90-Jährigen bei 41 Prozent. Zwei ner bei 17,0 Prozent und in der Gruppe der 70- bis 79-jährigen Drittel aller Demenzkranken haben bereits das 80. Lebensjahr Männer bei 22,0 Prozent. Bei den 50- bis 59-jährigen Frauen vollendet. Fast 70 Prozent aller Erkrankten sind Frauen. liegt eine Erkrankungshäufigkeit von 4,0 Prozent vor, bei den 60- bis 69-jährigen Frauen steigt diese auf 10,7 Prozent und bei den 70- bis 79-jährigen Frauen auf 21,8 Prozent. Wenn Pflegebedürftigkeit auch Zahlen zur Erkrankungshäufigkeit in den noch höheren Altersgruppen nicht vorliegen, so zeigen doch Ergebnisse aus Derzeit sind in der Bundesrepublik Deutschland 2,55 Millio- einer Versichertenstichprobe der AOK Hessen, dass zumindest nen Menschen pflegebedürftig – davon beziehen 2,4 Millionen die Behandlungshäufigkeit in der Gruppe der über 80-jährigen Menschen Leistungen über die soziale Pflegeversicherung Menschen wieder abnimmt. und 145.000 Personen Leistungen über eine private Pflege- Pflichtversicherung. Zum Vergleich: 1995 lag die Zahl der Leistungsbezieher der sozialen Pflegeversicherung noch bei Schlaganfall 1,06 Millionen – bis heute ist die Zahl der Pflegebedürftigen im Durchschnitt um 4,9 Prozent pro Jahr gestiegen. Gegen- Eine Betrachtung der Lebenszeitprävalenz des Schlaganfalls wärtig sind ca. 80 Prozent der Pflegebedürftigen im Bereich im Alter von 40 bis 79 Jahren (aktuelle Daten für über 80-Jäh- der sozialen Pflegeversicherung 65 Jahre oder älter, mehr als rige liegen nicht vor) zeigt den Anstieg der Erkrankungshäu- ein Drittel sind 85 Jahre oder älter (34,3 Prozent). Das Risiko figkeit mit dem Alter. Während bei den Männern in der Alters- der Pflegebedürftigkeit, also die Wahrscheinlichkeit, pflege- gruppe zwischen 40 und 49 Jahren 0,7 Prozent einen Schlag- bedürftig zu werden, liegt bei den unter 60-Jährigen bei 0,7 anfall erleiden, steigt dieser Anteil in der Altersgruppe von 50 Prozent, im Alter zwischen 60 und 80 Jahren steigt dieses auf bis 59 Jahren auf 1,8 Prozent, in der Altersgruppe von 60 bis 69 4,2 Prozent, bei den über 80-Jährigen beträgt es 28,8 Prozent, Jahren auf 4,2 Prozent und in der Altersgruppe von 70 bis 79 bei den über 90-Jährigen 58 Prozent. Der Frauenanteil an allen Jahren auf 8,1 Prozent. Bei den Frauen liegen die Zahlen etwas Pflegebedürftigen liegt bei 64,6 Prozent, der Männeranteil bei niedriger. In der Altersgruppe von 40 bis 49 Jahren beträgt 35,4 Prozent. Fast 30 Prozent aller Pflegebedürftigen werden die Lebenszeitprävalenz des Schlaganfalls 1,1 Prozent, in der in Pflegeheimen betreut. Bei 32,8 Prozent der zu Hause Ver- Gruppe von 50 bis 59 Jahren 0,8 Prozent, zwischen 60 bis 69 sorgten erfolgt die Pflege zum Teil oder aber vollständig durch Jahren 3,1 Prozent und in der Altersgruppe zwischen 70 und 79 ambulante Pflegedienste, 67,2 Prozent erhalten hingegen aus- Jahren 6,3 Prozent. schließlich Pflegegeld: Sie werden also allein durch Angehörige gepflegt. Tumore Bei einem Überblick über die genannten epidemiologischen Befunde wird deutlich, dass die in unserer Gesellschaft vor- Mit Blick auf die Tumore ergibt sich folgendes Bild: Die Tumor genommene Gleichsetzung von hohem Alter und Krankheit erkrankungshäufigkeit steigt mit dem Lebensalter deutlich an. bzw. Pflegebedürftigkeit nicht zutrifft. Diese Aussage gilt auch Bei 45- bis 49-jährigen Männern beträgt die altersspezifi- mit Blick auf die Anzahl pflegebedürftiger und demenzkranker sche Inzidenz von Krebserkrankungen 238 Fälle pro 100.000 Menschen: Mehr als 40 Prozent der Menschen im hohen Alter Einwohner, bei den 65- bis 69-jährigen Männern 1.863 pro sind nicht pflegebedürftig, bei ca. 60 Prozent der Menschen im 100.000 und bei den 85-jährigen und älteren Männern 3.049 hohen Alter liegt keine Demenz vor.
