Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...

Die Seite wird erstellt Lennard Binder
 
WEITER LESEN
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
Der Ältesten Rat.
Generali Hochaltrigenstudie:
Teilhabe im hohen Alter
Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie
der Universität Heidelberg mit Unterstützung
des Generali Zukunftsfonds.

www.generali-zukunftsfonds.de
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
2 | Inhalt und Impressum

                                                                  Inhalt
                                                                  4    Teil 1
                                                                       Zusammenfassung der theoretisch-
                                                                       methodischen Konzeption, der
                                                                       ­Ergebnisse und der Folgerungen
   Generali Zukunftsfonds
   Christoph Zeckra, Gesamtverantwortlicher
   Tel. 0221 4203-3574 | christoph.zeckra@generali.de             6    1.    Die Problematik der Gleichsetzung
   Uwe Amrhein                                                               von hohem Alter mit Verlusten und die
   Tel. 0221 4203-2692 | uwe.amrhein@generali.de                             Notwendigkeit einer differenzierten
                                                                             Analyse dieses Lebensabschnitts
   Loring Sittler
   Tel. 0221 4203-2675 | loring.sittler@generali.de
                                                                       1.1   Die strikte Trennung zwischen drittem und vier-
                                                                             tem Lebensalter birgt die Gefahr einer Abwer-
   Kontakt
                                                                             tung des Menschen im hohen Alter
   Generali Deutschland Holding AG
   Generali Zukunftsfonds
                                                                       1.2   Das hohe Alter bedeutet nicht nur Verlust, son-
   Tunisstraße 19 –23 | 50667 Köln
                                                                             dern auch Gewinn – die Integration der Verletz-
                                                                             lichkeits- und Potentialperspektive

                                                                  7    1.3   Entwicklungspotentiale bestehen bis zum Ende
                                                                             des Lebens – das Schöpferische des Menschen
                                                                             in Grenzsituationen des Lebens

   Institut für Gerontologie                                           1.4   Die daseinsthematische Analyse als Zugang
   Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse                                          zum umfassenden Verständnis der Person
   Tel. 06221 54 81 81
   sekretariat@gero.uni-heidelberg.de                             8    1.5   Epidemiologische Befunde veranschaulichen
   www.gero.uni-heidelberg.de                                                die erhöhte Verletzlichkeit, sprechen aber
                                                                             zugleich gegen die Gleichsetzung von hohem
   Kontakt                                                                   Alter und Krankheit
   Universität Heidelberg | Institut für Gerontologie
   Bergheimer Straße 20 | 69115 Heidelberg
                                                                  10   2.    Zentrale Elemente einer
                                                                             Psychologie des hohen Alters

Der Generali Zukunftsfonds                                             2.1   Was alte Menschen geben ­können: der Beitrag
                                                                             des hohen Alters zu e­ iner intra- und intergenera-
Unter dem Leitthema „Der demografische Wandel – unsere                       tionellen ­Sorgekultur
gemeinsame Herausforderung“ bündelt die Generali
Deutschland Holding AG seit 2008 die Aktivitäten ihres            12 2.2     Welche psychischen Qualitäten sich im hohen
gesellschaftlichen Engagements im Generali Zukunftsfonds.                    Alter beobachten lassen – Introversion, Offen-
                                                                             heit und Generativität als Potentiale des hohen
Insgesamt fördert die Generali Deutschland rund 40 Pro-                      Alters
jekte mit dem Schwerpunkt „Förderung des Engagements
von und für die Generation 55 plus“. Darüber hinaus ist der
Generali Zukunftsfonds als Change-Manager, Vernetzer und
Initiator im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements
tätig. Wurden in der Aufbauphase besonders wirksame
Best-Practice-Initiativen gefördert, erfolgen heute zuneh-
mend Investitionen in die Infrastruktur von Freiwilligenarbeit.

Mehr zur Generali Hochaltrigenstudie unter
www.generali-zukunftsfonds.de im Bereich Wissen.
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
Inhalt | 3

14   3.    Die empirische Studie – Konzeption,                   28   Teil 2
           Stichprobe, Ergebnisse                                     Fragebogenerhebung
                                                                      in Kommunen und Institutionen
     3.1 Aufbau der Studie
     3.1.1 Daten zur Stichprobe
                                                                 30   1.    Erhebungsinstrument und
15 3.2   Welche Daseinsthemen charakterisieren die                          Anwendungsbereich
         Gruppe der 85- bis 98-jährigen Frauen und
         Männer?                                                      1.1   Inhaltliche Aspekte der Befragung
16 3.2.1	Soziale Beziehungen und Mitverantwortung – als
         Ausdruck der „Weltgestaltung“ – besitzen große          31 1.2     Ziehung der Stichprobe
         Bedeutung für die Lebensqualität im hohen Alter
   3.2.2 Es werden auch Grenzen der Teil­habe im hohen                1.3   Pilotstudie
         Alter sichtbar – gegen die unsere Gesellschaft viel
         tun könnte
17 3.2.3 Auch die Selbstgestaltung ist alten Menschen sehr       32   2.    Ablauf und Ergebnisse der
         wichtig                                                            Fragebogenerhebung
18 3.2.4 Die zunehmende Verletzlichkeit ­bildet eine Grenzer-
         fahrung im h­ ohen Alter                                     2.1   Soziodemografische Daten
   3.2.5 Die Sorge vor fehlender Achtung, Zustimmung und
         Aufmerksamkeit                                          35 2.2     Institutionelle Rahmenbedingungen für
                                                                            Engagement
19 3.3     Inwiefern finden sich Gruppenunterschiede
           im Hinblick auf die Häufigkeit, mit der einzelne      38 2.3     Grenzen des Engagements und ­praktische
           Daseinsthemen angesprochen werden?                               Anforderungen an das ­Engagement
   3.3.1   Unterschiede zwischen den Altersgruppen
20 3.3.2   Unterschiede zwischen den ­Geschlechtern              44 2.4     Alter(n) und Altersbilder
21 3.3.3   Unterschiede im Hinblick auf den sozioökonomi-
           schen Status
22 3.3.4   Unterschiede im Hinblick auf die subjektiv geschil-
           derte Gesundheit

23 3.4     Welche spezifischen Sorgeformen sind
           erkennbar?

24 3.5     Welche Personen-, Situations- und Umwelt-
           merkmale fördern im Erleben der alten Men-
           schen die Sorge für und um Andere?

25 3.6     Verarbeitungs- und Bewältigungs­formen

26 3.7     Grundlegende Engagement-Orientierungen
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
Teil 1
Zusammenfassung der theoretisch-
methodischen Konzeption, der
­Ergebnisse und der Folgerungen
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
6 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1

