Desaster, Durchbruch oder Dilemma? - Leibniz-Institut ...
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Beiträge zum demokratischen Frieden © 2008 Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/Peace Research Institute Frankfurt Nr. 5/2008 Desaster, Durchbruch oder Dilemma? Plädoyer für einen pragmatischen Umgang mit der indisch-amerikanischen Nuklearkooperation E D I T O R I A L Der empörte Aufschrei der Rüstungs- kontrollbefürworter war unüberhörbar: Wieder einmal eine außenpolitische Fehlentscheidung der amerikanischen Bush-Regierung – und dieses Mal mit dramatischen Folgen für die globale Rü- stungskontrolle und Abrüstung. Was ist passiert? Die USA haben mit In- dien, das dem Atomwaffensperrvertrag (NVV) bis heute nicht beigetreten ist, ein Nuklearabkommen geschlossen. Dieser „Atom-Deal“ wird es Indien zukünftig erlauben, Technologien und Material für sein ziviles Nuklearprogramm zu impor- tieren. Im Gegenzug unterstellt es den zivi- len Teil (nur diesen!) seines Nuklearkom- plexes internationaler Aufsicht. Zwei, die sich gut verstanden: Ex-U.S.-Präsident George W. Bush und der indische Premierminister Man- Damit kann Indien eigene Ressourcen mohan Singh. Während fast auf der ganzen Welt die Sympathiewerte für George Bush im Laufe seiner in sein Nuklearwaffenprogramm fließen Amtszeiten rapide sanken, wurde der amerikanische Präsident in Indien immer beliebter. Foto: Picture alliance lassen, ohne dass die entsprechenden An- lagen kontrolliert werden. Bisher waren Schulter zeigte, ist die Beliebtheit der USA Carsten Rauch Nukleargeschäfte mit Ländern, die nicht und ihres 43. Präsidenten so hoch wie nie dem NVV angehören, verboten. zuvor.1 Ein wichtiger Bestandteil dieser, Indien erhält so scheinbar eine attrak- Am 20. Januar 2009 wurde Barack Obama schon unter Präsident Clinton begonnenen tive Sonderregelung, die wenig Verpflich- zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten Annäherung, war der von Bush und dem in- tungen, dafür aber interessante Perspekti- von Amerika vereidigt und die Welt atmete dischen Premierminister Manmohan Singh ven bietet. Die Liste der möglichen Folgen auf. Die Hinterlassenschaft von George W. ausgehandelte so genannte Atomdeal, ein ist lang: Neues Wettrüsten in Südasien, Bush, zumal in der Außenpolitik, wird ge- Abkommen über indisch-amerikanische Entwertung des NVV, Behinderung der meinhin als Katastrophe wahrgenommen: Nuklearkooperation. globalen Abrüstung, „Bestrafung“ ver- Die Lage in Afghanistan und im Irak ist Während die verbesserten Beziehungen tragstreuer Staaten usw. Carsten Rauch nach wie vor dramatisch. Die Beziehungen zwischen den USA und Indien auch von distanziert sich von dieser apodiktischen zu Russland sind frostig. Neben dem „alten Gegnern der Bush-Regierung allgemein als Verurteilung und versucht eine Bewer- Europa“ gingen zuletzt auch vormals treue Erfolg anerkannt werden, ist dieser Deal auf tung aus einer anderen Perspektive: Was Verbündete auf Distanz zu Bushs „Krieg ge- enorme Kritik in den Medien, der Öffent- wäre gewesen, wenn der Deal nicht zu- gen den Terror“. Fast überall auf der Welt lichkeit und vor allem in der „Rüstungs- standegekommen wäre? Hätte das wo- sind die Sympathiewerte der USA auf einem kontroll-Community“ (siehe Randspalte möglich auch negative Auswirkungen historischen Tiefstand – mit einer Ausnah- S. 7) gestoßen.Eine interessante Ausnahme gehabt? Sind die negativen Folgen wirk- me: Die Beziehungen zu Indien haben sich stellt, nebenbei bemerkt, der Chef der inter- lich zwangsläufig? Er wagt einen prag- während der Bush-Regierung deutlich ver- nationalen Atomenergiebehörde Mohamed matischen Blick und kommt zu überra- bessert. Ausgerechnet in Indien, das den el-Baradei dar, der den Deal in mehreren schenden Ergebnissen. Karin Hammer USA im Kalten Krieg stets die ebenso kalte Interviews ausdrücklich lobte.
Ein gravierendes Manko im Umgang vie- Die Nuclear Suppliers Group (NSG) ler Kritiker mit dem Abkommen bildet in- des eine Art doppelter „Tunnelblick“. So versäumen sie es erstens, über das begrenzte Feld der Rüstungskontrolle hinauszuschauen. Zweitens gilt ihr Blick nur den Gefahren des Atomdeals. Sie unterlassen es damit, sowohl die Chancen des Abkommens angemessen zu würdigen als auch die möglichen Gefahren eines Scheiterns in den Fokus zu nehmen. Dieser Standpunkt wird im Folgenden zu- nächst kurz Inhalt und Zustandekommen des Abkommens erläutern. Sodann werde ich mich mit vier zentralen Kritikpunkten auseinandersetzen, die von vielen Gegnern des Abkommens vorgebracht werden. Au- Die Gruppe der nuklearen Lieferländer (Nuclear Suppliers Group, NSG) wurde als Reaktion auf die in- ßerdem werden Gefahren diskutiert, die dischen Atomversuche von 1974 gegründet. Ihre Mitglieder beschäftigen sich mit der Festlegung von in- mit einem Scheitern des Deals verbunden ternationalen Richtlinien zur Exportkontrolle von Materialien, die auch für den Bau von Nuklearwaffen gewesen wären, aber auch die Chancen des benutzt werden können. Ihre Entscheidungen trifft sie im Konsens. Atomdeals, die in der Debatte bisher zu Mitglieder sind heute: Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Bulgarien, China, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Kasachstan, kurz kommen. Zusätzlich werden Möglich- Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Polen, keiten vorgeschlagen, mit denen die Risiken Portugal, Rumänien, Russland, Slowakei, Slowenien, Spanien, Südafrika, Südkorea, Schweden, Schweiz, des Abkommens abgemildert werden kön- Tschechien, Türkei, Ungarn, Ukraine, USA, Weißrussland und Zypern. nen. Abschließend wird gezeigt, dass das Abkommen zwar einige Gefahren für das dieses Material nur für friedliche Zwecke Materialien für Indiens ziviles Nuklearpro- Nichtverbreitungs-Regime birgt, aber aus verwendet werden durfte. Eine Folge dieses gramm. Gleichzeitig machte sich Washing- realpolitischen Erwägungen trotzdem un- Vertrauensbruchs war die Etablierung der ton dafür stark, im Rahmen der NSG eine umgänglich ist. NSG (Nuclear Suppliers Group), in der sich Ausnahmeregelung für Indien zu erwir- die nuklearexportierenden Staaten seit 1978 ken. Diese Zustimmung der NSG ist im auf gemeinsame Export-Richtlinien ver- September 2008 erfolgt. Ohne sie hätte What’s the deal? ständigen. Diese Standards beinhalten heute das Abkommen nicht in Kraft treten kön- unter anderem, dass nur an Staaten geliefert nen, denn der US-Kongress erklärte dies Am 10. Oktober 2008 unterzeichneten die werden darf, die Mitglieder des NVV sind zur Voraussetzung für die eigene Zustim- damalige US-Außenministerin Condoleez- und alle ihre Nuklearanlagen von der inter- mung zum Deal. Dadurch erhält das bila- za Rice und ihr indischer Kollege Pranab nationalen Atomenergiebehörde (IAEO) teral gestartete Abkommen eine multilate- Mukherjee in Washington den so genann- überwachen lassen. Beide Bedingungen rale Reichweite. Denn nun haben nicht nur ten Atomdeal. Dieser beendet eine fast werden von Indien nicht erfüllt, und so war die USA, sondern alle NSG-Mitglieder die 35-jährige Isolation Indiens in Bezug auf es für die Entwicklung seines Nuklearpro- Möglichkeit, mit Indien Nukleargeschäfte zivile Nukleartechnik. 