DER STOFF, AUS DEM TRÄUME SIND - WASSERSTOFF ALS WEGBEREITER DER ENERGIEWENDE - MCKINSEY ...

 
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DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG

Der Stoff, aus dem Träume sind – Wasserstoff
als Wegbereiter der Energiewende
Thomas Vahlenkamp, Ingmar Ritzenhofen, Markus Wilthaner, Fridolin Pflugmann, Fabian Stockhausen und Maximilian Wirths

Umweltfreundlicher „grüner“ Wasserstoff aus erneuerbaren Energien gilt als Hoffnungsträger im Kampf gegen den Klima-
wandel. In vielen Ländern herrscht Euphorie – zahlreiche Projekte werden angestoßen, auch in Deutschland. Doch noch
ist die Produktion teuer. Es braucht hohe Investitionen, vor allem in den Ausbau der nötigen Infrastruktur zur Erzeugung,
Verteilung und Speicherung von Wasserstoff. Was ist zu tun, um Wasserstoff als Energieträger von morgen zum Durchbruch
zu verhelfen? Eine kritische Bestandsaufnahme. Im Anschluss daran die neuesten Ergebnisse im Energiewende-Index 2030.

Wasserstoff als Energieträger beflügelt die
Phantasie von Klimaschützern, Politikern,
Unternehmen und Zulieferern der Energie-
wirtschaft. Er wird bereits als Wunderwaffe
auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050
gehandelt. Grund sind seine vielfältigen Ein-
satzmöglichkeiten: Wasserstoff kann Energie
in großen Mengen speichern und transpor-
tieren, treibt Motoren und Heizungen über
Brennstoffzellen an und spielt eine wichtige
Rolle in der industriellen Fertigung.

Als klimaneutrale Alternative zu konventionel-
len Energieträgern wird auf lange Sicht wohl
kein Weg am Wasserstoff vorbeiführen. Das
gilt vor allem für die Sektorenkopplung, bei der
Deutschland die Ziele bislang nicht erreicht,
wie der aktuelle Energiewende-Index belegt
(siehe auch „Die Indikatoren im Überblick“):
Mit derzeit 416.757 Elektrofahrzeugen ist nicht            Der Stoff, aus dem die Energieträume sind, muss wesentlich günstiger werden.
                                                   		      Und das kann er auch					                                                  Bild: Adobe Stock
einmal die Hälfte der geplanten Zulassungen
erfolgt – der Indikator bleibt in seiner Zieler-
reichung unrealistisch. Und im Wärmesektor         serstoff. Mit dieser Menge lassen sich rund          ten. Das aktuell größte Wasserstoffprojekt
müsste der Anteil erneuerbarer Energien (EE)       41.000 Schwerlast-Lkw mit Brennstoffzellen           in Deutschland ist AquaVentus, das vor Hel-
jährlich um mindestens einen Prozentpunkt          für ein Jahr betreiben. Aber die Bundesre-           goland Elektrolyseanlagen mit rund 10 GW
steigen, um bis 2030 auf die geforderten 27 %      gierung zielt auf einen breiten Einsatz in In-       Kapazität bis zum Jahr 2035 errichten will –
zu kommen; allerdings stagniert der Wert (der-     dustrie, Hauswärme und Transport und stellt          betrieben mit Offshore-Windenergie.
zeit 15 % EE-Anteil) seit zwei Jahren in Folge.    hierfür eine Fördersumme von 9 Mrd. € bereit.
Wasserstoff könnte hier eine Lösung sein.                                                               Auch international ist Wasserstoff Gegen-
                                                   Deutsche Unternehmen verfolgen ebenfalls             stand vieler Wachstumspläne. Neben der Eu-
Weltweiter Hoffnungsträger                         Ambitionen. In Planung sind bereits mehr             ropäischen Union arbeiten Länder wie Japan,
                                                   als 38 Wasserstoffgroßprojekte und mehrere           Südkorea, Saudi-Arabien und Australien an
In Deutschland hat das Thema im vergange-          Hundert kleinere. So plant der Stahlkonzern          Wasserstoffstrategien und Plänen. Vor allem
nen Jahr Fahrt aufgenommen. Im Juni 2020           Salzgitter im Projekt „SALCOS“ die Zukunft           Japan verfolgt in seinem Bestreben, zur „Was-
stellte die Bundesregierung ihre Nationale         der Stahlproduktion mit Wasserstoff. Der             serstoff-Gesellschaft“ zu werden, ehrgeizige
Wasserstoffstrategie vor. Der Fokus liegt dabei    Automobilhersteller Daimler kündigt für die          Ziele: So soll sich im Land die Anzahl der Fahr-
auf dem sog. grünen Wasserstoff, der unter EE-     zweite Hälfte des Jahrzehnts an, Lkws mit            zeuge mit Brennstoffzellenantrieb binnen fünf
Nutzung mittels Elektrolyse gewonnen wird          Brennstoffzellen in Serie zu produzieren, und        Jahren von aktuell 40.000 auf 200.000 und bis
(siehe Infobox). Bis 2030 sollen Erzeugungs-       BMW plant eine Pkw-Kleinserie ab 2022.               2030 auf 800.000 vervielfachen.
kapazitäten von 5 GW geschaffen werden, ein-       Raffinerien von Shell und bp sowie die Raf-
schließlich der dafür erforderlichen On- und       finerie Heide bauen Elektrolyseure, während          Für die Produktion von grünem Wasserstoff
Offshore-Windanlagen. 5 GW entsprechen ei-         Siemens und thyssenkrupp als Elektrolyseur-          wurden weltweit Projekte mit einer Gesamt-
ner jährlichen Produktion von 450.000 t Was-       Hersteller am Ausbau des Geschäfts arbei-            kapazität von 41 GW bis 2030 angekündigt.