10 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1 2. Zentrale Elemente einer Psychologie des hohen Alters Und dieses Einst, wovon wir träumen, es ist noch nirgends, als in unserm Geist – wir sind dies Einst, uns selbst vorausgereist im Geist, und winken uns von seinen Säumen, wie wer sich selber winkt [Christian Morgenstern, Stufen] Dieses von Christian Morgenstern Anfang des 20. Jahrhun- grundlegenden Interesse an Fragen des hohen Alters bestimmt derts verfasste Epigramm ist auch als Forderung zu deuten, ist und Menschen in dieser Lebensphase in einer offenen, vor wissenschaftliche ebenso wie gesellschaftlich-kulturelle Phä- urteilsfreien Haltung begegnet. Im Folgenden soll nun eine nomene kontinuierlich zu hinterfragen, sich diesen in einer Anthropologie des hohen Alters skizziert werden, die sich von veränderten Weise zu nähern, diese gegebenenfalls neu zu einem umfassenden Verständnis der Person leiten lässt. Diese denken. Dies gilt auch und in besonderer Weise für das Alter in Anthropologie bildet auch den theoretisch-konzeptionellen seiner körperlichen, seelisch-geistigen, sozial-kommunikativen Hintergrund der Studie. Dimension. Mit Blick auf das hohe Alter beschreibt das Epi- gramm die Herausforderung, die seelisch-geistigen und sozial- kommunikativen Kräfte in dieser Lebensphase sehr viel stärker 2.1 Was alte Menschen geben k önnen: zu beachten und anzusprechen – und dies auch im Falle einer der Beitrag des hohen Alters zu immer deutlicher hervortretenden körperlichen Verletzlichkeit. einer intra- und intergenerationellen Sorgekultur Stellen wir, das Einleitungskapitel zusammenfassend, noch einmal fest: Das hohe Alter wird gesellschaftlich primär mit Als zentrale Elemente einer Psychologie des hohen Alters, die Verlusten assoziiert. Dieses einseitige Bild des hohen Alters bislang entwickelt wurden, lassen sich nennen: (a) die differen- kann dazu beitragen, dass die schöpferischen Kräfte in dieser zierte Wahrnehmung des eigenen Selbst, (b) die Integration von Lebensphase – und damit auch die schöpferischen Kräfte alter persönlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, (c) die Menschen in Grenzsituationen des Lebens – nicht ausreichend Verwirklichung kosmischer Bezüge, in die die eigene Existenz beachtet und angesprochen werden. Wenn wir zu einer dif- eingebettet ist, sowie (d) die Integration in eine Generationen- ferenzierteren Sicht des hohen Alters gelangen wollen, so ist folge, innerhalb derer man nicht nur empfängt, sondern auch ein umfassendes Verständnis der Person Voraussetzung, das gibt – wobei das Lebenswissen der Menschen im hohen Alter sich nicht nur auf körperliche Prozesse konzentriert, sondern dann als eine Bereicherung für die nachfolgenden Generatio- auch kognitive, emotionale und sozial-kommunikative Pro- nen zu werten ist, wenn es mit Offenheit für deren Anliegen und zesse in den Blick nimmt. Vor dem Hintergrund bereits vorlie- Themen gepaart ist. gender empirischer Befunde zum hohen Alter ist die Annahme gerechtfertigt, dass in der emotionalen, kognitiven und sozial- In den Theorien zur Generativität (Bedürfnis, nachfolgen- kommunikativen Dimension der Person Entwicklungsmöglich- den Generationen etwas weiterzugeben), zur sozioemotiona keiten bis in das hohe Alter bestehen. Die Verwirklichung dieser len Selektivität (Bedürfnis, sich auf eine kleinere Anzahl von Potentiale wird, so lautet unsere Annahme, durch eine Haltung Beziehungen zu konzentrieren, in denen emotionale Intimität in unserer Gesellschaft und Kultur gefördert, die von einem erlebt und der Austausch von Hilfen verwirklicht werden kann)
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 11 sowie zur Gerotranszendenz (Bedürfnis, sich in umfassendere Dieser unbedingten Inanspruchnahme durch den Anderen ist Kontexte eingebettet zu sehen, wobei die Generationenfolge das Subjekt unterworfen, weswegen Emmanuel Levinas den einen derartigen Kontext bildet) wird – zumindest indirekt – ein lateinischen Begriff „subjectum“ im Sinne von „subjactum“ – Aspekt thematisiert, dem in unserer Studie besondere Beach- nämlich „unterworfen“ – übersetzt. Diese Anthropologie bildet tung geschenkt werden soll: Die Sorge des alten Menschen für eine bemerkenswerte Grundlage für ein tieferes Verständnis