DER STOFF, AUS DEM TRÄUME SIND - WASSERSTOFF ALS WEGBEREITER DER ENERGIEWENDE - MCKINSEY ...
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DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG Der Stoff, aus dem Träume sind – Wasserstoff als Wegbereiter der Energiewende Thomas Vahlenkamp, Ingmar Ritzenhofen, Markus Wilthaner, Fridolin Pflugmann, Fabian Stockhausen und Maximilian Wirths Umweltfreundlicher „grüner“ Wasserstoff aus erneuerbaren Energien gilt als Hoffnungsträger im Kampf gegen den Klima- wandel. In vielen Ländern herrscht Euphorie – zahlreiche Projekte werden angestoßen, auch in Deutschland. Doch noch ist die Produktion teuer. Es braucht hohe Investitionen, vor allem in den Ausbau der nötigen Infrastruktur zur Erzeugung, Verteilung und Speicherung von Wasserstoff. Was ist zu tun, um Wasserstoff als Energieträger von morgen zum Durchbruch zu verhelfen? Eine kritische Bestandsaufnahme. Im Anschluss daran die neuesten Ergebnisse im Energiewende-Index 2030. Wasserstoff als Energieträger beflügelt die Phantasie von Klimaschützern, Politikern, Unternehmen und Zulieferern der Energie- wirtschaft. Er wird bereits als Wunderwaffe auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050 gehandelt. Grund sind seine vielfältigen Ein- satzmöglichkeiten: Wasserstoff kann Energie in großen Mengen speichern und transpor- tieren, treibt Motoren und Heizungen über Brennstoffzellen an und spielt eine wichtige Rolle in der industriellen Fertigung. Als klimaneutrale Alternative zu konventionel- len Energieträgern wird auf lange Sicht wohl kein Weg am Wasserstoff vorbeiführen. Das gilt vor allem für die Sektorenkopplung, bei der Deutschland die Ziele bislang nicht erreicht, wie der aktuelle Energiewende-Index belegt (siehe auch „Die Indikatoren im Überblick“): Mit derzeit 416.757 Elektrofahrzeugen ist nicht Der Stoff, aus dem die Energieträume sind, muss wesentlich günstiger werden. Und das kann er auch Bild: Adobe Stock einmal die Hälfte der geplanten Zulassungen erfolgt – der Indikator bleibt in seiner Zieler- reichung unrealistisch. Und im Wärmesektor serstoff. Mit dieser Menge lassen sich rund ten. Das aktuell größte Wasserstoffprojekt müsste der Anteil erneuerbarer Energien (EE) 41.000 Schwerlast-Lkw mit Brennstoffzellen in Deutschland ist AquaVentus, das vor Hel- jährlich um mindestens einen Prozentpunkt für ein Jahr betreiben. Aber die Bundesre- goland Elektrolyseanlagen mit rund 10 GW steigen, um bis 2030 auf die geforderten 27 % gierung zielt auf einen breiten Einsatz in In- Kapazität bis zum Jahr 2035 errichten will – zu kommen; allerdings stagniert der Wert (der- dustrie, Hauswärme und Transport und stellt betrieben mit Offshore-Windenergie. zeit 15 % EE-Anteil) seit zwei Jahren in Folge. hierfür eine Fördersumme von 9 Mrd. € bereit. Wasserstoff könnte hier eine Lösung sein. Auch international ist Wasserstoff Gegen- Deutsche Unternehmen verfolgen ebenfalls stand vieler Wachstumspläne. Neben der Eu- Weltweiter Hoffnungsträger Ambitionen. In Planung sind bereits mehr ropäischen Union arbeiten Länder wie Japan, als 38 Wasserstoffgroßprojekte und mehrere Südkorea, Saudi-Arabien und Australien an In Deutschland hat das Thema im vergange- Hundert kleinere. So plant der Stahlkonzern Wasserstoffstrategien und Plänen. Vor allem nen Jahr Fahrt aufgenommen. Im Juni 2020 Salzgitter im Projekt „SALCOS“ die Zukunft Japan verfolgt in seinem Bestreben, zur „Was- stellte die Bundesregierung ihre Nationale der Stahlproduktion mit Wasserstoff. Der serstoff-Gesellschaft“ zu werden, ehrgeizige Wasserstoffstrategie vor. Der Fokus liegt dabei Automobilhersteller Daimler kündigt für die Ziele: So soll sich im Land die Anzahl der Fahr- auf dem sog. grünen Wasserstoff, der unter EE- zweite Hälfte des Jahrzehnts an, Lkws mit zeuge mit Brennstoffzellenantrieb binnen fünf Nutzung mittels Elektrolyse gewonnen wird Brennstoffzellen in Serie zu produzieren, und Jahren von aktuell 40.000 auf 200.000 und bis (siehe Infobox). Bis 2030 sollen Erzeugungs- BMW plant eine Pkw-Kleinserie ab 2022. 2030 auf 800.000 vervielfachen. kapazitäten von 5 GW geschaffen werden, ein- Raffinerien von Shell und bp sowie die Raf- schließlich der dafür erforderlichen On- und finerie Heide bauen Elektrolyseure, während Für die Produktion von grünem Wasserstoff Offshore-Windanlagen. 5 GW entsprechen ei- Siemens und thyssenkrupp als Elektrolyseur- wurden weltweit Projekte mit einer Gesamt- ner jährlichen Produktion von 450.000 t Was- Hersteller am Ausbau des Geschäfts arbei- kapazität von 41 GW bis 2030 angekündigt. 10 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3
DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG Zu den größten gehört das Asian Renewable Kein Durchbruch über Nacht gesetzt sind. Wasserstoff als Energieträger Energy Hub-Projekt in Australien mit einer wird sich in Etappen etablieren, abhängig von Kapazität von bis zu 23 GW (erste Exporte Die Idee, Wasserstoff im großen Stil ener- sektorspezifischen Regulierungen und davon, ab 2027/28) und die Offshore-betriebene An- giewirtschaftlich zu nutzen, ist nicht neu. wie sich die dafür erforderlichen Technologien lage NortH2 in den Niederlanden mit 4 GW Bereits um die Jahrtausendwende erfuhren weiterentwickeln (Abb. 1): ab 2030. In Europa sind insgesamt Projekte einige Wasserstoffaktien ungeahnte Höhen- mit einer Kapazität von 16 GW bis 2030 vor- flüge, konnten jedoch in den Folgejahren Industrie. Im ersten Schritt dürfte CO2-freier gesehen. den hohen Erwartungen nicht gerecht wer- Wasserstoff für die Herstellung von Ammo- den und stürzten so steil ab, wie sie geklet- niak genutzt werden und den bisher verwen- Wachsender Bedarf tert waren. Weitere Wellen der Wasserstoff- deten grauen sukzessive ersetzen. Ähnlich euphorie folgten – mit ähnlich enttäuschen- verläuft die Umstellung bei Raffinerien. Wasserstoff wird zum begehrten Gut – das den Ergebnissen. Auch bei der Stahlproduktion wird Wasser- spiegelt sich auch in der europäischen Nach- stoff im sog. Direktreduktionverfahren früh frageentwicklung wider. Derzeit werden in Heute, 20 Jahre später, stehen die Börsenbe- zum Einsatz kommen – wobei sich dort die der EU jährlich rund 10 Mio. t Wasserstoff für wertungen wieder auf Rekordhöhe und die Frage nach der Wirtschaftlichkeit wegen des stoffliche Anwendungen wie z.B. die Produk- Chancen für einen Durchbruch besser – aus Drucks auf die deutsche Stahlindustrie ganz tion von Ammoniak genutzt. Dieser Bedarf drei Gründen: Erstens ist grüne Wasserstoff- besonders stellt. wird nahezu vollständig aus fossilen Quellen produktion dank gesunkener Stromerzeu- gedeckt, während CO2-freier Wasserstoff noch gungskosten bei Erneuerbaren inzwischen Verkehr. Im Schwerlastverkehr