Der östliche Mittelmeerraum im Fokus der europäischen Energiewende
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NR. 4 JANUAR 2022 Einleitung Der östliche Mittelmeerraum im Fokus der europäischen Energiewende Über tiefsitzende Rivalitäten und neue Möglichkeiten der Kooperation zwischen Griechenland, der Türkei und Zypern Moritz Rau / Günter Seufert / Kirsten Westphal Die EU und Deutschland haben sich in der Klimapolitik ambitionierte Ziele gesetzt. Deswegen schauen sie heute mit anderen Augen auf die Energiesituation im östlichen Mittelmeerraum als noch vor wenigen Jahren. Mit den Planungen für die Energie- wende verlieren die dortigen Erdgasvorkommen an Relevanz. Stattdessen gewinnt die Region als potentieller energiewirtschaftlicher Transit- und Verbindungsraum an Bedeutung. Um den erhöhten Bedarf an Ökostrom in Europa zu decken, könnten das europäische, das afrikanische und das nahöstliche Stromnetz über den östlichen Mittelmeerraum miteinander verbunden werden. Gleichzeitig hat die Region das Potential, die EU beim Aufbau ihrer Wasserstoffwirtschaft zu unterstützen. Eine solche energiewirtschaftliche Neukartierung des östlichen Mittelmeers eröffnet den Anrainerstaaten neue ökonomische Perspektiven und politische Handlungsspiel- räume. Die Konflikte um exklusive maritime Wirtschaftszonen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen auf Zypern sowie zwischen Griechenland und der Türkei ver- lören einen Großteil ihrer Dynamik. Allerdings besteht das Risiko, dass tiefsitzende Rivalitäten auch den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Interkonnektivität im östlichen Mittelmeerraum obstruieren. Die EU hat sich im Bereich der Klimapolitik dem Weg zur Klimaneutralität steht den große Ziele gesteckt. In weniger als zehn EU-Mitgliedstaaten in den kommenden Jah- Jahren soll der europäische CO2-Ausstoß ren eine grundlegende Transformation hin gegenüber 1990 um mindestens 55 Prozent zu einer möglichst kohlenstofffreien Wirt- reduziert werden; 2050 soll Europa klima- schaft bevor. Nach Angaben von Eurostat neutral sein. Diese Eckdaten haben alle Mit- (Daten für 2020) kommt fossilen Energie- gliedstaaten im Green Deal, den Kommis- trägern im europäischen Energiemix derzeit sionspräsidentin Ursula von der Leyen am noch eine Schlüsselrolle zu (34,5 % Mineral- 11. Dezember 2019 im Europäischen Rat ölerzeugnisse, 23,7 % Erdgas, 17,4 % er- vorstellte, gemeinschaftlich festgelegt und im neuerbare Energien, 12,7 % Kernenergie, Europäischen Klimagesetz verankert. Auf 10,2 % fossile Brennstoffe). Zur Verwirk-
lichung der Klimaziele bis 2030 hat die Euro- noch in den 2010er Jahren primär die Ent- päische Kommission im Juli und Dezember deckung von Erdgasvorkommen vor den 2021 unter dem Motto »Fit for 55« Maß- Küsten Ägyptens, Israels und Zyperns im nahmen vorgeschlagen, die strengere Vor- Zentrum der Aufmerksamkeit. Die von der schriften und Emissionsstandards für die Europäischen Kommission im Frühjahr Industrie, eine höhere CO2-Bepreisung, eine 2014 verkündete Strategie für eine sichere Verschärfung und Ausweitung des EU-Emis- europäische Energieversorgung sah den sionshandels sowie massive Investitionen Aufbau einer Infrastruktur für den Import in erneuerbare Technologien und Energie- von Erdgas aus dem östlichen Mittelmeer effizienz und die Dekarbonisierung des vor. Damit sollten eine Diversifizierung der Gassektors vorsehen. Ein zentrales Anliegen Drittlandlieferungen erreicht, die Abhän- ist der Ausbau erneuerbarer Energien. Die gigkeit von Russland reduziert und so die Kommission schlägt vor, die Erneuerbare- europäische Versorgungssicherheit erhöht Energien-Richtlinie (RED II) zu aktualisieren werden. Inzwischen aber wird die von der und das bisher geltende Ziel, bis 2030 einen EU angestrebte Dekarbonisierung der mit- Anteil erneuerbarer Energien am Energie- gliedstaatlichen Volkswirtschaften dazu mix von 32 Prozent zu erreichen, auf 40 Pro- führen, dass die