"Der Spiegel", Habermas und der Papst

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Prof. Dr. Hubertus Mynarek (Odernheim)
                »Der Spiegel«, Habermas und der Papst
                               Das Neue Einvernehmen

Selbst »Der Spiegel«, einst unter Rudolf      einstmals als stockkonservativ geschmäh-
Augstein noch mehr oder minder das kir-       te Kirchenmann inzwischen auch viele auf-
chenkritischste Magazin im bundesdeut-        geklärte Intellektuelle begeistert.“1
schen Blätterwald, übernimmt völlig un-
kritisch die Mär von Ratzinger als dem        Ja, „warum fasziniert (denn) ein reaktio-
genialen Versöhner von Glaube und Ver-        närer, bayerischer Antimodernist im wei-
nunft, Religion und Ratio. Das Prinzip,       ßen Gewand die abgeklärten Aufklärer un-
dem praktisch alle größeren Magazine,         ter uns?“2 »Spiegel«-Smoltczyk weiß die
Zeitschriften und Zeitungen huldigen, kann    Antwort: Weil der Ratzinger-Papst „der
man so umschreiben: »Ein Papst, der so        Richtige“ ist, weil er „ein Intellektueller ist,
populär ist, die Massen derart anzieht, dem   der die Ratio nicht durch Mystik ersetzt,
müssen wir selbst auch ein ganz positives     sondern in den Dienst des Glaubens
Image verschaffen, sonst verpassen wir        nimmt.“3 Schon an dieser Stelle hätte ein
den Anschluss an unsere Leser und ver-        nachdenklicherer, weniger oberflächlicher
lieren eine Menge von ihnen.«                 Bewunderer des Papstes vorsichtig wer-
                                              den müssen, denn die Vernunft eignet sich
Also beauftragt auch »Der Spiegel« einen      schlecht als Magd, als Dienerin des Glau-
besonders dafür Geeigneten, die wichtigsten   bens (ancilla fidei), vielmehr feierte sie in
Reportagen über den Ratzinger-Papst zu        dieser ihrem Wesen widersprechenden
verfassen. Besonders geeignet wofür? Na-      Knechtsgestalt die größten, aber auch
türlich für eine positive Berichterstattung   schrecklichsten Triumphe in der Rationa-
über Ratzinger. Es ist Alexander Smolt-       lisierung, der Rechtfertigung der Inquisi-
czyk, »Spiegel«-Korrespondent in Rom,         tionsurteile gegen Unschuldige, vom Glau-
dessen – der Name legt es nahe – offen-       ben der Kirche Abweichende, allen voran
bar slawische Familienwurzeln ihn im Ge-      gegen so gewaltige Geistesgrößen wie
gensatz zu den „gefühlskalten“ Westdeut-      Galileo Galilei und Giordano Bruno.4
schen geradezu prädestinieren, schon a
priori eine gefühlsbetonte Hochschätzung      Aber dem »Spiegel«-Korrespondenten
für Papst und Kirche zu hegen. So erfreut     gefällt offenbar diese Knechtsrolle der
er sich auch der Sympathie Benedikts und      Vernunft gegenüber dem Glauben, denn
darf ihn auf seinen Flugreisen begleiten.     er lobt Benedikt dafür, dass der sagt: „Die
Man muss sich nur das Foto der beiden         Aufklärung muss aufgeklärt werden.“5 Ja,
im »Spiegel Special« (9/2006, S. 3) an-       durch wen denn? Natürlich durch Ratzin-
schauen, um zu erkennen: In diesem Blick      ger und den Glauben der Kirche.
in die Augen des anderen, in diesem Hän-
dedruck drückt sich höchstes Einver-          Die Begeisterung des »Spiegel«-Mannes
ständnis aus. Dementsprechend besteht         für den Papst steigert sich noch. Ja, sagt
die Haupttendenz seiner Ratzinger-Repor-      er, der „Johannes Paul war der Papst der
tagen in der Beschreibung, „warum der         Bilder“, aber „Benedikt ist der Papst des
20                                                         Aufklärung und Kritik 1/2008
Wortes.“ Der „sagt nicht wie sein Vor-        doch bitte gleich die Religion durch die
gänger: Hinknien und Rosenkranz be-           Vernunft, dann haben wir die ewigen Glau-
ten“.6 Wirklich nicht? Warum hat er dann      bens- und Religionsstreitereien endlich
vier prominenten Vertretern des Fernse-       hinter uns. Es ist ein trauriges Attribut vieler
hens bei seinem Interview in Castel Gan-      heutiger Journalisten, die dem Papst hul-
dolfo zum Abschied je einen Rosenkranz        digen, dass sie die Behauptungen dessel-
geschenkt? Die kritiklose Bewunderung         ben schon für die Wahrheit, für den Be-
lässt so manchen blind werden für das,        weis halten. Der braucht nur zu behaup-
was wirklich geschah oder geschieht! Und      ten, vernunftmäßiges Handeln sei ein
es geht ja mit dieser Bewunderung noch        Kennzeichen wirklicher Religion. Schon
ungebremst weiter: Wir haben, so Smolt-       glaubt man es ihm. Ratzinger hält doch
czyk, „ein Novum“ in Deutschland. „Es         sicher sein Christentum, seine Kirche für
ist etwas geschehen: Das Land von Lu-         eine wirkliche Religion. Aber was hat die
ther, Marx und Nietzsche hat den Glau-        nicht alles an Widervernünftigem getan:
ben an die Gottlosigkeit verloren.“ Die       Hexenverbrennung, Judenverfolgung,
Deutschen „stehen dem Glauben nicht           Buchverbote, Teufelsaustreibungen bis
mehr gleichgültig gegenüber. Sie interes-     zum heutigen Tag usw. usw. Nicht zu ver-
sieren sich für ihn und nehmen – auch im      gessen: Jedes Dogma ist ein Anschlag auf
politischen Berlin – das Wort aus Rom         den gesunden Menschenverstand. Wäre
ernster als noch vor wenigen Jahren. Die      Ratzinger konsequent, müsste er gerade
säkularisierte Kultur ist neugierig gewor-    seiner Kirche das Attribut »wirkliche Re-
den. Sie kokettiert mit der Una Sancta ...    ligion« aberkennen, denn vernunftgemäß
Benedikt ist der Papst für eine Zeit, die     hat diese Kirche in den seltensten Fällen
den Glauben verloren hat, aber sich nach      gehandelt. Noch „vor 60 Jahren wurde
einem Ort sehnt, und sei es, dem des          vom Vatikan kein Text produziert, in dem
Glaubens. Er ist der Papst für eine trauri-   nicht der Begriff Menschenrechte negativ
ge Moderne.“7 Traurig, ja tragikomisch        besetzt war: Menschenrechte sind libera-
daran ist doch in Wirklichkeit nur, dass      listisch, sind falsche Aufklärung. 60 Jahre
eine traurige, ängstliche, misstrauische,     später hat diese Institution es geschafft,
überall Irrtum und Sünde witternde, die       sich als jemand hinzustellen, der die ein-
Apokalypse als Strafe Gottes herbeiseh-       zig gültige Deutungskompetenz für Begrif-
nende Gestalt wie die Ratzingers der Mo-      fe wie Menschenwürde und Menschen-
derne, wenn sie denn traurig sein sollte,     rechte hat.“9
ein Ende der Traurigkeit bescheren soll.
                                              Wie wäre es, wenn der vermeintlich der
Aber »Spiegel«-Smoltczyk bleibt dabei:        Wahrheit so verpflichtete Ratzinger-Papst
Benedikt ist „der Richtige“, weil er die      die furchtbaren Urteile seiner Vorgänger
Wahrheit verkündet, weil „für ihn die         aus dem 19. Jahrhundert gegen die Glau-
Wahrheit nicht in mystischer Selbstversen-    bens-, Gewissens-, Gedanken-, Presse-,
kung zu finden ist, sondern am Schreib-       Rede- und Meinungsfreiheit mit allem
tisch. Vernunftmäßiges Handeln ist für        Nachdruck widerriefe? Nur dann wäre er
Ratzinger seit je das Kennzeichen wirkli-     glaubwürdig! In Wahrheit rechnet er gera-
cher Religion.“8 Ja, dann ersetzen wir        de bei den Medienvertretern mit einem kur-

