" DESIGN IST DAS LÖSEN EINES PROBLEMS" - N 0 15 2.4.2020 - Magazinos.com

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N 0 15 2.4.2020

»DESIGN IST
  DAS LÖSEN
  EINES
  PROBLEMS«
" DESIGN IST DAS LÖSEN EINES PROBLEMS" - N 0 15 2.4.2020 - Magazinos.com
AD Beatrice Rossetti - Photo Federico Cedrone
" DESIGN IST DAS LÖSEN EINES PROBLEMS" - N 0 15 2.4.2020 - Magazinos.com
Ein Designheft
von und mit
der serbischen
Künstlerin
und Designerin
ANA KRAŠ
" DESIGN IST DAS LÖSEN EINES PROBLEMS" - N 0 15 2.4.2020 - Magazinos.com
Inspiring design
for your outdoor life.

Hybrid, Sitzsystem Design von Antonio Citterio. www.bebitalia.com
" DESIGN IST DAS LÖSEN EINES PROBLEMS" - N 0 15 2.4.2020 - Magazinos.com
2.4.20 N0 15                                                            08   Martenstein
                                                                                                                                                                                          Über Corona-Gefühle

                                                                                                                                                                                     12   Heiter bis glücklich
                                                                                                                                                                                          Entdeckungen von Ana Kraš
                                                                                    Wie sich unser Blick ändert: Bis vor Kur-       sign-Ausgaben feiern: die Freude an I­deen,
                                                                                    zem wäre die Frau auf unserem Cover,            die unsere Welt schöner machen. Wobei            14   Wochenmarkt
                                                                                    die ein Tuch als Mundschutz verwendet,          für Ana Kraš selbst solche Kategorien keine           Bescheiden-schlichte Tartes
                                                                                    einfach eine Frau gewesen, die ein Tuch         Rolle spielen. Ihr geht es um Emotionen,
                                                                                    als Mundschutz verwendet. Heute ist der         darum, das Beste aus ihrer Umgebung zu           16   Deutschlandkarte
Titelfotos  Daniel Arnold

                                                                                    Mundschutz ein Symbol für unser aller           machen – etwa ihre berühmte »Bonbon«-                 Wo sagt man »zu Hause«,
                                                                                    ­Leben, in dem wenig so ist wie vor Corona.     Lampe, die sie aus einem übrig gebliebenen            wo »daheim«?
                                                                                     Ana Kraš, die Frau mit dem Mundschutz,         nackten Schirmgestell entworfen hat, wie
                                                                                     Jahrgang 1984, kommt aus Belgrad und           meine Kollegin C  ­ laire Beermann in ihrem      17   Gesellschaftskritik
                                                                                     lebt heute in New York. Dort haben wir sie     Porträt ab Seite 22 berichtet. Ana Kraš läuft         Merkel in Quarantäne
                                                                                     Mitte März fotografiert. New York: Auch        mit offenen Augen durch die Welt und
                                                                                     auf diese Stadt schauen wir nun mit einem      kommt so auf ihre ­Ideen. Sie improvisiert,      18   Fotokolumne
                                                                                     anderen Blick.                                 probiert Neues aus, macht immer weiter.               In Pittsburgh wird es endlich
                                                                                     Und dennoch, nein, jetzt erst recht gilt es,   Vielleicht ist ihre Arbeit genau deshalb jetzt        wieder heller
                                                                                     das zu feiern, was wir immer in unseren De-    so inspirierend.           Christoph Amend
                                                                                                                                                                                     22   Belgrad
                                                                                                                                                                                          Ein Besuch in Ana Kraš’ Heimat

                                                                                                                                                                                     38   Entwürfe
                                                                                                                                                                                          Wie Ana Kraš Accessoires für
                                                                                                                                                                                          die Firma Hay designt

                                                                                                                        FAST ÜBERHÖRT                                                40   Esstische
                                                                                                                                                                                          Ana Kraš’ liebste Stücke und
                                                                                           Nadine Redlich, 36, lebt und arbeitet als Cartoonistin in Düsseldorf.                          ihre Besitzer
                                                                                       Hier zeichnet sie jede Woche kleine Szenen, die sie unterwegs beobachtet hat
                                                                                                                                                                                     50   Handtücher
                                                                                                                                                                                          Eine fotografische Hommage

                                                                                                                                                                                     52   Ricardo Bofill
                                                                                                                                                                                          Ein Gespräch mit dem berühm-
Hätten Sie auch fast etwas überhört? Dann schreiben Sie uns an ueberhoert@zeit.de

                                                                                                                                                                                          ten katalanischen Architekten

                                                                                                                                                                                     64   Ich habe einen Traum
                                                                                                                                                                                          Die Autorin Jasmin Schreiber
                                                                                                                                                                                          träumt von der Tiefsee

                                                                                                                                                                                     66   Stilkolumne
                                                                                                                                                                                          Die Signalfarbe Orange

                                                                                                                                                                                     67   Unter Strom
                                                                                                                                                                                          Ein Becher, der Kaffee warm hält

                                                                                                                                                                                     69   Frag doch den Therapeuten
                                                                                                                                                                                          Soll sie mit ihm krank werden?