1. Die Problematik der Gleichsetzung
von hohem Alter mit Verlusten und die
Notwendigkeit einer differenzierten
Analyse dieses Lebensabschnitts
1.1 Die strikte Trennung zwischen drittem                           1.2 Das hohe Alter bedeutet nicht nur
    und viertem Lebensalter birgt die Ge-                               Verlust, sondern auch Gewinn – die
    fahr einer Abwertung des Menschen                                   Integration der Verletzlichkeits- und
    im hohen Alter                                                      Potentialperspektive
  Im wissenschaftlichen wie auch im gesellschaftlichen Diskurs        Es erscheint gerade mit Blick auf das hohe Lebensalter, also
hat sich mehr und mehr die Differenzierung zwischen einem           das Alter jenseits des 85. Lebensjahres, als sinnvoll und not-
dritten und einem vierten Lebensalter durchgesetzt, wobei           wendig, zwei Perspektiven systematisch miteinander zu verbin­
Ersterem die Gruppe der 65- bis 85-jährigen, Letzterem die          den: nämlich die Verletzlichkeits- mit der Potentialperspektive.
Gruppe der über 85-jährigen Frauen und Männer zugeordnet            Die Vulnerabilitätsperspektive beschreibt dabei die erhöhte
wird. Mit dieser Differenzierung ist die Annahme verbunden,         Verletzlichkeit des Menschen, wie sich diese in einer deutlichen
dass das Individuum im dritten Lebensalter über weitgehend          Zunahme des Risikos, an einer chronischen Erkrankung zu lei-
erhaltene körperliche, emotionale und kognitive Ressourcen          den, hilfe- oder pflegebedürftig zu werden, zeigt. Die Potenti-
verfüge und sozial gut eingebunden sei, dass hingegen im            alperspektive beschreibt hingegen das umfassende Lebens-
vierten Lebensalter die Verletzlichkeit des Menschen in den         wissen, die differenzierte Sicht auf das eigene Selbst, die
Vordergrund trete, die sich in einem wachsenden Verlust der         Fähigkeit, Grenzsituationen auszuhalten oder innerlich zu
körperlichen, emotionalen und geistigen Ressourcen wider-           überwinden, sowie die Bereitschaft, das eigene Leben in eine
spiegele, dessen Ursachen in chronischen Erkrankungen,              Generationenfolge zu stellen und dabei Sorge für die nachfol-
­Multimorbidität und Demenz zu suchen seien.                        genden Generationen zu tragen, wobei sich diese Sorge in dem
                                                                    intensiven, anteilnehmenden Nachdenken über das Schicksal
  So richtig es ist, dass die körperliche, zum Teil auch die kog-   nachfolgender Generationen wie auch in konkreten Formen
nitive Verletzlichkeit im Alter zunimmt, so problematisch ist       ihrer Unterstützung widerspiegeln kann.
es, wenn man eine strikte Trennung zwischen dem dritten und
vierten Lebensalter vornimmt und mit Ersterem generalisierend         Hier sei nun ausdrücklich festgestellt: Mit der Verletzlichkeits­
„Ressourcen“ und mit Letzterem generalisierend „Ressourcen-         perspektive wird ausgedrückt, dass ein (allerdings deutlich)
verlust“ verbindet. Abgesehen davon, dass auch im dritten           erhöhtes Risiko besteht, an einer chronischen Erkrankung zu
Lebensalter, ja, dass schon in früheren Lebensaltern die kör-       leiden oder hilfe- bzw. pflegebedürftig zu werden. Dies heißt
perliche, die kognitive und die emotionale Verletzlichkeit des      nun aber nicht, dass bei allen alten Menschen jenseits des 85.
Menschen deutlich in Erscheinung treten können, kommt es            Lebensjahres Multimorbidität, Anzeichen einer Demenz oder
einer Abwertung des vierten Lebensalters gleich, wenn man           Pflegebedürftigkeit bestünden – diese Gleichsetzung von
dieses generalisierend mit Begriffen wie „Ressourcenabbau“,         erhöhter Verletzlichkeit und faktisch gegebener Multimorbidi-
„Defizit“, „Verluste“ umschreibt und unberücksichtigt lässt,        tät, Demenz oder Pflegebedürftigkeit ist nicht erlaubt.
dass auch in dieser Lebensphase seelisch-geistige Entwick-
lungsprozesse und Stärken beobachtet werden können. Über              Mit der (Entwicklungs-)Potentialperspektive wird ausge-
diese geht man vielfach hinweg, weil man sich ausschließlich        drückt, dass Menschen auch jenseits des 85. Lebensjahres
oder primär auf körperliche Prozesse konzentriert und dabei         über Ressourcen verfügen und diese weiterentwickeln, weiter
seelisch-geistige ebenso wie sozialkommunikative Prozesse           ausbauen können – wie zum Beispiel das Lebenswissen, wie
ausklammert.                                                        zum Beispiel die Bereitschaft und Fähigkeit, differenziert und
                                                                    selbstkritisch auf sich zu blicken, wie zum Beispiel die Fähig-
 Die Trennung zwischen drittem und viertem Lebensalter ist          keit, Grenzen auszuhalten und innerlich zu überwinden (zu nen-
mittlerweile so pauschal geworden, dass man sich fragt, ob          nen sind hier chronische Schmerzen oder der Verlust nahe-
diese überhaupt noch geeignet ist, um Differenzierungen inner-      stehender Menschen), wie zum Beispiel die Bereitschaft, das
halb des höheren Alters angemessen zu umschreiben.                  eigene Leben auch in den Dienst nachfolgender Generationen
                                                                    zu stellen. Dies heißt nun aber nicht, dass diese Ressourcen
                                                                    bei allen Menschen jenseits des 85. Lebensjahres erkennbar
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 7

wären und alle Menschen in diesem Lebensabschnitt – poten-           1.4 Die daseinsthematische Analyse als
tialgetriebene – Entwicklungsschritte zeigten. Sowohl mit Blick          Zugang zum umfassenden Verständ-
auf die Verletzlichkeit als auch mit Blick auf die Entwicklungs-         nis der Person
potentiale wird hier also vor einer Generalisierung gewarnt.
                                                                       Diese differenzierte Sicht soll in der vorliegenden Studie vom
  Noch wichtiger ist uns aber die Feststellung, dass auch bei        Standpunkt jener Menschen aus eingenommen werden, die
erhöhter Verletzlichkeit von Entwicklungspotentialen ausge­          jenseits des 85. Lebensjahres stehen. Das heißt, dass in der
gangen werden kann: Auch wenn Menschen in ihrer Mobilität,           vorliegenden Studie die Interviewpartner gebeten werden, das
in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit, vielleicht auch in ihrer   hohe Lebensalter in Kategorien ihrer Erlebens- und Erfahrungs­
kognitiven Leistungsfähigkeit (zum Beispiel in der Umstel-           welt zu beschreiben. Folglich werden in den Interviews nur
lungsfähigkeit, in der Geschwindigkeit der Wahrnehmung und           wenige Fragen zum Lebensalter, zum Familienstand, zum sozi-
Informationsverarbeitung, in der Inhibitionsfähigkeit) Einbußen      alen Netzwerk (welche Personen konstituieren dieses, welche
zeigen, so können sie doch im emotionalen und motivationalen         Art der persönlichen Beziehung und des Kontakts bestehen zu
Bereich, im Bereich der Persönlichkeit (vor allem des Selbst)        den einzelnen Netzwerkmitgliedern?), zum Bildungsstand, zu
und schließlich im Bereich des Wissens bemerkenswerte Stär-          den finanziellen Ressourcen, zur Erwerbsbiografie, zum bür-
ken und auch bemerkenswerte Entwicklungsschritte zeigen,             gerschaftlichen Engagement in den verschiedenen Lebensal-
die deutlich machen, wie sehr es Menschen auch in der Ver-           tern, zum Gesundheitszustand sowie zur Selbstständigkeit im
letzlichkeit gelingen kann, seelisch-geistige und sozialkommu-       Alltag gestellt. Vielmehr stehen die persönliche Biografie und
nikative Qualitäten zu verwirklichen.                                Zukunftsperspektive (welche biografischen Stationen sind im
                                                                     Erleben des Interviewpartners bedeutsam gewesen, wie blickt
                                                                     dieser in seine Zukunft?), vor allem aber die Anliegen, Ziele,
1.3 Entwicklungspotentiale bestehen bis                              grundlegenden Orientierungen, Bedürfnisse und Werte des
    zum Ende des Lebens – das Schöpfe-                               Interviewpartners im Zentrum der Interviews. Um diese erfas-
    rische des Menschen in Grenzsituati-                             sen zu können, ist eine daseinsthematische Analyse notwendig.
    onen des Lebens                                                  Eine solche Analyse zielt darauf, jene Themen zu erfassen, auf
                                                                     die das Individuum in der Schilderung seiner Biografie, Gegen-
  Gerade hier liegt der Nachteil einer strikten Trennung zwi-        wart und Zukunft spontan immer wieder zu sprechen kommt,
schen „drittem“ und „viertem“ Lebensalter: nämlich über die          Themen also, die in der Schilderung unterschiedlichster Situa-
Entwicklungspotentiale, über die Kräfte des Menschen in der          tionen spontan angesprochen werden. Nur dadurch, dass man
erhöhten Verletzlichkeit des Lebens hinwegzugehen und dabei          dem Individuum die Möglichkeit gibt, angestoßen durch einige
zu übersehen, wie schöpferisch Menschen im hohen Alter,              wenige Fragen ausführlich auf sein Leben in der Vergangenheit,
auch im Falle eingetretener gesundheitlicher Grenzen sein kön-       der Gegenwart und der Zukunft einzugehen, wird man auch
nen. Diese strikte Trennung und die mit ihr verbundene Gene-         auf dessen Daseinsthemen stoßen – teilen sich diese doch vor
ralisierung spiegelt die Gefahr wider, sich bei der Betrachtung      allem in einem möglichst freien Interview mit, das nicht durch
des Alters, vor allem des hohen Alters, vorwiegend oder sogar        zu spezifische, konkrete Fragen eingeengt wird.
ausschließlich an körperlichen Momenten zu orientieren und
über die seelisch-geistigen, auch über die sozialkommunikati-          Mit Daseinsthemen sind dabei die aktuellen Anliegen, Ziele,
ven Qualitäten der Persönlichkeit hinwegzugehen.                     Orientierungen und Bedürfnisse wie auch die (zeitlich überdau-
                                                                     ernden) Werte des Individuums gemeint. Bei den Daseinsthe-
  Die Verletzlichkeits- und Potentialperspektive miteinander         men geht es weniger darum, wie das Individuum spezifische
zu verbinden, also beide Perspektiven systematisch zu inte­          Anforderungen und Belastungen zu verarbeiten versucht. Viel-
grieren, bedeutet nicht, ein „positives“ Altersbild zu vertreten     mehr umschreiben diese das Gesamterleben und die Gesamt­
und ein „negatives“ Altersbild zu verwerfen. Wir argumentieren       haltung des Individuums, die zwar die Verarbeitung spezifi-
hier nicht in Termini des positiven oder negativen Altersbildes.     scher Anforderungen und Belastungen beeinflussen, doch
Etwas ganz anderes ist gemeint: Nämlich die differenzierte           weit über diese hinausgehen: Was ist dem Individuum in sei-
Sicht auf die conditio humana, die differenzierte Anthropolo­        nem Leben besonders wichtig? In welchen Situationen erlebt
gie bis an das Ende des Lebens eines Individuums aufrechtzu­         es sein Leben als stimmig und sinnerfüllt? Von welchen Wer-
erhalten und diese differenzierte Sicht bzw. die differenzierte      ten lässt es sich in seinen Entscheidungen und Handlungen
Anthropologie zugunsten einer einseitigen, ausschließlichen          leiten? Auf welche (letzten) Ziele sind seine Motive gerichtet?
Konzentration (a) auf das Körperliche, (b) auf die Verluste auf-     Den Kern ebendieser Fragen bilden die zentralen Lebens- oder
zugeben. Und eine derartige differenzierte Sicht geht auch von       Daseinsthemen, die sich unter dem Eindruck neuer Erlebnisse
dem bis ans Ende des Lebens gegebenen Entwicklungspoten­             und Erfahrungen im Lebenslauf verändern können, in denen
tial des Menschen aus, oder wie es der Heidelberger Philosoph        sich aber zugleich frühere Erlebnisse, Erfahrungen und Orien-
Karl Jaspers einmal ausgedrückt hat: „Im Leben gilt alles nur        tierungen widerspiegeln. In den Daseinsthemen kommt somit
bis so weit, noch ist Möglichkeit, noch ein Leben in die Zukunft,    die Wechselwirkung zwischen Biografie einerseits und aktu­
aus der neue Wirklichkeit, neue Tat auch das Zurückliegende          eller Situation andererseits zum Ausdruck. Mit Blick auf das
neu und anders deuten kann“.                                         hohe Alter bedeutet dies: Das Individuum gibt seine im Lebens-
                                                                     lauf entwickelten Anliegen, Ziele, Orientierungen und Werte
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
8 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1