andere und um andere Menschen. Mit dem Begriff der Sorge der Lebenssituation alter Menschen, die in der Verwirklichung ist hier gemeint, dass man Andere aktiv unterstützt („Sorge von freundschaftlich gemeinter Sorge eine Möglichkeit finden, für“) oder dass man sich innerlich intensiv mit deren Lebens- die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit anzunehmen und in situation beschäftigt, sich in diese hineinversetzt und darüber dieser schöpferisch zu leben – wobei die vertiefte Auseinan nachdenkt, wie man diese durch eigenes Handeln fördern kann dersetzung mit dem eigenen Selbst Wissen und Erkenntnisse („Sorge um“). Damit ist der aktive Beitrag des alten Menschen zutage fördert, die in die Beziehung zu anderen Menschen (vor zu einer „Sorgestruktur“ (oder einer „sorgenden Gemein- allem nachfolgender Generationen) eingebracht werden und schaft“) angesprochen: Von einem „aktiven“ Beitrag wird hier diese in besonderer Weise befruchten können: ein wichtiges gesprochen, weil alte Menschen nicht nur „nehmen“, sondern Fundament der freundschaftlich gemeinten Sorge. auch „geben“ (wollen). Vor dem Hintergrund bereits vorliegen- der empirischer Studien, die sich mit der Lebensbewertung und Die Überprüfung dieser Annahme ist auch deswegen wich- Bindung des Menschen an das Leben wie auch mit dem Invest tig, da diese im Falle ihrer Bestätigung auf die Notwendigkeit ment psychischer Energie in das Leben beschäftigen, sei ange- verweist, den Menschen darin zu unterstützen, sich auch sor- nommen, dass die Sorge für und um andere Menschen sowohl gend (und zwar im positiven Sinne des Wortes) anderen Men- Grundlage als auch Ausdrucksform der Bindung an das Leben schen zuzuwenden. Hier würde sich eine bedeutende Aufgabe sowie eine bedeutende Form des Lebensinvestments darstellt. für die Kommune, für die Vereine und für die Bürgerstiftungen Diese Annahme soll in unserer Studie überprüft werden. ergeben, die zu jenen Gelegenheitsstrukturen und Rahmenbe- dingungen beitragen können, die für die Verwirklichung einer In Arbeiten des Philosophen Emmanuel Levinas (1906–1995) derartigen Sorgekultur (in der auch Menschen im hohen Alter wird der unbedingte Anspruch des Anderen hervorgehoben, aktiv Beitragende und nicht nur Nehmende sind) bedeutsam der dem eigenen Anspruch vorgeordnet sei. Die zentrale sind. Inwieweit sind Kommunen und Vereine auf eine derartige Stellung des Subjekts wird hier zugunsten des unbedingten Aufgabe vorbereitet? Auch mit dieser Frage soll sich unsere Anspruchs des Anderen aufgegeben. Bevor ich zu mir selbst Studie beschäftigen. komme, so Levinas, steht mir der Andere gegenüber; dieser besitzt die Qualität der unbedingten vorausgehenden Verpflich tung – und erst durch den Anderen komme ich zu mir selbst.
12 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1 2.2 Welche psychischen Qualitäten sich Die mehr und mehr in das Zentrum des Erlebens tretende im hohen Alter beobachten lassen – Begrenztheit und Endlichkeit der eigenen Existenz erfordert Introversion, Offenheit und Generati- eine konzentrierte, vertiefte Auseinandersetzung mit sich vität als Potentiale des hohen Alters selbst (Introversion). Das hohe Alter kann als eine Lebens- phase gedeutet werden, in der das Potential zur Introversion Die psychologische Betrachtung des hohen Alters führt uns – verstanden als vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst – zu drei grundlegenden Orientierungen in dieser Lebensphase: mehr und mehr in das Zentrum rückt. In der Introversion drückt Die erste bildet die Introversion, das heißt die vertiefte Ausei- sich zum einen das in der Biografie gewonnene Lebenswissen nandersetzung des Menschen mit sich selbst, die zweite die und das Wissen über sich selbst aus, in ihr differenziert sich zum anderen dieses Lebenswissen wie auch das Wissen über sich selbst. In einer Arbeit über die Selbsterkenntnis im Alter umschreibt der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) den Prozess wie folgt: „Gegen das Ende des Lebens nun gar geht es wie gegen das Ende eines Maskenballs, wann die Larven abgenommen wer den. Man sieht es jetzt, wer diejenigen, mit denen man, wäh rend seines Lebenslaufs, in Berührung gekommen war, eigent lich gewesen sind. Denn die Charaktere haben sich an den Tag