europäische Nachfrage zent zu erhöhen. Wegen der zunehmenden nach Erdgas mittel- bis langfristig sinken Elektrifizierung des Wärme-, Verkehrs- und wird. Erdgasimporten aus dem östlichen Industriesektors wird die Nachfrage nach Mittelmeerraum wird keine besondere Strom massiv ansteigen. Ob der höhere Relevanz mehr beigemessen. Stattdessen Bedarf an grüner Energie innerhalb der EU blicken Brüssel und Berlin mit erhöhtem gedeckt werden kann, ist jedoch fraglich. Interesse auf das enorme Potential an Solar- Der Import von Ökostrom könnte sowohl zu und Windenergie im östlichen Mittelmeer- einer Stabilisierung der Stromnetze als auch raum und auf die Möglichkeit, von dort zum Erreichen der Klimaziele beitragen. Ökostrom und Wasserstoff zu beziehen. Im Die Vernetzung des europäischen Strom- März 2021 unterzeichneten die Energie- raums mit angrenzenden Staaten und Re- minister Griechenlands, Israels und Zyperns gionen gewinnt in diesem Zusammenhang ein Memorandum of Understanding über an Bedeutung. Im Fokus stehen insbesonde- den Bau des EuroAsia Interconnector, dessen re Länder, die reich an Sonnen- und Wind- Inbetriebnahme für 2025 anvisiert ist. Dabei energie sind. Auch der zukünftige europäi- handelt es sich um ein Unterwasserstrom- sche Bedarf an klimaneutralem Wasser- kabel, das den europäischen und den nah- stoff, ohne den eine Dekarbonisierung der östlichen Stromraum in zwei Teilabschnit- Zement- und Stahlproduktion und der ten, von Israel (Hadera) nach Zypern (Kofi- Chemiebranche schwer vorstellbar ist, wird nou) und von dort nach Heraklion (Kreta), zumindest teilweise über Importe aus miteinander verbinden soll. Die Energie- nicht-europäischen Ländern gedeckt wer- minister Griechenlands, Zyperns und Ägyp- den müssen. Daher setzen die EU und tens wiederum einigten sich im Oktober Deutschland neben dem Ausbau der Eigen- 2021 auf eine Absichtserklärung zum Bau produktion auf internationale Klima- und des EuroAfrica Interconnector, der das afri- Energiepartnerschaften. Vor diesem Hinter- kanische und das europäische Stromnetz grund verdient der östliche Mittelmeerraum miteinander verknüpfen soll, mit einem eine intensivere Betrachtung. Seekabel, dass von Damietta (Ägypten) nach Kofinou (Zypern) und von dort nach Hera- klion (Kreta) verläuft. Mit der Errichtung Neue Perspektive auf Energie- der beiden Interkonnektoren würden stra- fragen im östlichen Mittelmeer tegische Ziele der Energie-, aber auch der Außenpolitik erreicht: Im Hinblick auf die Energiepolitik und die Zum einen sollen sie dazu beitragen, dass östliche Mittelmeerregion stand für die EU der von den Anrainerstaaten angestrebte SWP-Aktuell 4 Januar 2022 2
Ausbau erneuerbarer Energien nicht zu Interconnector zwischen Kreta und Zypern einer Destabilisierung der regionalen Strom- zur Verfügung. Die Europäische Investitions- versorgung führt. Denn nach Angaben der bank und die Europäische Bank für Wieder- Internationalen Organisation für erneuer- aufbau und Entwicklung gelten als weitere bare Energien (IRENA) will Ägypten bis potentielle Finanzierungsquellen. Aus EU- 2035 42 Prozent seines Stroms aus erneuer- Sicht ist die Verknüpfung des griechischen baren Energien erzeugen; Griechenland und zyprischen Stromnetzes ein wichtiges plant, seinen Strombedarf bis 2030 zu Vorhaben, da sie dem Inselstaat Zypern 60 Prozent mit Ökostrom aus Eigengewin- eine Anbindung an das europäische Strom- nung zu decken. Auch Israel, die Türkei netz ermöglichen und somit dessen Abhän- und Zypern werden den Anteil erneuer- gigkeit von Erdölimporten verringern würde. barer Energien in ihrem Strommix in den Zurzeit ist Zypern das einzige Land der EU- kommenden Jahren sukzessive ausweiten. 