– mithin seine Grundeinstellung und Grundhaltung gegenüber        Individuums für neue Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen,
dem Leben – nicht auf. Aber unter dem Eindruck der körperli-      die zu weiteren Veränderungen in der thematischen Gesamt-
chen, seelisch-geistigen und sozialen Veränderungen wie auch      struktur führen kann. Eine solche daseinsthematische Analyse
der Veränderungen in der Zeitperspektive können sich diese        wurde mit Blick auf das hohe Alter bislang nicht vorgenommen.
Anliegen, Ziele, Orientierungen und Werte weiter differenzie-
ren, verstärken oder abschwächen (dies ist von Individuum
zu Individuum verschieden), können auch neue Anliegen und         1.5 Epidemiologische Befunde veran-
Ziele hinzutreten, andere hingegen in den Hintergrund treten:         schaulichen die erhöhte Verletzlich-
In diesen Wandlungen drückt sich der dynamische Charakter             keit, sprechen aber zugleich gegen
der Person aus, hier zeigt sich die Veränderungs- und Wand­           die Gleichsetzung von hohem Alter
lungsfähigkeit des Selbst.                                            und Krankheit

  Bei den Daseinsthemen handelt es sich nicht um stabile           Nachfolgend sei auf einige wenige epidemiologische Befunde
Eigenschaften. Die Annahme einer Konstanz oder Stabilität         zur Auftretenshäufigkeit von Herzinsuffizienz, Diabetes, Schlag-
trifft auf die Daseinsthemen gerade nicht zu. Das Verständ-       anfall, Tumoren, Demenz und Pflegebedürftigkeit im hohen
nis von Persönlichkeit als Prozess lässt sich vielmehr von der    Alter eingegangen, da sich in diesen Befunden die erhöhte
Annahme leiten, dass Daseinsthemen als dynamische Quali-          Verletzlichkeit in diesem Lebensabschnitt widerspiegelt, da
täten zu interpretieren sind, in denen sich biografische Erleb-   diese aber gleichzeitig zeigen, dass das hohe Alter nicht mit
nisse und Erfahrungen verdichten, die sich aber durch neue        Krankheit und Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt werden darf.
Eindrücke, Anforderungen und Möglichkeiten wandeln können.
Auch bei chronischer thematischer Strukturierung – wenn sich
also bestimmte Anliegen, Ziele und Haltungen mehr und mehr        Herzinsuffizienz
verfestigen – ist nicht von einer Konstanz der Daseinsthemen
auszugehen, impliziert doch die Annahme der grundlegenden           In der medizinischen Literatur werden unterschiedliche
Offenheit der Persönlichkeit, dass eine Struktur wieder flie-     Angaben zur Häufigkeit der Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
ßend, wieder zu einem Prozess wird, sich die Persönlichkeit       getroffen, da unterschiedliche Definitionen der Erkrankung
(wenn auch nur in Aspekten, wenn auch nur in begrenztem           verwendet werden. In der Regel werden nur Patienten erfasst,
Maße) verändert, wandelt.                                         deren Herzschwäche nach dem Schema der New York-Heart
                                                                  Association (NYHA) als Stadium II-IV klassifiziert ist. (Es sei
  Die Analyse der Daseinsthemen erfolgt grundsätzlich von         angemerkt, dass das NYHA-Stadium I keine Beschwerden ver-
einer biografischen Perspektive aus, die nach jenen Vorgängen     ursacht und am ehesten durch eine Ultraschalluntersuchung
fragt, die zu einer chronischen thematischen Strukturierung       des Herzens erkennbar ist.) Wenn man dem Schema der NYHA
geführt haben, aber auch nach jenen Vorgängen, die Verände-       folgt, so sind zur Häufigkeit der Herzinsuffizienz folgende
rungen in dieser thematischen Strukturierung in Gang gesetzt      Angaben zu treffen: Die Zahl der an Herzinsuffizienz erkrank-
haben, und schließlich nach dem Maß der Offenheit des             ten Personen liegt in der Bundesrepublik Deutschland bei 7 pro

                                                                     Doris Ebert hat selten Zeit für Privates. Mit 86 Jahren
                                                                     widmet sie ihr Leben der Erforschung der Klosterkirche
                                                                     in ihrem Heimatort Lobenfeld, führt Schulklassen und
                                                                     Kunstinteressierte durch den historischen Bau.
                                                                     Engagement gehört seit der Schulzeit fest zu ihrem
                                                                     Leben. Diese Einstellung gibt sie weiter.
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 9

1.000 Einwohner (0,7 %). Die Anzahl der jährlich neu erkannten     Fälle pro 100.000. Während die Erkrankungsraten im mittle-
Fälle liegt in der Gruppe der über 75-Jährigen bei ungefähr 30     ren Erwachsenenalter bei Frauen etwas höher sind als bei den
pro 1.000 Einwohner (3,0 %), in der Gruppe der 80-Jährigen bei     Männern, ist bei Ersteren der Anstieg im höheren Alter etwas
ungefähr 35 pro 1.000 Einwohner (3,5 %); Männer sind dabei         geringer als bei Letzteren. Bei 45- bis 49-jährigen Frauen
dreimal so häufig wie Frauen von dieser Erkrankung betroffen.      beträgt die altersspezifische Inzidenz von Krebserkrankungen
Die im hohen Alter deutlich steigende Zahl der Herzinsuffizi-      375 Fälle pro 100.000, bei den 65- bis 69-jährigen Frauen 1.094
enz-Erkrankungen ist darauf zurückzuführen, dass deutlich          pro 100.000 und bei den 85-jährigen und älteren Frauen 1.892
mehr Menschen in diesem Lebensabschnitt an einer korona-           Fälle pro 100.000.
ren Herzkrankheit (KHK) und einem Bluthochdruck leiden: bei
diesen beiden Krankheiten handelt es sich um die zentralen
Risikofaktoren der Herzinsuffizienz.                               Demenz