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                               21
zen Gedächtnis bzw. mangelnden Ge-              ler Bewunderung, obwohl jener in diesem
schichtswissen, so dass er seine These          Punkt gerade von jedem wirklichen Den-
über die Kirche als Anwältin der Vernunft       ker widerlegt wird. „Der ist einer von uns“
und der Menschenrechte herausposaunen           Journalisten und Publizisten13 (denn die
kann, ohne die Befürchtung hegen zu müs-        können ja offenbar auch so „gut“ denken
sen, irgendeiner könnte ihm widerspre-          wie Ratzinger, wobei man hier wegen der
chen. Dabei sind die Aussagen der Päp-          fehlenden argumentativen Stärke dessel-
ste fast aller Jahrhunderte gegen die Men-      ben nicht einmal widersprechen kann).
schenrechte eine wahre Wonne für jeden
Fundamentalisten und Terroristen, eine          Die Komplimente, die »Der Spiegel« durch
wahre Fundgrube zur Instrumentalisierung        die Person seines Rom-Korrespondenten
der Religion für Gewaltakte.10                  an Ratzinger austeilt, nehmen kein Ende:
                                                „Joseph Ratzinger ist ein kluger ... Mensch“,
Kritiklos übernimmt der »Spiegel«-Kor-          ihm fliegen die Medien zu: „Gerade in den
respondent auch Benedikts Behauptung,           Feuilletons zeigt sich eine erstaunliche
er stelle sich im Namen der „‚Wahrheit‘         Wandlung ... ‚Cicero‘-Chef Wolfram Wei-
gegen den ‚Relativismus‘ der Moderne“,          mer schreibt ein ‚Credo. Warum die Rück-
denn „der Gott, dem wir glauben, ist ein Gott   kehr der Religion gut ist.‘ In der atheistisch-
der Vernunft ... Im Logos kommt der             protestantischen ‚Zeit‘ und der ‚FAZ‘
Mensch zu Gott.“11 Der Mensch Ratzinger,        wird jede Äußerung aus dem Apostoli-
der vermeintlich so Gescheite, so Belesene,     schen Palast mit Sorgfalt ausgelegt, die
hat offenbar die ganze Philosophie der Neu-     Rubrik ‚Exerzitien‘ des Katholomarxisten
zeit verschlafen, scheint nichts von Kant zu    Otto Kallscheuer ist Pflicht bei der Lek-
wissen, der die Gottesbeweise stringent         türe der ‚FAZ am Sonntag‘.“14 Die Me-
widerlegt hat; nichts von Kierkegaard, dem      dien hätten den »postmodernen Salat« der
großen dänischen Philosophen und Theo-          Relativismen und Beliebigkeiten satt, sie
logen, einem bedeutenden Vorläufer der          wollten eine feste, sichere Wahrheitsbasis.
Existenzphilosophie, der die Entscheidung       Deshalb hängten sie sich an den Ratzinger-
für den Glauben an Gott, den »Sprung«           Papst, denn der habe an der Frage „Wie
als das Relativste vom Relativen, daher         kann es Wahrheit geben in einer pluralisti-
Wagemutigste charakterisiert hat, der           schen Gesellschaft? ... sein Leben lang
durch kein Argument, kein Wissen von der        gearbeitet.“ Und das sei heute geradezu
Welt her erzwingbar und gedeckt ist; von        „eine Frage der tagespolitischen Aktuali-
Karl Jaspers, der zwar sogar so weit geht,      tät.“ Es sei „die Zeit der Verortung, der
die Möglichkeit eines Grundes allen Seins       Selbstvergewisserung, des Denkens. Dann
ins Auge zu fassen, von diesem Urgrund          ist der Mann im Apostolischen Palast kei-
aber die grundlegende Relativität behaup-       ne Fehlbesetzung. Benedikt XVI. ist kein
tet, er könne Gott oder der Teufel sein.12      bequemer Pontifex, weil er in Augenhöhe
                                                mit der säkularen Welt reden können wird.
Nichts Kritisches in dieser Hinsicht zu         Und mit der geistlichen sowieso.“15
Ratzinger seitens des »Spiegel«-Vertre-
ters. Im Gegenteil: Nur Lobendes: „Der          Man nehme zwei, drei Denker aus der „sä-
kann denken“, schwelgt Smoltczyk vol-           kularen Welt“, mit denen Ratzinger tatsäch-

22                                                           Aufklärung und Kritik 1/2008
lich gesprochen hat, und schon heißt es        zen, wie stark das internationale Interesse
im »Spiegel«: „... gerade Joseph Ratzinger     sein würde. Und von immer wieder neu
hat den Dialog mit den Agnostikern inten-      gespeister Publicity leben nun mal Philo-
siv gepflegt.“ Als ein Beispiel wird Jürgen    sophen, Wissenschaftler und Schriftstel-
Habermas genannt, der Frankfurter Phi-         ler. Tatsächlich „dürfte es nicht übertrie-
losoph, der sich mit Joseph Ratzinger „so      ben sein zu sagen, das Aufeinandertref-
blendend verstanden“ habe, „als beide in       fen eines der bedeutendsten Philosophen
der Münchner Katholischen Akademie             der Gegenwart und des damaligen Präfek-
über die ‚Dialektik der Säkularisierung‘       ten der römischen Glaubenskongregation
sprachen.“16 Ein anderer »Spiegel«-Mit-        habe weltweite Aufmerksamkeit gefunden.
arbeiter sekundiert Smoltczyk: Es sei zwi-     Bis aus Marokko und dem Iran waren sei-
schen Habermas und Ratzinger „zu über-         nerzeit Anfragen hier in München einge-
raschenden Annäherungen“ gekommen.17           troffen.“ So die Auskunft des Direktors
                                               der Akademie.20
Nehmen die beiden »Spiegel«-Leute den
Mund wieder zu voll? Hat es diese „über-       Natürlich weiß eine kirchliche Akademie
raschende Annäherung“, dieses „blenden-        immer genau, wen sie einlädt. Schon 2001,
de Verständnis“ wirklich gegeben? Fra-         drei Wochen nach dem furchtbaren Er-
gen wir zunächst, wie es zum Zusammen-         eignis des 11. September, hatte Habermas
treffen von Habermas und Ratzinger über-       in seiner Frankfurter Dankesrede zur Ver-
haupt kommen konnte. Denn es ist ja nicht      leihung des Friedenspreises des Deut-
selbstverständlich, eher befremdend, dass      schen Buchhandels eine „‘Steilvorlage’ für
„Deutschlands berühmtester liberaler Den-      die Kirchen“21 gegeben, indem er von der
ker Jürgen Habermas, der als Verkörpe-         säkularen Gesellschaft ganz überraschend
rung einer säkularen Vernunft internationa-    forderte, die religiösen Überzeugungen
les Ansehen genießt“,18 den damaligen (wir     neu zu sehen und zu verstehen, da sie mehr
schreiben den 19.01.2004) Generalinqui-        und etwas anderes seien als nur Relikte
sitor der Glaubensdiktatur Kirche, Joseph      einer abgeschlossenen Vergangenheit,
Ratzinger, zu treffen bereit war. Nicht ohne   vielmehr eine „kognitive Herausforde-
Grund hat sich ja im Hinblick auf diese        rung“ der Philosophie darstellten.22 So
Bereitschaft „bis heute die Überraschung,      stand also der Begegnung Habermas-Rat-
manchmal sogar Verstörung, bei seinen          zinger in den Räumen der Katholischen
Freunden wie Gegnern nicht gelegt.“19          Akademie Bayern nichts mehr im Wege.
                                               Man wusste ja: Habermas »ante portas«
Es ist nicht anzunehmen, dass es das statt-    in einer vorsichtigen, aber realen Annähe-
liche Honorar war, das die Katholische         rung an die Kirchen.
Akademie Bayern prominenten Referen-
ten aus staatlichen Steuergeldern zahlt, das   In der Akademie selbst betonte Habermas
Habermas dazu bewogen haben könnte,            dann zwar die „fortdauernde Nicht-Über-
die Einladung der Akademie anzunehmen.         einstimmung von Glauben und Wissen“,
Aber der wusste natürlich, wie sehr sich       aber diese sei und bleibe nur dann „ver-
die Medien auf eine derartige Diskussions-     nünftig“, „wenn religiösen Überzeugungen
veranstaltung zweier Berühmtheiten stür-       auch aus der Sicht des säkularen Wissens