27, dessen Stromnetz nicht mit den Netzen In einer Stromversorgung, die in weiten anderer EU-Staaten verbunden ist. Aller- Teilen auf erneuerbaren Energien basiert, dings müssen für den Bau der Verbindungs- sind die Produktionsmengen jedoch wetter- leitungen von Israel und Ägypten nach bedingt volatil. Damit wächst die strategi- Zypern noch erhebliche Investitionsmittel sche Bedeutung von Speichermöglichkeiten akquiriert werden. und grenzübergreifender Interkonnektivi- Der östliche Mittelmeerraum bietet aber tät. Die geplanten Interkonnektoren eröff- auch vielversprechende Perspektiven für nen die Option, überschüssigen Strom ab- den Aufbau der europäischen Wasserstoff- zugeben und bei Versorgungsengpässen die wirtschaft. Grüner Wasserstoff wird durch Zufuhr zu steigern – und Netzausfällen das Elektrolyseverfahren gewonnen, durch vorzubeugen. die Zerlegung von Wasser in Wasserstoff Zum anderen sollen die Interkonnek- und Sauerstoff mit Hilfe von Strom aus er- toren die Zusammenarbeit zwischen der EU neuerbaren Energiequellen. Bei der Off- und der MENA-Region intensivieren und shore-Produktion von grünem Wasserstoff wechselseitige wirtschaftliche Interdepen- werden Windanlagen auf See vor Ort mit denzen schaffen. Um die Verlegung der angebundenen Elektrolyseuren gekoppelt. technisch anspruchsvollen Unterwasser- Der erzeugte Wasserstoff kann per Pipeline stromkabel realisieren zu können, sind oder in verflüssigter Form oder als Derivat diverse Investitionsmittel vonnöten. Dem (z. B. Ammoniak oder Methanol) per Schiff EuroAsia Interconnector wird eine hohe zu Abnehmermärkten transportiert werden. strategische Bedeutung für die Zusammen- Aktuelle Pilotprojekte in der Nordsee lassen schaltung nationaler Energiemärkte, den den Schluss zu, dass die Herstellung von Energiehandel, die Wettbewerbsfähigkeit grünem Wasserstoff auf See ein enormes und Versorgungssicherheit sowie für den Wachstumspotential hat. In Fachkreisen Ausbau der erneuerbaren Energien zu- wird derzeit diskutiert, wie die Produktion geschrieben, weshalb ihn die Kommission grünen Wasserstoffs in der Ägäis und im zu den Projects of Common Interest (PCI) östlichen Mittelmeer zu einem lukrativen rechnet. Damit kann das Projekt teilweise Geschäftsmodell werden kann. Zwar wird über die Connecting Europe Facility (CEF) bislang weder vor den Küsten Griechen- finanziert werden, ein spezifisches Förder- lands noch der Türkei, noch Zyperns Off- instrument der EU, für das im Zeitraum shore-Windenergie erzeugt. Doch die Euro- 2021 bis 2027 ein Gesamtbudget von päische Kommission geht davon aus, dass 5,84 Milliarden Euro veranschlagt ist. die Region dafür große Chancen bietet. Sie Außerdem stellt die EU über ihren Wieder- erteilte deshalb den Auftrag zu einer Studie, aufbaufonds, der anlässlich der Covid-19- die das Potential von Offshore-Windenergie- Krise im Sommer 2020 verabschiedet wurde, quellen im Mittelmeer eruieren sollte und der Republik Zypern 100 Millionen Euro für deren Ergebnisse einen wesentlichen Input den Bau des Teilabschnitts des EuroAsia lieferten für die im November 2020 verkün- SWP-Aktuell 4 Januar 2022 3
dete Strategie für erneuerbare Offshore- Kreta, eskalierten die Lage. Auf Zypern ent- Energie. Besonders für die griechische Ägäis wickelte sich der Streit um die Gasvorkom- mit ihrer Vielzahl an Inseln wird eine enor- men zu einer weiteren Hürde für die inter- me Produktionskapazität vorausgesagt. Zur- kommunalen Friedensverhandlungen. zeit arbeiten sowohl Griechenland als auch Griechenland und die Türkei standen im die Türkei an einem rechtlichen Rahmen Sommer 2020 kurz vor einer militärischen zur Regulierung des zu erwartenden Markts Konfrontation. Vor der griechischen Insel für die Installation von Offshore-Windkraft- Kastellorizo, die nur wenige Kilometer vom anlagen. Ein rascher Ausbau dieser Techno- türkischen Festland entfernt liegt, standen logie ist wahrscheinlich. Auch als Transit- sich Kriegsschiffe der beiden Nationen ge- raum für den Transport von grünem Wasser- fechtsbereit gegenüber. Auch die EU-Türkei- stoff, der im arabischen Raum produziert Beziehungen leiden unter den Konflikten. wurde, könnte das östliche Mittelmeer In den beiden vergangenen