1974 hatte Indien, gramms bis Oktober 2008 fast ausschließ- abzuschließen. das den Nuklearen Nichtverbreitungsver- lich auf eigene Ressourcen angewiesen. Das Abkommen stand allerdings mehr- trag (NVV) nie unterzeichnet hat, seinen Der Atomdeal ändert diese Situation.2 In- mals kurz vor dem Scheitern, z.B. im Herbst/ ersten Atomtest durchgeführt. Die Opera- dien erklärt sich darin bereit, den größeren Winter 2006, als der US-Kongress die für das tion „lächelnder Buddha“ wurde zwar als Teil seines Nuklearkomplexes, alle strom- Abkommen notwendigen Änderungen der friedliche Nuklearexplosion deklariert, die erzeugende Kraftwerke und sonstige zivile amerikanischen Gesetzgebung verabschie- nicht die Waffentechnik, sondern zivile Ein- Installationen, insgesamt 14 von 22 Einrich- dete und dabei deutlich mehr Bedingungen sätze von Nuklearsprengungen, etwa im Ka- tungen, bis spätestens 2014 unter IAEO- stellte, als Präsident Bush und Premiermi- nalbau oder bei der Nutzbarmachung von Safeguards zu stellen. Das heißt, die IAEO nister Singh ursprünglich vereinbart hatten; unterirdischen Rohstoffen, voranbringen wird überwachen, ob für zivile Zwecke ge- oder im Sommer 2007, als Washington und sollte. Diese Erklärung wurde aber von der liefertes Material im zivilen Nuklearkreislauf Neu Delhi das dazugehörige „123-Agree- Mehrheit der internationalen Gemeinschaft verbleibt. Die Kehrseite der Medaille: Jene ment“ aushandelten und in der Endfassung als Vorwand verstanden, der den wahren Anlagen, die im Zusammenhang mit Indiens Meinungsunterschiede nur mühsam durch Zweck nur verbrämen sollte. Besonders die Nuklearwaffenprogramm stehen, bleiben eine zweideutige Sprachregelung verdecken USA und Kanada waren verärgert, weil sie von solchen Kontrollen ausgenommen. konnten; oder im Sommer 2008, als die in- Indien zuvor mit Brennmaterial und Reak- Im Gegenzug lockern die USA ihre ei- dische Regierung über das Abkommen zu toren beliefert hatten. Die entsprechenden genen Exportrichtlinien und ermöglichen zerbrechen drohte und das Ausscheiden Verträge beinhalteten ausdrücklich, dass wieder die Lieferung von Technologie und der (deal-kritischen) Linksparteien gera- 2 HSFK-Standpunkte 5/2008
Desaster, Durchbruch oder Dilemma? de noch durch die Aufnahme einer (deal- einen späteren Zeitpunkt verschoben, um freundlichen) Regionalpartei in die Regie- günstigere Bedingungen abzuwarten. rungskoalition kompensiert werden konnte; Tatsächlich kam es bei den Verhandlungen schließlich im Herbst 2008 auf einer drama- zu Fehlern, und manche Chancen blieben tischen Sondersitzung der NSG in Wien. ungenutzt. Die USA hätten durchaus mehr Dort drohte eine Gruppe von Staaten, die rüstungskontrollpolitisches Engagement über die rüstungskontrollpolitischen Im- zeigen können und sollen. Dass auf ernst- plikationen des Deals besorgt waren, lange haftere Bemühungen in dieser Richtung Zeit damit, einen Konsens zu blockieren, verzichtetet wurde, kann man Washington der auf Grund der internen Richtlinien der vorwerfen. Dieser Kritikpunkt ist unabhän- NSG notwendig war. Erst in letzter Minu- gig davon, ob die Gründe dafür in einem vo- te – unter anderem durch die Vermittlung rauseilenden Gehorsam vor möglichen in- Pro und Contra Deutschlands, das in der entscheidenden dischen Einwänden lagen oder aber in der Sitzung turnusgemäß den Vorsitz hatte – Furcht, mit der Stärkung des NV-Regimes The primary purpose of the Indo-US konnte sie umgestimmt werden. einen Stein ins Rollen zu bringen, der auch deal is to strengthen non-proliferation die USA selbst dazu hätte zwingen können, and not to scuttle it. Korrekturen ihrer Politik vorzunehmen. Mishra, Rajesh Kumar 2005: Indo-US Nuclear Desaster für die Non- Auf der anderen Seite muss man fest- Deal and Non-Proliferation, in: Strategic Analy- sis 29: 4, 612-628. Proliferation? halten, dass es äußerst fraglich erscheint, ob solche Bemühungen erfolgreich hätten Rüstungskontrollexperten in Europa und sein können. Selbst über den real-existie- History will say that with this agreement Nordamerika sind sich darin weitgehend renden Deal wäre die Regierung in Neu the world lost the last bit of an interna- einig, den Deal abzulehnen. Der Haupt- Delhi im Sommer 2008 fast gestürzt: Die tional tool to control the spread of nu- kritikpunkt lautet, die internationalen Rü- kommunistischen Links-Parteien, auf de- clear weapons. stungskontroll- und Abrüstungsbemü- ren Tolerierung das Kabinett von Premi- Kongressabgeordneter Rush Holt am 26. Juli hungen würden durch das Abkommen in erminister Manmohan Singh angewiesen 2006, zitiert nach: Boese, Wade 2006: Obstacles mehrfacher Hinsicht behindert oder gar tor- war, kündigten aufgrund des Deals ihre Remain for U.S.-Indian Deal, in: Arms Control Today 36: 7, in: . den Indien in Fragen der Rüstungskontrolle rungsumbildung und die Einbeziehung ei- größere Zugeständnisse abzuringen. 2. Der ner deal-freundlichen Regionalpartei in die Deal vereinfache für Indien die Möglichkeit Koalition konnte ein Sturz der Regierung zu weiterer Aufrüstung und feuere damit ei- verhindert werden. Eine an den Deal ge- nen neuen Rüstungswettlauf in Südasien an. koppelte Unterzeichnung des umfassenden 3. Die Hoffnung auf eine globale Abrüstung Atomteststoppvertrags (CTBT) oder eine aller Nuklearwaffen rücke in noch weitere groß angelegte Abrüstungsinitiative mit Ferne. 4. Das globale Nichtverbreitungsre- substantiellen indischen Beiträgen, wie gime (im Folgenden: NV-Regime) werde von einigen Beobachtern gefordert, hätte in seinen Grundfesten erschüttert. Im Fol- die Regierung politisch aller Voraussicht genden werde ich die Berechtigung dieser nach kaum überlebt. Dies macht deutlich, vier Kritikpunkte überprüfen. dass in der momentanen Lage tatsächlich nicht viel mehr zu erreichen war. Variante eins der Kritik verliert damit viel von ihrer Kritikpunkt 1: Zu wenige Zuge- Stichhaltigkeit. ständnisse Indiens Doch wie sieht es mit Variante zwei aus? Hätte man der Versuchung eines Deals Viele Kritiker bemängeln, die USA hätten mit Indien nicht widerstehen können und sich von Indien über den Tisch ziehen las- sollen, bis in Indien eine Regierung an sen und böten Neu Delhi eine große Menge der Macht ist, die bereitwilliger rüstungs- an Zugeständnissen, ohne nur annähernd kontrollpolitische Konzessionen machen deren Gegenwert zu erhalten, insbesonde- würde? re bezüglich der Rüstungskontrolle. Diese Interessant in diesem Zusammenhang, Kritik kommt in zwei Varianten daher: Va- aber leider in der westlichen Diskussion riante eins geht davon aus, dass man auch sehr selten präsent, ist ein Blick auf die in- unter den aktuellen Bedingungen deutlich dische Debatte über den Deal. Es sind vor mehr hätte erreichen können. Variante zwei allem zwei Gruppen, die sich in Indien ge- bezweifelt dies und hätte den Deal lieber auf gen den Abkommen wenden: Die nuklearen HSFK-Standpunkte 5/2008 3