                                                                     In Deutschland leben gegenwärtig ungefähr 1,4 Millionen
Diabetes                                                           demenzkranke Menschen; zwei Drittel von ihnen sind dabei von
                                                                   der Alzheimer-Demenz betroffen. Jährlich treten ca. 280.000
  Die Lebenszeitprävalenz des Diabetes steigt mit dem              Neuerkrankungen auf. Die Anzahl der Demenzkranken steigt mit
Lebensalter und zeigt bei Betrachtung nach dem Geschlecht          dem Lebensalter erkennbar an. In der Altersgruppe der 65- bis
ein unterschiedliches Bild. In der Altersgruppe der 50- bis        69-Jährigen liegt der Anteil der Demenzkranken bei 1,6 Prozent,
59-Jährigen Männer wird bei 7,3 Prozent ein manifester Diabe-      in der Altersgruppe der 80- bis 84-Jährigen bei 15,7 Prozent,
tes diagnostiziert, in der Gruppe der 60- bis 69-jährigen Män-     in der Altersgruppe der über 90-Jährigen bei 41 Prozent. Zwei
ner bei 17,0 Prozent und in der Gruppe der 70- bis 79-jährigen     Drittel aller Demenzkranken haben bereits das 80. Lebensjahr
Männer bei 22,0 Prozent. Bei den 50- bis 59-jährigen Frauen        vollendet. Fast 70 Prozent aller Erkrankten sind Frauen.
liegt eine Erkrankungshäufigkeit von 4,0 Prozent vor, bei den
60- bis 69-jährigen Frauen steigt diese auf 10,7 Prozent und
bei den 70- bis 79-jährigen Frauen auf 21,8 Prozent. Wenn          Pflegebedürftigkeit
auch Zahlen zur Erkrankungshäufigkeit in den noch höheren
Altersgruppen nicht vorliegen, so zeigen doch Ergebnisse aus         Derzeit sind in der Bundesrepublik Deutschland 2,55 Millio-
einer Versichertenstichprobe der AOK Hessen, dass zumindest        nen Menschen pflegebedürftig – davon beziehen 2,4 Millionen
die Behandlungshäufigkeit in der Gruppe der über 80-jährigen       Menschen Leistungen über die soziale Pflegeversicherung
Menschen wieder abnimmt.                                           und 145.000 Personen Leistungen über eine private Pflege-
                                                                   Pflichtversicherung. Zum Vergleich: 1995 lag die Zahl der
                                                                   Leistungsbezieher der sozialen Pflegeversicherung noch bei
Schlaganfall                                                       1,06 Millionen – bis heute ist die Zahl der Pflegebedürftigen
                                                                   im Durchschnitt um 4,9 Prozent pro Jahr gestiegen. Gegen-
  Eine Betrachtung der Lebenszeitprävalenz des Schlaganfalls       wärtig sind ca. 80 Prozent der Pflegebedürftigen im Bereich
im Alter von 40 bis 79 Jahren (aktuelle Daten für über 80-Jäh-     der sozialen Pflegeversicherung 65 Jahre oder älter, mehr als
rige liegen nicht vor) zeigt den Anstieg der Erkrankungshäu-       ein Drittel sind 85 Jahre oder älter (34,3 Prozent). Das Risiko
figkeit mit dem Alter. Während bei den Männern in der Alters-      der Pflegebedürftigkeit, also die Wahrscheinlichkeit, pflege-
gruppe zwischen 40 und 49 Jahren 0,7 Prozent einen Schlag-         bedürftig zu werden, liegt bei den unter 60-Jährigen bei 0,7
anfall erleiden, steigt dieser Anteil in der Altersgruppe von 50   Prozent, im Alter zwischen 60 und 80 Jahren steigt dieses auf
bis 59 Jahren auf 1,8 Prozent, in der Altersgruppe von 60 bis 69   4,2 Prozent, bei den über 80-Jährigen beträgt es 28,8 Prozent,
Jahren auf 4,2 Prozent und in der Altersgruppe von 70 bis 79       bei den über 90-Jährigen 58 Prozent. Der Frauenanteil an allen
Jahren auf 8,1 Prozent. Bei den Frauen liegen die Zahlen etwas     Pflegebedürftigen liegt bei 64,6 Prozent, der Männeranteil bei
niedriger. In der Altersgruppe von 40 bis 49 Jahren beträgt        35,4 Prozent. Fast 30 Prozent aller Pflegebedürftigen werden
die Lebenszeitprävalenz des Schlaganfalls 1,1 Prozent, in der      in Pflegeheimen betreut. Bei 32,8 Prozent der zu Hause Ver-
Gruppe von 50 bis 59 Jahren 0,8 Prozent, zwischen 60 bis 69        sorgten erfolgt die Pflege zum Teil oder aber vollständig durch
Jahren 3,1 Prozent und in der Altersgruppe zwischen 70 und 79      ambulante Pflegedienste, 67,2 Prozent erhalten hingegen aus-
Jahren 6,3 Prozent.                                                schließlich Pflegegeld: Sie werden also allein durch Angehörige
                                                                   gepflegt.

Tumore                                                               Bei einem Überblick über die genannten epidemiologischen
                                                                   Befunde wird deutlich, dass die in unserer Gesellschaft vor-
 Mit Blick auf die Tumore ergibt sich folgendes Bild: Die Tumor­   genommene Gleichsetzung von hohem Alter und Krankheit
erkrankungshäufigkeit steigt mit dem Lebensalter deutlich an.      bzw. Pflegebedürftigkeit nicht zutrifft. Diese Aussage gilt auch
Bei 45- bis 49-jährigen Männern beträgt die altersspezifi-         mit Blick auf die Anzahl pflegebedürftiger und demenzkranker
sche Inzidenz von Krebserkrankungen 238 Fälle pro 100.000          Menschen: Mehr als 40 Prozent der Menschen im hohen Alter
Einwohner, bei den 65- bis 69-jährigen Männern 1.863 pro           sind nicht pflegebedürftig, bei ca. 60 Prozent der Menschen im
100.000 und bei den 85-jährigen und älteren Männern 3.049          hohen Alter liegt keine Demenz vor.
Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter - Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg ...
10 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1

2. Zentrale Elemente einer
Psychologie des hohen Alters

Und dieses Einst, wovon wir träumen,
es ist noch nirgends, als in unserm Geist –
wir sind dies Einst, uns selbst vorausgereist
im Geist, und winken uns von seinen Säumen,
wie wer sich selber winkt
[Christian Morgenstern, Stufen]

  Dieses von Christian Morgenstern Anfang des 20. Jahrhun-         grundlegenden Interesse an Fragen des hohen Alters bestimmt
derts verfasste Epigramm ist auch als Forderung zu deuten,         ist und Menschen in dieser Lebensphase in einer offenen, vor­
wissenschaftliche ebenso wie gesellschaftlich-kulturelle Phä-      urteilsfreien Haltung begegnet. Im Folgenden soll nun eine
nomene kontinuierlich zu hinterfragen, sich diesen in einer        Anthropologie des hohen Alters skizziert werden, die sich von
veränderten Weise zu nähern, diese gegebenenfalls neu zu           einem umfassenden Verständnis der Person leiten lässt. Diese
denken. Dies gilt auch und in besonderer Weise für das Alter in    Anthropologie bildet auch den theoretisch-konzeptionellen
seiner körperlichen, seelisch-geistigen, sozial-kommunikativen     Hintergrund der Studie.
Dimension. Mit Blick auf das hohe Alter beschreibt das Epi-
gramm die Herausforderung, die seelisch-geistigen und sozial-
kommunikativen Kräfte in dieser Lebensphase sehr viel stärker      2.1 Was alte Menschen geben k    ­ önnen:
zu beachten und anzusprechen – und dies auch im Falle einer             der Beitrag des hohen Alters zu
immer deutlicher hervortretenden körperlichen Verletzlichkeit.          ­einer intra- und intergenerationellen
                                                                       ­Sorgekultur
  Stellen wir, das Einleitungskapitel zusammenfassend, noch
einmal fest: Das hohe Alter wird gesellschaftlich primär mit         Als zentrale Elemente einer Psychologie des hohen Alters, die
Verlusten assoziiert. Dieses einseitige Bild des hohen Alters      bislang entwickelt wurden, lassen sich nennen: (a) die differen-
kann dazu beitragen, dass die schöpferischen Kräfte in dieser      zierte Wahrnehmung des eigenen Selbst, (b) die Integration von
Lebensphase – und damit auch die schöpferischen Kräfte alter       persönlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, (c) die
Menschen in Grenzsituationen des Lebens – nicht ausreichend        Verwirklichung kosmischer Bezüge, in die die eigene Existenz
beachtet und angesprochen werden. Wenn wir zu einer dif-           eingebettet ist, sowie (d) die Integration in eine Generationen-
ferenzierteren Sicht des hohen Alters gelangen wollen, so ist      folge, innerhalb derer man nicht nur empfängt, sondern auch
ein umfassendes Verständnis der Person Voraussetzung, das          gibt – wobei das Lebenswissen der Menschen im hohen Alter
sich nicht nur auf körperliche Prozesse konzentriert, sondern      dann als eine Bereicherung für die nachfolgenden Generatio-
auch kognitive, emotionale und sozial-kommunikative Pro-           nen zu werten ist, wenn es mit Offenheit für deren Anliegen und
zesse in den Blick nimmt. Vor dem Hintergrund bereits vorlie-      Themen gepaart ist.
gender empirischer Befunde zum hohen Alter ist die Annahme
gerechtfertigt, dass in der emotionalen, kognitiven und sozial-      In den Theorien zur Generativität (Bedürfnis, nachfolgen-
kommunikativen Dimension der Person Entwicklungsmöglich-           den Generationen etwas weiterzugeben), zur sozioemotiona­
keiten bis in das hohe Alter bestehen. Die Verwirklichung dieser   len Selektivität (Bedürfnis, sich auf eine kleinere Anzahl von
Potentiale wird, so lautet unsere Annahme, durch eine Haltung      Beziehungen zu konzentrieren, in denen emotionale Intimität
in unserer Gesellschaft und Kultur gefördert, die von einem        erlebt und der Austausch von Hilfen verwirklicht werden kann)
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 11