Jahren ver- künftig an Bedeutung gewinnen. In der EU urteilte der Europäische Rat wiederholt den wird derzeit darüber diskutiert, inwieweit aggressiven Kurs der Türkei und drohte das ursprünglich für den Erdgastransport Ankara als Reaktion auf rechtswidrige Boh- vorgesehene Projekt der EastMed-Pipeline rungen mit Wirtschaftssanktionen. umgedeutet und für die Beförderung von In den letzten zwölf Monaten hat sich grünem Wasserstoff genutzt werden kann. der Streit etwas beruhigt. Grund dafür ist der vorläufige Verzicht der Türkei auf Off- shore-Gasexplorationen seit Dezember 2020, Politische Rahmenbedingungen kurz nachdem die EU mit Wirtschaftssank- für die Energiezusammenarbeit tionen gedroht hatte und in den USA Joe im östlichen Mittelmeerraum Biden zum Präsidenten gewählt worden war. Seither bemüht sich Ankara um eine Eine solche energiewirtschaftliche Neu- Verbesserung seiner bilateralen Beziehun- kartierung des östlichen Mittelmeerraums gen in der Region. Mit Israel und Ägypten hätte nicht nur nachhaltige ökonomische laufen Gespräche über eine Wiederaufnah- und ökologische Folgen für die Region, son- me diplomatischer Beziehungen. Mit den dern würde sich auch positiv auf deren poli- Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), tische Stabilität auswirken. Denn anders als einem Treiber der antitürkischen Front im ursprünglich erhofft, hatte die Entdeckung östlichen Mittelmeer, hat Ankara in der von Erdgasvorkommen im östlichen Mittel- ersten Dezemberwoche 2021 eine Reihe meer in der letzten Dekade die politische von Verträgen über wirtschaftliche Zusam- Bereitschaft zur regionalen Zusammen- menarbeit abgeschlossen. Darüber hinaus arbeit nicht erhöht. Vielmehr stritten Grie- finden erstmals seit ihrer Aussetzung im chenland, die Türkei und die zyprischen Jahr 2016 wieder regelmäßige Konsultatio- Bevölkerungsgruppen über den Verlauf nen zwischen der Türkei und Griechenland exklusiver maritimer Wirtschaftszonen. über Explorationsprojekte statt. Eine Bei- Dabei griffen drei Konflikte ineinander: legung der Dispute ist dadurch jedoch nicht erstens der Streit um die Aufteilung der zu erwarten: Griechenland insistiert auf der Zugriffs- und Transportrechte auf Erdgas- Anwendung internationalen Rechts und vorkommen vor der Küste Zyperns, zwei- will die Verhandlungen auf den Verlauf der tens die Auseinandersetzung zwischen wirtschaftlichen Seegrenzen beschränken. Griechenland und der Türkei über Aus- Es ist auch prinzipiell bereit, internationale schließliche Wirtschaftszonen (AWZ) in der Schiedsgerichte anzurufen. Die Türkei ver- Ägäis und drittens der internationalisierte folgt dagegen die Strategie, alle Konflikte Bürgerkrieg in Libyen. Besonders die Gas- zwischen beiden Ländern zu verhandeln, erkundungen der Türkei in der AWZ der das heißt, eine politische Lösung zu finden, Republik Zypern, in unmittelbarer Nähe bei der Ankara seine ökonomische und mili- der griechischen Inseln Kastellorizo und tärische Macht zur Geltung bringen kann. SWP-Aktuell 4 Januar 2022 4
So will die Türkei etwa die Begrenzung der Energieministeriums voraussichtlich im Hoheitsgewässer griechischer Inseln in der Frühjahr 2022 von neuem mit Erdgaserkun- Ägäis auf 6 Seemeilen erreichen und über dungen beginnen. Am 15. September 2021 den militärischen Status der dort gelegenen kamen außerdem Offizielle der Republik Inseln und die Aufteilung des militärischen Zypern und Ägyptens in einem technischen Luftraums über See verhandeln, alles Komitee zusammen, um den Bau einer Agendapunkte, die die Anwendung inter- Pipeline zu diskutieren, die vom zyprischen nationalen Seerechts relativieren. Entspre- Aphrodite-Gasfeld zum ägyptischen chend ist die Türkei auch nicht bereit, den Damietta-Segas-LNG-Terminal führen soll. Internationalen Gerichtshof anzurufen. Hin- Dort soll zyprisches Gas verflüssigt und per zu kommt, dass der von Ankara zuletzt ein- Schiffstransport auf internationale Märkte geschlagene moderatere