„Falken“, die ein möglichst großes Nukle- ararsenal für nötig halten, um Indien als Land Erster Sprengköpfe Selbsterklärter Mitglied im Großmacht zu etablieren, und die extreme Atomtest Nuklearwaffenstaat NVV USA 1945 10104 Ja Ja Linke, der gute Beziehungen zwischen den Russland 1949 16000 Ja Ja USA und Indien ein Dorn im Auge sind. Für Großbritannien 1952 200 Ja Ja den Deal setzt sich dagegen vor allem die re- Frankreich 1960 350 Ja Ja gierende Kongresspartei ein, die Partei von China 1964 200 Ja Ja Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru und Israel Unklar 60-190 Nein Nein Indien 1974 60-105 Ja Nein Rajiv Gandhi. Aber selbst sie verwehrt sich Pakistan 1998 50-60 Ja Nein dagegen, die zivile Nuklearkooperation mit Nordkorea 2006 0-10 Ja Nein rüstungskontrollpolitischen Versprechen zu koppeln. Trotzdem, die denkbar rüstungs- Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2006 und stammen aus: The Bulletin of the Atomic Scientists 62: 4, 64-67. kontroll-freundlichste Kraft ist bereits an der Regierung. Alle möglichen Regierungs- Wie sieht die regionale Lage heute aus? sem Material könnte Indien mehr als 1100 alternativen stünden einer Einschränkung Pakistan verfügt nach Expertenschätzungen Atomwaffen herstellen.5 der indischen Souveränität und Autonomie über etwa 60 Atomsprengköpfe, Indiens Ar- Zudem: Warum sollte Indien ein Interesse in Nuklearfragen noch sehr viel skeptischer senal ist mindestens ebenso groß. Neu Del- daran haben, sich auf einen Rüstungswett- gegenüber. Interessant ist darüber hinaus, hi ist aber konventionell überlegen, was sich lauf mit Pakistan einzulassen bzw. diesen mit welchen Argumenten der rechte Flügel sowohl in der größeren Personalstärke der anzufeuern oder auszulösen? Die indische der hindu-nationalistischen BJP und die in- Armee als auch in der positiven Kampfbi- Überlegenheit in nahezu allen anderen Be- dischen Kommunisten den Deal bekämpfen: lanz gegenüber Pakistan manifestiert. Darü- reichen macht dies unnötig. Außerdem Es geht ihnen nämlich keineswegs darum, ber hinaus ist Indien größer, bevölkerungs- hat sich Indien seit Beginn seiner Nuklea- dass die rüstungskontrollpolitische Kom- reicher und wirtschaftlich deutlich stärker risierung für eine Doktrin der „minimalen ponente im Deal zu kurz kommt, sondern als Pakistan. Nur aufgrund seiner Atomwaf- glaubhaften Abschreckung“ ausgespro- sie befürchten genau das Gegenteil: dass In- fen kann Pakistan heute noch beanspruchen, chen. Deren Eckpunkte sind im Einzelnen dien viel zu stark gebunden werde, sich vom sich auf gleicher Augenhöhe mit Indien zu zwar nicht genau ausformuliert, aber die Wohlwollen des Auslands und der IAEO ab- befinden. Ohne sie, wäre die indische Über- Ausrichtung ist doch eindeutig. Indische hängig mache und keine souveräne Nukle- legenheit in allen anderen Bereichen noch Planer haben des Öfteren zu verstehen ge- arpolitik mehr betreiben könne. viel augenfälliger. Regionalpolitisch hat sich geben, dass dafür kein Riesenarsenal benö- Natürlich ist grundsätzlich immer ein po- also durch die Einführung von Nuklearwaf- tigt werde. Die Doktrin setzt auf eine Tri- litisches Erdbeben möglich, das die Kar- fen auf dem Subkontinent Indiens Position ade der Trägersysteme (Bomber, Raketen, ten vollkommen neu mischen würde. Aber eher verschlechtert als verbessert. U-Boote). Um diese zu erreichen, wird In- wahrscheinlich ist das nicht. Ganz im Ge- Von Kritikern wird moniert, dass der dien sein Arsenal in den nächsten Jahren gensatz zur Vorstellung, Abwarten wäre die Atomdeal zumindest indirekt dem in- wohl tatsächlich aufstocken. Dies wird je- beste Option gewesen, kann man behaupten: dischen Atomwaffenprogramm zugute- doch a) unabhängig vom Deal geschehen Nur unter dem aktuellen Premierminister kommen könnte; denn Indien könne jetzt und b) voraussichtlich bei Erreichen der Manmohan Singh, der sogar bereit war, sein seine eigenen Uranreserven vollständig in „minimalen glaubhaften Abschreckungs- eigenes politisches Schicksal mit dem Atom- die Waffenproduktion stecken, ohne die kapazität“ unabhängig von der Reaktion deal zu verknüpfen, bestand ein window of zivile Nutzung zu beeinträchtigen. Wäre Pakistans beendet werden. opportunity für eine grundsätzliche Neuord- Indien zu einer dramatischen Aufrüstung Wenn aber Indien keinen Rüstungswettlauf nung der Nuklearzusammenarbeit mit In- fest entschlossen, bräuchte es dafür aller- beginnen wird, bleibt doch die Frage offen, dien, welches sich bereits nach den nächsten dings keineswegs das Nuklearabkommen. ob durch den Deal eine neue Rüstungsdyna- indischen Parlamentswahlen im Frühjahr Eine Studie von Ashley Tellis zeigt, dass mik entstehen könnte, in der sich Pakistan 2009 wieder hätte schließen können. die angebliche Uran-Knappheit Indiens genötigt fühlt, seine Unterlegenheit in fast al- weit weniger dramatisch ist als allgemein len anderen Bereichen durch eine Überlegen- angenommen wird.4 Zudem wird sie eher heit an Nuklearwaffen auszugleichen. Kom- Kritikpunkt 2: Neuer Rüstungs- durch Mängel im Bereich des Uranabbaus plett von der Hand zu weisen ist dies sicher wettlauf in Südasien verursacht als durch fehlende Uran-Vor- nicht. Gleichzeitig gilt es aber festzuhalten, kommen. Diese Mängel aber könnten, bei dass die Unterlegenheit Pakistans bereits seit Ein weiterer Kritikpunkt am Atomdeal lau- vorhandenem politischen Willen, relativ längerem massiv besteht und durch den Deal tet: „Im labilen Dreieck der Atomwaffen- leicht behoben werden. Weiterhin verfügt nicht signifikant gesteigert wird. Wenn sich besitzer China, Indien und Pakistan dürfte Indien über große Mengen (bis zu 9000 Ki- Islamabad dafür entscheiden sollte, an der die Unterstützung des indischen Atom- logramm) von reactor-grade Plutonium, Rüstungsspirale zu drehen, dann aufgrund programms [...] der Startschuss für eine welches zwar nicht das Material erster Wahl der grundsätzlichen, konventionellen wie neue Runde im regionalen Rüstungswett- ist, trotzdem aber prinzipiell zum Bomben- nuklearen Unterlegenheit und unabhängig lauf sein.“3 bau verwendet werden kann. Allein mit die- von der Implementierung des Deals, der al- 4 HSFK-Standpunkte 5/2008