ist die Wasser- ein Nischenmarkt ist. Bis 2030 wird der Was- günstiger geworden, so dass sich der Einsatz stofftechnologie gegenüber Batterielösungen serstoffbedarf auf geschätzte 14 bis 20 Mio. t zumindest in einzelnen Anwendungsfällen im Vorteil. Mit der Markteinführung von Was- ansteigen – mit wachsendem Anteil von grü- kommerziell rechnet (z.B. bei Gabelstaplern serstoff-Trucks wird in der zweiten Hälfte des nem und blauem Wasserstoff. und der Produktion von Ammoniak). Zwei- Jahrzehnts gerechnet. Auch bei Zügen, in der tens gibt es konkrete Zusagen von Staaten, Schifffahrt und im Flugverkehr wird die neue Bis 2050 könnte sich der Bedarf auf fast CO2-freien Wasserstoff zu subventionieren Technologie eine Rolle spielen. Im Personen- 70 Mio. t in Europa erhöhen, hauptsächlich und so erste Skalierungen zu ermöglichen. verkehr eignen sich Wasserstoffantriebe vor getrieben durch den Verkehrs- und Wärme- Drittens rückt durch verschärfte EU-Dekar- allem für Taxis oder ÖPNV-Busse, die längere sektor mit ca. 20 bzw. 17 Mio. t sowie durch bonisierungsziele die Nutzung von klima- Strecken zurücklegen müssen und auf kürze- Verwendung von Wasserstoff als Ausgangs- neutralem Wasserstoff vor allem im Indus- re Ladezyklen angewiesen sind. Umsetzungen material für stoffliche Prozesse (rund 20 Mio. t) trie-, Verkehrs- und Wärmesektor in den gibt es bereits in Städten wie Köln und Wup- – vorausgesetzt, die Pläne zur Dekarboni- Fokus. Wasserstoff ist damit zu einem Kern- pertal, die 2020 Wasserstoffbusse in die Flot- sierung werden ambitioniert umgesetzt und bestandteil der Energiewende avanciert. ten der Verkehrsbetriebe aufgenommen ha- CO2-freier Wasserstoff spielt hierbei eine ben. Berufspendler hingegen, die ihre Autos wesentliche Rolle. 70 Mio. t Wasserstoff ent- Bislang allerdings nur auf dem Papier. Denn nur morgens und abends nutzen, mit längeren sprächen nach Berechnungen der Forschungs- ebenso wie auf internationaler Ebene werden Pausen zum Laden über Nacht und während initiative FCH JU fast einem Viertel (24 %) auch die deutschen und europäischen Pläne der Arbeitszeit, werden voraussichtlich eher der gesamten Energienachfrage in der EU. noch Jahre brauchen, bis sie vollständig um- auf batteriebetriebene Fahrzeuge umsteigen. Wasserstoff-Arten und ihre CO2-Bilanz Grauer Wasserstoff, der aktuell den fast aus- schließlichen Anteil der Wasserstoffproduktion ausmacht, wird aus fossilen Brennstoffen gewon- nen. Bei seiner Herstellung wird in der Regel Erd- gas unter Hitze in Wasserstoff und Kohlendioxid (CO2) aufgespalten. Das CO2 wird anschließend in die Atmosphäre abgegeben und ist damit klima- schädlich. Blauer Wasserstoff wird ebenfalls aus fossilen Brennstoffen gewonnen, das entstehende CO2 jedoch nicht emittiert, sondern abgeschieden und gespeichert, weshalb diese Produktionsweise als CO2-arm gilt. Grüner Wasserstoff wird bei der Elektrolyse von Wasser gewonnen. Um wirklich „grün“ sein zu können, muss der Strom für die Elektrolyse ausschließlich aus CO2-freien Energie- Abb. 1 Wasserstoff wird sich in Europa in Phasen etablieren quellen stammen. ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3 11
DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG Wärme. Wasserstoff könnte auch im Wärme- Die Kosten bilden eine der größten Hürden der erneuerbaren Erzeugungskapazität. sektor zur Dekarbonisierung beitragen. Eine auf dem Erfolgsweg von grünem Wasserstoff Denn Wasserstoffproduktion ist äußerst Einspeisung in das existierende Erdgasnetz als Energieträger. Aktuell ist Wasserstoff aus energieintensiv – neben den (noch) hohen bis zu einem Grenzwert von 2 % bis 10 % Erneuerbaren noch nicht wettbewerbsfähig Kosten die zweite große Herausforderung des Gasvolumens ist bereits heute möglich, gegenüber solchem aus fossiler Produktion: beim Ausbau dieser Technologie. Dadurch abhängig von den spezifischen Einspeise- Die Kosten für grünen Wasserstoff liegen drei- könnte die Stromnachfrage, einhergehend bedingungen. Eine Beimischung von 10 % bis viermal höher als etwa für grauen Was- mit dem steigenden Bedarf in der E-Mobi- würde etwa 800.000 t Wasserstoff pro Jahr serstoff, der mithilfe von Erdgas hergestellt lität und weiterer Elektrifizierung, in den in Deutschland erforderlich machen, was wird. Ohne weitere Kostensenkung wäre ein nächsten Jahren wesentlich höher ausfallen einer Erzeugungskapazität von etwa 9 GW CO2-Preis von über 200 €/t erforderlich, um als bislang erwartet. entspräche – bereits deutlich mehr als in den das derzeitige Kostengefälle zwischen beiden 2030-Ausbauzielen der Bundesregierung Wasserstofferzeugungen zu egalisieren. Der- Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die EE- vorgesehen. zeit steht der CO2-Preis bei rund 33 €/t. Ausbaupfade der Bundesregierung zu wenig ambitioniert sind: Der für 2030 geschätzte Der Stromsektor wird aufgrund zu hoher Das heißt konkret: Der Stoff, aus dem die jährliche Bruttostromverbrauch liegt bei 580 Kosten einer der letzten Bereiche sein, in Energieträume sind, muss wesentlich güns- TWh und damit exakt auf dem Niveau von dem Wasserstoff zur Anwendung kommt, tiger werden. Und das kann er auch. McKin- 2019. Tatsächlich wird nach Schätzungen etwa in Gaskraftwerken oder als längerfris- sey-Analysen ergeben, dass sich die Herstel- des Energiewirtschaftlichen Instituts an der tiger Energiespeicher. Hier finden zunächst lungskosten von grünem Wasserstoff noch in Universität zu Köln allein die Herstellung von andere Dekarbonisierungshebel Anwen- diesem Jahrzehnt um 60 % reduzieren lassen Wasserstoff sowie die Elektrifizierung des dung, beispielsweise der weitere Ausbau – hauptsächlich durch sinkende Investiti- Verkehrssektors in zehn Jahren zusätzlich von Erneuerbaren und die Flexibilisierung onskosten für Elektrolyseanlagen (infolge ca. 120 TWh pro Jahr verschlingen – das ent- auf der Bedarfseite. von Skaleneffekten bei der Herstellung und spricht einer Steigerung um mehr als 21 %. voranschreitender Kommerzialisierung) bei Eine Schlüsselrolle bei der Einführung von gleichzeitiger Steigerung der Effizienz sowie Nach McKinsey-Schätzungen könnte der Brut- Wasserstoff wird die Infrastruktur spielen – durch weiter verringerte Stromerzeugungs- tostromverbrauch im Jahr 2030 (getrieben nicht nur für die Erzeugung, sondern auch kosten im EE-Bereich. Sollte sich allerdings durch die Elektrifizierung im Verkehr und für Transport, Verteilung und Speicherung. der Elektrolyseanlagen-Ausbau nicht wie er- bei der Wärmeversorgung) 677 TWh betragen Wichtiger Ausgangspunkt hierfür ist der wartet beschleunigen, stehen auch die Kos- – ohne Berücksichtigung der zusätzlichen Netzentwicklungsplan Gas. Darin skizzie- tendegressionen in Frage. Wasserstoffnachfrage. Der