Kurs Zypern nicht geliefert werden. Als Reaktion darauf hat mit einschließt. Vielmehr hat die Türkei ihr die Türkei angekündigt, ihre Offshore-Gas- konfrontatives Auftreten gegenüber der erkundungen in der zyprischen AWZ fort- Republik Zypern in den letzten Monaten zuführen. Die Türkei erkennt die Republik verschärft. So vertritt die Türkei seit der Zypern und damit auch die zyprische AWZ Wahl des neuen türkisch-zyprischen Präsi- nicht an, die Nikosia in bilateralen Verträ- denten Ersin Tatar im Oktober 2020 die Posi- gen mit Israel und Ägypten festgelegt hat. tion, dass der Zypernkonflikt ausschließlich Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die durch die Schaffung zweier souveräner Spannungen vor der Küste Zyperns in naher Staaten gelöst werden könne. Ankara wen- Zukunft wieder zunehmen und die Lage im det sich demnach von den bisher gültigen gesamten östlichen Mittelmeer erneut eska- Parametern des UN-Friedensprozesses für liert. Zypern ab, die eine Wiedervereinigung der beiden Inselhälften in einer bikommunalen und bizonalen Föderation vorsehen. Ferner Die Energiewende als mögliche haben Ankara und die türkisch-zyprische Konfliktlösungsstrategie im Administration Teile der sogenannten östlichen Mittelmeerraum »Geisterstadt« Varosha in direkten Besitz genommen. Die Resolutionen 789 und 550 Eröffnen sich mit der vorgesehenen Energie- des UN-Sicherheitsrats fordern eine Rück- transformation, dem Ausbau erneuerbarer gabe des Gebiets an seine ursprünglichen, Energien und einer verstärkten Interkonnek- mehrheitlich griechisch-zyprischen Bewoh- tivität in der Region und der Region mit ner. Zwar steht das ehemalige touristische Europa neue Möglichkeiten für grenzüber- Zentrum im Norden der Insel bereits seit schreitende Kooperationen? Und ist damit der türkischen Invasion im Jahre 1974 unter auch die Chance für eine Deeskalation der Kontrolle des türkischen Militärs. Doch Konflikte gegeben? Bereits heute lässt sich hatte die Türkei die dortigen Eigentums- sagen, dass schärfere Klima- und Energie- verhältnisse bislang nicht in Frage gestellt. ziele und die abnehmende wirtschaftliche Die Situation in Zypern könnte noch Relevanz der regionalen Erdgasvorkommen weiter an Brisanz gewinnen, sollte es in die Explorationsdynamik verlangsamen, wo- naher Zukunft erneut zu Erdgaserkundun- durch sich auch die Konflikte abschwächen. gen in der AWZ der Republik Zypern kom- Hinzu kommt, dass Griechenland, die Tür- men. Zwar haben die involvierten inter- kei und Zypern einem enormen ökonomi- nationalen Energiekonzerne ihre dortigen schen und vor allem ökologischen Hand- Gaserkundungen seit Beginn der Pandemie lungsdruck ausgesetzt sind, der in den nächs- im Frühjahr 2020 ausgesetzt. Ende 2021 hat ten Jahren weiter zunehmen wird: Der im Exxon Mobile jedoch damit begonnen die August 2021 veröffentlichte sechste Sach- Explorationen im der AWZ der Republik standsbericht des International Panel on Zypern fortzusetzen. Auch Eni und Total Climate Change (IPCC) weist den östlichen werden nach Angaben des zyprischen Mittelmeerraum als einen Hotspot des glo- SWP-Aktuell 4 Januar 2022 5
balen Klimawandels aus. Die Anrainer- Alte Rivalitäten als staaten sind in besonderem Maße von beständige Hindernisse Hitze- und Dürreperioden, Waldbränden und Starkregen betroffen. Somit sieht sich Angesichts der tiefgreifenden politischen die gesamte Region vor eine akute ökolo- Rivalitäten ist es jedoch zweifelhaft, ob es gische Herausforderung gestellt, der sie mit Griechenland, der Türkei und den zypri- entschiedenem und schnellem Handeln in schen Bevölkerungsgruppen gelingen wird, multilateralen Formaten begegnen muss. die mit der Energiewende verbundenen Und auch aus ökonomischen Gründen Möglichkeiten und Zwänge in einem ko- müssen Griechenland, die Türkei und die operativen Sinne zu nutzen. So droht der Republik Zypern Anstrengungen unter- mittlerweile festgefahrene Streit um Aus- nehmen, um selbstgesteckte