                                                                                                                                                                                     73   Prüfers Töchter
                                                                                                                                                                                          Greta schaut TikTok

                                                                                                                                                                                     74   Ich brauche eine Rettung
                                                                                                                                                                                          Birgit Wilms-Regen, Hotelbesit-
                                                                                                                                                                                          zerin im Landkreis Heinsberg

                                                                                               Diese Woche in der Tablet- und Smartphone-App »DIE ZEIT«:
                                                                                              Eine Leseprobe aus Jasmin Schreibers Roman »Marianengraben«
" DESIGN IST DAS LÖSEN EINES PROBLEMS" - N 0 15 2.4.2020 - Magazinos.com
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                                   Harald Martenstein
               Über ambivalente Corona-Gefühle – und ein Vorschlag
                            für eine neue Grußformel

Es gibt immer mehr Corona-Songs, einer stammt von dem Enter-               lichen Grüßen« wird häufig »mfG« abgekürzt. Ich hab’s jetzt ein
tainer Michael Krebs und ist auf Facebook zu finden. Krebs schil-          paarmal mit der Abkürzung »BSg!« versucht. Beim ersten Mal muss
dert die ambivalenten Gefühle, die er im Moment hat, nicht als             man’s erklären, danach greift der Kommunikationspartner die For-
Einziger. Er genießt nämlich seine erzwungene Auszeit. »Corona«,           mel »BSg!« oft auf. Unter sich Duzenden heißt es »Bg!«. Vielleicht
singt Krebs, »du bringst uns um, und du bringst uns zum Chillen.«          hält sich »Bleiben Sie gesund!« dauerhaft als Alternative zu den et-
Oder: »Corona, Segen und Fluch / Leben sind bedroht / und ich              was vernutzten »freundlichen Grüßen«. Und ich wäre für immer der
les endlich mal ein Buch.« Allen Weicheiern aber, die über ihren           Mann, der »BSg!« erfunden hat.
Hausarrest jammern (ich nenn das jetzt einfach mal so), liest der          Einer der großen Verlierer in dieser Krise ist das Wort »unmöglich«.
britische Moderator Piers Morgan in einer Wutrede die Leviten:             Ich kenne einen Kollegen, der seit Langem von zu Hause arbeiten
»Geht nach Hause, seht fern, und wascht euch die Hände, wie                wollte. Sein Chef sagte, dies sei unmöglich. Nun stellte sich blitz-
schwer kann das sein?«                                                     schnell heraus, dass es ohne Weiteres möglich ist. Der Chef wollte
Mauerfall, Nine Eleven, Corona, das alles hat keiner vorhersehen           es bloß nicht. Wichtige Konferenzen finden auf einmal per Video
können. Das Leben ist nichts für Kontrollfreaks. Du musst immer            statt. Vielleicht bricht unser Gesundheitssystem zusammen, aber vor
mit allem rechnen. Genieße den Tag! Wegen der abgesagten Termine           einem Zusammenbruch des Konferenzwesens hat noch niemand
habe ich endlich Zeit, um die Stapel auf meinem Schreibtisch durch-        gewarnt. Es geht also. Ein Teil des Flug- und Autoverkehrs ist wirk-
zusehen. Ich habe eine drei Jahre alte, vergessene Rechnung gefun-         lich überflüssig, das wissen wir jetzt, die Klimaschützer werden es
den, eine Mahnung ist nie gekommen, soll ich zahlen? Ich lese viel,        sich merken. Man kann auch Grenzen dichtmachen, falls man will
für das Kind ist trotzdem mehr Zeit da, wir machen Fahrradtouren,          und es für nötig hält, unmöglich ist es nicht. Es ist auch möglich, in-
die sind erlaubt. Jeden Abend wird gekocht, draußen herrscht Ruhe,         nerhalb weniger Wochen ein Krankenhaus zu bauen. Es ist möglich,
die Luft ist besser. Irgendwann wird es nerven, oder das Geld wird         die Wirtschaft teilweise lahmzulegen und in kürzester Zeit riesige
knapp, aber fürs Erste finde auch ich den Shutdown ganz angenehm.          Milliardensummen auszuwerfen, möglich ist offenbar fast alles, falls
Ich höre schon die Stimmen der Dummen, die rufen: »Er findet               man nur will (das ewige Leben ausgenommen).
Corona gut! Sperrt ihn doch endlich ein!« Aber meine treuen Freun-         Alle, die in nächster Zukunft Worte wie »unmöglich« oder »alter-
de, die Klugen, werden erwidern: »Er hat doch nichts über Corona           nativlos« verwenden, stehen unter Rechtfertigungsdruck. Statt zu
gesagt, sondern über den Hausarrest geredet. Er plädiert dafür, das        erklären, etwas sei unmöglich, müssen sie erklären, warum sie das
Beste draus zu machen, statt den Mond anzuheulen.«                         betreffende Etwas nicht wollen oder warum sie andere Prioritäten
Mails, unter denen früher »mit freundlichen Grüßen« stand, werden          setzen. Ob durch Corona womöglich die fast vergessene Kultur­
jetzt meistens mit »Bleiben Sie gesund!« unterzeichnet. »Mit freund-       technik des Argumentierens zurückkehrt?