gelegt, die Taten haben ihre Früchte getragen, die Leistungen ihre gerechte Würdigung erhalten und alle Trugbilder sind zerfallen. Zu diesem allen nämlich war Zeit erfordert. – Das Seltsamste aber ist, dass man sogar sich selbst, sein eigenes Ziel und Zwecke, erst gegen das Ende des Lebens eigentlich erkennt und versteht, zumal in seinem Verhältnis zur Welt, zu den andern. Zwar oft, aber nicht immer, wird man dabei sich eine niedrigere Stelle anzuweisen haben, als man früher ver meint hatte; bisweilen auch eine höhere; welches dann daher kommt, dass man von der Niedrigkeit der Welt keine ausrei chende Vorstellung gehabt hatte und demnach sein Ziel höher steckte, als sie. Man erfährt beiläufig, was an einem ist.“ Die tiefe, konzentrierte Auseinandersetzung mit dem eige- nen Selbst – im Sinne der differenzierten Wahrnehmung des Selbst, im Sinne des differenzierten Rückblicks auf das eigene Leben und schließlich des gefassten und hoffenden Blicks auf die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit (hoffend in der Hinsicht, Sterben und Tod innerlich „unversehrt“ zu überste- hen) – ist bedeutsam für ein schöpferisches Leben im hohen Alter. „Schöpferisch“ meint hier, dass sich das Selbst aus- Inge A. Burck ist ein Energiebündel. Die 88-Jährige leitet drücken und mitteilen kann (Selbstaktualisierung), ja, dass es das Bürgerkontaktbüro ihrer Heimatstadt Eppelheim sich sogar weiter differenzieren kann (Aktualgenese), wobei und engagiert sich rege in Schul- und Bildungsfragen. die Selbstaktualisierung als eine grundlegende Tendenz des Doch sie hat nicht nur ihre eigenen Projekte im Blick, Psychischen zu begreifen ist, sich auszudrücken und mitzutei- sondern denkt und arbeitet mit am großen Bild einer len, die Aktualgenese als das über die gesamte Lebensspanne generationengerechten Gesellschaft. gegebene Potential der Psyche, sich unter dem Einfluss neuer Anregungen und Aufgaben weiterzuentwickeln. Die reflektierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst bildet diesem Verständnis zufolge eine bedeutende Grundlage für Prozesse Offenheit, das heißt die Empfänglichkeit für neue Eindrücke, der Selbstaktualisierung und der Aktualgenese, und diese Pro- Erlebnisse und Erkenntnisse, die aus dem Blick auf sich selbst zesse bilden ihrerseits ein Fundament der positiven Lebensein- wie auch aus dem Blick auf die umgebende soziale und räumli- stellung wie auch der gefassten und hoffenden Einstellung zur che Welt erwachsen, die dritte schließlich die Generativität, das eigenen Endlichkeit. heißt die Überzeugung, sich in eine Generationenfolge gestellt zu sehen und in dieser Generationenfolge Verantwortung zu Die vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst wird dabei übernehmen. Warum werden diese drei Orientierungen betont? durch die Offenheit des Menschen für neue Eindrücke,
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 13 Erlebnisse und Erkenntnisse gefördert. Die Offenheit wird in der Allerdings muss das Individuum die Möglichkeit haben, psychologischen Literatur auch mit dem Begriff der „kathekti- sein Lebenswissen, seine reflektierten Erfahrungen einzu- schen Flexibilität“ umschrieben, die sich im höheren Lebens- bringen, sich für andere Menschen zu engagieren, etwas alter vor allem in der „Transzendierung des Körperlichen“, im für nachfolgende Generationen zu tun: Sozialräume müssen hohen Alter in der „Transzendierung des Ichs“ ausdrücke. so gestaltet sein, dass sich entsprechende Gelegenheits- Ein Mangel an kathektischer Flexibilität führt dazu, dass das strukturen entwickeln und festigen können. Eine derartige Individuum im Körperlichen verhaftet sei, sich also ganz auf Sozialraumgestaltung ist gerade angesichts der Tatsache körperliche Prozesse konzentriere – damit verbunden ist eine wichtig, dass hochbetagte Menschen – auch bei aller see- deutlich verringerte Sensibilität für seelische, geistige und lisch-geistigen und sozialkommunikativen Kompetenz – nicht soziale Prozesse. Dieser Mangel an kathektischer Flexibilität selten Einschränkungen in ihrer Mobilität aufweisen und ist auch dafür verantwortlich zu machen, dass das Individuum somit auf eine Umweltgestaltung angewiesen sind, die ihnen im eigenen Ich verhaftet sei, sich nicht über sich selbst hinaus hilft, diese