Bundesverband ren die Fernnetzbetreiber Pläne für ein Erneuerbare Energie e.V. beziffert den Strom- 1.200 km-Wasserstoffnetz bis 2030, für das Weitere zwingende Voraussetzung, um grü- bedarf für 2030 auf 740 TWh (plus 28 % ge- größtenteils bereits existierende Erdgaspipe- nen Wasserstoff auf breiter Ebene marktfä- genüber 2019), wobei Wasserstoffproduktion lines mit einem Investitionsvolumen von hig zu machen, ist ein signifikanter Ausbau und Elektromobilität mit 105 bzw. 68 TWh 660 Mio. € umgerüstet werden sollen. Lang- fristig soll das Wasserstoffnetz auf 5.900 km ausgebaut werden. Die Rhein-Ruhr Region steht dabei wegen ihrer Netztopografie und Industrielandschaft als zentraler Knoten- punkt im Fokus. Allein schon die Größen- ordnung des Gasfernleitungsausbaus ver- deutlicht, welche Herkulesaufgabe bei der Schaffung einer Wasserstoffinfrastruktur noch bevorsteht. Umfassende Betrachtung notwendig Was braucht es neben dem Infrastrukturaus- bau noch, um Wasserstoff breitflächig zum Durchbruch zu verhelfen? Welche EE-Erzeu- gungsmengen sind erforderlich, wie entwi- ckelt sich der Verbrauch und mit welchen Kosten geht die Wasserstoffproduktion ein- her? Diese Fragen zu beantworten, erfordert Abb. 2 Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H1 2020 und H2 2020 eine ganzheitliche Betrachtung: 12 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3
DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG den größten Anteil am zusätzlichen Ver- Konzept aus einem Guss ■ Welche Wasserstoff- und Stromnetzin- brauch haben. Um diesen Bedarf zu decken gefragt frastruktur ist aufzubauen? und gleichzeitig einen EE-Anteil von 65 % zu ■ Inwieweit müssen die EE- und Netzaus- erreichen, müssten Wind- und Solaranlagen Die beschriebenen Herausforderungen ma- bauziele angepasst werden? 240 TWh mehr erzeugen als heute – fast chen deutlich: Die Umsetzung der deutschen ■ Wie lässt sich das deutsche Wasser- doppelt so viel wie von der Bundesregierung Wasserstoffstrategie gerät zum Kraftakt. stoffkonzept europäisch einbetten? aktuell geschätzt. Denn noch fehlt es an wichtigen Weichenstel- lungen, wie die unterschiedlichen Vorstel- Bei der Beantwortung dieser Fragen wäre Eine derart rapide Beschleunigung des EE- lungen von Energieversorgern, Strom- und es ratsam, die Betrachtung nicht nur auf Ausbaus erscheint jedoch unrealistisch. Allein Gasnetzbetreibern, Automobilkonzernen und grünen Wasserstoff zu begrenzen, sondern der jährliche Zubau von Windkraftanlagen an Schwerindustrie belegen. Ein Konzept aus auch blauen einzubeziehen. Während die Land müsste auf über 5 GW gesteigert wer- einem Guss, das die Industrie- und Energie- Wasserstoffstrategie der Bundesregierung den – eine Illusion, wenn man auf die jüngere strategie eng verzahnt und die Handlungs- als klares Bekenntnis zu grünem Wasser- Vergangenheit blickt: 2020 wurden Onshore- felder Erzeugung, Transport und Abnahme stoff gelesen werden kann, werben manche Anlagen mit einer Leistung von annähernd zusammenführt, würde die Wasserstoffpläne Wissenschaftler und Industrievertreter für 1,5 GW installiert. Die Erzeugungskapazität aus der Traumwelt in die Realität führen. die blaue Variante. Das Oxford Institute for von Solar- und Offshore-Windanlagen müsste Energy Studies zum Beispiel argumentiert, in gleichem Maße aufgestockt werden. Schon Eine