Klimaziele zu schließliche Wirtschaftszonen auch basale erreichen. Andernfalls werden die Instru- Ansätze zu jenem gemeinschaftlichen Han- mente der europäischen Klimapolitik, wie deln zu blockieren, das für den Ausbau von ein verschärfter Emissionshandel und die Interkonnektivität und der erneuerbaren wahrscheinliche Einführung eines euro- Energien notwendig ist. Speziell die Er- päischen CO2-Grenzausgleichsystems, diese höhung der Interkonnektivität im Strom- Länder außergewöhnlich hoch belasten. Es sektor ist nach wie vor in hohem Maße drohen höhere Energie- und Spritpreise für politisch brisant: Als Reaktion auf das am die Bevölkerung und negative Auswirkun- 8. März 2021 unterzeichnete Memorandum gen auf die Bilanzen der Unternehmen, die of Understanding zwischen Griechenland, aufgrund der steigenden CO2-Bepreisung Israel und der Republik Zypern über den mit Mehrkosten rechnen müssen. Es kann Bau des EuroAsia Interconnector sandte deshalb damit gerechnet werden, dass Ankara eine Protestnote an die Unterzeich- Klimawandel und Energietransformation nerstaaten. Darin kritisiert die Türkei, dass bei den Wahlkämpfen für die griechisch- sie bei den Planungen außen vor gelassen zyprische und die türkische Präsidentschafts- worden sei, obwohl die vorgesehene Route wahl im Jahr 2023 eine größere Rolle spie- des Unterwasserstromkabels auch durch das len werden als bisher. Der Druck, den Aus- Gebiet führt, das die Türkei als ihre AWZ bau der erneuerbaren Energien zu forcieren beansprucht. Derzeit kann nur darüber und zugleich den Verbrauch von fossilen spekuliert werden, ob Ankara weitere Maß- Energieträgern zu reduzieren, wird für die nahmen ergreifen wird, um den Bau des politischen Akteure aller Parteien und EuroAsia Interconnector zu verhindern. Die Staaten zunehmen. Damit steigt auch die türkische Reaktion auf die Planungen der Wahrscheinlichkeit, dass sie sich gegenüber EastMed-Pipeline, die einer ähnlichen Route einem regionalen Ausbau elektrischer Ver- folgend Gas von Israel über Zypern nach bundnetze – unter Einschluss der Türkei Griechenland transportieren soll, lässt dies – offener zeigen, um die Flexibilität und befürchten: Im September 2021 verhinderte Zuverlässigkeit der Stromnetze sicherzustel- die türkische Marine Erkundungen des len. Durch die Ausweitung des regionalen Meeresbodens für die geplante Routen- Stromhandels würden Interdependenzen führung der Pipeline durch ein Forschungs- geschaffen, die in Zukunft neue Formen der schiff. Seit dem Aufkommen der Diskussion energiewirtschaftlichen Zusammenarbeit um den Bau der EastMed-Pipeline Anfang begünstigen und beispielsweise durch Ko- der 2010er-Jahre wiederholt Ankara, dass es operationen bei der Produktion und dem das Projekt auch militärisch zu unterbinden Transport von klimaneutralem Wasserstoff bereit ist. Eine ähnliche Position droht die ergänzt werden könnten. Türkei auch hinsichtlich des EuroAfrica Interconnector einzunehmen. Allerdings würde die Türkei in diesem Fall erneut einen Konflikt mit der EU riskieren und ihre gegenwärtigen Bemühungen um eine Ver- SWP-Aktuell 4 Januar 2022 6
besserung der bilateralen Beziehungen mit die östliche Mittelmeerregion zu einem Ägypten und Israel untergraben. bedeutsamen Faktor für das Erreichen der Grundsätzlich jedoch spiegelt der Aus- europäischen Klima- und Energieziele. Wäh- bau der Interkonnektivität die bestehende rend den Erdgasvorkommen vor der Küste regionale Blockbildung wieder: Auf der Zyperns seitens der EU mittlerweile keine einen Seite stehen Griechenland, Israel, die Relevanz für die europäische Energieversor- Republik Zypern und Ägypten, die in der gung mehr zugesprochen wird, rücken Energiepolitik ein Feld sehen, das Chancen nachhaltigere Formen der Energiewirtschaft zum Ausbau ihrer wirtschaftlichen und in der Region ins Zentrum des Interesses: sicherheitspolitischen Zusammenarbeit bie- Der Ausbau erneuerbarer Energien und die tet. Auf der anderen