Desaster, Durchbruch oder Dilemma? lenfalls indirekt zur Stärkung indischer Nu- Der Druck der vertragstreuen Mehrheit Chronik des Deals klearmacht beitragen könnte. auf die offiziellen Nuklearmächte wird Man könnte noch einwenden, die Situ- immer größer und bekommt mittlerweile Januar 2004 ation Indiens gegenüber Chinas gleiche auch Unterstützung von unerwarteter Sei- “Next Steps in Strategic Partnership” (NSSP) derjenigen Pakistans gegenüber Indiens. te. Die ehemaligen US-Spitzenpolitiker Sam zwischen Indien und den USA werden verein- Während Neu Delhi tatsächlich gegenüber Nunn, William Perry, George Shultz und bart. Eines der Ziele: Verbesserte Kooperation dem schwächeren Pakistan keinerlei Auf- Henry Kissinger, allesamt keineswegs als im Bereich der zivilen Nukleartechnologie. rüstungswünsche verspüre, könnte es ge- „Tauben“ bekannt, starteten am 4. Januar März 2006 genüber dem stärkeren China Ambitionen 2007 mit ihrem Artikel „A World Free of Bush besucht zum ersten Mal Indien. Indien entwickeln, die eigene Schwäche durch ein Nuclear Weapons“ im Wall Street Journal präsentiert einen Plan zur Trennung seines größeres Nuklearwaffenarsenal auszuglei- eine neue Diskussion über die Sinnlosigkeit zivilen und militärischen Nuklearsektors. Die chen. Dies würde allerdings eine 180-Grad- und Gefährlichkeit von Nuklearwaffen und USA thematisieren den Atomdeal erstmals in Wendung gegenüber der proklamierten kämpfen seitdem als sinnbildliche „Reiter der NSG und schlagen erfolglos eine Ausnah- Doktrin der „minimalen glaubhaften Ab- der Gegenapokalypse“ für eine nuklearwaf- megenehmigung für Indien vor. schreckung“ bedeuten. Solange China fenfreie Welt. Dabei sind sie nicht etwa über Juli 2006 selbst nicht massiv nuklear aufrüstet, was Nacht zu idealistischen Utopisten bekehrt Eine Delegation der IAEO besucht Indien laut neueren wissenschaftlichen Erkennt- worden, sondern lassen sich von rationalen um technische Aspekte eines Safeguards- nissen zu Chinas Nuklearpolitik unwahr- und durchaus interessenbestimmten Über- Abkommens zu diskutieren. Das Repräsen- scheinlich ist6 oder gegenüber Indien eine legungen leiten. Ob sie mit ihrer Initiative tantenhaus verabschiedet den ‚Henry J Hyde deutlich aggressivere Außenpolitik vertritt, eine solche Dynamik entfachen können, United States-India Peaceful Atomic Energy Cooperation Act of 2006.‘ scheint dies eher fragwürdig. dass rechtliche und moralische Überle- gungen (aus dem NVV) und hartgesottene November 2006 Realpolitik eine Symbiose eingehen und er- Der Senat verabschiedet eine entsprechende Kritikpunkt 3: Behinderung der ste Schritte zu einer Abschaffung der Nukle- Gesetzgebung. globalen nuklearen Abrüstung arwaffen eingeleitet werden können, wird Dezember 2006 die Zukunft zeigen. Einstweilen ist aber, Präsident George W. Bush unterzeichnet Der Atomdeal wurde nicht einmal dekla- insbesondere nach ersten Äußerungen des das Gesetz, das Indien erstmals seit etwa 30 ratorisch mit der Forderung nach Nukle- frisch inaugurierten US-Präsidenten Barack Jahren wieder erlaubt, zivile Nukleartechnik arwaffenabrüstung verbunden. Ein Krit- Obama, nukleare Rüstungskontrolle und aus den USA zu importieren. Zuvor müssen ker befürchtet: „This will be interpreted by Abrüstung wieder an eine Spitzenposition allerdings noch einige Voraussetzungen er- some as blatant evidence of contempt by der außenpolitischen Agenda zu setzen, ver- füllt werden. the United States and other weapon states haltener Optimismus angesagt. Juli 2007 toward the requirements of Article VI [des Sollte es tatsächlich zu verstärkten inter- Die Verhandlungen über ein bilaterales Ab- NVV, CR]”.7 Dieser Artikel VI steht dafür, nationalen Abrüstungsbemühungen kom- kommen zwischen den USA und Indien wer- dass der NVV nicht nur eine Perspektive men, dann werden diese kaum an Indien den erfolgreich abgeschlossen. auf Rüstungskontrolle und Nichtverbrei- scheitern, für das die eigene nukleare Be- Juli 2008 tung nuklearer Waffen, sondern auch auf waffnung zwar nie ein Tabu, aber immer Die indischen Linksparteien entziehen der „allgemeine und vollständige Abrüstung nur die zweite Wahl gegenüber einer Welt Regierung wegen des Atomdeals ihre Unter- unter strenger und wirksamer internatio- ohne Nuklearwaffen war. Neu Delhi wollte stützung. Die Regierung Singh gewinnt die naler Kontrolle“ beinhaltet. Kernwaffen nie um jeden Preis. Schon Ja- darauf folgende Vertrauensabstimmung im Die Normen des Vertrages wurden auf waharlal Nehru sprach sich stets für eine indischen Parlament. Überprüfungskonferenzen immer wieder be- nuklearwaffenfreie Welt aus und war einer August 2008 kräftigt und gerade auch die Einhaltung der der geistigen Väter des allgemeinen Test- Die IAEO verabschiedet das indien-spezi- Abrüstungsnorm eingefordert. Tatsächlich stoppvertrages. Sein Enkel Rajiv Gandhi un- fische Safeguards-Abkommen. Auf einem haben die Nichtkernwaffenstaaten 1995 der terbreitete in den 80er Jahren in der UNO- NSG Treffen kann kein Konsens über die unbefristeten Verlängerung des NVV nur Generalversammlung einen Aktionsplan Ausnahmegenehmigung für Indien erzielt deshalb zugestimmt (und dies 2000 bestärkt), zur Abrüstung sämtlicher Nuklearwaffen werden. weil die Kernwaffenstaaten versprachen, bis zum Jahr 2010. Der aktuelle Premiermi- September 2008 endlich ihre abrüstungspolitische Verpflich- nister Manmohan Singh wiederum unter- Nach einer Marathon-Sitzung stimmt die tung ernst zu nehmen. Zudem hat der Inter- stützte kürzlich eine Konferenz in Indien, NSG schließlich einem neuen Entwurf für nationale Gerichtshof mittlerweile bestätigt, die im Fahrwasser der Nunn/Perry/Shultz/ eine Ausnahmegenehmigung für Indien zu. dass Artikel VI als konkrete Abrüstungsver- Kissinger-Initiative über die Möglichkeit Repräsentantenhaus und Senat stimmen dem pflichtung zu verstehen ist. Umso größer war einer nuklearwaffenfreien Welt diskutierte. Atomdeal zu. die Enttäuschung, als diese Versprechen peu Im Februar 2008 bekannte er sich zudem auf 10. Oktober 2008 à peu von Washington bis Moskau wieder einer Konferenz in Oslo ausdrücklich zum Das Abkommen wird in Washington unter- zurückgenommen wurden. Ziel der Abschaffung aller Kernwaffen und zeichnet. HSFK-Standpunkte 5/2008 5