Mobilitätseinschränkungen wenigstens in Teilen entwerfe und damit auch keine Sensibilität für das Fortleben auszugleichen. in nachfolgenden Generationen und die spirituellen Kräfte der menschlichen Existenz entwickle. In seiner am 15. März 2013, zwei Tage nach seiner Wahl zum Papst, gegebenen Audienz für die Kardinäle äußerte sich Papst Die Erhaltung von kathektischer Flexibilität ist dabei an die Franziskus auch zum Wesen des Alters. Nachfolgend sei die Fähigkeit des Behandelnden und des Behandelten gebunden, entsprechende Passage seiner Rede angeführt: die seelisch-geistigen (und spirituellen) Qualitäten des hohen Alters in der spezifischen Art und Weise, wie sich diese im „Liebe Mitbrüder, nur Mut! Die Hälfte von uns steht in fort individuellen Falle darstellen, differenziert wahrzunehmen, an- geschrittenem Alter: Das Alter ist – gern drücke ich es so aus und auszusprechen. Dies bedeutet auch, über Aspekte des – der Sitz der Weisheit des Lebens. Die Alten haben die Weis menschlichen Lebens in einer veränderten Art und Weise zu heit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu haben wie der greise denken und zu sprechen: so zum Beispiel über die begrenzte Simeon, wie die greise Anna im Tempel. Und genau diese Lebenszeit (die auch als Anstoß verstanden werden kann, Weisheit hat sie Jesus erkennen lassen. Schenken wir diese neue – zeitlich nicht zu weit ausgreifende – Ziele zu definie- Weisheit den jungen Menschen: Wie der gute Wein, der mit ren), so zum Beispiel über die abnehmende Anzahl sozialer den Jahren immer besser wird, so schenken wir den jungen Interaktionspartner (die auch als Anstoß verstanden werden Menschen die Weisheit des Lebens. Mir kommt in den Sinn, kann, sich auf einige wenige Interaktionspartner zu konzentrie- was ein deutscher Dichter über das Alter gesagt hat: ‚Es ist ren und in diesen Kontakten vermehrt emotionale Bedürfnisse ruhig das Alter und fromm.‘ Es ist die Zeit der Ruhe und des zu leben). Gebets. Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese Weisheit zu geben.“ (Papst Franziskus, 2013, S. 25f) Nicht nur die Introversion und die Offenheit erscheinen als bedeutende Merkmale des hohen Alters, sondern auch das Diese Charakterisierung ist aus zwei Gründen bemer- Verlangen, sich in eine Generationenfolge gestellt zu sehen kenswert: Zunächst wird – ein Gedicht Friedrich Hölderlins und damit Lebenswissen und reflektierte Erfahrungen an nach- (1770–1843) aufgreifend – das Alter als „Zeit der Ruhe und folgende Generationen weiterzugeben – dies immer auch im des Gebets“ gedeutet: „Es ist ruhig das Alter und fromm“, so Bewusstsein des in den vorangehenden Generationen liegen- heißt es in Hölderlins Gedicht „Meiner verehrungswürdigen den eigenen Ursprungs. Großmutter zu ihrem 72. Geburtstag“. Papst Franziskus gilt als ein Hölderlin-Kenner, und die Tatsache, dass er aus den Das Verständnis von Generativität – nämlich im Sinne der zahlreichen Deutungen des Alters, die Friedrich Hölderlin in Integration des Rückblicks auf die vorangegangenen Genera- seinem Schrifttum vorgenommen hat, gerade diese auswählt, tionen und des Vorausblicks auf die nachfolgenden Generati- weist darauf hin, dass er die Ruhe („ruhig“) und das Gebet onen – lässt sich veranschaulichen mit den Worten des engli- („fromm“) als zentrale psychologische und religiöse Merk- schen Theologen und Schriftstellers John Donne (1572–1631), male des Alters ansieht. Doch treten zwei weitere Aspekte in dessen 1624 veröffentlichter Schrift „Devotions upon emer- hinzu, und diese geben der gewählten Charakterisierung aus gent occasions“ zu lesen ist: einem weiteren Grund besonderes Gewicht: Das Alter wird als „Sitz der Weisheit des Lebens“ beschrieben, wobei diese Weisheit des Lebens auf den Erlebnissen, Erfahrungen und „All mankind is of one author, and is one volume; when Begegnungen gründet, die Menschen im Laufe ihrer Biografie one man dies, one chapter is not torn out of the book, but gewonnen haben, wie auch auf der Reflexion dieser biogra- translated into a better language; every chapter must be fischen Stationen. Nur so lässt sich die Aussage: „Die Alten so translated. No man is an island, entire of itself; every haben die Weisheit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu man is a piece of the continent, a part of the main. Any haben“ deuten. Diese Weisheit bildet eine potentielle Stärke man’s death diminishes me, because I am involved in oder Ressource des Alters, und zwar vor allem in den Bezie- mankind. Therefore, do not send to know for whom the hungen zwischen den Generationen, wenn es nämlich heißt: bell tolls, it tolls for thee.“ „Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese Weis- heit zu geben.“