gesamthafte Wasserstoffstrategie sollte dass grüner Strom erst einmal den Strom- die Bereitstellung der hierfür notwendigen Antworten auf folgende Kernfragen geben sektor vollständig dekarbonisieren sollte, Flächen dürfte Deutschland vor massive – jeweils unterlegt mit einem quantitativen bevor Strommengen für die Produktion von Herausforderungen stellen, wie bereits die Mengengerüst, auch wenn es sich dabei na- grünem Wasserstoff genutzt werden. Diskussion um die Abstandsregeln für Wind- türlich um Schätzungen handelt: kraftanlagen gezeigt hat. Sicher ist: Bis Wasserstoff sich als Energie- ■ In welcher Sequenz werden Industrien träger der Zukunft sektorübergreifend durch- Hinzu kommt, dass mit steigender Erzeu- auf Wasserstoff umstellen und welche regula- setzen wird, sind noch viele Hürden zu über- gung auch die Netzausbaupläne nach oben torischen Maßnahmen müssen diese Umstel- winden. Und es ist nicht auszuschließen, dass korrigiert werden müssten (oder alternativ lung flankieren, um die Wettbewerbsfähig- so mancher Versuch, der Technologie zum die dezentrale Wasserstoffproduktion mit keit zu erhalten und bestenfalls zu stärken? endgültigen Durchbruch zu verhelfen, erneut entsprechendem Ausbau der Gasinfrastruk- ■ Wann ist mit welchem Wasserstoffbe- hinter den Erwartungen zurückbleibt. Aber tur zu forcieren wäre). Dabei ist Deutschland darf zu rechnen? auf Dauer führt kein Weg am Wasserstoff schon bei den aktuellen Netzausbauzielen ■ Wie viel Elektrolyse- und EE-Kapazität vorbei, wenn die Energiewende vollständig massiv im Verzug: Von den bis Mitte 2020 ist erforderlich? Welche Wasserstoffmengen gelingen soll. geplanten 3.657 km sind erst 1.505 km fer- können in Deutschland produziert werden tiggestellt. und wie viel Importe sind nötig? Energiewende-Index: Die Indikatoren im Überblick Die neuesten Ergebnisse im Energiewende- Index warten zunächst mit einer handfes- ten Überraschung auf: Zehn der insgesamt 15 Indikatoren sind in ihrer Zielerreichung „realistisch“, zwei mehr als bei der letzten Erhebung. Eine so positive Bilanz konnte der Index seit seinem Bestehen nicht ver- zeichnen. Doch der erste Blick trügt. Tat- sächlich stehen sechs aktuell als realistisch eingestufte Indikatoren auf der Kippe – in der vergangenen Erhebung waren es nur drei. Wesentliche Ursache für das temporäre Hoch einiger Indikatoren ist das Coronajahr 2020 – das gilt insbesondere für den CO2-Ausstoß und den Primärenergieverbrauch. Haupt- treiber der Verbesserung im vergangenen Abb. 3 Wirtschaftlichkeit, Wertung H1 2020 und H2 2020 Halbjahr waren nicht echte Fortschritte bei der Umsetzung der Energiewende, sondern ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3 13
DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG die Effekte der Maßnahmen zur Bekämpfung herigen Zielerreichung von 203 % im realis- liche Aktivität im Zuge der Pandemiebe- von COVID-19. Es ist davon auszugehen, dass tischen Bereich. Der Beinahe-Blackout des kämpfung zurückführen. diese Erfolge mit dem Ende der Pandemie europäischen Netzes durch die automatische und dem erneuten Hochfahren der Wirt- Abschaltung eines kroatischen Umspann- Der Indikator Sektorkopplung: Wärme kommt schaft teilweise oder vollständig wieder zu- werks zu Beginn des Jahres 2021 zeigt aller- mit einem EE-Anteil von 15 % zwar auf eine rückgedreht werden. dings, dass es