sowie zur Gerotranszendenz (Bedürfnis, sich in umfassendere        Dieser unbedingten Inanspruchnahme durch den Anderen ist
Kontexte eingebettet zu sehen, wobei die Generationenfolge         das Subjekt unterworfen, weswegen Emmanuel Levinas den
einen derartigen Kontext bildet) wird – zumindest indirekt – ein   lateinischen Begriff „subjectum“ im Sinne von „subjactum“ –
Aspekt thematisiert, dem in unserer Studie besondere Beach-        nämlich „unterworfen“ – übersetzt. Diese Anthropologie bildet
tung geschenkt werden soll: Die Sorge des alten Menschen für       eine bemerkenswerte Grundlage für ein tieferes Verständnis
andere und um andere Menschen. Mit dem Begriff der Sorge           der Lebenssituation alter Menschen, die in der Verwirklichung
ist hier gemeint, dass man Andere aktiv unterstützt („Sorge        von freundschaftlich gemeinter Sorge eine Möglichkeit finden,
für“) oder dass man sich innerlich intensiv mit deren Lebens-      die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit anzunehmen und in
situation beschäftigt, sich in diese hineinversetzt und darüber    dieser schöpferisch zu leben – wobei die vertiefte Auseinan­
nachdenkt, wie man diese durch eigenes Handeln fördern kann        dersetzung mit dem eigenen Selbst Wissen und Erkenntnisse
(„Sorge um“). Damit ist der aktive Beitrag des alten Menschen      zutage fördert, die in die Beziehung zu anderen Menschen (vor
zu einer „Sorgestruktur“ (oder einer „sorgenden Gemein-            allem nachfolgender Generationen) eingebracht werden und
schaft“) angesprochen: Von einem „aktiven“ Beitrag wird hier       diese in besonderer Weise befruchten können: ein wichtiges
gesprochen, weil alte Menschen nicht nur „nehmen“, sondern         Fundament der freundschaftlich gemeinten Sorge.
auch „geben“ (wollen). Vor dem Hintergrund bereits vorliegen-
der empirischer Studien, die sich mit der Lebensbewertung und        Die Überprüfung dieser Annahme ist auch deswegen wich-
Bindung des Menschen an das Leben wie auch mit dem Invest­         tig, da diese im Falle ihrer Bestätigung auf die Notwendigkeit
ment psychischer Energie in das Leben beschäftigen, sei ange-      verweist, den Menschen darin zu unterstützen, sich auch sor-
nommen, dass die Sorge für und um andere Menschen sowohl           gend (und zwar im positiven Sinne des Wortes) anderen Men-
Grundlage als auch Ausdrucksform der Bindung an das Leben          schen zuzuwenden. Hier würde sich eine bedeutende Aufgabe
sowie eine bedeutende Form des Lebensinvestments darstellt.        für die Kommune, für die Vereine und für die Bürgerstiftungen
Diese Annahme soll in unserer Studie überprüft werden.             ergeben, die zu jenen Gelegenheitsstrukturen und Rahmenbe-
                                                                   dingungen beitragen können, die für die Verwirklichung einer
  In Arbeiten des Philosophen Emmanuel Levinas (1906–1995)         derartigen Sorgekultur (in der auch Menschen im hohen Alter
wird der unbedingte Anspruch des Anderen hervorgehoben,            aktiv Beitragende und nicht nur Nehmende sind) bedeutsam
der dem eigenen Anspruch vorgeordnet sei. Die zentrale             sind. Inwieweit sind Kommunen und Vereine auf eine derartige
Stellung des Subjekts wird hier zugunsten des unbedingten          Aufgabe vorbereitet? Auch mit dieser Frage soll sich unsere
Anspruchs des Anderen aufgegeben. Bevor ich zu mir selbst          Studie beschäftigen.
komme, so Levinas, steht mir der Andere gegenüber; dieser
besitzt die Qualität der unbedingten vorausgehenden Verpflich­
tung – und erst durch den Anderen komme ich zu mir selbst.
12 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1

2.2 Welche psychischen Qualitäten sich                                Die mehr und mehr in das Zentrum des Erlebens tretende
    im hohen Alter beobachten lassen –                              Begrenztheit und Endlichkeit der eigenen Existenz erfordert
    Introversion, Offenheit und Generati-                           eine konzentrierte, vertiefte Auseinandersetzung mit sich
    vität als Potentiale des hohen Alters                           selbst (Introversion). Das hohe Alter kann als eine Lebens-
                                                                    phase gedeutet werden, in der das Potential zur Introversion
 Die psychologische Betrachtung des hohen Alters führt uns          – verstanden als vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst –
zu drei grundlegenden Orientierungen in dieser Lebensphase:         mehr und mehr in das Zentrum rückt. In der Introversion drückt
Die erste bildet die Introversion, das heißt die vertiefte Ausei-   sich zum einen das in der Biografie gewonnene Lebenswissen
nandersetzung des Menschen mit sich selbst, die zweite die          und das Wissen über sich selbst aus, in ihr differenziert sich
                                                                    zum anderen dieses Lebenswissen wie auch das Wissen über
                                                                    sich selbst.

                                                                     In einer Arbeit über die Selbsterkenntnis im Alter umschreibt
                                                                    der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) den Prozess
                                                                    wie folgt:

                                                                      „Gegen das Ende des Lebens nun gar geht es wie gegen das
                                                                    Ende eines Maskenballs, wann die Larven abgenommen wer­
                                                                    den. Man sieht es jetzt, wer diejenigen, mit denen man, wäh­
                                                                    rend seines Lebenslaufs, in Berührung gekommen war, eigent­
                                                                    lich gewesen sind. Denn die Charaktere haben sich an den Tag
                                                                    gelegt, die Taten haben ihre Früchte getragen, die Leistungen
                                                                    ihre gerechte Würdigung erhalten und alle Trugbilder sind
                                                                    zerfallen. Zu diesem allen nämlich war Zeit erfordert. – Das
                                                                    Seltsamste aber ist, dass man sogar sich selbst, sein eigenes
                                                                    Ziel und Zwecke, erst gegen das Ende des Lebens eigentlich
                                                                    erkennt und versteht, zumal in seinem Verhältnis zur Welt, zu
                                                                    den andern. Zwar oft, aber nicht immer, wird man dabei sich
                                                                    eine niedrigere Stelle anzuweisen haben, als man früher ver­
                                                                    meint hatte; bisweilen auch eine höhere; welches dann daher
                                                                    kommt, dass man von der Niedrigkeit der Welt keine ausrei­
                                                                    chende Vorstellung gehabt hatte und demnach sein Ziel höher
                                                                    steckte, als sie. Man erfährt beiläufig, was an einem ist.“