auf der Münchner Sicherheitskonferenz im ben könnte, ist besorgniserregend. Staaten, Delhi, das der weltweiten Isolation schon Februar 2009 vertrat ein Mitglied des in- die sich der Ungleichbehandlung bewusst seit 1974 trotzt und heute ohne Zweifel dischen Nationalen Sicherheitsrates eben- werden, könnten ihre Mitgliedschaft im deutlich stärker aufgestellt ist als in den falls diese Position.8 NVV überdenken. Aus ihrer Sicht ist Indien 1970er, 1980er und auch noch 1990er Jah- Hätte Indien nach den chinesischen für seine Sturheit belohnt worden. Es kann ren, als Dank für eine abermalige Demüti- Atomtests von 1964 nicht weiterhin Zu- Sonderrechte in Anspruch nehmen, die es gung gleichsam zu Kreuze kriechen, seine rückhaltung bewiesen, sondern auf einen gegenüber vertragstreuen NVV-Mitgliedern Atomraketen verschrotten und fügsam um schnellen eigenen Test, von dem Exper- bevorteilen, die für Kooperation im zivilen die Aufnahme in den NVV bitten würde, ten vermuten, dass er seit etwa 1965 mög- Nuklearbereich der militärischen Option das kann niemand ernstlich annehmen. lich gewesen wäre, gedrängt, wären die in- entsagen müssen. Indien hingegen hat nach Würde wenigstens das indische Nuklear- dischen Chancen, Nuklearwaffenstaat im dem Deal durch seine Nichtmitgliedschaft waffenprogramm entscheidend behindert? Sinne des NVV zu werden, sicherlich ge- keinerlei Nachteile mehr. So könnten einer- Auch das ist sehr zweifelhaft. In der Tat stiegen. Christian Wagner geht sogar noch seits Befürworter eines Austritts aus dem müsste Indien vermutlich eine Entscheidung etwas weiter. Er meint, dass „[e]in indischer NVV gewichtige Argumente finden, die es treffen, ob in Zukunft eher das zivile oder Atomtest 1966 oder 1967 [...] Indien aller vorher nicht gab. Andererseits könnten ei- das militärische Nuklearprogramm forciert Wahrscheinlichkeit nach zu einem aner- nige bisher vertragstreu handelnde Staaten, werden soll. Aber ob es in diesem Fall tat- kannten Nuklearstaat im NVV gemacht die in ihren Augen erfolgte Entwertung des sächlich auf seine Atomwaffen verzichten [hätte]“9. Denn im Sinne des NVV gel- NVV zum Anlass nehmen, zwar innerhalb würde, erscheint angesichts des indischen ten jene Staaten als Nuklearwaffenstaaten, des Regimes zu verbleiben, aber die Ver- Statusbewusstseins äußerst unwahrschein- die vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaf- tragseinhaltung nicht mehr für so wichtig lich. Wahrscheinlicher wäre ein Verzicht auf fe oder einen sonstigen Kernsprengkörper zu halten. Zudem könnten sich Vertrags- den ambitionierten Plan, bis zum Jahre 2020 hergestellt und gezündet haben. Stattdessen brecher und Nichtmitglieder in ihrem Weg 25% statt derzeit 3% seines Energiebedarfs dauerte es mehr als ein Dutzend Jahre, bis bestätigt fühlen und sich der Hoffnung hin- aus Kernkraftwerken zu gewinnen. Stattdes- einsatzfähige Sprengköpfe montiert wurden geben, eines Tages ebenfalls eine „indische sen würde Neu Delhi dann wohl noch mehr und ein weiteres Jahrzehnt, bis eine indische Lösung“ angeboten zu bekommen. als bisher auf Kohle setzen. Zudem würde Regierung eine neue Testserie durchführte, Allerdings sollte angesichts dieser Risiken Indien vermutlich seine Bemühungen, das um sich als Nuklearmacht zu etablieren. nicht vergessen werden zu untersuchen, Ende seiner nuklearen Isolation zu erwirken, Erst als Indien mit all seinen Initiativen zur welche Folgen die möglichen Alternativen keinesfalls aufgeben, sondern vielmehr den globalen Abrüstung scheiterte und sich zu- mit sich bringen würden und ob nicht trotz Adressaten wechseln und sich beispielswei- dem nuklear bedroht und ausgegrenzt fühl- allem auch Chancen mit dem Deal verbun- se an Moskau wenden. Bei aller berechtigten te, entschied es sich für die eigene offene den sind. Kritik an Washington muss man der US-Re- Nuklearisierung, ohne aber das Ziel einer Die Kritiker des Abkommens weisen zu- gierung jedoch einige Punkte zugutehalten: grundsätzlichen weltweiten nuklearen Ab- recht darauf hin, dass ein wichtiges Ziel des 1. dass sie stets auf die Kontrolle des zivilen rüstung aufzugeben. Nonproliferationsregimes in dessen Uni- indischen Nuklearsektors durch die IAEO versalisierung liegt; das heißt, perspekti- gepocht hat; 2. dass sie, gebunden durch visch sollten alle Staaten dem NVV beitre- US-Gesetze und verpflichtet durch den Kon- Kritikpunkt 4: Beschädigung ten. Solange keine abenteuerliche rechtliche gress, nicht komplett unilateral, sondern in des globalen NV-Regimes Konstruktion aufgetan wird12 und solange Verbindung mit der NSG, wenn schon nicht am Ziel der Universalisierung festgehalten mit der NVV-Vertragsgemeinschaft, voran- Was die Wirkung des Atomdeals auf das wird, solange bleiben daher zwei idealty- schritt; 3. dass sie deutlich gemacht hat, auch globale NV-Regime10 betrifft, ist die Kritik pische Möglichkeiten: Entweder Indien rü- wenn man das in Neu Delhi nicht gerne hört, eindeutig: “It undermines the Nuclear Non- stet seine Nuklearwaffen ab und tritt dem dass ein neuerlicher Atomtest das Ende der proliferation Treaty (NPT) by devaluing the NVV bei oder Indien behält seine Nuklear- Kooperation nach sich ziehen würde. Wenn commitments made by non-weapon states waffen und bleibt dem NVV fern. sich Indien dagegen nach einem möglichen in order to receive peaceful nuclear techno- Würde man das Ziel der Universalisierung Scheitern der Verhandlungen mit den USA logy assistance, and by weakening weapon- dagegen zunächst zurückstellen und auf an Russland oder China gewandt hätte, dann state commitments under Article I.“11 den indischen Beitritt zum NVV verzich- wäre es fraglich gewesen, ob diese Staaten Der Atomdeal ist in der Tat mit den ten, würde sich zudem eine pragmatische größere Skrupel gehabt hätten als Washing- Grundgedanken des NVV nicht vereinbar. dritte Möglichkeit ergeben: Das weiterhin ton. Schließlich half Moskau Neu Delhi be- Die Tatsache, dass hier Sonderrecht ge- nuklear bewaffnete Indien bliebe weiterhin reits in den 1990er Jahren unter Ausnutzung schaffen wird, das eine Nicht-Vertragspartei außerhalb des NVV, würde aber so weit nur von Vertragslücken einige Male aus und Pe- besser stellt als viele vertragstreue Vertrags- irgend möglich an das Regime und damit king hatte zu keiner Zeit Bedenken bei der parteien, ist problematisch. an seine Prinzipien, Normen und Regeln Nuklearkooperation mit dem Nicht-NVV- Insbesondere die destruktive Wirkung, die angebunden. Mitglied Pakistan. das Abkommen auf vertragstreue Nicht- Wie hätte sich ein Scheitern des Deals also Unabhängig davon, welche dieser Varian- kernwaffenstaaten innerhalb des NVV ha- ausgewirkt? Kaum positiv. Denn dass Neu ten einem Scheitern des Atomdeals folgen 6 HSFK-Standpunkte 5/2008