nicht nur auf die Erzeugungs- Zielerreichung von 163 %, allerdings ist er in kapazität im Netz ankommt, sondern auch den vergangenen zwei Jahren lediglich um 0,6 Vier Indikatoren mit stabil darauf, dass das Stromnetz ausreichend Prozentpunkte gestiegen. Um die Zielmarke realistischer Zielerreichung widerstandsfähig ist gegen unvorhersehbare von 27 % bis 2030 zu erreichen, wären Stei- Ereignisse. gerungsraten von mindestens einem Prozent- Der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch lag punkt pro Jahr notwendig. im zweiten Halbjahr 2020 nach vorläufigen Sechs Indikatoren realistisch, Schätzungen des Umweltbundesamts bei 46 % aber auf der Kippe Die Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien sind und damit deutlich über dem Zielwert von 35 % nach den neu verfügbaren Daten leicht von (Abb. 2). Allerdings liegt die Zielerreichung Der CO2e-Ausstoß ist 2020 nach ersten Schät- 312.000 auf 309.000 gesunken. Die Ziel-errei- aufgrund der weniger günstigen Witterungs- zungen stark zurückgegangen – von 805 Mt chung liegt somit bei 96 %. Da die Daten immer verhältnisse mit 161 % niedriger als noch in in 2019 auf 722 Mt. Damit wurde das 2020er- eine gewisse Nachlaufzeit haben, bleibt aller- der ersten Jahreshälfte 2020 (191 %). Ziel von 750 Mt CO2e infolge deutlich gerin- dings abzuwarten, wie stark die Beschäfti- gerer Emissionen während der Corona-Lock- gungslage durch die COVID-19-Pandemie und Die Gesamtenergiekosten Haushalte sanken downs mit 111 % sogar übererfüllt. Trotz der die aktuellen wirtschaftlichen Schieflagen von 2020 infolge des niedrigen Ölpreises und aktuell realistischen Zielerreichung steht der EE-Unternehmen beeinflusst wird. machen nur noch einen Anteil von 9,6 % am Indikator auf der Kippe: Denn im Zuge der Gesamtwarenkorb der Verbraucher aus. Die erwarteten wirtschaftlichen Erholung wird Für den EE-Anteil am Bruttoendenergiever- Zielerreichung des Indikators steigt von 99 % der CO2e -Ausstoß aller Voraussicht nach auf brauch liegen noch keine neuen Daten vor. auf 110 % (Abb. 3). sein Vorkrisenniveau zurückkehren und so- Daher verharrt der Indikator in seiner Zieler- mit wieder deutlich unter seinen aktuellen reichung weiterhin bei 95 %. Auch der Indikator Ausfall Stromversorgung Zielerreichungsgrad fallen. hat sich leicht von 13,9 auf 12,2 Minuten pro Ebenfalls unverändert bleibt der Indikator- Jahr verbessert, seine Zielerreichung beträgt Auch der Primärenergieverbrauch ist während wert für die gesicherte Reservemarge mit aktuell 113 % (Abb. 4). der Corona-Krise von 12.800 auf 11.691 PJ einer Zielerreichung von 109 %. Mit Blick gesunken und verbessert damit seine Zieler- auf den laufenden Ausstieg aus Kernenergie Für den Indikator Verfügbare Kapazität für reichung sprunghaft von 60 % auf 93 %. Der und Kohleverstromung ist allerdings davon Import aus Nachbarländern liegen keine deutlich geringere Energieverbrauch lässt auszugehen, dass sich dieser Wert bald ver- neuen Daten vor, daher bleibt er mit der bis- sich vor allem auf die geringere wirtschaft- schlechtern wird. Zielerreichung für vier Indikatoren unrealistisch Beim Indikator Sektorkopplung: Verkehr zei- gen staatliche Zuschüsse für Elektrofahrzeu- ge und eine breitere Modellpalette erste Wir- kung: Seit Beginn der Index-Erhebung ist der Fahrzeugbestand um 246.968 auf 416.757 gestiegen. Um jedoch auf dem Zielpfad zu bleiben, hätten 890.897 Elektrofahrzeuge neu zugelassen werden müssen. Die aktuelle Zielerreichung beträgt daher nur 28 %. Die Kosten für Netzeingriffe stiegen 2020 wieder leicht von 6,4 auf 7,8 € pro MWh. Die Zielerreichung verschlechtert sich damit von 61 % auf 52 %. Der Indikator Ausbau Transportnetze bleibt Abb. 4 Versorgungssicherheit, Wertung H1 2020 und H2 2020 nahezu unverändert bei 36 % Zielerreichung. 