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DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG

Zu den größten gehört das Asian Renewable            Kein Durchbruch über Nacht                                gesetzt sind. Wasserstoff als Energieträger
Energy Hub-Projekt in Australien mit einer                                                                     wird sich in Etappen etablieren, abhängig von
Kapazität von bis zu 23 GW (erste Exporte            Die Idee, Wasserstoff im großen Stil ener-                sektorspezifischen Regulierungen und davon,
ab 2027/28) und die Offshore-betriebene An-          giewirtschaftlich zu nutzen, ist nicht neu.               wie sich die dafür erforderlichen Technologien
lage NortH2 in den Niederlanden mit 4 GW             Bereits um die Jahrtausendwende erfuhren                  weiterentwickeln (Abb. 1):
ab 2030. In Europa sind insgesamt Projekte           einige Wasserstoffaktien ungeahnte Höhen-
mit einer Kapazität von 16 GW bis 2030 vor-          flüge, konnten jedoch in den Folgejahren                  Industrie. Im ersten Schritt dürfte CO2-freier
gesehen.                                             den hohen Erwartungen nicht gerecht wer-                  Wasserstoff für die Herstellung von Ammo-
                                                     den und stürzten so steil ab, wie sie geklet-             niak genutzt werden und den bisher verwen-
Wachsender Bedarf                                    tert waren. Weitere Wellen der Wasserstoff-               deten grauen sukzessive ersetzen. Ähnlich
                                                     euphorie folgten – mit ähnlich enttäuschen-               verläuft die Umstellung bei Raffinerien.
Wasserstoff wird zum begehrten Gut – das             den Ergebnissen.                                          Auch bei der Stahlproduktion wird Wasser-
spiegelt sich auch in der europäischen Nach-                                                                   stoff im sog. Direktreduktionverfahren früh
frageentwicklung wider. Derzeit werden in            Heute, 20 Jahre später, stehen die Börsenbe-              zum Einsatz kommen – wobei sich dort die
der EU jährlich rund 10 Mio. t Wasserstoff für       wertungen wieder auf Rekordhöhe und die                   Frage nach der Wirtschaftlichkeit wegen des
stoffliche Anwendungen wie z.B. die Produk-          Chancen für einen Durchbruch besser – aus                 Drucks auf die deutsche Stahlindustrie ganz
tion von Ammoniak genutzt. Dieser Bedarf             drei Gründen: Erstens ist grüne Wasserstoff-              besonders stellt.
wird nahezu vollständig aus fossilen Quellen         produktion dank gesunkener Stromerzeu-
gedeckt, während CO2-freier Wasserstoff noch         gungskosten bei Erneuerbaren inzwischen                   Verkehr. Im Schwerlastverkehr ist die Wasser-
ein Nischenmarkt ist. Bis 2030 wird der Was-         günstiger geworden, so dass sich der Einsatz              stofftechnologie gegenüber Batterielösungen
serstoffbedarf auf geschätzte 14 bis 20 Mio. t       zumindest in einzelnen Anwendungsfällen                   im Vorteil. Mit der Markteinführung von Was-