Desaster, Durchbruch oder Dilemma? Die große Kritik – zum Nachlesen: Arms Control Association 2006: Seeing Through the Spin: ‚Critics‘ Rebut White House on the U.S.-India Nuclear Coope- ration Plan, in: www.armscontrol.org/ pressroom/2006/20060309_India_Cri- tics_Rebut_WH Carter, Jimmy 2007: Atomwaffensperr- vertrag - Das indische Problem, in: Süddeutsche Zeitung, 21.09.2007, in: www.sueddeutsche.de/ausland/arti- kel/329/134076 Kimball, Daryl G. 2008: Statement of Daryl G. Kimball, Arms Control As- sociation Executive Director, on the U.S.-Indian Agreement for Nuclear Cooperation, in: www.armscontrol.org/ Modernes Indien: Atemberaubende Wachstumsraten in Wirtschaft und Handel, Ausbau als Forschungs- und node/3363 Entwicklungsstandort. Mumbai (ehemals Bombay) ist das wirtschaftliche Zentrum Indiens. Exklusive Bürohoch- häuser, Luxuslimousinen und in manchen Gegenden die höchsten Immobilienpreise der Welt sind in der Stadt zu Kimball, Daryl G. und McGoldrick, Fred finden. Die Kehrseite: Mehr als die Hälfte der 13,7 Millionen Einwohner lebt in Slums ohne Wasseranschluss und 2007: U.S.-Indian Nuclear Agreement: A Kanalisation. Täglich strömen mehr Menschen aus dem verarmten Hinterland in die Stadt. Hier auf dem Bild zu sehen: Slums in unmittelbarer Nähe der Bombay Stock Exchange, der ältesten Börse Asiens und zweitgrößten Bad Deal Gets Worse, in: www.armscon- Börse Indiens. Foto: Picture alliance trol.org/pressroom/2007/20070803_In- diaUS würde: Keine davon fördert in irgendeiner kommens unterscheiden. Ein Abbruch nach Meier, Oliver und Neuneck, Götz 2006: Form die aus Sicht der Rüstungskontrolle bereits begonnenen Verhandlungen hätte Der Atomdeal zwischen Indien und den präferierte Entwicklung (Abrüstung und die ohnehin vorhandenen Vorbehalte Indi- Vereinigten Staaten: Nukleare Nichtver- NVV Beitritt); im Gegenteil, durch ein er- ens gegen die Intentionen des NV-Regimes breitung am Scheideweg. Hamburger In- neutes Brüskieren würde man in Neu Del- und die es tragenden Industriestaaten des formationen zur Friedensforschung und hi nur diejenigen bestärken, die im NV-Re- Nordens noch extrem und nachhaltig ge- Sicherheitspolitik, Ausgabe 40/2006, gime ein Unterdrückungsinstrument sehen, steigert. Dagegen könnte sich durch die Im- Hamburg das die Welt dauerhaft in „haves“ und „ha- plementierung des Deals in Indien vielmehr Mian, Zia und Ramana M. V. 2006: ve-nots“ aufteilt. Die skizzierte Möglichkeit die Überzeugung durchsetzen, dass das NV- Wrong Ends, Means, and Needs: Behind einer graduellen Integration Indiens in die Regime nicht dermaßen ablehnenswert ist, the U.S. Nuclear Deal With India, in: internationale nukleare Ordnung fiele da- dass die Inspekteure der IAEO keineswegs Arms Control Today 36: 1, in: www. her ebenfalls aus. Industriespionage betreiben und dass kei- armscontrol.org/act/2006_01-02/JAN- Interessanter ist aber ohnehin die Frage, ne weltweite Verschwörung zur Aufrecht- FEB-IndiaFeature.asp welche Folgen das tatsächliche In-Kraft-Tre- erhaltung der „nuklearen Apartheid“ und Krepon, Michael 2006: Kein Brennstoff ten des Deals haben wird. Zunächst einmal: zur Kleinhaltung Indiens existiert. für Indien, in: Internationale Politik 61: Eine indische Nuklearabrüstung und einen Ein solcher Wahrnehmungswandel in In- 8, 48-52 baldigen NVV-Beitritt wird der Deal sicher dien mag zunächst als nicht besonders wich- nicht fördern. Die Beibehaltung seines Nu- tig erscheinen, aber tatsächlich könnte er Motz, Kelly und Milhollin, Gary 2006: Seventeen Myths About the Indian klearwaffenarsenals war für Indien von An- eine, wenn nicht sogar die, entscheidende Nuclear Deal: An Analysis of Nucle- fang an die conditio sine qua non, und es Voraussetzung sein, um eines Tages doch ar Cooperation with India, in: www. gibt keine Anhaltspunkte dafür, kurz- oder noch den Vertragsbeitritt Indiens zu ver- wisconsinproject.org/countries/india/ mittelfristig eine Politikänderung zu erwar- wirklichen oder sich einem solchen maxi- Seventeen_Myths.htm ten, solange nicht auch die anderen Nuklear- mal anzunähern. Daher sind bereits die klei- waffenstaaten ihre Arsenale zur Disposition nen Schritte des Deals deutlich mehr als nur Weiss, Leonard 2006: The Impact of the U.S.-India Deal on the Nonproliferati- stellen. Soweit ist also noch kein erkennbarer Symbolik. Sie ermöglichen zumindest eine on Regime, in: www.armscontrol.org/ Unterschied zu den Szenarien nach dem Entwicklung, in der sich Indien - nicht von events/200602015_Weiss_Prepared_Re- Scheitern des Abkommens in Sicht. Ein be- heute auf morgen, aber graduell - mit den marks deutender Unterschied spielt sich allerdings Bestimmungen des NV-Regimes anfreun- auf einer anderen Ebene ab: Zwar behält den oder diese übernehmen und somit den Indien sein Nuklearwaffenarsenal, aber die Status eines virtuellen Mitgliedes einneh- indische Wahrnehmung dürfte sich drama- men könnte. Auch die Wirkung der IAEO- tisch von der nach einem Scheitern des Ab- Safeguards kann dazu beitragen. Kritiker HSFK-Standpunkte 5/2008 7
mögen sie als „zahnlose Tiger“ schmähen, Exklusiver Club: Die Atommächte da sie nicht auf den militärischen Teil des indischen Nuklearprogramms angewendet werden. Gleichwohl können sie aber dazu dienen, das souveränitäts- und statusbe- wusste Indien an internationale Kontrol- len zu gewöhnen und damit eine wichtige Vorbereitungsfunktion erfüllen für den Tag X einer beginnenden globalen Nuklearab- rüstung: Denn in diesem Fall muss es mög- lich sein, das waffenfähige Material in allen Staaten vollständig zu erfassen. Dass heute gerade die Nuklearwaffenstaaten, die offizi- ellen wie die inoffiziellen, mit einer solchen „Materialbuchhaltung“ durch die IAEO kei- nerlei Erfahrungen haben, wird weithin als äußerst problematisch angesehen. Derzeit verfügen neun Staaten über Nuklearwaffen. Die offiziellen Atommächte USA, Russland, Großbritannien, Angesichts der Tatsache, dass das Nukle- Frankreich und China (schwarz gefärbt). Dazu kommen Israel, Indien und Pakistan, die den Nichtverbreitungs- arabkommen Vorteile für das NV-Regime vertrag nicht unterzeichneten, sowie Nordkorea (dunkelgrau gefärbt), das vor seinen Atomtests wieder austrat. allenfalls in kleinen Schritten befördert, könnte man versucht sein, die Position zu er dazu führen könnte, dass andere Staaten des Abkommens bisherige nukleare Parias vertreten, dass unter den gegebenen Um- das globale NV-Regime als entwertet anse- Wünsche an, ebenso wie Indien eine Son- ständen die Fortführung des Status quo am hen und ihre Politik dementsprechend aus- derbehandlung zu erhalten und einige Liefer- wünschenswertesten gewesen wäre. Denn gestalten. Doch wenn es schon nicht mög- staaten erwogen, vergleichbare Atomdeals mit damit hätte man zumindest die Risiken lich ist, diesem Risiko komplett zu entgehen, den eigenen Freunden abzuschließen. des Deals, insbesondere den Bruch einiger sollte es zumindest ein wichtiges Ziel sein Um diese negativen Folgen abzumildern, wichtiger NV-Normen, verhindern können. herauszuarbeiten, wie es abgemildert oder sollten die Nuclear Suppliers Group und Doch dieser Gedankengang ist, wenngleich minimiert werden kann. die sie tragenden Einzelstaaten zweifelsfrei verführerisch, nicht folgerichtig. Vor Be- deutlich machen, dass der Deal einzigartig ginn jeglicher Verhandlungen konnte man bleiben wird. Wenn es Staaten gibt, die der noch anführen, die Beibehaltung des Status Keine weiteren Ausnahmen Ansicht sind, dass etwa Teheran, Islamabad quo bringe wenigstens keine weiteren Nach- zulassen! und Pjöngjang für ähnliche Ausnahmere- teile. Doch Vorteile wären durch weiteres geln prädestiniert seien wie Neu Delhi, dann Abwarten auch kaum zu erwarten: Wie be- Bedenklich genug ist, dass der Deal dazu füh- wäre es an ihnen, das vor der internationalen reits dargestellt wurde, sind die Aussichten ren wird, dass sich