3.657 km hätten bis Mitte 2020 fertiggestellt 14 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3
DEKARBONISIERUNG – SEKTORENKOPPLUNG sein müssen, um auf dem Zielpfad zu bleiben dafür verantwortlich sind. Zum anderen kam – realisiert wurden gerade einmal 1.505 km. es allerdings auch zu einer Änderung der Er- Feedback erwünscht hebungsmethodik, die ebenfalls den Anstieg Ebenfalls unrealistisch bleibt das Ziel für den begründen könnte. Selbst nach Rücksprache Der Energiewende-Index bietet alle sechs deutschen Haushaltsstrompreis, der noch mit BDEW und Statistischem Bundesamt, die Monate einen Überblick über den Sta- immer 53 % über dem europäischen Durch- für die Datenerhebung zuständig sind, ließ tus der Energiewende in Deutschland. schnitt liegt. Der Indikator verharrt damit in sich die Veränderung nicht vollständig nach- Reaktionen und Rückmeldungen seitens seiner Zielerreichung bei 0 %. vollziehen. Daher erfolgt für den Indikator der Leser sind ausdrücklich erwünscht keine Angabe zur Zielerreichung, bis weitere und werden bei der Aktualisierung des Ein Indikator ohne Kategorie- Daten zur Validierung vorliegen. Index berücksichtigt, sofern es sich um zuordnung öffentlich zugängliche Daten und Fakten Dr. T. Vahlenkamp, Senior Partner, McKinsey handelt. Auf der Website von McKinsey Laut Eurostat liegt der Industriestrompreis & Company, Düsseldorf; Dr. I. Ritzenhofen, besteht die Möglichkeit, den Autoren aktuell 35,5 % über dem europäischen Durch- Partner, McKinsey & Company, Köln; Markus Feedback zum Thema Energiewende zu schnitt (Vorjahr: 1,1 %) und damit deutlich Wilthaner, Partner, McKinsey & Company, geben: über dem Zielwert von 8,5 %. Die Ursachen Wien; Dr. F. Pflugmann, Senior Associate, www.mckinsey.de/energiewendeindex für den drastischen Preisanstieg sind trotz McKinsey & Company, Frankfurt; F. Stock- intensiver Nachforschung bislang nicht ein- hausen, Senior Solution Analyst, McKinsey & deutig auszumachen. Zum einen gibt es An- Company, Düsseldorf; M. Wirths, Researcher, zeichen, dass Änderungen in Abnahmever- McKinsey & Company, Düsseldorf. halten und Netznutzung im Coronajahr 2020 thomas_vahlenkamp@mckinsey.com Save the Date! #zmp2021 #zmp2021 Vor Ort oder digital Größter Branchentreff rund um intelligente Messsysteme „Läuft“ – Seien Sie vor Ort oder Freuen Sie sich auf diese Themen: digital dabei und diskutieren Sie mit! ■ Wo steht die Roadmap der Digitalisierung? ■ Was kommt als nächstes und welche Meilensteine stehen noch bevor? ■ Wie sieht der Fahrplan für den weiteren Ausbau aus? ■ Stand der Technik und technische Anforderungen ■ Kundennutzen sichtbar machen – Akzeptanz steigern! ■ Best Practices mit Blick über den Tellerrand – national und international Jetzt informieren und anmelden: www.z-m-p.de ZMP_AZ_185x132_2020_01.indd 1 17.11.20 08:53 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3 15
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