                                                                      Die tiefe, konzentrierte Auseinandersetzung mit dem eige-
                                                                    nen Selbst – im Sinne der differenzierten Wahrnehmung des
                                                                    Selbst, im Sinne des differenzierten Rückblicks auf das eigene
                                                                    Leben und schließlich des gefassten und hoffenden Blicks
                                                                    auf die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit (hoffend in der
                                                                    Hinsicht, Sterben und Tod innerlich „unversehrt“ zu überste-
                                                                    hen) – ist bedeutsam für ein schöpferisches Leben im hohen
                                                                    Alter. „Schöpferisch“ meint hier, dass sich das Selbst aus-
   Inge A. Burck ist ein Energiebündel. Die 88-Jährige leitet       drücken und mitteilen kann (Selbstaktualisierung), ja, dass es
   das Bürgerkontaktbüro ihrer Heimatstadt Eppelheim                sich sogar weiter differenzieren kann (Aktualgenese), wobei
   und engagiert sich rege in Schul- und Bildungsfragen.            die Selbstaktualisierung als eine grundlegende Tendenz des
   Doch sie hat nicht nur ihre eigenen Projekte im Blick,           Psychischen zu begreifen ist, sich auszudrücken und mitzutei-
   sondern denkt und arbeitet mit am großen Bild einer              len, die Aktualgenese als das über die gesamte Lebensspanne
   generationengerechten Gesellschaft.                              gegebene Potential der Psyche, sich unter dem Einfluss neuer
                                                                    Anregungen und Aufgaben weiterzuentwickeln. Die reflektierte
                                                                    Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst bildet diesem
                                                                    Verständnis zufolge eine bedeutende Grundlage für Prozesse
Offenheit, das heißt die Empfänglichkeit für neue Eindrücke,        der Selbstaktualisierung und der Aktualgenese, und diese Pro-
Erlebnisse und Erkenntnisse, die aus dem Blick auf sich selbst      zesse bilden ihrerseits ein Fundament der positiven Lebensein-
wie auch aus dem Blick auf die umgebende soziale und räumli-        stellung wie auch der gefassten und hoffenden Einstellung zur
che Welt erwachsen, die dritte schließlich die Generativität, das   eigenen Endlichkeit.
heißt die Überzeugung, sich in eine Generationenfolge gestellt
zu sehen und in dieser Generationenfolge Verantwortung zu            Die vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst wird dabei
übernehmen. Warum werden diese drei Orientierungen betont?          durch die Offenheit des Menschen für neue Eindrücke,
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 13

Erlebnisse und Erkenntnisse gefördert. Die Offenheit wird in der     Allerdings muss das Individuum die Möglichkeit haben,
psychologischen Literatur auch mit dem Begriff der „kathekti-      sein Lebenswissen, seine reflektierten Erfahrungen einzu-
schen Flexibilität“ umschrieben, die sich im höheren Lebens-       bringen, sich für andere Menschen zu engagieren, etwas
alter vor allem in der „Transzendierung des Körperlichen“, im      für nachfolgende Generationen zu tun: Sozialräume müssen
hohen Alter in der „Transzendierung des Ichs“ ausdrücke.           so gestaltet sein, dass sich entsprechende Gelegenheits-
Ein Mangel an kathektischer Flexibilität führt dazu, dass das      strukturen entwickeln und festigen können. Eine derartige
Individuum im Körperlichen verhaftet sei, sich also ganz auf       Sozialraumgestaltung ist gerade angesichts der Tatsache
körperliche Prozesse konzentriere – damit verbunden ist eine       wichtig, dass hochbetagte Menschen – auch bei aller see-
deutlich verringerte Sensibilität für seelische, geistige und      lisch-geistigen und sozialkommunikativen Kompetenz – nicht
soziale Prozesse. Dieser Mangel an kathektischer Flexibilität      selten Einschränkungen in ihrer Mobilität aufweisen und
ist auch dafür verantwortlich zu machen, dass das Individuum       somit auf eine Umweltgestaltung angewiesen sind, die ihnen
im eigenen Ich verhaftet sei, sich nicht über sich selbst hinaus   hilft, diese Mobilitätseinschränkungen wenigstens in Teilen
entwerfe und damit auch keine Sensibilität für das Fortleben       auszugleichen.
in nachfolgenden Generationen und die spirituellen Kräfte der
menschlichen Existenz entwickle.                                    In seiner am 15. März 2013, zwei Tage nach seiner Wahl zum
                                                                   Papst, gegebenen Audienz für die Kardinäle äußerte sich Papst
  Die Erhaltung von kathektischer Flexibilität ist dabei an die    Franziskus auch zum Wesen des Alters. Nachfolgend sei die
Fähigkeit des Behandelnden und des Behandelten gebunden,           entsprechende Passage seiner Rede angeführt:
die seelisch-geistigen (und spirituellen) Qualitäten des hohen
Alters in der spezifischen Art und Weise, wie sich diese im          „Liebe Mitbrüder, nur Mut! Die Hälfte von uns steht in fort­
individuellen Falle darstellen, differenziert wahrzunehmen, an-    geschrittenem Alter: Das Alter ist – gern drücke ich es so aus
und auszusprechen. Dies bedeutet auch, über Aspekte des            – der Sitz der Weisheit des Lebens. Die Alten haben die Weis­
menschlichen Lebens in einer veränderten Art und Weise zu          heit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu haben wie der greise
denken und zu sprechen: so zum Beispiel über die begrenzte         Simeon, wie die greise Anna im Tempel. Und genau diese
Lebenszeit (die auch als Anstoß verstanden werden kann,            Weisheit hat sie Jesus erkennen lassen. Schenken wir diese
neue – zeitlich nicht zu weit ausgreifende – Ziele zu definie-     Weisheit den jungen Menschen: Wie der gute Wein, der mit
ren), so zum Beispiel über die abnehmende Anzahl sozialer          den Jahren immer besser wird, so schenken wir den jungen
Interaktionspartner (die auch als Anstoß verstanden werden         Menschen die Weisheit des Lebens. Mir kommt in den Sinn,
kann, sich auf einige wenige Interaktionspartner zu konzentrie-    was ein deutscher Dichter über das Alter gesagt hat: ‚Es ist
ren und in diesen Kontakten vermehrt emotionale Bedürfnisse        ruhig das Alter und fromm.‘ Es ist die Zeit der Ruhe und des
zu leben).                                                         Gebets. Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese
                                                                   Weisheit zu geben.“ (Papst Franziskus, 2013, S. 25f)
  Nicht nur die Introversion und die Offenheit erscheinen als
bedeutende Merkmale des hohen Alters, sondern auch das               Diese Charakterisierung ist aus zwei Gründen bemer-
Verlangen, sich in eine Generationenfolge gestellt zu sehen        kenswert: Zunächst wird – ein Gedicht Friedrich Hölderlins
und damit Lebenswissen und reflektierte Erfahrungen an nach-       (1770–1843) aufgreifend – das Alter als „Zeit der Ruhe und
folgende Generationen weiterzugeben – dies immer auch im           des Gebets“ gedeutet: „Es ist ruhig das Alter und fromm“, so
Bewusstsein des in den vorangehenden Generationen liegen-          heißt es in Hölderlins Gedicht „Meiner verehrungswürdigen
den eigenen Ursprungs.                                             Großmutter zu ihrem 72. Geburtstag“. Papst Franziskus gilt
                                                                   als ein Hölderlin-Kenner, und die Tatsache, dass er aus den
  Das Verständnis von Generativität – nämlich im Sinne der         zahlreichen Deutungen des Alters, die Friedrich Hölderlin in
Integration des Rückblicks auf die vorangegangenen Genera-         seinem Schrifttum vorgenommen hat, gerade diese auswählt,
tionen und des Vorausblicks auf die nachfolgenden Generati-        weist darauf hin, dass er die Ruhe („ruhig“) und das Gebet
onen – lässt sich veranschaulichen mit den Worten des engli-       („fromm“) als zentrale psychologische und religiöse Merk-
schen Theologen und Schriftstellers John Donne (1572–1631),        male des Alters ansieht. Doch treten zwei weitere Aspekte
in dessen 1624 veröffentlichter Schrift „Devotions upon emer-      hinzu, und diese geben der gewählten Charakterisierung aus
gent occasions“ zu lesen ist:                                      einem weiteren Grund besonderes Gewicht: Das Alter wird
                                                                   als „Sitz der Weisheit des Lebens“ beschrieben, wobei diese
                                                                   Weisheit des Lebens auf den Erlebnissen, Erfahrungen und
  „All mankind is of one author, and is one volume; when           Begegnungen gründet, die Menschen im Laufe ihrer Biografie
one man dies, one chapter is not torn out of the book, but         gewonnen haben, wie auch auf der Reflexion dieser biogra-
translated into a better language; every chapter must be           fischen Stationen. Nur so lässt sich die Aussage: „Die Alten
 so translated. No man is an island, entire of itself; every       haben die Weisheit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu
 man is a piece of the continent, a part of the main. Any          haben“ deuten. Diese Weisheit bildet eine potentielle Stärke
  man’s death diminishes me, because I am involved in              oder Ressource des Alters, und zwar vor allem in den Bezie-
 mankind. Therefore, do not send to know for whom the              hungen zwischen den Generationen, wenn es nämlich heißt:
                bell tolls, it tolls for thee.“                    „Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese Weis-
                                                                   heit zu geben.“
14 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1