ansteigen – mit wachsendem Anteil von grü-           kommerziell rechnet (z.B. bei Gabelstaplern               serstoff-Trucks wird in der zweiten Hälfte des
nem und blauem Wasserstoff.                          und der Produktion von Ammoniak). Zwei-                   Jahrzehnts gerechnet. Auch bei Zügen, in der
                                                     tens gibt es konkrete Zusagen von Staaten,                Schifffahrt und im Flugverkehr wird die neue
Bis 2050 könnte sich der Bedarf auf fast             CO2-freien Wasserstoff zu subventionieren                 Technologie eine Rolle spielen. Im Personen-
70 Mio. t in Europa erhöhen, hauptsächlich           und so erste Skalierungen zu ermöglichen.                 verkehr eignen sich Wasserstoffantriebe vor
getrieben durch den Verkehrs- und Wärme-             Drittens rückt durch verschärfte EU-Dekar-                allem für Taxis oder ÖPNV-Busse, die längere
sektor mit ca. 20 bzw. 17 Mio. t sowie durch         bonisierungsziele die Nutzung von klima-                  Strecken zurücklegen müssen und auf kürze-
Verwendung von Wasserstoff als Ausgangs-             neutralem Wasserstoff vor allem im Indus-                 re Ladezyklen angewiesen sind. Umsetzungen
material für stoffliche Prozesse (rund 20 Mio. t)    trie-, Verkehrs- und Wärmesektor in den                   gibt es bereits in Städten wie Köln und Wup-
– vorausgesetzt, die Pläne zur Dekarboni-            Fokus. Wasserstoff ist damit zu einem Kern-               pertal, die 2020 Wasserstoffbusse in die Flot-
sierung werden ambitioniert umgesetzt und            bestandteil der Energiewende avanciert.                   ten der Verkehrsbetriebe aufgenommen ha-
CO2-freier Wasserstoff spielt hierbei eine                                                                     ben. Berufspendler hingegen, die ihre Autos
wesentliche Rolle. 70 Mio. t Wasserstoff ent-        Bislang allerdings nur auf dem Papier. Denn               nur morgens und abends nutzen, mit längeren
sprächen nach Berechnungen der Forschungs-           ebenso wie auf internationaler Ebene werden               Pausen zum Laden über Nacht und während
initiative FCH JU fast einem Viertel (24 %)          auch die deutschen und europäischen Pläne                 der Arbeitszeit, werden voraussichtlich eher
der gesamten Energienachfrage in der EU.             noch Jahre brauchen, bis sie vollständig um-              auf batteriebetriebene Fahrzeuge umsteigen.

Wasserstoff-Arten und ihre CO2-Bilanz
Grauer Wasserstoff, der aktuell den fast aus-
schließlichen Anteil der Wasserstoffproduktion
ausmacht, wird aus fossilen Brennstoffen gewon-
nen. Bei seiner Herstellung wird in der Regel Erd-
gas unter Hitze in Wasserstoff und Kohlendioxid
(CO2) aufgespalten. Das CO2 wird anschließend in
die Atmosphäre abgegeben und ist damit klima-
schädlich. Blauer Wasserstoff wird ebenfalls aus
fossilen Brennstoffen gewonnen, das entstehende
CO2 jedoch nicht emittiert, sondern abgeschieden
und gespeichert, weshalb diese Produktionsweise
als CO2-arm gilt. Grüner Wasserstoff wird bei der
Elektrolyse von Wasser gewonnen. Um wirklich
„grün“ sein zu können, muss der Strom für die
Elektrolyse ausschließlich aus CO2-freien Energie-   Abb. 1   Wasserstoff wird sich in Europa in Phasen etablieren
quellen stammen.

ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3                                                                                              11
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DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG

Wärme. Wasserstoff könnte auch im Wärme-        Die Kosten bilden eine der größten Hürden             der erneuerbaren Erzeugungskapazität.
sektor zur Dekarbonisierung beitragen. Eine     auf dem Erfolgsweg von grünem Wasserstoff             Denn Wasserstoffproduktion ist äußerst
Einspeisung in das existierende Erdgasnetz      als Energieträger. Aktuell ist Wasserstoff aus        energieintensiv – neben den (noch) hohen
bis zu einem Grenzwert von 2 % bis 10 %         Erneuerbaren noch nicht wettbewerbsfähig              Kosten die zweite große Herausforderung
des Gasvolumens ist bereits heute möglich,      gegenüber solchem aus fossiler Produktion:            beim Ausbau dieser Technologie. Dadurch
abhängig von den spezifischen Einspeise-        Die Kosten für grünen Wasserstoff liegen drei-        könnte die Stromnachfrage, einhergehend
bedingungen. Eine Beimischung von 10 %          bis viermal höher als etwa für grauen Was-            mit dem steigenden Bedarf in der E-Mobi-
würde etwa 800.000 t Wasserstoff pro Jahr       serstoff, der mithilfe von Erdgas hergestellt         lität und weiterer Elektrifizierung, in den
in Deutschland erforderlich machen, was         wird. Ohne weitere Kostensenkung wäre ein             nächsten Jahren wesentlich höher ausfallen
einer Erzeugungskapazität von etwa 9 GW         CO2-Preis von über 200 €/t erforderlich, um           als bislang erwartet.
entspräche – bereits deutlich mehr als in den   das derzeitige Kostengefälle zwischen beiden
2030-Ausbauzielen der Bundesregierung           Wasserstofferzeugungen zu egalisieren. Der-           Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die EE-
vorgesehen.                                     zeit steht der CO2-Preis bei rund 33 €/t.             Ausbaupfade der Bundesregierung zu wenig
                                                                                                      ambitioniert sind: Der für 2030 geschätzte
Der Stromsektor wird aufgrund zu hoher          Das heißt konkret: Der Stoff, aus dem die             jährliche Bruttostromverbrauch liegt bei 580
Kosten einer der letzten Bereiche sein, in      Energieträume sind, muss wesentlich güns-             TWh und damit exakt auf dem Niveau von
dem Wasserstoff zur Anwendung kommt,            tiger werden. Und das kann er auch. McKin-            2019. Tatsächlich wird nach Schätzungen
etwa in Gaskraftwerken oder als längerfris-     sey-Analysen ergeben, dass sich die Herstel-          des Energiewirtschaftlichen Instituts an der
tiger Energiespeicher. Hier finden zunächst     lungskosten von grünem Wasserstoff noch in            Universität zu Köln allein die Herstellung von
andere Dekarbonisierungshebel Anwen-            diesem Jahrzehnt um 60 % reduzieren lassen            Wasserstoff sowie die Elektrifizierung des
dung, beispielsweise der weitere Ausbau         – hauptsächlich durch sinkende Investiti-             Verkehrssektors in zehn Jahren zusätzlich
von Erneuerbaren und die Flexibilisierung       onskosten für Elektrolyseanlagen (infolge             ca. 120 TWh pro Jahr verschlingen – das ent-
auf der Bedarfseite.                            von Skaleneffekten bei der Herstellung und            spricht einer Steigerung um mehr als 21 %.
                                                voranschreitender Kommerzialisierung) bei
Eine Schlüsselrolle bei der Einführung von      gleichzeitiger Steigerung der Effizienz sowie         Nach McKinsey-Schätzungen könnte der Brut-
Wasserstoff wird die Infrastruktur spielen –    durch weiter verringerte Stromerzeugungs-             tostromverbrauch im Jahr 2030 (getrieben
nicht nur für die Erzeugung, sondern auch       kosten im EE-Bereich. Sollte sich allerdings          durch die Elektrifizierung im Verkehr und
für Transport, Verteilung und Speicherung.      der Elektrolyseanlagen-Ausbau nicht wie er-           bei der Wärmeversorgung) 677 TWh betragen
Wichtiger Ausgangspunkt hierfür ist der         wartet beschleunigen, stehen auch die Kos-            – ohne Berücksichtigung der zusätzlichen
Netzentwicklungsplan Gas. Darin skizzie-        tendegressionen in Frage.                             Wasserstoffnachfrage. Der Bundesverband
ren die Fernnetzbetreiber Pläne für ein                                                               Erneuerbare Energie e.V. beziffert den Strom-
1.200 km-Wasserstoffnetz bis 2030, für das      Weitere zwingende Voraussetzung, um grü-              bedarf für 2030 auf 740 TWh (plus 28 % ge-
größtenteils bereits existierende Erdgaspipe-   nen Wasserstoff auf breiter Ebene marktfä-            genüber 2019), wobei Wasserstoffproduktion
lines mit einem Investitionsvolumen von         hig zu machen, ist ein signifikanter Ausbau           und Elektromobilität mit 105 bzw. 68 TWh
660 Mio. € umgerüstet werden sollen. Lang-
fristig soll das Wasserstoffnetz auf 5.900 km
ausgebaut werden. Die Rhein-Ruhr Region
steht dabei wegen ihrer Netztopografie und
Industrielandschaft als zentraler Knoten-
punkt im Fokus. Allein schon die Größen-
ordnung des Gasfernleitungsausbaus ver-
deutlicht, welche Herkulesaufgabe bei der
Schaffung einer Wasserstoffinfrastruktur
noch bevorsteht.