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                           23
ein epistemischer Status zugestanden              „gleichgewichtigen“ Gegenvorschlag, im
wird, der nicht schlechthin irrational ist.“23    Religionsunterricht die Naturwissenschaf-
Habermas ist offenbar völlig naiv-ahnungs-        ten als Korrektiv der Schöpfungsmythen
los bezüglich der Privilegien, die die Kir-       zu Wort kommen zu lassen, hat man von
chen in unserem „säkularen“ Staat, übri-          offizieller Seite her allerdings nichts ge-
gens auch medial, bereits im Übermaß ge-          hört. Hier gilt nach wie vor: »Hände weg
nießen, wenn er sogar eine Hilfe der säku-        vom Religionsunterricht!«
larisierten Bürger für die Religion gutheißt:
„Eine liberale politische Kultur kann so-         Wenn ein prominenter Philosoph wie Ha-
gar von den säkularisierten Bürgern erwar-        bermas derart Wasser auf die Mühlen der
ten, dass sie sich an Anstrengungen be-           Kirche gießt, wächst er natürlich in ihren
teiligen, relevante Beiträge aus der reli-        Augen enorm. Auf dem Buchdeckel der
giösen in eine öffentlich zugängliche Spra-       vom katholischen Herder-Verlag heraus-
che zu übersetzen.“24 Hoffentlich weiß            gegebenen Publikation Habermas/Ratzin-
Habermas, was er da erwartet. Den dem             ger über „Dialektik der Aufklärung“ wird
Normalbürger nicht mehr verständlichen            er dann auch schon als „der wohl bedeu-
Theologenjargon in eine öffentlich zugäng-        tendste Gegenwartsphilosoph“ bezeich-
liche Sprache zu übersetzen – das wird            net. Und auch Ratzinger war hochzufrie-
schwierig und erfordert vielleicht ganze          den. Als Fazit seines Gesprächs mit Ha-
Übersetzerbüros. Aber wenn die Kirchen            bermas wiederholt er nur gebetsmühlen-
Habermas’ Vorschlag akzeptieren und auf           artig, ohne jede Spur eines Beweises, die
den Staat ein wenig Druck ausüben, wird           Mär von der „notwendigen Korrelationa-
der sicherlich auch für die Übersetzungs-         lität von Vernunft und Glaube, Vernunft
arbeit aufkommen.                                 und Religion“, von ihrer „wesentlichen
                                                  Komplementarität ... so dass ein univer-
Noch einen weiteren „Leckerbissen“ ser-           saler Prozess der Reinigungen wachsen
viert Habermas den säkularisierten Bür-           kann.“26
gern: „In der politischen Öffentlichkeit ge-      Ja, im Reinigen, Sühnen, Bußetun, Ablass-
nießen ... naturalistische Weltbilder, die sich   gewähren war die Kirche schon immer
einer spekulativen Verarbeitung wissen-           groß. Dem sollte sich dann aber auch Ha-
schaftlicher Informationen verdanken und          bermas unterziehen, auch wenn er von sich
für das ethische Selbstverständnis der Bür-       behauptet, persönlich „religiös unmusika-
ger relevant sind, keineswegs prima facie         lisch“27 zu sein. Aber genau das ist es ja,
Vorrang vor konkurrierenden weltanschau-          was den Theologen und der prokirchli-
lichen oder religiösen Auffassungen.“25           chen Journaille an Habermas so gefällt und
Das wird dann in der Praxis so aussehen,          weswegen man sich ausgiebig auf ihn be-
wie es in einigen Bundesländern schon             rufen kann. Der Mann ist ja religiös un-
versucht wird, z.B. in Hessen, wo Bestre-         musikalisch, hat gar keine innere Anlage
bungen im Gange sind, im Biologieunter-           für Religiosität, ist also religiös nicht affi-
richt selbst, soweit er sich mit der Evolu-       ziert. Wenn ein solcher dann trotzdem der
tionslehre befasst, die religiöse Schöp-          Religion das Wort redet, müssen seine
fungslehre (Kreationismus) gleichgewichtig        Aussagen doch das nonplusultra höchster
zu Wort kommen zu lassen. Von einem               Objektivität sein!

24                                                             Aufklärung und Kritik 1/2008
»Der Spiegel« ist ganz aus dem Häuschen        religiöse Bewegungen in Deutschland, die
ob der Kehrtwende von Habermas, „der           Habermas, ganz wie die Kirche das tut,
als Verkörperung einer säkularen Vernunft      als vernachlässigbare Minderheiten unbe-
internationales Ansehen genießt“. Er jubelt    achtet lässt, die Auferstehung kein Pro-
über „die neue Position des bisher säku-       blem ist, auch bei ihrer Negation keine
laren Habermas“, die „die Bezeichnung          Leere hinterlässt, weil sie durch andere
‚postsäkular‘“ verdiene. „Der Wissen-          Inhalte positiv gefüllt wurde. Das gilt selbst
schaftler ist (zwar) nicht religiös gewor-     für einige neuchristliche Bewegungen, die
den. Aber er sieht im Schwinden der Re-        mit Kirche nichts mehr zu tun haben. Dass
ligion inzwischen auch einen Verlust.“28       Habermas behauptet, keine religiöse An-
Habermas selbst hat das so ausgedrückt         lage zu besitzen, ist in Ordnung. Die muss
(und fürwahr, ein Theologe könnte es           man nicht haben. »Religiös unmusika-
nicht feierlicher ausdrücken): „Als sich       lisch« soll er ruhig sein, aber »religiös un-
Sünde in Schuld, das Vergehen gegen            wissend« zu sein, wenn man über Religi-
göttliche Gebote in den Verstoß gegen          on spricht, das darf sich ein Wissenschaft-
menschliche Gesetze verwandelte, ging          ler oder Philosoph nicht erlauben, wenn
etwas verloren ... die verlorene Hoffnung      er in dieser Hinsicht noch ernstgenommen
auf Auferstehung hinterlässt eine spürba-      werden will.
re Leere.“29 Da muss Habermas etwas ver-
passt haben, sonst wüsste er, dass selbst      Selbst wenn Habermas von „Religion und
die Mehrheit der Katholiken und Prote-         Kirche“ spricht, meint er immer nur die
stanten längst mehr an Reinkarnation und       Kirchenreligion. Eine andere hat er nicht
Wiedergeburt glaubt als an Auferstehung,       vor Augen. Aber diese Kirchenreligion
aber deswegen keineswegs Leere, viel-          macht er größer, viel größer als sie heute
mehr eher Glücksgefühle verspürt. Die          nur noch ist, wenn er sie zur Gegenmacht
Leere, die Habermas meint, verspüren nur       gegen die „kapitalistisch entfesselten Pro-
noch die konservativsten Kirchentheolo-        duktivkräfte“ aufbläht. Es seien „die hal-
gen, zu deren Gesellschaft Habermas mit        tenden Mächte von Religion und Kirche“,
seiner Aussage nun gehört.                     die sich diesen Kräften entgegenstellen.30
                                               Von der Verstrickung des Vatikans in den
Habermas leidet an typisch deutsch-kon-        Groß-Kapitalismus, in immer neue Finanz-
fessioneller Blickverengung, weil er die       skandale (Affären Calvi, Marcinkus, Sin-
Vielschichtigkeit und Multidimensionalität     dona usw.)31 scheint Habermas noch nie
der Religion nicht sieht, zwar allgemein       etwas gehört zu haben. Oder er will sie
von Religion redet, aber damit immer nur       nicht sehen, sie widerspräche zu sehr sei-
die katholisch-evangelische Kirchenreli-       ner neuen Philosophie der Komplemen-
gion meint. Sonst müsste doch der ver-         tarität von Säkularität und Kirchlichkeit.
meintlich so liberale Multikulturalist wis-
sen, dass für viele Religionen, die auch       Auch in Bezug auf einen weiteren Aspekt
schon bei uns in achtbarer Stärke vertre-      lobt »Der Spiegel« den Philosophen Ha-
ten sind, Begriffe wie Gott, Christus, Auf-    bermas: „Der weltliche Denker hob die so-
erstehung und dergleichen mehr keine           ziale und moralische Kraft religiöser Ge-
Rolle spielen; dass aber auch für viele neu-   meinschaften hervor, in denen etwas in-