3. Die empirische Studie – Konzeption,
Stichprobe, Ergebnisse
3.1 Aufbau der Studie                                              3.1.1    Daten zur Stichprobe

  Es wurden ausschließlich (biografisch orientierte) Interviews    Stichprobengröße:                 N = 400 Personen
durchgeführt; diese dauerten zwischen 90 und 150 Minuten.
Zunächst wurde die Zielsetzung der Studie – nämlich zu einer       Altersbereich:                    85-89 Jahre:            65 %
differenzierten Einschätzung des Erlebens hochbetagter Men-                                          90-94 Jahre:            27 %
schen zu gelangen – beschrieben und auf Fragen der Inter-                                            95-99 Jahre:             8%
viewpartner zur Studie eingegangen. In einem weiteren Schritt
wurden Fragen zu folgenden Themenbereichen gestellt: (a)           Geschlechterverteilung:	Frauen:                           66 %
Alter und Familienstand, (b) innerfamiliäres und außerfamiliä-                              Männer:                          34 %
res Netzwerk sowie Häufigkeit und Qualität der Beziehungen
und Kontakte zu den Netzwerkpartnern, (c) Erwerbsbiografie,        Familienstand:                    Verheiratet:            30 %
(d) bürgerschaftliches Engagement, (e) subjektiver Gesund-                                           Verwitwet:              58 %
heitszustand, (f) Grad der Selbstständigkeit bei der Ausführung                                      Ledig:                   7%
von Aktivitäten des täglichen Lebens. Dieser Teil des Inter-                                         Geschieden:              5%
views dauerte im Durchschnitt 20 Minuten. Sodann wurden
die Interviewpartner darum gebeten, die subjektiv wichtigsten      Schulischer Bildungsstand:        Hoch:                   27 %
Stationen ihrer Biografie zu schildern und auf Erwartungen,                                          Mittel:                 48 %
Hoffnungen sowie Befürchtungen mit Blick auf ihre persönli-                                          Eher niedrig:           17 %
che Zukunft einzugehen. Dieser Teil des Interviews dauerte im                                        Niedrig:                 8%
Durchschnitt 30 Minuten. In einem weiteren Schritt standen die
aktuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken im Vorder-          Wohnform:                         Privathaushalt:         74 %
grund: Die Interviewpartner sollten schildern, was sie aktuell                                       Wohnstift:              11 %
besonders beschäftigt. Hier wurden Nachfragen gestellt, um                                           Altenpflegeheim:        15 %
weitere Ausführungen zu diesen Erlebnissen, Erfahrungen und
Gedanken anzustoßen. Nach Abschluss dieses Interviewteils          Region: 	Stadt:                                           41 %
wurde die Frage gestellt, welche Merkmale der Persönlich-          	Städtischer Einzugsbereich:                              28 %
keit, des sozialen und institutionellen Umfeldes den Kontakt                 Ländlicher Raum:                                31 %
zu anderen Menschen bzw. die Sorge um andere Menschen
fördern oder erschweren. Zudem wurde eine Frage nach den           Pflegebedürftigkeit               Ja:                     21 %
spezifischen Sorgeformen gestellt. Abschließend wurde die Art      (Einstufung nach SGB XI):         Nein:                   79 %
und Weise thematisiert, wie die Interviewpartner mit ihrer aktu-
ellen Lebenssituation umgehen und von welchen Zielsetzun-          Engagement für                    Ja:                     51 %
gen, Werten und Bedürfnissen sie sich dabei leiten lassen. Die-    andere Menschen:                  Nein:                   49 %
ser Teil des Interviews dauerte zwischen 40 und 100 Minuten.
                                                                                 Nie engagiert:                              16 %
 Die Auswertung der Interviews wurde jeweils durch zwei                          Bis zum Eintritt in das hohe Alter
unabhängig voneinander arbeitende Personen vorgenommen;                          (ca. 80 / 85 Jahre) engagiert:              54 %
nach Auswertung eines Interviews wurden die Auswertungs-                         Bis zum Eintritt in das höhere Alter
protokolle miteinander verglichen, um Übereinstimmungen vs.                      (ca. 60 / 65 Jahre) engagiert:              18 %
Abweichungen identifizieren zu können. Auf der Grundlage der                     Erstmalig ab 80 / 85 Jahre engagiert:      12 %*
Diskussion dieser Protokolle wurde gemeinsam ein Interview-
protokoll erstellt, das als Grundlage für die statistische Aus-      * Vor allem dieses Datum zeigt, dass sich Selbst- und Weltge-
wertung diente. An dem Auswertungsprozess haben sich ins-          staltung auch im hohen Alter im Sinne einer qualitativen Weiter-
gesamt zwei Wissenschaftlerinnen und zwei Wissenschaftler          entwicklung verändern können.
beteiligt.
                                                                     Einschlusskriterium: Fähigkeit und Interesse, an einem
                                                                   zweistündigen Interview über die eigene Biografie und über
                                                                   die Beziehungen zwischen den Generationen konzentriert
                                                                   teilzunehmen.
Teil 1 Ergebnisse der Hochaltrigenstudie | 15

 Ausschlusskriterium: Anzeichen von Demenz (waren diese            3.2 Welche Daseinsthemen charakterisie-
erkennbar, so wurde das Interview vorsichtig abgebrochen und           ren die Gruppe der 85- bis 98-jährigen
anstelle der ausgewählten Person eine andere ausgewählt;               Frauen und Männer?
dies kam achtmal vor).
                                                                    Nachfolgend sind die Daseinsthemen der Interviewpartner
 Kontaktaufnahme über: Wohlfahrtsverbände, Kirchen,                aufgeführt; in Klammern ist der Anteil der Stichprobe (N=400
Wohnstifte, Heime, sonstige Institutionen, Empfehlungen durch      Personen) angeführt, bei denen das jeweilige Daseinsthema
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, lokale Presse­         ermittelt werden konnte.
aufrufe.
                                                                   1. Freude und Erfüllung in einer emotional tieferen Begeg-
                                                                      nung mit anderen Menschen                        (76 %)
Kommentar zur Stichprobe:
                                                                   2. Intensive Beschäftigung mit der Lebenssituation und Ent-
  Wie schon der Vergleich unserer Stichprobe mit den Anga-            wicklung nahestehender Menschen – vor allem in der eige-
ben zur Anzahl der pflegebedürftigen oder demenzkranken               nen Familie und in nachfolgenden Generationen  (72 %)
Menschen deutlich macht, vermittelt die Stichprobe keinen
repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung über 85 Jahre. In      3. Freude und Erfüllung im Engagement für andere Menschen
unserer Stichprobe finden sich keine Studienpartner mit einer                                                         (61 %)
(zumindest manifesten) Demenzerkrankung, auch der Anteil
der Menschen mit einer klinisch manifesten und subklinischen       4. Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und geach-
(subsymptomatischen) Depression (der in der Gruppe der über           tet zu sein – vor allem von nachfolgenden Generationen
85-Jährigen bei ca. 25 Prozent liegt) ist in unserer Stichprobe                                                        (60 %)
deutlich geringer: Wir fanden bei zwölf Prozent der Studien-
partnerinnen und Studienpartner Hinweise auf eine stärker          5. Sorge vor dem Verlust der Autonomie (im Sinne von Selbst-
ausgeprägte Niedergeschlagenheit und Resignation (die wir             verantwortung und Selbstständigkeit)             (59 %)
allerdings aufgrund fehlender klinisch-psychologischer oder
psychiatrischer Befunde nicht als „Depressionen“ eingestuft        6. Bemühen um die Erhaltung von (relativer) Gesundheit und
haben). Zudem ist der Anteil der Personen mit einem mittleren         (relativer) Selbstständigkeit                  (55 %)
und höheren Bildungsstand in unserer Stichprobe überreprä-
sentiert, der Anteil der Heimbewohnerinnen und Heimbewoh-          7.   Überzeugung, Lebenswissen und Lebenserfahrungen
ner unterrepräsentiert. Mit anderen Worten: Die hier vorge-             gewonnen zu haben, das Angehörigen nachfolgender
stellte Stichprobe ist im Hinblick auf die objektiv gegebenen           Generationen eine Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann
Lebensbedingungen – verglichen mit der Gesamtbevölkerung                                                                (44 %)
im Alter von über 85 Jahren – durchaus als eine „privilegierte“
anzusehen, sodass die Generalisierung der hier gewonnenen          8. Intensivere Auseinandersetzung mit sich selbst, differen-
Befunde über die Gesamtbevölkerung nicht möglich ist. – Doch          ziertere Wahrnehmung des eigenen Selbst, vermehrte
relativiert dies in keiner Weise die Dignität der gewonnenen          Beschäftigung mit der eigenen Entwicklung, Rückbin-
Befunde. Es ging uns nicht darum, repräsentative Aussagen             dung von Interessen und Tätigkeiten an frühe Phasen des
für die Gesamtgruppe der Menschen im hohen Lebensalter zu             Lebens                                           (41 %)
treffen, sondern es war unser Ziel, Einblick in die Verletzlich­
keit und die Potentiale in diesem Lebensalter zu gewinnen und      9. Phasen von Einsamkeit                               (39 %)
dabei als Ausgangspunkt die Erlebens- und Erfahrungswelt
des Individuums zu wählen. Eine sorgfältige Analyse der Ver-       10. Fehlende oder deutlich reduzierte Kontrolle über den Kör-
letzlichkeit und der Potentiale aus der Sicht des Individuums          per und spezifische Körperfunktionen, Sorge vor immer
eröffnet die Möglichkeit, zu grundlegenden Aussagen über               neuen körperlichen Symptomen                      (36 %)
körperliche, emotionale, kognitive und sozialkommunikative
Prozesse im hohen Alter zu treffen. Man kann von den Studien­      11. Fragen der Wohnungsgestaltung (Erhaltung von Selbst-
ergebnissen ausgehend die Frage stellen, wie die Rahmenbe-             ständigkeit, Teilhabe, Wohlbefinden)        (34 %)
dingungen verändert werden müssten, damit das Risiko der
Verletzlichkeit verringert und die Entwicklung sowie Umsetzung     12. Phasen der Niedergedrücktheit                      (31 %)
von Potentialen gefördert wird. – Zudem ist bei einem Blick
auf die Stichprobe nicht zu übersehen, dass in dieser auch         13. Chronische oder passagere Schmerzzustände und Bemü-
Frauen und Männer mit Pflegebedürftigkeit sowie aus unte-              hen, diese zu kontrollieren                  (30 %)
ren Bildungsschichten repräsentiert sind, sodass es durchaus
möglich ist, der Frage nachzugehen, inwieweit sich Merkmale        14. Intensive Beschäftigung mit der Endlichkeit des eigenen
der Lebenslage auf die persönliche Lebenssituation – wie diese         Lebens                                          (30 %)
von Menschen im hohen Alter beschrieben wird – auswirken.
16 | Ergebnisse der Hochaltrigenstudie Teil 1