Seite steht die Türkei, Produktion von Ökostrom, die Ausweitung die aufgrund ihrer hegemonialen Politik von Interkonnektivität und die Chance auf regional ins Hintertreffen geraten ist. In eine Offshore-Wasserstoffproduktion, die diesem Zusammenhang spielt das EastMed an den europäischen Markt angebunden ist, Gas Forum (EMGF) eine entscheidende Rolle. erscheinen aus europäischer Perspektive Ihm gehören neben Ägypten, Israel, Jorda- überaus lukrativ. Das östliche Mittelmeer nien und der palästinensischen Verwaltung wird zu einem Verbindungsraum, in dem die EU-Mitgliedstaaten Frankreich, Griechen- sich Infrastrukturen und Transaktionen land, Italien und Zypern an, nicht jedoch zunehmend verdichten. Die Türkei ist auf- die Türkei. Die Europäische Kommission grund ihrer wirtschaftlichen und politi- hat seit Juli 2021 einen Beobachterstatus. schen Dominanz in der Region in der von Im Gründungsdokument des im Januar der EU beabsichtigten Energiewende ein 2019 konstituierten Zusammenschlusses zentraler und zugleich schwieriger Akteur. erklären die Unterzeichnerstaaten, zentra- Eine Koordinierung der energiewirtschaft- les Ziel des Forums sei die Schaffung und lichen Transformation zwischen der EU und Erweiterung eines regionalen Gasmarkts. der Türkei wäre im beiderseitigen Interesse. Mittlerweile ist auch die Förderung erneuer- Andernfalls drohen hohe politische Kosten barer Energien auf die Agenda der EMGF- und Hindernisse auf dem Weg zur Verwirk- Gipfeltreffen gerückt. Das Forum entstand lichung der energiewirtschaftlichen Ziele. in Reaktion auf die konfrontative Politik Im Grunde ist auch die Türkei auf eine Ko- Ankaras gegenüber den Nachbarländern. operation mit der EU angewiesen, da sie Heute bemängelt die türkische Führung, dringend Investitionshilfen für den Aufbau davon ausgeschlossen worden zu sein. Als einer nachhaltigen Energieinfrastruktur Regionalmacht verfügt die Türkei allerdings benötigt. über militärische Fähigkeiten, die sie in den Aus diesen Überlegungen lassen sich für Stand setzen, die Planungen der anderen die EU drei zentrale Handlungsempfehlun- Anrainerstaaten zu durchkreuzen. gen ableiten: Hinsichtlich des Umgangs mit fossilen Energieträgern sollte die EU gegenüber Handlungsempfehlungen für die internationalen Unternehmen und den EU und Deutschland Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeer- raums konsequent dafür werben, die Gas- Betrachtet man die Akteure im östlichen erkundungen vor Zypern und in der Ägäis Mittelmeerraum und deren energiewirt- kurzfristig zu stoppen und ruhen zu lassen. schaftliche Positionen genau, dann zeigt Die pandemiebedingte Einstellung der Ex- sich, wie bedeutsam europäische Energie- plorationen in den vergangenen Monaten diplomatie in der Region zukünftig sein hat gezeigt, dass dadurch die Lage deeska- wird. Der Green Deal und dessen politische liert und neue Gesprächskanäle geöffnet Folgen werden sich maßgeblich auf die werden können. Ferner sollte die Europäi- ökonomische und ökologische Situation der sche Kommission angesichts ihrer eigenen Anrainerstaaten auswirken. Umgekehrt wird Klimaziele keine weiteren Investitionen in SWP-Aktuell 4 Januar 2022 7
neue fossile Infrastrukturen, primär die in einen größeren Stromraum, der mit EastMed-Pipeline, tätigen, sondern ihren Grünstrom versorgt wird, integriert werden. Fokus vielmehr auf die Erschließung von Zum anderen würde die Türkei, wenn sie Transportrouten für klimaneutralen Wasser- die Realisierung der Interkonnektoren be- stoff richten. Dies wäre ein starkes Signal in hindert, sowohl Ägypten als auch Israel in die Region und würde entscheidend dazu die Quere kommen und damit die von ihr beitragen, das ohnehin überholte Narrativ angestrebte Normalisierung der diplomati- vom zyprischen Gas als Exportschlager zu schen Beziehungen mit diesen Ländern entkräften. konterkarieren. Zudem sollte die EU gegen- Hinsichtlich des Ausbaus erneuerbarer über Ankara eine klare Linie