14 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1 3. Die empirische Studie – Konzeption, Stichprobe, Ergebnisse 3.1 Aufbau der Studie 3.1.1 Daten zur Stichprobe Es wurden ausschließlich (biografisch orientierte) Interviews Stichprobengröße: N = 400 Personen durchgeführt; diese dauerten zwischen 90 und 150 Minuten. Zunächst wurde die Zielsetzung der Studie – nämlich zu einer Altersbereich: 85-89 Jahre: 65 % differenzierten Einschätzung des Erlebens hochbetagter Men- 90-94 Jahre: 27 % schen zu gelangen – beschrieben und auf Fragen der Inter- 95-99 Jahre: 8% viewpartner zur Studie eingegangen. In einem weiteren Schritt wurden Fragen zu folgenden Themenbereichen gestellt: (a) Geschlechterverteilung: Frauen: 66 % Alter und Familienstand, (b) innerfamiliäres und außerfamiliä- Männer: 34 % res Netzwerk sowie Häufigkeit und Qualität der Beziehungen und Kontakte zu den Netzwerkpartnern, (c) Erwerbsbiografie, Familienstand: Verheiratet: 30 % (d) bürgerschaftliches Engagement, (e) subjektiver Gesund- Verwitwet: 58 % heitszustand, (f) Grad der Selbstständigkeit bei der Ausführung Ledig: 7% von Aktivitäten des täglichen Lebens. Dieser Teil des Inter- Geschieden: 5% views dauerte im Durchschnitt 20 Minuten. Sodann wurden die Interviewpartner darum gebeten, die subjektiv wichtigsten Schulischer Bildungsstand: Hoch: 27 % Stationen ihrer Biografie zu schildern und auf Erwartungen, Mittel: 48 % Hoffnungen sowie Befürchtungen mit Blick auf ihre persönli- Eher niedrig: 17 % che Zukunft einzugehen. Dieser Teil des Interviews dauerte im Niedrig: 8% Durchschnitt 30 Minuten. In einem weiteren Schritt standen die aktuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken im Vorder- Wohnform: Privathaushalt: 74 % grund: Die Interviewpartner sollten schildern, was sie aktuell Wohnstift: 11 % besonders beschäftigt. Hier wurden Nachfragen gestellt, um Altenpflegeheim: 15 % weitere Ausführungen zu diesen Erlebnissen, Erfahrungen und Gedanken anzustoßen. Nach Abschluss dieses Interviewteils Region: Stadt: 41 % wurde die Frage gestellt, welche Merkmale der Persönlich- Städtischer Einzugsbereich: 28 % keit, des sozialen und institutionellen Umfeldes den Kontakt Ländlicher Raum: 31 % zu anderen Menschen bzw. die Sorge um andere Menschen fördern oder erschweren. Zudem wurde eine Frage nach den Pflegebedürftigkeit Ja: 21 % spezifischen Sorgeformen gestellt. Abschließend wurde die Art (Einstufung nach SGB XI): Nein: 79 % und Weise thematisiert, wie die Interviewpartner mit ihrer aktu- ellen Lebenssituation umgehen und von welchen Zielsetzun- Engagement für Ja: 51 % gen, Werten und Bedürfnissen sie sich dabei leiten lassen. Die- andere Menschen: Nein: 49 % ser Teil des Interviews dauerte zwischen 40 und 100 Minuten. Nie engagiert: 16 % Die Auswertung der Interviews wurde jeweils durch zwei Bis zum Eintritt in das hohe Alter unabhängig voneinander arbeitende Personen vorgenommen; (ca. 80 / 85 Jahre) engagiert: 54 % nach Auswertung eines Interviews wurden die Auswertungs- Bis zum Eintritt in das höhere Alter protokolle miteinander verglichen, um Übereinstimmungen vs. (ca. 60 / 65 Jahre) engagiert: 18 % Abweichungen identifizieren zu können. Auf der Grundlage der Erstmalig ab 80 / 85 Jahre engagiert: 12 %* Diskussion dieser Protokolle wurde gemeinsam ein Interview- protokoll erstellt, das als Grundlage für die statistische Aus- * Vor allem dieses Datum zeigt, dass sich Selbst- und Weltge- wertung diente. An dem Auswertungsprozess haben sich ins- staltung auch im hohen Alter im Sinne einer qualitativen Weiter- gesamt zwei Wissenschaftlerinnen und zwei Wissenschaftler entwicklung verändern können. beteiligt. Einschlusskriterium: Fähigkeit und Interesse, an einem zweistündigen Interview über die eigene Biografie und über die Beziehungen zwischen den Generationen konzentriert teilzunehmen.