zahlreiche vertragstreue Gemeinschaft zu begründen. Als Mitglieder auf ein besseres Abkommen unter jeder NVV-Mitglieder durch die einseitige Bevor- der NSG müssten sie, ebenso wie im aktu- denkbaren anderen indischen Regierung teilung Indiens betrogen fühlen. Noch fataler ellen Fall die USA, einen Konsens erwirken, geringer als unter der derzeitigen. Nachdem aber wäre es, wenn aus diesem Einzelfall eine um Ausnahmen für ihre Klienten zu errei- die Verhandlungen einmal aufgenommen ganze Kette von Sondervereinbarungen ent- chen. Denn entgegen des Ansinnens einiger wurden, muss man konstatieren, dass deren stünde, die in ihrer Gesamtheit das NV-Re- anderer Staaten setzten sich die USA mit ih- Abbruch oder Scheitern eben nicht einer gime deutlich entwerten würden. Diese Ge- rem Wunsch durch, eine Indien-spezifische Rückkehr zum ursprünglichen Status quo, fahr ist real und wird auch von den Kritikern Ausnahmeregel zu erlassen und nicht etwa sondern einer Situation des Status quo plus des Abkommens beschworen: „Weakening feste Kriterien zu etablieren, die in Zukunft einer nochmals verstärkten indischen Ver- export controls for India will automatical- jederzeit wieder in Anspruch genommen ärgerung über das NV-Regime aufgrund der ly weaken them for Iran, Pakistan, and even werden können. Die NSG wird also über Zurückweisung durch dessen Protagonisten terrorist groups who might want to buy the jeden auftretenden Fall neu zu entscheiden entsprochen hätte. means to make mass destruction weapons.“13 haben und sollte, um weiteren Schaden vom Auch Daryl Kimball und Fred McGoldrick NV-Regime abzuhalten, sämtliche weitere von der renommierten Arms Control Asso- Interessenten abweisend behandeln. Maßnahmen zur Minimierung ciation sehen dieses Problem: „By making a der Risiken special exemption for India, the approach will make it even more difficult to enforce existing Flankierende Maßnahmen zur Obwohl mancherlei Kritik am Deal bei rules with states such as Iran and North Korea Stärkung der Rüstungskontrolle Lichte betrachtet übertrieben erscheint, ist and to convince other states to accept toug- er doch mit einigen Risiken verbunden. Am her nonproliferation standards in the years Doch neben diesem eher passiven Ansatz gravierendsten ist sicherlich die Gefahr, dass ahead.”14 In der Tat meldeten nach Abschluss gibt es auch aktive rüstungskontrollpoli- 8 HSFK-Standpunkte 5/2008
Desaster, Durchbruch oder Dilemma? tische Möglichkeiten, vor allem für die of- zwar keineswegs an den Haaren herbei- fiziellen Kernwaffenstaaten, um negativen gezogen ist, sondern im Gegenteil korrekt Folgen des Deals entgegenzuwirken. Wich- auf mehrere Schwachstellen oder Nachteile tig wäre vor allem eine energische Anstren- hinweist. Sie zeigte aber ebenfalls, dass da- gung der neuen US-Regierung, dem CTBT bei bisweilen über das Ziel hinausgeschos- beizutreten und dabei China mitzuziehen. sen wird und über die vertretbaren Kritik- Empfinden es indische Sicherheitspolitiker punkte hinaus Gefahren heraufbeschworen heute als unzumutbar, von ihnen die Mit- werden, die einer genaueren Überprüfung gliedschaft in einem Vertrag zu verlangen, nicht stand halten. Auch werden die Chan- den diese zwei wichtigen Staaten ebenfalls cen übersehen, die sich aus dem Deal für die noch nicht ratifiziert haben, so würde sich Rüstungskontrolle ergeben könnten. diese Frage ganz anders stellen, wenn alle Dennoch, große Teile der Kritik sind und offiziellen Nuklearwaffenstaaten dessen bleiben berechtigt. Schaut man nur auf die Einschränkungen unterlägen. direkten rüstungskontrollpolitischen Fol- Weiterhin wäre es wichtig, mit Indien über gen mag es konsequent sein, das Abkom- einen Beitritt zu einem Vertrag zum Verbot men trotz der hier dargestellten Relativie- der Spaltstoffproduktion für Waffenzwecke rung einiger Kritikpunkte und trotz der Anmerkungen (FMCT) zu verhandeln. Mit einem solchen angesprochenen Möglichkeiten zur Scha- 1 Pew Global Attitudes Projects 2008: Vertrag soll die Herstellung von waffenfä- densminimierung aufgrund seiner mani- Global Public Opinion in the Bush Years higem Uran und Plutonium international festen und unmittelbaren regimeschädi- (2001-2008), in: . verboten werden. Grundsätzlich hat sich genden Wirkung und der eher vagen und die indische Regierung dazu bereit erklärt. prospektiven Chancen als Fehler zu verur- 2 Vgl. Müller, Harald und Rauch, Carsten 2007: Der Atomdeal - Die indisch-ame- Deutschland könnte hier die Initiative ergrei- teilen. Wenn hier die These vertreten wer- rikanische Nuklearkooperation und ihre fen: Berlin teilt mit Neu Delhi die Position, den soll, der Deal sei trotz allem eben doch Auswirkungen auf das globale Nichtver- die von der Bush-Regierung vor einiger Zeit sinnvoll, reicht es daher nicht aus, nun wie- breitungsregime, Frankfurt am Main. verworfen wurde, dass ein solcher Vertrag derum die übertriebene Kritik zu kritisieren. 3 Meier/Neuneck (siehe Randspalte S. 7), ein wirksames Verifikationssystem braucht. Stattdessen müssen zusätzlich die positiven S. 1 Ein hoffnungsfrohes Zeichen könnte es sein, Folgen der Nuklearkooperation mit Indien 4 Vgl. Tellis, Ashley J. 2006: Atoms for dass die neue US-Außenministerin Hillary gezeigt werden oder welche Gefahren sich War? U.S.-Indian Civilian Nuclear Co- Clinton im US-Senat einen verifizierbaren ergäben, wenn diese nicht zustande gekom- operation and India’s Nuclear Arsenal, Washington D.C. FMCT ausdrücklich als wichtiges Ziel ihrer men wäre. 5 Ramana/Zian (siehe Randspalte S. 7). Außenpolitik benannte. Schließlich wäre auszuloten, unter wel- 6 Lewis, Jeffrey 2007: The Minimum chen Umständen sich auch die kleineren Chancen für die Zukunft Means of Reprisal: China‘s Search for Security in the Nuclear Age, Cambridge Kernwaffenstaaten darauf einlassen wür- 7 Weiss (siehe Randspalte S. 7). den, Obergrenzen für ihre Arsenale festzu- In der zukünftigen Weltordnung wird Eu- 8 Narayanan, Mayankote Kelath 2009: legen, also einen möglichen Rüstungswett- ropa aller Voraussicht nach stärker an die Non-Proliferation, Arms control and fu- lauf präventiv zu unterbinden. Mit einer Peripherie und Asien stärker ins Zentrum ture of nuclear weapons; is zero possib- solchen „Kappung“ wäre zum ersten Mal der Weltpolitik rücken. Neue Akteure, allen le? Vortrag auf der 45. Munich Security die Einbeziehung aller Kernwaffenbesit- voran Indien und China, steigen angesichts Conference/Münchner Sicherheitskon- zer in ein globales Rüstungsbegrenzungs- anhaltend hoher Wachstumsraten unwei- ferenz, 6.-8. Februar 2009. system erreicht. gerlich in die internationale Spitzengruppe 9 Wagner, Christian 2005: Die ‚verhinder- auf und sind sich dessen auch bewusst. Die te‘ Großmacht? - Die Außenpolitik der Solche Schritte wären sichtbare Anstren- Indischen Union, 1947-1998, Baden- gungen der Nuklearwaffenstaaten, ihren Konsequenz scheint klar:„By midcentury, Baden, S. 41 Abrüstungsverpflichtungen unter Artikel the U.S.