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                              25
takt bleiben könne, das (so Habermas            Habermas fordert, gerade in der Ära der
wörtlich) ‚andernorts verlorengegangen          Globalisierung die einzige Möglichkeit ei-
ist: Sensibilitäten für verfehltes Leben, für   nes humanen Zusammenlebens.“33 Da
gesellschaftliche Pathologien, für das Miss-    kann man nur noch wünschen: »Hab‘ er
lingen individueller Lebensentwürfe.‘“32        Maß!«, Herr Habermas. Der alte Augstein
Hier steigert sich Habermas geradezu zum        muss sich im Grabe oder seiner Urne um-
Apologeten der höheren Moral der Kir-           drehen ob des von seinem »Spiegel« her-
che. Der Mann sollte von seinem elfenbei-       beigesehnten neuen Habermas’schen Mo-
nernen Philosophenturm herabsteigen und         dells einer Synthese von Säkularität und
sich einmal konkret über die enorm zahl-        Kirche.
reichen verpfuschten Priesterexistenzen
kundig machen, zum Beispiel, indem er           Smoltczyk, der Rom-Korrespondent des
die von der Amtskirche diskret gebauten         »Spiegel« und Minnesänger des Papstes
Auffangheime für durch Alkohol, Neuro-          Benedikt, hat noch ein Bonbon parat, das
sen oder sexuellen Missbrauch von Kin-          Halbgebildeten gefallen wird, Nachdenk-
dern gescheiterte Kleriker besucht, wenn        lichen jedoch nicht schmecken kann. Er
sie ihn da hereinlassen sollte.                 behauptet von Ratzinger, dass der „Din-
                                                gen auf den Grund denkt. Er ist ein Radi-
Die ganze Strategie der Kirche bestand in       kaler. Auch das macht ihn sexy für die
allen Jahrhunderten ihres Daseins darin,        Intellektuellen.“34 Smoltczyk ist, ähnlich
durch das Dogma der Erbsünde und der            wie etwa die Journalisten der »Welt«, der
daraus folgenden persönlichen Sünden            »FAZ« und anderer Blätter, auf die per-
Schuldbewusstsein einzuimpfen, um dann          manente »Vernunft-Propaganda« Ratzin-
durch die Beichte und andere Sakramen-          gers hereingefallen. Der listige Ratzinger
te Schuld gnädiglich zu erlassen. Nicht         hat schnell bemerkt und sich zunutze ge-
ohne triftigen Grund können Psychiater          macht, dass in unserer von den Medien
und Psychotherapeuten in aller Welt ein         geprägten Welt der fortschreitende Ver-
garstig Lied von den massenhaft auftre-         lust des Denkens dazu geführt hat, dass
tenden »ekklesiogenen Neurosen« singen.         die Anwendung von Schlagworten bei den
Warum, sollte sich Habermas fragen, sind        meisten Menschen gut ankommt, dass Pa-
denn die Kirchen und die Beichtstühle leer,     rolen bei ihnen das Denken ersetzen. Es
die säkularen psychotherapeutischen Pra-        genügt vollkommen, wenn er ständig be-
xen aber proppenvoll von Leuten, die ihr        hauptet: „Der Gott, dem wir glauben, ist
Leben durch die Schuld der Kirchen ver-         ein Gott der Vernunft“,35 schon braucht er
fehlt haben, die die Kirche für das Miss-       dafür keinerlei Beweise mehr anzutreten.
lingen ihrer Lebensentwürfe hauptverant-
wortlich machen.                                In Wirklichkeit ist Ratzinger eben kein ra-
                                                dikaler Denker. Das Kompliment vom
Aber davon unbeeindruckt, erklärt auch          »Spiegel-Smoltczyk« ist völlig daneben
»Der Spiegel«, dass der von Habermas            geraten, weil Ratzinger die Dinge gerade
vorgezeichnete Weg der einzig richtige ist:     nicht bis auf ihre Wurzel (radix), ihren
„So ist der ‚komplementäre Lernprozess‘         Grund verfolgt, sondern mit für die Men-
von religiöser und säkularer Welt, den          ge abstrakten Begriffen wie »Vernunft«,

26                                                          Aufklärung und Kritik 1/2008
»Logos«, »nicht neutrale Mathematik des      der Kirche darf man nicht hinterfragen,
Alls« um sich wirft, die den Eindruck von    obwohl ein personaler Gott als Letztinstanz
Tiefe erwecken sollen. Ein einziges Mal      aller Weltwirklichkeit in sich selbst total
scheint es auch bei Smoltczyk zu däm-        problematisch ist, eben sich selbst ein Pro-
mern, wenn er von Ratzinger sagt: „Er        blem wäre. Kann er doch nicht Herr sei-
wechselt das Abstraktionsniveau und macht    nes eigenen Ursprungs sein, sonst müsste
sich unangreifbarer.“36                      er sich selbstverursacht, also sich aus dem
                                             Nichts ins Sein katapultiert haben, was
Ein Kirchentheologe wie Ratzinger kann       unmöglich ist, woraus logisch zwingend
überhaupt nicht radikal sein. Die ganze      und evident hervorgeht, dass er sich selbst
Ideologie der Kirche besteht darin, das      vorfindet, seine eigene Vergangenheit dun-
Weiterbohren im Prozess des Denkens          kel für ihn ist, somit in sich selbst ein irra-
über die letzten Fragen zu verbieten. Wozu   tionales Faktum beherbergt. Das ist dem-
gab es denn den Antimodernisten-Eid          nach eine stringente Widerlegung von Rat-
Papst Pius‘ X., der in Wirklichkeit ein      zingers »Vernunftgott«! Ratzinger gibt
Anti-Aufklärungseid war? Was hatte Rom       sich gerade vor Medienleuten gern das
gegen die Widerlegung der Gottesbeweise      Image des tiefgründigen Denkers und Phi-
durch Kant zu bieten? Es antwortete da-      losophen. Dann sollte er wirklich mal die
mit, dass es die sichere Erkenntnis Got-     Philosophiegeschichte eingehend studie-
tes „per ea, quae facta sunt“, einfach zum   ren. Er würde dann sehen, dass schon die
Dogma erhob, unter dogmatische Kuratel       frühesten Philosophen im ersten Aufgang
stellte. Katholiken ist es seitdem verbo-    der Philosophie im antiken Griechenland
ten, Gottes Existenz anzuzweifeln. Das hat   nach dem Urstoff fahndeten, aus dem Gott,
gerade Ratzinger, damals noch oberster       Götter und Menschen entstanden sind.
Glaubenswächter im Vatikan, wieder ei-
gens bekräftigt, indem er in seinem be-      Der so „radikale“ Ratzinger drückt sich
rühmt-berüchtigten »Glaubensrapport«         auch um eine Lösung des Theodizeepro-
jeden Zweifel an einer dogmatisch festge-    blems herum, des Problems, wie ein ver-
legten Glaubenswahrheit als Todsünde         nünftiger Gott mit dem irrationalen Fak-
brandmarkte.                                 tum des Übels in der Welt zu vereinbaren
                                             ist. Jedenfalls bietet er dafür keinerlei
Und in der Tat: Was tut denn Ratzinger?      Denkhilfen an. Dabei kann radikales Den-
Er nimmt den Logosbegriff der griechi-       ken gerade dieses fundamentale Problem
schen Philosophie, stülpt ihn willkürlich    nicht links liegen lassen, weil es hier wie-
dem keineswegs rationalen und vernünf-       der besonders um die Frage des Vernunft-
tig handelnden Gott der Bibel über und       gottes geht, um das vernünftige Verhält-
verkündet nun triumphal: „Der Gott, dem      nis zwischen Allmacht, Allgüte und All-
wir glauben, ist ein Gott der Vernunft.“     wissen Gottes. Zwar sagt Papst Benedikt
Beweise dafür? Fehlanzeige! Höchstens        hier wieder sein Sprüchlein auf: „Der Gott,
den Bibel-„Beweis“, dass der unbekann-       dem wir glauben, ist ein Gott der Vernunft
te Autor des Johannes-Evangeliums das        – einer Vernunft, die freilich nicht die neu-
vor 19 Jahrhunderten auch schon so ge-       trale Mathematik des Alls, sondern eins
macht hat. Also nix von radix! Den Gott      mit der Liebe, mit dem Guten ist.“37 Aber