Umfassende Betrachtung
notwendig

Was braucht es neben dem Infrastrukturaus-
bau noch, um Wasserstoff breitflächig zum
Durchbruch zu verhelfen? Welche EE-Erzeu-
gungsmengen sind erforderlich, wie entwi-
ckelt sich der Verbrauch und mit welchen
Kosten geht die Wasserstoffproduktion ein-
her? Diese Fragen zu beantworten, erfordert      Abb. 2   Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H1 2020 und H2 2020

eine ganzheitliche Betrachtung:

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DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG

den größten Anteil am zusätzlichen Ver-                 Konzept aus einem Guss                         ■ Welche Wasserstoff- und Stromnetzin-
brauch haben. Um diesen Bedarf zu decken                gefragt                                        frastruktur ist aufzubauen?
und gleichzeitig einen EE-Anteil von 65 % zu                                                           ■ Inwieweit müssen die EE- und Netzaus-
erreichen, müssten Wind- und Solaranlagen               Die beschriebenen Herausforderungen ma-        bauziele angepasst werden?
240 TWh mehr erzeugen als heute – fast                  chen deutlich: Die Umsetzung der deutschen     ■ Wie lässt sich das deutsche Wasser-
doppelt so viel wie von der Bundesregierung             Wasserstoffstrategie gerät zum Kraftakt.       stoffkonzept europäisch einbetten?
aktuell geschätzt.                                      Denn noch fehlt es an wichtigen Weichenstel-
                                                        lungen, wie die unterschiedlichen Vorstel-     Bei der Beantwortung dieser Fragen wäre
Eine derart rapide Beschleunigung des EE-               lungen von Energieversorgern, Strom- und       es ratsam, die Betrachtung nicht nur auf
Ausbaus erscheint jedoch unrealistisch. Allein          Gasnetzbetreibern, Automobilkonzernen und      grünen Wasserstoff zu begrenzen, sondern
der jährliche Zubau von Windkraftanlagen an             Schwerindustrie belegen. Ein Konzept aus       auch blauen einzubeziehen. Während die
Land müsste auf über 5 GW gesteigert wer-               einem Guss, das die Industrie- und Energie-    Wasserstoffstrategie der Bundesregierung
den – eine Illusion, wenn man auf die jüngere           strategie eng verzahnt und die Handlungs-      als klares Bekenntnis zu grünem Wasser-
Vergangenheit blickt: 2020 wurden Onshore-              felder Erzeugung, Transport und Abnahme        stoff gelesen werden kann, werben manche
Anlagen mit einer Leistung von annähernd                zusammenführt, würde die Wasserstoffpläne      Wissenschaftler und Industrievertreter für
1,5 GW installiert. Die Erzeugungskapazität             aus der Traumwelt in die Realität führen.      die blaue Variante. Das Oxford Institute for
von Solar- und Offshore-Windanlagen müsste                                                             Energy Studies zum Beispiel argumentiert,
in gleichem Maße aufgestockt werden. Schon              Eine gesamthafte Wasserstoffstrategie sollte   dass grüner Strom erst einmal den Strom-
die Bereitstellung der hierfür notwendigen              Antworten auf folgende Kernfragen geben        sektor vollständig dekarbonisieren sollte,
Flächen dürfte Deutschland vor massive                  – jeweils unterlegt mit einem quantitativen    bevor Strommengen für die Produktion von
Herausforderungen stellen, wie bereits die              Mengengerüst, auch wenn es sich dabei na-      grünem Wasserstoff genutzt werden.
Diskussion um die Abstandsregeln für Wind-              türlich um Schätzungen handelt:
kraftanlagen gezeigt hat.                                                                              Sicher ist: Bis Wasserstoff sich als Energie-
                                                        ■ In welcher Sequenz werden Industrien         träger der Zukunft sektorübergreifend durch-
Hinzu kommt, dass mit steigender Erzeu-                 auf Wasserstoff umstellen und welche regula-   setzen wird, sind noch viele Hürden zu über-
gung auch die Netzausbaupläne nach oben                 torischen Maßnahmen müssen diese Umstel-       winden. Und es ist nicht auszuschließen, dass
korrigiert werden müssten (oder alternativ              lung flankieren, um die Wettbewerbsfähig-      so mancher Versuch, der Technologie zum
die dezentrale Wasserstoffproduktion mit                keit zu erhalten und bestenfalls zu stärken?   endgültigen Durchbruch zu verhelfen, erneut
entsprechendem Ausbau der Gasinfrastruk-                ■ Wann ist mit welchem Wasserstoffbe-          hinter den Erwartungen zurückbleibt. Aber
tur zu forcieren wäre). Dabei ist Deutschland           darf zu rechnen?                               auf Dauer führt kein Weg am Wasserstoff
schon bei den aktuellen Netzausbauzielen                ■ Wie viel Elektrolyse- und EE-Kapazität       vorbei, wenn die Energiewende vollständig
massiv im Verzug: Von den bis Mitte 2020                ist erforderlich? Welche Wasserstoffmengen     gelingen soll.
geplanten 3.657 km sind erst 1.505 km fer-              können in Deutschland produziert werden
tiggestellt.                                            und wie viel Importe sind nötig?               Energiewende-Index: Die
                                                                                                       Indikatoren im Überblick