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 15 Ausschlusskriterium: Anzeichen von Demenz (waren diese 3.2 Welche Daseinsthemen charakterisie- erkennbar, so wurde das Interview vorsichtig abgebrochen und ren die Gruppe der 85- bis 98-jährigen anstelle der ausgewählten Person eine andere ausgewählt; Frauen und Männer? dies kam achtmal vor). Nachfolgend sind die Daseinsthemen der Interviewpartner Kontaktaufnahme über: Wohlfahrtsverbände, Kirchen, aufgeführt; in Klammern ist der Anteil der Stichprobe (N=400 Wohnstifte, Heime, sonstige Institutionen, Empfehlungen durch Personen) angeführt, bei denen das jeweilige Daseinsthema Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, lokale Presse ermittelt werden konnte. aufrufe. 1. Freude und Erfüllung in einer emotional tieferen Begeg- nung mit anderen Menschen (76 %) Kommentar zur Stichprobe: 2. Intensive Beschäftigung mit der Lebenssituation und Ent- Wie schon der Vergleich unserer Stichprobe mit den Anga- wicklung nahestehender Menschen – vor allem in der eige- ben zur Anzahl der pflegebedürftigen oder demenzkranken nen Familie und in nachfolgenden Generationen (72 %) Menschen deutlich macht, vermittelt die Stichprobe keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung über 85 Jahre. In 3. Freude und Erfüllung im Engagement für andere Menschen unserer Stichprobe finden sich keine Studienpartner mit einer (61 %) (zumindest manifesten) Demenzerkrankung, auch der Anteil der Menschen mit einer klinisch manifesten und subklinischen 4. Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und geach- (subsymptomatischen) Depression (der in der Gruppe der über tet zu sein – vor allem von nachfolgenden Generationen 85-Jährigen bei ca. 25 Prozent liegt) ist in unserer Stichprobe (60 %) deutlich geringer: Wir fanden bei zwölf Prozent der Studien- partnerinnen und Studienpartner Hinweise auf eine stärker 5. Sorge vor dem Verlust der Autonomie (im Sinne von Selbst- ausgeprägte Niedergeschlagenheit und Resignation (die wir verantwortung und Selbstständigkeit) (59 %) allerdings aufgrund fehlender klinisch-psychologischer oder psychiatrischer Befunde nicht als „Depressionen“ eingestuft 6. Bemühen um die Erhaltung von (relativer) Gesundheit und haben). Zudem ist der Anteil der Personen mit einem mittleren (relativer) Selbstständigkeit (55 %) und höheren Bildungsstand in unserer Stichprobe überreprä- sentiert, der Anteil der Heimbewohnerinnen und Heimbewoh- 7. Überzeugung, Lebenswissen und Lebenserfahrungen ner unterrepräsentiert. Mit anderen Worten: Die hier vorge- gewonnen zu haben, das Angehörigen nachfolgender stellte Stichprobe ist im Hinblick auf die objektiv gegebenen Generationen eine Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann Lebensbedingungen – verglichen mit der Gesamtbevölkerung (44 %) im Alter von über 85 Jahren – durchaus als eine „privilegierte“ anzusehen, sodass die Generalisierung der hier gewonnenen 8. Intensivere Auseinandersetzung mit sich selbst, differen- Befunde über die Gesamtbevölkerung nicht möglich ist. – Doch ziertere Wahrnehmung des eigenen Selbst, vermehrte relativiert dies in keiner Weise die Dignität der gewonnenen Beschäftigung mit der eigenen Entwicklung, Rückbin- Befunde. Es ging uns nicht darum, repräsentative Aussagen dung von Interessen und Tätigkeiten an frühe Phasen des für die Gesamtgruppe der Menschen im hohen Lebensalter zu Lebens (41 %) treffen, sondern es war unser Ziel, Einblick in die Verletzlich keit und die Potentiale in diesem Lebensalter zu gewinnen und 9. Phasen von Einsamkeit (39 %) dabei als Ausgangspunkt die Erlebens- und Erfahrungswelt des Individuums zu wählen. Eine sorgfältige Analyse der Ver- 10. Fehlende oder deutlich reduzierte Kontrolle über den Kör- letzlichkeit und der Potentiale aus der Sicht des Individuums per und spezifische Körperfunktionen, Sorge vor immer eröffnet die Möglichkeit, zu grundlegenden Aussagen über neuen körperlichen Symptomen (36 %) körperliche, emotionale, kognitive und sozialkommunikative Prozesse im hohen Alter zu treffen. Man kann von den Studien 11. Fragen der Wohnungsgestaltung (Erhaltung von Selbst- ergebnissen ausgehend die Frage stellen, wie die Rahmenbe- ständigkeit, Teilhabe, Wohlbefinden) (34 %) dingungen verändert werden müssten, damit das Risiko der Verletzlichkeit verringert und die Entwicklung sowie Umsetzung 12. Phasen der Niedergedrücktheit (31 %) von Potentialen gefördert wird. – Zudem ist bei einem Blick auf die Stichprobe nicht zu übersehen, dass in dieser auch 13. Chronische oder passagere Schmerzzustände und Bemü- Frauen und Männer mit Pflegebedürftigkeit sowie aus unte- hen, diese zu kontrollieren (30 %) ren Bildungsschichten repräsentiert sind, sodass es durchaus möglich ist, der Frage nachzugehen, inwieweit sich Merkmale 14. Intensive Beschäftigung mit der Endlichkeit des eigenen der Lebenslage auf die persönliche Lebenssituation – wie diese Lebens (30 %) von Menschen im hohen Alter beschrieben wird – auswirken.