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                             27
die Kluft zwischen Allmacht und Allgüte          Es fällt auf, dass auch in der Habermas-
bzw. Liebe Gottes angesichts des Bösen           Ratzinger-Diskussion in der katholischen
in der Welt hat bis heute kein Denker zu         Akademie Bayern alle diese wirklich strit-
überbrücken vermocht: Entweder Gott ist          tigen Punkte (Gottes-, Theodizee-, Evolu-
allmächtig (könnte also das Übel beseiti-        tions- und Schöpfungsproblematik) über-
gen, tut es aber nicht), dann ist er nicht       haupt nicht behandelt wurden, obwohl es
allgütig. Oder er ist allgütig, dann ist er      ohne das wirkliche Eingehen auf diese Pro-
nicht allmächtig, weil er nicht die Kraft hat,   bleme Habermas schwer fallen dürfte, sei-
eine Welt ohne Viren, Bakterien, Bazillen,       ne These vom „epistemischen“ bzw. „ko-
ohne den ganzen Katalog grausamster              gnitiven“ Status in religiösen Überzeugun-
physischer und psychischer Krankheiten,          gen plausibel zu machen. Auch bei der
ohne die Brutalitäten des Daseinskampfes         Begegnung Ratzinger-Küng war man ja über-
in der Natur zu erschaffen.                      eingekommen, dass kontroverse Punkte, zu
                                                 denen auch die naturwissenschaftlichen ge-
Ein wirklich radikales Denken darf auch          hören (Küng hatte darüber gerade ein Buch
die Problematik »Schöpfergott und Evo-           veröffentlicht), außen vor bleiben sollten.
lution« nicht ausklammern. Ratzinger hat
auch diese Thematik nicht wirklich ver-          Was die kirchlichen Theologen von »Ver-
tieft oder gar zu einer befriedigenden Lö-       nunft«, beispielsweise der genialen Ver-
sung gebracht. Lieber lässt er da seinen         nunft eines Giordano Bruno oder eines
früheren Adlatus, den heutigen Erzbischof        Galileo Galilei halten, demonstrierte noch
von Wien, Kardinal Schönborn, das The-           kürzlich Herr Walter Brandmüller. Der
ma großspaltig sowohl in der amerikani-          Herr ist nicht irgendwer in den Augen der
schen als auch in der deutsch-sprachigen         Kirchenbosse. Er ist ein enger Freund Rat-
Presse angehen und den „Designer“-Gott           zingers und nicht ohne Zutun desselben
verkünden. Die Evolution kann man zwar           1998 Vorsitzender des Päpstlichen Komi-
auch in der Theologie heute nicht mehr           tees für Geschichtswissenschaften gewor-
total negieren, aber man schiebt Gott die        den, welchen Vorsitz er bis heute innehat.
Rolle des „Designers“ zu, der an ent-            Dieser im Vatikan residierende Chefhis-
scheidenden Wendepunkten der Evoluti-            toriker der Kurie erklärt also in einem Ge-
on diese korrigiert haben soll. Der Theo-        spräch mit Henryk M. Broder vom »Spie-
loge Schönborn wird in der Strategie Be-         gel« frank und frei, aber auch zynisch und
nedikts bezüglich der Evolutionsproble-          verächtlich: Giordano Bruno „war ein ver-
matik vom Vatikan-Philosophen Robert             ruchtes und unmoralisches Genie“.38 Also
Spaemann unterstützt, der Anfang Sep-            ein überragender Geist wie Giordano Bru-
tember 2006 daselbst vor einem exklusi-          no, der fast alle größeren Denker der Neu-
ven Gelehrtenkreis um den Papst zum              zeit inspiriert und beeinflusst hat: die Ethik
Thema Evolution und Schöpfungsglaube             Spinozas, die Lehren von Leibniz, einen
referierte. Der »Stern« zählt Spaemann zu        Goethe, Schelling, Schopenhauer; der
„den bedeutendsten deutschsprachigen             Darwins Evolutionstheorie in ihrem Kampf
Philosophen der Gegenwart“ (48/2006)             ums Dasein und ihrem Ausleseprinzip,
und merkt nicht, dass er damit nur die           aber auch bezüglich des Instinkts als ei-
Wertungen der Kirche übernimmt.                  ner Entwicklungsstufe des Intellekts vor-

28                                                            Aufklärung und Kritik 1/2008
weggenommen hat; bei dem sich sogar           nichtung dieses Neuen und der Geister,
lange vor Einstein Gedanken zu einer all-     die es vertreten. Nicht die Wahrheit, son-
gemeinen Relativitätstheorie finden und       dern die Demonstration und Bewahrung
ebenfalls ganz modern anmutende Ideen         ihrer Macht steht dabei stets im Mittel-
zur Atomlehre – der war in den Augen          punkt der Interessen dieser Institution.
des Chefhistorikers des Vatikans ein ver-
ruchtes und unmoralisches Genie. Klar         Und da kommt die kirchliche Überheb-
doch! Denn wie konnte dieser Dominika-        lichkeit und Arroganz in Gestalt des vati-
nermönch, der doch die Lehren der Kir-        kanischen Chefhistorikers von Ratzingers
che von Kindesbeinen an eingetrichtert be-    Gnaden daher und erklärt salopp und
kommen hatte, sich zu einer derartigen Hö-    leichthin und ohne den leisesten Anflug
he des freien Geistes aufschwingen, dass      von Gewissensbissen, die ganze Ausein-
er diesen Lehren überzeugend und mit Ein-     andersetzung zwischen Kirche und Gali-
satz seines Lebens entgegentrat und ganz      lei sei halt ein Missverständnis gewesen
neue Konzepte entwickelte, die mit dem        und beide Seiten hätten sich damals ge-
abgestandenen Mief der kirchlichen Dok-       irrt.39 Wo, bitte schön, hat Galilei geirrt?
trin nichts mehr zu tun hatten.               Das ist doch vielmehr ein weiterer Beweis
                                              dafür, dass die Kirche die Erkenntnisse
Die jahrhundertelang im „christlichen“        Galileis im Grunde bis heute nicht aner-
Abendland wütende Inquisition der Kir-        kennen will.
che, die der Chefhistoriker des Vatikans
und sein päpstlicher Freund Ratzinger         Der Fall Giordano Bruno und der Fall
heute in ihrer Schrecklichkeit zu verharm-    Galileo Galilei sind Musterbeispiele dafür,
losen suchen, mordete ja nicht nur Tau-       wie das Papsttum und seine Theologen
sende und Hunderttausende von Unschul-        stets mit dem Geist der Wissenschaft und
digen, deren Namen heute niemand mehr         der autonomen Philosophie umgesprun-
kennt, sondern auch bis heute namentlich      gen sind und auch in Zukunft umspringen
bekannte und geschätzte Geistesriesen,        werden. Kirchliche Theologie, auch die
ohne die es keinen Fortschritt der Wis-       von Papst und Bischöfen eingesetzte
senschaften gegeben hätte. Ja, die Inqui-     Theologie an den Universitäten, hat nie-
sition der Kirche diente als ganz beson-      mals neue Erkenntnisse gebracht, war stets
ders exzellentes und brutales Instrument      ihrem Wesen nach »Apologie«, d.h. Ver-
zur Knebelung und Unterdrückung der           teidigung und Rechtfertigung der alten
Wissenschaft und des Geistes. Galilei und     Lehren der Kirchen gegen den neuen Geist
Bruno, diese beiden, im Denken, Verhal-       neuer Entdeckungen und Erkenntnisse!
ten und Schicksal doch so unterschiedli-      Und dafür zahlt unser Staat jedes Jahr
chen Persönlichkeiten beweisen, dass die      Hunderte Millionen zum Nachteil und auf
Reaktion der Kirche auf Neues, auf neue       Kosten seiner Bürger.
Entwicklungen und Konstellationen, bis
zum heutigen Tag stets die eine und glei-     Schlimm ist dabei, dass der Ratzinger-
che ist, nämlich die der Bespitzelung, Ver-   Papst und sein oberster Vatikan-Histori-
unglimpfung, Verächtlichmachung, Verfol-      ker Brandmüller ihre konstitutiv prokirch-
gung, wenn irgendmöglich sogar der Ver-       liche Apologetik stur und unentwegt als