                                                                                                       Die neuesten Ergebnisse im Energiewende-
                                                                                                       Index warten zunächst mit einer handfes-
                                                                                                       ten Überraschung auf: Zehn der insgesamt
                                                                                                       15 Indikatoren sind in ihrer Zielerreichung
                                                                                                       „realistisch“, zwei mehr als bei der letzten
                                                                                                       Erhebung. Eine so positive Bilanz konnte
                                                                                                       der Index seit seinem Bestehen nicht ver-
                                                                                                       zeichnen. Doch der erste Blick trügt. Tat-
                                                                                                       sächlich stehen sechs aktuell als realistisch
                                                                                                       eingestufte Indikatoren auf der Kippe – in
                                                                                                       der vergangenen Erhebung waren es nur
                                                                                                       drei.

                                                                                                       Wesentliche Ursache für das temporäre Hoch
                                                                                                       einiger Indikatoren ist das Coronajahr 2020
                                                                                                       – das gilt insbesondere für den CO2-Ausstoß
                                                                                                       und den Primärenergieverbrauch. Haupt-
                                                                                                       treiber der Verbesserung im vergangenen
 Abb. 3   Wirtschaftlichkeit, Wertung H1 2020 und H2 2020                                              Halbjahr waren nicht echte Fortschritte bei
                                                                                                       der Umsetzung der Energiewende, sondern

ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3                                                                                      13
DER STOFF, AUS DEM TRÄUME SIND - WASSERSTOFF ALS WEGBEREITER DER ENERGIEWENDE - MCKINSEY ...
DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG

die Effekte der Maßnahmen zur Bekämpfung              herigen Zielerreichung von 203 % im realis-      liche Aktivität im Zuge der Pandemiebe-
von COVID-19. Es ist davon auszugehen, dass           tischen Bereich. Der Beinahe-Blackout des        kämpfung zurückführen.
diese Erfolge mit dem Ende der Pandemie               europäischen Netzes durch die automatische
und dem erneuten Hochfahren der Wirt-                 Abschaltung eines kroatischen Umspann-           Der Indikator Sektorkopplung: Wärme kommt
schaft teilweise oder vollständig wieder zu-          werks zu Beginn des Jahres 2021 zeigt aller-     mit einem EE-Anteil von 15 % zwar auf eine
rückgedreht werden.                                   dings, dass es nicht nur auf die Erzeugungs-     Zielerreichung von 163 %, allerdings ist er in
                                                      kapazität im Netz ankommt, sondern auch          den vergangenen zwei Jahren lediglich um 0,6
Vier Indikatoren mit stabil                           darauf, dass das Stromnetz ausreichend           Prozentpunkte gestiegen. Um die Zielmarke
realistischer Zielerreichung                          widerstandsfähig ist gegen unvorhersehbare       von 27 % bis 2030 zu erreichen, wären Stei-
                                                      Ereignisse.                                      gerungsraten von mindestens einem Prozent-
Der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch lag                                                              punkt pro Jahr notwendig.
im zweiten Halbjahr 2020 nach vorläufigen             Sechs Indikatoren realistisch,
Schätzungen des Umweltbundesamts bei 46 %             aber auf der Kippe                               Die Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien sind
und damit deutlich über dem Zielwert von 35 %                                                          nach den neu verfügbaren Daten leicht von
(Abb. 2). Allerdings liegt die Zielerreichung         Der CO2e-Ausstoß ist 2020 nach ersten Schät-     312.000 auf 309.000 gesunken. Die Ziel-errei-
aufgrund der weniger günstigen Witterungs-            zungen stark zurückgegangen – von 805 Mt         chung liegt somit bei 96 %. Da die Daten immer
verhältnisse mit 161 % niedriger als noch in          in 2019 auf 722 Mt. Damit wurde das 2020er-      eine gewisse Nachlaufzeit haben, bleibt aller-
der ersten Jahreshälfte 2020 (191 %).                 Ziel von 750 Mt CO2e infolge deutlich gerin-     dings abzuwarten, wie stark die Beschäfti-
                                                      gerer Emissionen während der Corona-Lock-        gungslage durch die COVID-19-Pandemie und
Die Gesamtenergiekosten Haushalte sanken              downs mit 111 % sogar übererfüllt. Trotz der     die aktuellen wirtschaftlichen Schieflagen von
2020 infolge des niedrigen Ölpreises und              aktuell realistischen Zielerreichung steht der   EE-Unternehmen beeinflusst wird.
machen nur noch einen Anteil von 9,6 % am             Indikator auf der Kippe: Denn im Zuge der
Gesamtwarenkorb der Verbraucher aus. Die              erwarteten wirtschaftlichen Erholung wird        Für den EE-Anteil am Bruttoendenergiever-
Zielerreichung des Indikators steigt von 99 %         der CO2e -Ausstoß aller Voraussicht nach auf     brauch liegen noch keine neuen Daten vor.
auf 110 % (Abb. 3).                                   sein Vorkrisenniveau zurückkehren und so-        Daher verharrt der Indikator in seiner Zieler-
                                                      mit wieder deutlich unter seinen aktuellen       reichung weiterhin bei 95 %.
Auch der Indikator Ausfall Stromversorgung            Zielerreichungsgrad fallen.
hat sich leicht von 13,9 auf 12,2 Minuten pro                                                          Ebenfalls unverändert bleibt der Indikator-
Jahr verbessert, seine Zielerreichung beträgt         Auch der Primärenergieverbrauch ist während      wert für die gesicherte Reservemarge mit
aktuell 113 % (Abb. 4).                               der Corona-Krise von 12.800 auf 11.691 PJ        einer Zielerreichung von 109 %. Mit Blick
                                                      gesunken und verbessert damit seine Zieler-      auf den laufenden Ausstieg aus Kernenergie
Für den Indikator Verfügbare Kapazität für            reichung sprunghaft von 60 % auf 93 %. Der       und Kohleverstromung ist allerdings davon
Import aus Nachbarländern liegen keine                deutlich geringere Energieverbrauch lässt        auszugehen, dass sich dieser Wert bald ver-
neuen Daten vor, daher bleibt er mit der bis-         sich vor allem auf die geringere wirtschaft-     schlechtern wird.

                                                                                                       Zielerreichung für vier
                                                                                                       Indikatoren unrealistisch

                                                                                                       Beim Indikator Sektorkopplung: Verkehr zei-
                                                                                                       gen staatliche Zuschüsse für Elektrofahrzeu-
                                                                                                       ge und eine breitere Modellpalette erste Wir-
                                                                                                       kung: Seit Beginn der Index-Erhebung ist der
                                                                                                       Fahrzeugbestand um 246.968 auf 416.757
                                                                                                       gestiegen. Um jedoch auf dem Zielpfad zu
                                                                                                       bleiben, hätten 890.897 Elektrofahrzeuge
                                                                                                       neu zugelassen werden müssen. Die aktuelle
                                                                                                       Zielerreichung beträgt daher nur 28 %.