-China-India relationship may be 10 Das NV-Regime umfasst mehr als nur VI des NVV nachzukommen. Sie würden the most important in the world“.15 den NVV, auch wenn dieser ein wichti- darüber hinaus endlich eine bessere Per- Wie lange die USA ihre Spitzenposition ger Teil davon ist. Eine Übersicht über spektive für eine Einbindung Indiens und werden halten können, ist fraglich. Es ist das gesamte Regime und dessen derzei- der übrigen Nuklearwaffenbesitzer, die au- nicht auszuschließen, dass sie bereits inner- tigen Herausforderungen bietet: Fran- ceschini, Giorgio 2008: Assessing the ßerhalb des NVV stehen, eröffnen. halb einer Generation von China als größte nuclear non-proliferation regime: What Volkswirtschaft der Welt abgelöst werden are the loopholes? What are the chal- und dass Indien einige Jahre später nach- lenges? in: Boutherin, Grégory (Hrsg.): Geostrategischer Geniestreich? ziehen wird. Europe Facing Nuclear Weapons Chal- Solche Überholvorgänge sind, so zeigt die lenges, Brüssel, 155-180. Die Diskussion in den letzten Abschnitten Forschung, häufig unruhige Zeiten, die mit hat gezeigt, dass die Kritik am Atomdeal Konflikten oder gar Kriegen einhergehen. Fortsetzung auf Seite 11 HSFK-Standpunkte 5/2008 9
Diese Theorie ist jedoch keineswegs de- Wirtschaftswachstum in Indiens seit 1965 terministisch. Die Geschichte kennt auch friedliche Machtübergänge – und selbst ein konfliktreicher Machtübergang müsste auf- grund der Gemeinsamkeiten zwischen In- dien und dem Westen, die unten erläutert werden, keinesfalls zwangsläufig in Gewalt oder gar Krieg ausarten; er könnte aber mit ebenfalls verhängnisvollen politischen Kon- flikten einhergehen. Die Gründe für „friedliche Machtüber- gänge“ sind bisher noch nicht ausreichend erforscht. Herrschende Meinung ist jedoch, dass der Aufstieg einer neuen Macht umso problematischer ist, je mehr diese Macht BIP in Milliarden $ unzufrieden ist mit der Art und Weise, wie die internationale Ordnung organi- Jahr siert ist. Aus der Perspektive der klassischen Zum Vergleich: Im Jahr 2007 lagen das BIP der USA mit ca. 13,8 Billionen US-Dollar (weltweit Platz 1) und das Machtübergangstheorie sind besonders die BIP Chinas mit ca. 3280 Milliarden US-Dollar (weltweit Platz 4) noch deutlich vor dem Indiens. Trotzdem ist der Staatenpaare USA/China und USA/Indien rasante wirtschaftliche Aufschwung Indiens (weltweit Platz 12), insbesondere seit Anfang des neuen Jahrtausends, problematisch: „If China and India develop beachtlich. Nach Kaufkraftparität berechnet sind China und Indien heute schon nach den USA zweitgrößte und as satisfied great powers, then these transi- viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Quelle: Weltbank tions will occur under peaceful conditions. Eine kooperative Weltordnung ist durch- wird. Indien dagegen, obwohl unzweifel- If they develop with significant grievan- aus im Bereich des Möglichen. Darauf sollte haft mit wichtigen Aspekten insbesonde- ces against the international system, then man hoffen und daran sollte man arbeiten. re der nuklearen Ordnung unzufrieden, these transitions could result in war”.16 So Dabei darf man allerdings nicht die Au- gehört nicht in diese Gruppe. Das globa- gesehen wäre es präventive Konfliktver- gen vor einer möglichen Rückkehr der Ge- le NV-Regime, mit dem NVV an seiner hinderungspolitik, wenn es mit Hilfe des schichte und daraus resultierenden Groß- Spitze, wurde zwar verbal als ungerecht Atomdeals gelänge, Indiens Unzufrieden- mächtekonflikten verschließen. bekämpft, aber seine Opposition zu die- heit mit der Ordnung des internationalen Sollte es dazu kommen, wäre eine an- sem Regime nahm Indien nie zum Anlass Systems zu beheben oder zumindest zu ti-westliche Allianz oder auch nur Inte- – wie etwa Pakistan oder Nordkorea – das verringern. ressensgemeinschaft der Aufsteiger im Streben anderer Staaten nach Nuklearwaf- internationalen System ein ebenso unan- fen zu unterstützen. Neu Delhi kann daher genehmes wie unnötiges Nebenprodukt prinzipiell in die internationale Ordnung Einbindung Indiens in ein multi- des sich anbahnenden Machtübergangs. integriert werden. Dies gilt umso mehr laterales Kooperationsgeflecht Dem ist eine möglichst enge Einbindung als Indien durch sein politisches System Indiens in die internationale Ordnung un- eigentlich für konstruktive Zusammenar- Doch auch abseits der Überlegungen aus bedingt vorzuziehen. Nun könnte ein sol- beit mit den USA und Europa prädestiniert dieser Machtübergangstheorie wird sich ches wohlwollendes Verhalten gegenüber war und ist. Es existieren verbindende Nor- der „schwächelnde“ Westen zu überlegen Indien in den Ruch des „Appeasement“ men zwischen ihnen: Das demokratische haben, wie er sich gegenüber den neuen geraten. Zeigt nicht die Geschichte, dass System bei allen Dreien sollte eigentlich Mächten China und Indien positioniert. man gegenüber Staaten, die eine Revision dafür sorgen, dass sie sich untereinander Zukünftig werden China und Indien immer der internationalen Ordnung anstreben, tendenziell friedfertig verhalten und darü- unentbehrlicher zur Bearbeitung von globa- standhaft bleiben sollte, statt ihnen entge- ber hinaus zu einer starken Kooperation len Governance-Problemen. Es sei nur an genzukommen? Verstärkt man nicht even- untereinander neigen. Daher muss die seit die internationale Wirtschaftsordnung den tuell – ganz im Gegensatz zu meiner Argu- langer Zeit fehlende politische Nähe zwi- Klimaschutz und den internationalen Ter- mentation – nach dem Motto „wer erstmal schen Nordamerika, Europa und Indien rorismus erinnert. Es wäre zwar verfrüht, den kleinen Finger hat, schnappt bald nach als historische Anomalie gelten, die besser heute schon definitiv festlegen zu wollen, der ganzen Hand“ sogar revisionistische heute als morgen beseitigt würde. wie eine solche Positionierung ausfallen Gelüste durch zu viel Großzügigkeit? Auch Indien entschied sich trotz seiner Armut sollte. Dennoch kann bereits jetzt festgehal- hier hilft ein Blick in die Theorie: Es gibt nicht wie viele andere Länder der Dritten ten werden, dass es ein Fehler wäre, sich ei- einen fundamentalen Unterschied zwi- Welt für eine Entwicklungsdiktatur, son- nen der beide oder gar beide Giganten zum schen Revisionisten mit begrenzten und dern setzte von Anfang an konsequent auf Gegner zu machen. Sinnvoller erscheint es, solchen mit unbegrenzten Zielen. Letzte- die Demokratie. Diese musste durchaus Indien und China in ein multilaterales Ko- re sind in der Tat nicht zu pazifizieren, da schwierige Phasen durchstehen – etwa den operationsgeflecht einzubinden. kein Zugeständnis sie je zufrieden stellen von Indira Gandhi erklärten Ausnahmezu- 10 HSFK-Standpunkte 5/2008
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