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                           29
»rationale Theologie« verkaufen. „Die ka-     tribut »katholisch« in Anspruch nehmen
tholische Position“, so Brandmüller, ganz     zu können, die katholische „Wahrheit“
wie sein päpstlicher Boss, „war immer die     nicht mit allen Mitteln durchsetzen zu wol-
Verteidigung der Vernunft.“40 „Immer?         len. Alle anderen von ihm begangenen
Auch während der Inquisition?“ fragt ihn      Sünden, und seien sie noch so schwer,
der »Spiegel«-Redakteur. „Erst recht wäh-     sind dagegen Bagatellen! „Wer einen Ket-
rend der Inquisition“, antwortet Brand-       zer tötet, begeht keine Sünde“, hatte Papst
müller arrogant, hartherzig und bedenken-     Innozenz III. dekretiert! Küng, beispiels-
los: „Es ging (ja) darum festzustellen, ob    weise, der „progressive“ Vorzeigetheologe
einer irrt oder nicht – durch rationale Ar-   für die gebildeten Katholiken, kann die
gumentation.“41 Dann war wohl, fragt der      Kirche noch so kritisieren, er bleibt in ihr,
»Spiegel«-Redakteur sich selbst, leider       weil sie die „unzerstörbare“ Feste der Wahr-
aus Höflichkeit nicht den Monsignore, die     heit ist.
„Folter die Fortsetzung der rationalen Ar-
gumentation mit anderen Mitteln“42 und        Ratzingers Chefhistoriker Brandmüller lässt
die Verbrennung Giordanos auf dem Schei-      im Gespräch mit dem »Spiegel« noch ein
terhaufen ein rationaler Schlussakkord. Und   weiteres Bonmot vom Stapel, das uns an-
da posaunt der Ratzinger-Papst in seiner      schaulich demonstriert, von welchem
Caritas-Enzyklika, dass nur die von Gott      „Geist“ vatikanisch-päpstliche Theologie
erleuchtete theologische Vernunft die au-     geprägt ist. Die geschichtlich wie sach-
tonome Vernunft vor Perversionen zu schüt-    lich außerordentlich belastete Problema-
zen vermöge. Man ist an einen der seriö-      tik des Verhältnisses von Naturwissen-
sesten, um objektivste Erkenntnis bemüh-      schaft und Theologie fegt Brandmüller ein-
ten Philosophen des 20. Jahrhunderts, den     fach vom Tisch, indem er die Methoden-
keineswegs kirchenfeindlichen Existentia-     bereiche der beiden Disziplinen scharf
listen Karl Jaspers erinnert, der trotzdem    voneinander trennt. „Die Naturwissen-
wiederholt feststellte, Kirche sei ständig    schaft erklärt, wie die Welt entstanden ist,
auf dem Sprung, die Scheiterhaufen wie-       die Theologie erklärt, warum sie entstan-
der aufflammen zu lassen.43 Aus rein ra-      den ist.“ Schluss, basta. Dass hier die Gren-
tionalen Gründen, versteht sich!              zen von Naturwissenschaft und Theologie
                                              durch ein oberflächliches Diktum willkür-
Wenn diese schwarze Bruderschaft im Va-       lich festgelegt werden, bemerkt der Vati-
tikan wieder die Macht hätte wie einst im     kan-Theologe nicht, oder es kümmert ihn
Mittelalter, es würden wieder Köpfe rol-      nicht.
len und Leiber brennen! Natürlich nur, um
der (kirchlichen) Vernunft zum Sieg zu        Sachlich aber ist festzuhalten, dass das
verhelfen. Dem „Vernunft“-Gott und sei-       »Wie« vom »Warum« nicht so einfach zu
nem Stellvertreter auf Erden zum Gefal-       trennen ist. Wer das »Wie« bei der Ent-
len! Diese Brüder haben nichts dazuge-        stehung des Universums herausbekäme,
lernt, sind so uneinsichtig und unfehlbar     erführe zwangsläufig auch so einiges über
wie zu Zeiten der Inquisition. Die größte     das »Warum« dieser Entstehung. Und
und furchtbarste Sünde für einen wasch-       darüber könnte und dürfte die Naturwis-
echten Katholiken ist, nicht mehr das At-     senschaft dann auch nicht schweigen, nur

30                                                         Aufklärung und Kritik 1/2008
weil ihr die Theologie das verbietet. Die      sultate der Jesus-Forschung aber als im
Theologie aber ist in der viel misslicheren    großen und ganzen unbedeutend desavou-
Lage, hier überhaupt nichts bieten zu kön-     iert.44
nen. Sie behauptet zwar zu wissen, war-
um Gott die Welt geschaffen hat, nämlich       Am Schluss seines Gesprächs mit Herrn
aus Liebe. Aber die Weltwirklichkeit, die      Broder vom »Spiegel« haut Brandmüller
Evolution mit ihren Irrwegen und Sack-         noch einmal auf die Pauke, indem er die
gassen, der Vernichtung bzw. dem Abster-       Überlegenheit des Gottesglaubens mit ei-
ben Tausender von Arten, die ganze hier        nem ganz einfachen Vergleich evident zu
schon kurz erörterte Theodizeeproblema-        machen versucht: „Wenn ein Mensch nicht
tik bestätigen diese Behauptung nicht, er-     mehr an Gott glaubt, glaubt er nicht an
weisen sie als pure Setzung des Glaubens       nichts, er glaubt an alles Mögliche.“45 Das
und Glaubenwollens. Die Vernunft kann          ist nicht bloß ein Diktum des Vatikan-
diese Setzung nicht mitvollziehen. Es ist      Theologen und -Historikers Brandmüller,
auch nicht so, dass die Theologen bei der      so rieselt es von Hunderten von theologi-
Entstehung der Welt auf dem Schoß Got-         schen Lehrstühlen in der ganzen Welt auf
tes gesessen und von ihm gesagt bekom-         die Köpfe der Priesteramtskandidaten und
men hätten, warum er die Welt erschaffen       der künftigen Religionslehrer unentwegt
habe. Ja, nicht einmal die Erschaffung der     herab.
Welt ist ein unbezweifelbares Faktum, sie
könnte auch anfangs und endlos in ver-         Trotzdem ist daran so ziemlich alles falsch.
schiedensten Seinszuständen der Ausdeh-        Es ist doch nicht so, dass ein Mensch,
nung und der Verdichtung der Materie           der an Gott glaubt, deshalb an gar nichts
existieren und pulsieren.                      anderes mehr glaubt. Der glaubt an noch
                                               viel mehr Dinge als der nicht an Gott Glau-
Der Satz: »Gott schuf die Welt aus Lie-        bende, er glaubt an Engel, Dämonen und
be« ist eine dogmatische Setzung der           Teufel, an Hölle und Fegefeuer, an den
Theologie. So wörtlich steht er nicht ein-     Ablass zur Verminderung der Fegefeuer-
mal in der Bibel. Und dass die beiden          qualen und ihrer zeitlichen Ausdehnung,
Schöpfungsberichte des Buches Genesis          an die Wundertätigkeit von Heiligenbildern
mythische Erzählungen sind, das sollte         und -skulpturen, an den Segen von Wall-
sich auch bis zu den obersten Vatikan-         fahrten und Fronleichnamsprozessionen,
theologen, von denen Brandmüller einer         an die magische Kraft der Sündenverge-
ist, herumgesprochen haben. Aber sein          bung durch den Priester im Sakrament der
Chef Ratzinger macht es ja ebenso. Er gab      Beichte, überhaupt an die gnadenhafte
im Frühjahr 2007 über Jesus ein Buch her-      Wirkung von Sakramenten und Sakramen-
aus, in dem er die teils mythischen, teils     talien, an die Bannung böser Geister durch
naiv-theologisch konstruierten, teils ein-     die Besprengung mit Weihwasser, an Ex-
fach erfundenen, teils aus der heidnischen     orzismen als Methode zur Heilung Beses-
Umwelt übernommenen Berichte der Evan-         sener usw. usf. Die Kirche selbst begnügt
gelien als weitgehend historisch-real dar-     sich doch keineswegs damit, die Gläubi-
stellt, die gesicherten, mithilfe der histo-   gen nur zum Glauben an Gott zu verpflich-
risch-kritischen Methode erbrachten Re-        ten. Die haben bei Strafe der Todsünde

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                            31
noch an Jesus Christus, Maria als jung-       keit stets vernünftig erscheinen wollenden
fräuliche Muttergottes, an die Apostel und    Ratzingers eben zurückgestellt werden.
Heiligen, an die Dogmen und Sakramente
zu glauben und den lehramtlichen Aussa-       Die Papstverherrlicher unter den Intellek-
gen der Päpste und Konzilien Glauben zu       tuellen rätselten, warum „der als nüchter-
schenken. Ein einigermaßen vernünftiger       ner Denker bekannte Papst Benedikt XVI.“46
Mensch, der nicht oder nicht mehr an Gott     im italienischen Abruzzendorf Manoppello
glaubt, kann beim besten Willen gar nicht     vor einem Tuch knien und beten müsse,
an so viele Dinge, an so viel Mögliches       das das Gesicht Jesu zeigen soll. So »Der
und Unmögliches glauben wie einer, der        Spiegel«. Aber auch die in ihrer Papst-
im Sinne der Kirche und kirchlichen Theo-     treue nicht zu erschütternde »FAZ« fragt
logie an Gott glaubt.                         zaghaft: „Wie kommt’s, dass der Intellek-
                                              tuelle auf dem Papstthron jetzt zu diesem
Damit löst sich das Argument des Vati-        Linnen reist?“ Ein doch „auf Vernunft
kan-Theologen und -Historikers Brand-         pochender Büchermensch“!47 „Muss“ denn,
müller und seiner Kollegen auf vielen theo-   so fragt noch einmal fast schon verzwei-
logischen Lehrstühlen in nichts auf, ja es    felt »Der Spiegel«, „Benedikt wirklich die-
wendet sich direkt gegen sie.                 se Wallfahrt machen?“