verfolgen. In © Stiftung Wissenschaft Energien sollte die EU den ökologischen der Vergangenheit lenkte die Türkei ein, und Politik, 2022 und ökonomischen Handlungsdruck, unter wenn sie als Reaktion auf ihre rechtswidri- Alle Rechte vorbehalten dem Griechenland, die Türkei und Zypern gen Gaserkundungen in der AWZ der Repu- stehen, nutzen und Investitionen für nach- blik Zypern oder in unmittelbarer Nähe der Das Aktuell gibt die Auf- haltige Energieinfrastrukturen in den Mittel- griechischen Insel Kastellorizo ernsthafte fassung der Autoren und der Autorin wieder. punkt ihrer Strategie für diese Länder stel- wirtschaftliche Konsequenzen befürchten len. Prioritär sollte sie die Weiterentwick- musste. Basierend auf dieser Erfahrung In der Online-Version dieser lung der Interkonnektivität, der Offshore- sollte die EU der türkischen Regierung dar- Publikation sind Verweise Windenergie und der Erzeugung von klima- legen, dass Störaktionen beim Bau des Inter- auf SWP-Schriften und neutralem Wasserstoff fördern. Der EU böte konnektors zwischen Griechenland und wichtige Quellen anklickbar. sich damit die Gelegenheit, ihre Führungs- Zypern gleichermaßen mit ökonomischen SWP-Aktuells werden intern rolle im Bereich nachhaltiger Energien und Gegenmaßnahmen beantwortet würden. einem Begutachtungsverfah- Wasserstoff auszubauen. Griechenland, die Insgesamt ist festzuhalten, dass die ren, einem Faktencheck und Türkei und Zypern könnten im Zuge dessen Energiewende im östlichen Mittelmeerraum einem Lektorat unterzogen. sowohl ihre Klima- und Umweltbilanz ver- eine regionale, aber auch eine europäische Weitere Informationen bessern als auch ihre Abhängigkeit von fos- Koordinierung erfordert. Hierzu braucht es zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- silen Energieimporten verringern. einen adäquaten multilateralen Rahmen. Website unter https://www. Hinsichtlich des Streits um die Festlegung Das EastMed Gas Forum (EMGF) ist dafür swp-berlin.org/ueber-uns/ von Ausschließlichen Wirtschaftszonen derzeit nur bedingt geeignet. Zwar stehen qualitaetssicherung/ sollten Vorkehrungen getroffen werden, da- bei den Gipfeltreffen der EMGF neben den mit sich die ungelösten Konflikte um See- Gasthemen mittlerweile auch verstärkt die SWP Stiftung Wissenschaft und grenzverläufe, territoriale Souveränität und Energiewende und der Kampf gegen den Politik politischen Einfluss zwischen Griechenland, Klimawandel auf der Agenda. Allerdings ist Deutsches Institut für der Türkei und den zyprischen Bevölke- das Verhältnis zwischen dem EMGF und Internationale Politik und rungsgruppen nicht negativ auf die Energie- dem Nichtmitglied Türkei weiterhin ge- Sicherheit transformation in der Region auswirken. spannt. Aus diesem Grund sollte im Sinne Um für den Bau des EuroAsia und des Euro- der energiewirtschaftlichen Neukartierung Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Africa Interconnector politisch günstige des östlichen Mittelmeerraums über ein Telefon +49 30 880 07-0 Rahmenbedingungen zu schaffen, sollte die neues inklusives regionales Format nach- Fax +49 30 880 07-100 EU mit Ankara innerhalb des EU-Türkei- gedacht werden. www.swp-berlin.org Klimadialogs auf höchster politischer Ebene swp@swp-berlin.org einen konstruktiven Austausch anbahnen, ISSN (Print) 1611-6364 im Zuge dessen Konzepte für eine gemein- ISSN (Online) 2747-5018 same Nutzung regionaler Energieflüsse doi: 10.18449/2022A04 erarbeitet werden. Da ihr Stromnetz mit dem kontinentaleuropäischen synchroni- siert ist, könnte die Türkei potentiell zügig Moritz Rau ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen, Dr. Günter Seufert ist Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP, Dr. Kirsten Westphal ist Vorstand der H2Global-Stiftung und in der Forschungsgruppe Globale Fragen als externe Beraterin für Themen der Energietransformation tätig. SWP-Aktuell 4 Januar 2022 8
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