                                                                                                       Die Kosten für Netzeingriffe stiegen 2020
                                                                                                       wieder leicht von 6,4 auf 7,8 € pro MWh. Die
                                                                                                       Zielerreichung verschlechtert sich damit von
                                                                                                       61 % auf 52 %.

                                                                                                       Der Indikator Ausbau Transportnetze bleibt
 Abb. 4   Versorgungssicherheit, Wertung H1 2020 und H2 2020                                           nahezu unverändert bei 36 % Zielerreichung.
                                                                                                       3.657 km hätten bis Mitte 2020 fertiggestellt

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DER STOFF, AUS DEM TRÄUME SIND - WASSERSTOFF ALS WEGBEREITER DER ENERGIEWENDE - MCKINSEY ...
DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG

sein müssen, um auf dem Zielpfad zu bleiben       dafür verantwortlich sind. Zum anderen kam
– realisiert wurden gerade einmal 1.505 km.       es allerdings auch zu einer Änderung der Er-           Feedback erwünscht
                                                  hebungsmethodik, die ebenfalls den Anstieg
Ebenfalls unrealistisch bleibt das Ziel für den   begründen könnte. Selbst nach Rücksprache              Der Energiewende-Index bietet alle sechs
deutschen Haushaltsstrompreis, der noch           mit BDEW und Statistischem Bundesamt, die              Monate einen Überblick über den Sta-
immer 53 % über dem europäischen Durch-           für die Datenerhebung zuständig sind, ließ             tus der Energiewende in Deutschland.
schnitt liegt. Der Indikator verharrt damit in    sich die Veränderung nicht vollständig nach-           Reaktionen und Rückmeldungen seitens
seiner Zielerreichung bei 0 %.                    vollziehen. Daher erfolgt für den Indikator            der Leser sind ausdrücklich erwünscht
                                                  keine Angabe zur Zielerreichung, bis weitere           und werden bei der Aktualisierung des
Ein Indikator ohne Kategorie-                     Daten zur Validierung vorliegen.                       Index berücksichtigt, sofern es sich um
zuordnung                                                                                                öffentlich zugängliche Daten und Fakten
                                                  Dr. T. Vahlenkamp, Senior Partner, McKinsey            handelt. Auf der Website von McKinsey
Laut Eurostat liegt der Industriestrompreis       & Company, Düsseldorf; Dr. I. Ritzenhofen,             besteht die Möglichkeit, den Autoren
aktuell 35,5 % über dem europäischen Durch-       Partner, McKinsey & Company, Köln; Markus              Feedback zum Thema Energiewende zu
schnitt (Vorjahr: 1,1 %) und damit deutlich       Wilthaner, Partner, McKinsey & Company,                geben:
über dem Zielwert von 8,5 %. Die Ursachen         Wien; Dr. F. Pflugmann, Senior Associate,              www.mckinsey.de/energiewendeindex
für den drastischen Preisanstieg sind trotz       McKinsey & Company, Frankfurt; F. Stock-
intensiver Nachforschung bislang nicht ein-       hausen, Senior Solution Analyst, McKinsey &
deutig auszumachen. Zum einen gibt es An-         Company, Düsseldorf; M. Wirths, Researcher,
zeichen, dass Änderungen in Abnahmever-           McKinsey & Company, Düsseldorf.
halten und Netznutzung im Coronajahr 2020         thomas_vahlenkamp@mckinsey.com

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    „Läuft“ – Seien Sie vor Ort oder                         Freuen Sie sich auf diese Themen:
    digital dabei und diskutieren Sie mit!                   ■   Wo steht die Roadmap der Digitalisierung?
                                                             ■   Was kommt als nächstes und welche Meilensteine stehen noch bevor?
                                                             ■   Wie sieht der Fahrplan für den weiteren Ausbau aus?
                                                             ■   Stand der Technik und technische Anforderungen
                                                             ■   Kundennutzen sichtbar machen – Akzeptanz steigern!
                                                             ■   Best Practices mit Blick über den Tellerrand – national und international

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ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3                                                                                         15
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