Der „brillante“, „geniale“ Vernunft-Theo-     Die Brüder von der schreibenden Zunft
loge Ratzinger reist übrigens, wie schon      können es sich nicht erklären. Sie haben
sein Vorgänger auf dem Papstthron, gern       halt dem Papst das Image des nüchtern-
zu Orten der Irrationalität, zu Zentren des   rationalen Intellektuellen verliehen und ste-
Aberglaubens und der Wundergläubigkeit,       hen jetzt vor einem Scherbenhaufen. Zwei
nicht bloß also nach Altötting, auch z.B.     Dinge sind es, die sie nicht kapiert haben:
nach Tschenstochau zur Schwarzen Ma-          zum ersten, dass dieser Papst keineswegs
donna, der „Königin Polens“, oder vor         so rational ist wie sie meinen, dass ein
Altötting noch schnell nach Manoppello,       Mann der Kirche, wie intelligent er sonst
zum „Schweißtuch Christi“. Dabei treibt       auch sei, überhaupt nie ganz und wirklich
ihn nicht bloß seine eigene irrationale       rational sein kann; zum zweiten, dass der
Marien- und Christusfrömmigkeit, son-         Katholizismus im wesentlichen und in der
dern auch die strategische Überlegung,        Hauptsache eine primitive, niedrige Mas-
dass „das Wunder des Glaubens liebstes        senreligion ist; und die hat den Reliquien-
Kind ist“ (Goethe), dass also den Mas-        kult absolut nötig, sonst kann sie die Mas-
sen die Dogmen der Kirche sch...egal sind,    sen nicht an der Stange halten. Die Mas-
sie aber durch das allergeringste Anzei-      sen wollen Sinnliches, Sichtbares, Berühr-
chen eines Wunders oder auch nur eines        bares, Greifbares. Die Kirche liefert es be-
Gnadenerweises magisch angezogen, elek-       denkenlos, indem sie vermeintliche Reli-
trisiert und mobilisiert werden und natür-    quien (Überbleibsel) von Christus, Maria
lich auch die Kassen der Kirche an den        und anderen Heiligen produziert und mul-
Wallfahrtsorten entsprechend ausgiebig        tipliziert. Eine wahre Reliquienindustrie, die
füllen. Da müssen alle rationalen Beden-      immer wieder die wundersamsten Blüten
ken des doch sonst vor der Weltöffentlich-    treibt.

32                                                         Aufklärung und Kritik 1/2008
Aus den obigen zwei Gründen pilgert eben         Aber Ratzinger wäre nicht Ratzinger, wenn
auch ein Ratzinger-Papst zu „heiligen“           er eine solch grobe, massendienliche Ver-
Reliquien. Die Wahrheitsfrage, ob diese          anstaltung nicht ideologisch-religiös über-
Reliquien echt seien, ob etwa das Schweiß-       höhen, „sublimieren“ würde, damit ihr prag-
tuch Christi in Manoppello eine Fälschung        matisch-utilitaristischer Zweck nicht so
darstellt, spielt da gar keine Rolle. Da hat     krass heraussticht. Also berichtet ein an-
auch Benedikt wie alle seine Vorgänger ei-       deres Magazin ganz beglückt, dass „Be-
nen gar nicht rationalen, sondern ganz und       nedikt XVI. im italienischen Bergdorf Ma-
gar pragmatischen Wahrheitsbegriff: »Wahr        noppello bewegt vor dem ‚Schweißtuch der
ist, was die Massen anzieht und uns Macht        Veronika‘ kniete“ und dass „der deutsche
über sie verleiht!« Trotzdem fragt z.B.          Journalist Paul Badde, Autor eines Ban-
»Der Spiegel« in aller Einfalt: „Ist es das      des über ‚Das göttliche Gesicht‘, sich an
Schweißtuch Christi oder eine Fälschung?“48      einen ‚zutiefst glücklichen‘ Papst erinnert“
Heilige Naivität, kann man da nur sagen:         und an dessen Worte: „Wir suchen gemein-
Da soll (1. Hypothese) eine Frau namens          sam nach dem Antlitz des Herrn“.51 Dann
Veronika Jesus auf seinem Leidensweg             sucht mal schön! Denn auch in Turin auf
durch Jerusalem ein Tuch gereicht haben,         dem berühmten Turiner Grabtuch gibt es
auf dem sich sein Gesicht abgezeichnet           ja ein »Gesicht des Herrn«, von dem kirch-
habe; dann soll sich (2. Hypothese) das          liche Apologeten schon wieder behaup-
Tuch über vierhundert Jahre (!) gewisser-        ten, es sei mit dem Manoppello-Gesicht
maßen unsichtbar gemacht haben, bis es           des Herrn deckungsgleich. Müssen sie
(3. Hypothese) nach diesem langen Zeit-          auch, sonst hätten sie schon wieder einen
raum in wunderbarer Weise gefunden wird          Erklärungsnotstand. Aber komisch bleibt
und (4. Hypothese) erst im Jahr 1506 in          es schon, dass Ober-Apologet Ratzinger
Manoppello landet, sich aber (5. Hypothe-        als „Grund für seinen Besuch“ Manoppel-
se) gleichsam vervielfacht hat, weil es inzwi-   los angibt: „Damit wir zusammen versu-
schen zwanzig solcher Gesichtstücher Chri-       chen können, das Gesicht unseres Herrn
sti auf der Welt geben soll, eines auch im       besser kennenzulernen, damit wir darin
Petersdom, in einer Säule am Papstaltar. Jetzt   Stärke in Liebe und Frieden finden kön-
ist »Spiegel Online« schon ganz durchein-        nen, die uns den Weg zeigen kann“.52 Arm-
ander: „Kann das Tuch (noch) echt sein? ...      seliger Glaube, armselige Spiritualität, die
Der Vatikan hat also das Tuch – das Dorf         nach Manoppello pilgern müssen, um das
Manoppello hat es aber anscheinend auch,         Gesicht unseres Herrn besser kennenzuler-
sonst wäre der Papst doch nicht hingefah-        nen! Aber das stimmt eben mit dem Faktum
ren.“49 Des Rätsels einfache Lösung: „Nach-      überein, dass es den Hierarchen der katholi-
dem von einer gläubigen Menge die Nach-          schen Kirche gar nicht um echte, aus dem
frage da war, hat man natürlich auch das         Innersten kommende Spiritualität geht, son-
Angebot vergrößert. Es gibt nicht nur zwei       dern nur um Spiritualität als ideologischen
solche Tücher, es gibt eine ganze Menge          Überbau, als verdeckend-verschleierndes
... Das weiß auch der Papst. Aber der Papst      Dach über dem eigentlichen Zweck der An-
weiß auch, dass er für seine Klientel et-        ziehung der Menge, der man sich eben an
was machen muss. Das ist mit seinem Amt          „Gnadenorten“ präsentieren muss, um sie
verbunden ... und Klientel ist Klientel.“50      bei Laune und bei der Kirche zu halten.