16 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1 15. Intensive Beschäftigung mit einem Leben nach dem Tod; Einsamkeit“ (Thema 9) beziehen sich unmittelbar auf gegebene diese Beschäftigung ist dabei auch eingebettet in religiöse oder fehlende Möglichkeiten der Gestaltung von sozialen Bezie- oder spirituelle Kontexte (28 %) hungen, die „Innere Beschäftigung mit der Lebenssituation und Entwicklung nahestehender Menschen – vor allem in der eige- 16. Sorge vor fehlender finanzieller Sicherung (24 %) nen Familie, vor allem in nachfolgenden Generationen“ (Thema 2), das „Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und 17. Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach Engagement für geachtet zu sein – vor allem von nachfolgenden Generationen“ andere Menschen (23 %) (Thema 4) sowie die „Überzeugung, Lebenswissen und Lebens- erfahrungen gewonnen zu haben, das Angehörigen nachfolgen- 18. Fehlende Achtung, Zustimmung und Aufmerksamkeit der Generationen eine Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann“ durch Familienangehörige – vor allem nachfolgender Gene- (Thema 7) auf das mitverantwortliche Leben in der Generatio- rationen (23 %) nenfolge. Das Selbstverständnis als verantwortlich handelndes Glied in der Generationenfolge verleiht somit dem Generativi- 19. Selbstzweifel mit Blick auf die Attraktivität der eigenen Per- tätsmotiv auch im subjektiven Erleben noch einmal besonderes son für andere Menschen (20 %) Gewicht. Die Annahme, Beziehungen würden im hohen Alter in ihrer Bedeutung für die Identität des Individuums abnehmen, 20. Innere Beschäftigung mit Fragen der Art und Weise des denn dieses ziehe sich immer weiter aus Beziehungen zurück, Sterbens wie auch des Sterbeortes (19 %) ist unserem Befunde zufolge keinesfalls zutreffend. Soziale Beziehungen können in ihrer Bedeutung für die eigene Identi- 21. Probleme bei der finanziellen Sicherung des Lebens tät – und dies heißt auch für die Bindung an das Leben und für unterhalts (18 %) die Lebensqualität – nicht hoch genug bewertet werden. Zudem wird in dem Befund eine bestimmte Qualität der Beziehungen 22. Subjektiv erlebte kognitive Einbußen, die vorübergehend deutlich: Es geht nicht nur darum, „mit anderen Menschen die Sorge auslösen können, an einer Demenz erkrankt zu zusammen zu sein“. Vielmehr ist auch das Verlangen erkennbar, sein (17 %) ja steht sogar im Vordergrund, etwas für andere Menschen zu tun – sei es im Sinne von Hilfeleistungen, die diesen entgegen- 23. Beschäftigung mit dem Leben und dem Schicksal per- gebracht werden, oder sei es im Sinne innerer Anteilnahme an sönlich bedeutsamer Gruppen und Orte (zum Beispiel des deren Lebenssituation. Besonders deutlich spiegelt sich dieses Geburts- und Heimatortes) (15 %) Motiv im Daseinsthema „Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und geachtet zu sein“ (Thema 4) wider. Damit ist auch 24. Fehlende Achtung und Aufmerksamkeit von Mitmenschen, schon ein Hinweis auf das dringend notwendige gesellschaftli- Leben in Distanz zu anderen, auch Konflikte und Unver- che und kulturelle Verständnis des hohen Alters gegeben: Men- ständnis, anderen nicht näherkommen (13 %) schen in diesem Alter wollen ausdrücklich ihre sozialen Netz- werke mitgestalten, sie wollen als aktiver Teil dieser Netzwerke 25. Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach verständnisvoller und wahrgenommen, geachtet und angesprochen werden. tiefsinniger Kommunikation mit nachfolgenden Generatio- nen (12 %) Folgerung 26. Intensive Zuwendung zur Menschheit und Schöpfung (11 %) Das Eingebundensein in soziale Beziehungen, der Aus- 27. Intensive Auseinandersetzung mit dem Leben eines Ver- tausch mit anderen Menschen, das Engagement für storbenen, der sehr bedeutsam für das eigene Leben andere Menschen, die Erfahrung, von anderen Menschen gewesen und es auch heute noch ist (10 %) geschätzt und gebraucht zu werden, sowie die mitverant- wortliche Lebenshaltung sind auch im hohen Alter bedeu- tende Merkmale eines persönlich zufriedenstellenden und 3.2.1 Soziale Beziehungen und Mitver- sinnerfüllten Lebens. antwortung – als Ausdruck der „Weltgestaltung“ – besitzen große Bedeutung für die Lebensqualität 3.2.2 Es werden auch Grenzen der Teil im hohen Alter habe im hohen Alter sichtbar – gegen die unsere Gesellschaft viel tun Beschreibung: Zunächst fällt die große Bedeutung der könnte Gestaltung von sozialen Beziehungen und dabei auch des mitverantwortlichen Lebens in der Generationenfolge auf: Die Beschreibung: In den genannten Daseinsthemen sind „Freude und Erfüllung in der Begegnung mit anderen Men- auch die Grenzen der Teilhabe erkennbar: Diese zeigen sich schen“ (Thema 1), die „Freude und Erfüllung im Engagement zunächst in der „Sorge vor einer zukünftig fehlenden finanzi- für andere Menschen“ (Thema 3) ebenso wie die „Phasen von ellen Sicherung“ (Thema 16) und in den „Problemen bei der
Sie können auch lesen