15. Intensive Beschäftigung mit einem Leben nach dem Tod;            Einsamkeit“ (Thema 9) beziehen sich unmittelbar auf gegebene
    diese Beschäftigung ist dabei auch eingebettet in religiöse      oder fehlende Möglichkeiten der Gestaltung von sozialen Bezie-
    oder spirituelle Kontexte                          (28 %)       hungen, die „Innere Beschäftigung mit der Lebenssituation und
                                                                     Entwicklung nahestehender Menschen – vor allem in der eige-
16. Sorge vor fehlender finanzieller Sicherung            (24 %)    nen Familie, vor allem in nachfolgenden Generationen“ (Thema
                                                                     2), das „Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und
17. Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach Engagement für              geachtet zu sein – vor allem von nachfolgenden Generationen“
    andere Menschen                            (23 %)               (Thema 4) sowie die „Überzeugung, Lebenswissen und Lebens-
                                                                     erfahrungen gewonnen zu haben, das Angehörigen nachfolgen-
18. Fehlende Achtung, Zustimmung und Aufmerksamkeit                  der Generationen eine Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann“
    durch Familienangehörige – vor allem nachfolgender Gene-         (Thema 7) auf das mitverantwortliche Leben in der Generatio-
    rationen                                         (23 %)         nenfolge. Das Selbstverständnis als verantwortlich handelndes
                                                                     Glied in der Generationenfolge verleiht somit dem Generativi-
19. Selbstzweifel mit Blick auf die Attraktivität der eigenen Per-   tätsmotiv auch im subjektiven Erleben noch einmal besonderes
    son für andere Menschen                               (20 %)    Gewicht. Die Annahme, Beziehungen würden im hohen Alter in
                                                                     ihrer Bedeutung für die Identität des Individuums abnehmen,
20. Innere Beschäftigung mit Fragen der Art und Weise des            denn dieses ziehe sich immer weiter aus Beziehungen zurück,
    Sterbens wie auch des Sterbeortes             (19 %)            ist unserem Befunde zufolge keinesfalls zutreffend. Soziale
                                                                     Beziehungen können in ihrer Bedeutung für die eigene Identi-
21. Probleme bei der finanziellen Sicherung des Lebens­              tät – und dies heißt auch für die Bindung an das Leben und für
    unterhalts                                   (18 %)             die Lebensqualität – nicht hoch genug bewertet werden. Zudem
                                                                     wird in dem Befund eine bestimmte Qualität der Beziehungen
22. Subjektiv erlebte kognitive Einbußen, die vorübergehend          deutlich: Es geht nicht nur darum, „mit anderen Menschen
    die Sorge auslösen können, an einer Demenz erkrankt zu           zusammen zu sein“. Vielmehr ist auch das Verlangen erkennbar,
    sein                                             (17 %)         ja steht sogar im Vordergrund, etwas für andere Menschen zu
                                                                     tun – sei es im Sinne von Hilfeleistungen, die diesen entgegen-
23. Beschäftigung mit dem Leben und dem Schicksal per-               gebracht werden, oder sei es im Sinne innerer Anteilnahme an
    sönlich bedeutsamer Gruppen und Orte (zum Beispiel des           deren Lebenssituation. Besonders deutlich spiegelt sich dieses
    Geburts- und Heimatortes)                     (15 %)            Motiv im Daseinsthema „Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu
                                                                     werden und geachtet zu sein“ (Thema 4) wider. Damit ist auch
24. Fehlende Achtung und Aufmerksamkeit von Mitmenschen,             schon ein Hinweis auf das dringend notwendige gesellschaftli-
    Leben in Distanz zu anderen, auch Konflikte und Unver-           che und kulturelle Verständnis des hohen Alters gegeben: Men-
    ständnis, anderen nicht näherkommen            (13 %)           schen in diesem Alter wollen ausdrücklich ihre sozialen Netz-
                                                                     werke mitgestalten, sie wollen als aktiver Teil dieser Netzwerke
25. Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach verständnisvoller und       wahrgenommen, geachtet und angesprochen werden.
    tiefsinniger Kommunikation mit nachfolgenden Generatio-
    nen                                                (12 %)
                                                                                                Folgerung
26. Intensive Zuwendung zur Menschheit und Schöpfung
                                              (11 %)
                                                                       Das Eingebundensein in soziale Beziehungen, der Aus-
27. Intensive Auseinandersetzung mit dem Leben eines Ver-            tausch mit anderen Menschen, das Engagement für
    storbenen, der sehr bedeutsam für das eigene Leben               andere Menschen, die Erfahrung, von anderen Menschen
    gewesen und es auch heute noch ist            (10 %)            geschätzt und gebraucht zu werden, sowie die mitverant-
                                                                     wortliche Lebenshaltung sind auch im hohen Alter bedeu-
                                                                     tende Merkmale eines persönlich zufriedenstellenden und
3.2.1 Soziale Beziehungen und Mitver-                                sinnerfüllten Lebens.
      antwortung – als Ausdruck der
      „Weltgestaltung“ – besitzen große
      Bedeutung für die Lebensqualität                               3.2.2 Es werden auch Grenzen der Teil­
      im hohen Alter                                                       habe im hohen Alter sichtbar – gegen
                                                                           die unsere Gesellschaft viel tun
  Beschreibung: Zunächst fällt die große Bedeutung der                     könnte
Gestaltung von sozialen Beziehungen und dabei auch des
mitverantwortlichen Lebens in der Generationenfolge auf: Die           Beschreibung: In den genannten Daseinsthemen sind
„Freude und Erfüllung in der Begegnung mit anderen Men-              auch die Grenzen der Teilhabe erkennbar: Diese zeigen sich
schen“ (Thema 1), die „Freude und Erfüllung im Engagement            zunächst in der „Sorge vor einer zukünftig fehlenden finanzi-
für andere Menschen“ (Thema 3) ebenso wie die „Phasen von            ellen Sicherung“ (Thema 16) und in den „Problemen bei der
Sie können auch lesen