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                              33
Das ist der nicht zu leugnende, durch die      der! Ketzer- und Sektenverfolgung, He-
gesamte Geschichte der Kirche bestätigte       xenverbrennung, Bücherindex, Indianer-
Tatbestand in Sachen Wallfahrten, Prozes-      vernichtung usw. usw. unter dem Banner
sionen und Reliquienverehrung. Aber den        Mariens und dem Kreuz Christi beweisen
können und wollen papstverherrlichende         es. Die Wallfahrerei des Papstes Benedikt
Intellektuelle nicht akzeptieren. Also sind    wie die seines Vorgängers sind nur ein
sie, nachdem sie sich vom »Schock von          Aspekt und ein weiterer Beweis der Tat-
Manoppello« endlich erholt haben, raffi-       sache, dass Papsttum und Kirche eine rie-
niert genug, die gekünsteltsten Argumen-       sige Macht- und Profitmaximierungsma-
te dafür zu liefern, dass der Papst doch       schinerie unter dem Deckmantel der Reli-
dahin pilgern und dort anbeten musste.         gion sind.
Den Vogel schießt da wieder einmal Re-
dakteur Geyer von der »FAZ« ab. Er             Aber solange unsere führenden Zeitungen
nennt gleich zwei Gründe. Zum einen: Der       und Zeitschriften diesen evidenten, jetzt
so rationale Papst sei tapfer, sei mutig, er   wieder zum Vorschein gekommenen Tat-
„lasse sich nicht erschrecken“, auch nicht     bestand nicht erkennen wollen und ihn
von einem irrationalen Wallfahrtsort. Zum      nicht radikal kritisieren, vielmehr einige
anderen: Der Papst wollte „der Vernunft        ihrer Redakteure sich ängstlich und lächer-
eine Lektion erteilen. Die Vernunft soll be-   licherweise mit dem Problem beschäfti-
merken, dass ihr das eine oder andere Be-      gen, wie sie dem Papst die Hand küssen
dürfnis entspringt, welches sie nach ihren     sollen,54 bleibt die deutsche Medienland-
eigenen Regeln nicht befriedigen kann und      schaft in ihrer Papstberichterstattung hoff-
das deshalb die römische Kirche unter ihre     nungslos im feudalistisch-höfischen Mit-
Obhut nimmt, bevor es anderweitig – dä-        telalter stecken.55
monisch auftrumpfend – aus dem Ruder
läuft.“53                                      Anmerkungen:
                                               1
                                                  „Hausmitteilung“ der »Spiegel«-Redaktion in:
                                               »Spiegel Spezial«: Weltmacht Religion. Wie der
Wo bitte, Herr Redakteur Geyer, ist das        Glaube Politik und Gesellschaft beeinflusst, 9/2006,
Pilgern zu Wallfahrts-, Gnaden-, Wunder-       3.
orten ein Bedürfnis der Vernunft? Die hat       2
                                                  A. Smoltczyk, Ein Papst für die traurige Moder-
im Gegenteil nur das Bedürfnis, den Aber-      ne, in: ebd. 24.
                                                3
glauben als Aberglauben zu entlarven und          Ebd. 25.
                                                4
seine Hintergründe rational aufzudecken.          Vgl. H. Mynarek, Kritiker contra Kriecher, Ulm
                                               2005; ders., Herren und Knechte der Kirche, 2.
Sie würde sich gegen das Wunder nicht          Auflage Ulm 2002 (jetzt nur noch über den Ahriman
einmal wehren, wenn es denn Fakt wäre,         Verlag, Freiburg, beziehbar ).
jedoch hat sie bisher keines zweifelsfrei       5
                                                  Smoltczyk, a.a.O.
ausmachen können. Aber es gibt eben kei-        6
                                                  Ebd.
                                                7
nen Blöd- und Unsinn, den sich papst-             Ebd.
                                                8
treue Intellektuelle nicht ausdächten, um         Ebd.
                                                9
                                                  F. W. Graf, im Gespräch mit »Spiegel Special«,
ihren Guru reinzuwaschen. Macht sich           a.a.O. 20.
Herr Geyer klar, was geschieht, wenn die        10
                                                   Belege dafür bei H. Mynarek, Die Neue Inquisi-
Kirche etwas unter ihre Obhut nimmt? Sie       tion, Marktheidenfeld 1999 (Verlag Das Weiße
selbst läuft dann dämonisch aus dem Ru-        Pferd).

34                                                            Aufklärung und Kritik 1/2008
11
   Smoltczyk, a.a.O. 28.                                die Frauen, 2. Auflage, Essen 1999 (Verlag Die
12
   Vgl. H. Mynarek, Das Gericht der Philosophen,        Blaue Eule). Der Titel, den der Verlag wollte, führt
Essen 1997 (Verlag Die Blaue Eule).                     ein wenig in die Irre. In Wirklichkeit geht es um eine
13
   Smoltczyk, a.a.O.                                    kritische Bestandsaufnahme der gesamten Gestalt
14
   Ebd. 25.                                             Jesu.
15                                                       45
   Ebd. 29.                                                 Nach Broder, a.a.O.
16                                                       46
   Ebd. 25, 28.                                             »Spiegel Online«, 01.09.2006.
17                                                       47
    R. Traub, Glaube und Werte, in: »Spiegel                C. Geyer, Runter von der Wunderbremse, in:
Special«, 9/2006, 15.                                   »FAZ«, 03.08.2006.
18                                                       48
   Ebd.                                                     »Spiegel Online«, 01.09.2006.
19                                                       49
   F. Schuller, Direktor der Katholischen Akade-            Ebd.
                                                         50
mie Bayern, in seinem Vorwort zu: J. Habermas / J.          Ebd.
                                                         51
Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Ver-         E. M. Kallinger, Sucht mein Angesicht, in: »Focus«
nunft und Religion, Freiburg 52006, 7.                  48/2006, 50.
20                                                       52
   Ebd.                                                     »Spiegel Online«, a.a.O.
21                                                       53
   Ebd. 10.                                                 Geyer, a.a.O.
22                                                       54
   Ebd.                                                     Wie ein Schuljunge benahm sich z.B. der Redak-
23
   J. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des de-        teur der ach so kritisch-liberal-aufgeklärten Wo-
mokratischen Rechtsstaates?, in: Habermas / Ratzin-     chenzeitung »Die Zeit«, Christoph Amend, bei sei-
ger, a.a.O. 35.                                         ner Begegnung mit dem Papst in Rom. „Was sagt
24
   Ebd. 36.                                             man eigentlich dem Papst? ... Was sagt man dem
25
   Ebd. 35f.                                            Papst, wenn man nur einige Sätze hat?“, fragt er
26
   J. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vor-        sich ein ums andere Mal. „Wie begrüßt man den
politische moralische Grundlagen eines freiheitlichen   Papst, wenn er einen zu einer Audienz empfängt?“
Staates, in: Habermas / Ratzinger, a.a.O. 57.           Dann der demutsvolle Handkuss: „Man hatte mir
27
   Habermas, a.a.O. 35; ebenso 10.                      einen Hinweis gegeben. Benedikt XVI. hat den Kuss
28
   Traub, a.a.O. 15.                                    auf den goldenen Siegelring zwar nicht abgeschafft“
29
   Zit. nach Traub, a.a.O.                              (denn das wäre ja schon eine zu große, eines der
30
   Zit. ebd.                                            Symbole seiner Herrschaft als „König des Erdkrei-
31
   Dazu ausführlich Mynarek, Der polnische Papst.       ses“ abschaffende Reform gewesen, meine Hinzu-
Bilanz eines Pontifikats, Freiburg 2005 (Ahriman        fügung), „aber er mag es nicht, wenn man den Ring
Verlag), Kap. „Geldjongleure und Krämerseelen. Die      mit dem Mund berührt, eine Andeutung reicht.“ (Da
Finanz- und Sozialpolitik des Papstes“, 132ff.          geht’s um die Hygiene, sonst dürften sie küssen!)
32
   Zit. nach Traub, in: »Spiegel Special« 9/2006,       Dann die lächerliche Nervosität eines gestandenen
15.                                                     Mannsbildes und Redakteurs: „Neben mir sitzt
33
   Ebd.                                                 Manuel Herder, der Verleger des Herder-Verlags
34
   Smoltczyk, in: »Spiegel Special« 9/2006, 29.         ... Obwohl er dem Papst, seinem Autor, schon eini-
35
   Zit. ebd. 28.                                        ge Mal begegnet ist, tröstet es, dass auch Herr Her-
36
   Ebd. 29.                                             der ein wenig nervös ist. Werde er sich verbeugen,
37
   Zit. nach »Spiegel Special«, a.a.O. 28.              frage ich ihn ....“ Danach wie eine Offenbarung: „Und
38
    H. M. Broder (Spiegel-Redakteur), Unsere            dann steht er vor mir, die Sonne scheint ihm ins Ge-
Männer im Vatikan, in: »Der Spiegel« 48/2006, 184.      sicht, er streckt seine Hand aus ... Ich ergreife sie,
39
   Nach Broder, a.a.O.                                  sehe den Ring, deute den Kuss an und sage >Heili-
40
   Ebd.                                                 ger Vater
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