Harald Martenstein                                                         Illustration Martin Fengel
ist Redakteur des »Tagesspiegels«                                          Zu hören unter www.zeit.de/audio
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                                                     Die
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 Eine der besten Anschaffungen meines                 von
Lebens war dieser »Mino«-Lautsprecher
   von Lexon – er ist so klein, dass er            Ana Kraš
in die Hosentasche passt. Ich höre damit
      gerne auf dem Fahrrad Musik

                                                Heiter
                                                                                           Ein Statement fürs Schlafzimmer ist
                                                                                            dieser silberfarbene Bettbezug von
                                                                                        Magniberg. Das dazugehörige Kissen liegt
                                                                                          auf meinem Daybed. Schlafen tue ich

                                                  bis                                   lieber unter der Leinenwäsche des Labels

                                               glücklich
     Ich benutze kein Parfüm, nur
 Körperöle. Die Marke Rassa Oils wurde
     von einer Meditationslehrerin
 gegründet, ich mag die Sorte »Vitality«
      mit Thymian und Zypresse

                                                                                                                                     Fotos Lexon; Magniberg;; Apartamento Studios; S’well; Beatrice Valenzuela; Katarina Šoškić; Rigoni di Asiago
                                                                                            Ich trinke schon lange nicht mehr
                                                                                        aus Plastikflaschen, sondern fülle Wasser
                                                                                               in meine Flasche von S’well.
                                                                                        Sie nimmt keine Gerüche auf und passt
                                                                                          in die Halterung an meinem Fahrrad

  Die Schlappen von Beatrice Valenzuela    Die Belgrader Designerin Jovana Markovic      Gerade habe ich diese Kakao-Nuss-Creme
sind nicht aus Gummi, sondern aus Leder.         macht feine Lederkleidung mit          von Rigoni di Asiago entdeckt. Manchmal
    Ein klassischer Sommerschuh – am       Schlitzen. Diesen Mantel mit Knittereffekt     löffle ich sie direkt aus dem Glas – ein
 besten kauft man ihn in mehreren Farben            trage ich besonders gern            köstlicher Genuss in der Corona-Isolation
Moroso
                                           Udine Milano London
                                           Amsterdam Köln
                                           Gent New York Seoul
                                           moroso.it
                                           @morosofficial

                                           Gog
                                             g an
                                           by Patricia Urquiola - 2019
                                           The Beetle tapestr y
                                           by Tord Boontje - 2018
ad Designwork – photo Alessandro Paderni
set coordinator Marco Viola
Wochenmarkt                                                             14                                             EINE GUTE TARTE

                                                  Einfache, kleine Spargeltartes
           Zutaten für sechs Tartes: 15 Stangen grüner Spargel, 250 g Blätterteig (tiefgekühlt oder aus dem Kühlregal),
                1 Ei, 150 g Ziegenkäse (zum Beispiel Ziegencamembert oder Ziegenfrischkäse), 150 g Frischkäse

Da nun alle zu Hause bleiben müssen, verlagert man die Selbst-               Backofen auf 200 Grad heizen. In einem mittelgroßen Topf Wasser
optimierungsstrategien nach drinnen. Wer hat schon seine ewige               zum Kochen bringen. Die Enden des Spargels abschneiden, Stangen
Kruschtel-Schublade aufgeräumt? Wer macht Online-Meditations-                in drei etwa gleich große Stücke zerteilen. Spargel in den Topf
kurse? Wer führt jetzt endlich mal richtig tolle Gespräche mit dem           ­geben, zwei Minuten lang kochen lassen, dann herausnehmen.
Partner? Nicht die Leute, die Kinder haben, jedenfalls, denn sie sind         Blätterteig in sechs gleich große Quadrate schneiden, die man auf
mit Bastelnsingenholzeisenbahn beschäftigt beziehungsweise mit                ein mit Backpapier ausgelegtes Blech gibt. Mit einem Messer rings-
Schulstoff, der ihnen selbst zu hoch ist und von dem sie aus eigener          um einritzen, und zwar einen Zentimeter vom Rand entfernt. Die
Erfahrung wissen, dass er im Leben eigentlich zu nichts nutze ist.            Randstreifen mit verquirltem Ei bestreichen.
Hier also nicht noch ein Happy-Quarantäne-Rezept wie: endlich                 Spargel auf einem Geschirrtuch abtropfen lassen. Ziegenkäse mit einer
mal Sauerkraut selbst stampfen! Sondern so bescheiden-schlichte               Gabel zerkrümeln oder zerdrücken (je nach Konsistenz), Frisch­käse
Spar­gel­tartes, dass ich mich ein bisschen schäme. Und das Rezept            unterziehen. Masse auf den Teigquadraten verteilen, je ein paar
stammt nicht mal von mir selbst, sondern von dem britischen                   Spargelstücke darauflegen. Dann die Tartes etwa 25 Minuten lang
­Küchengott ­Nigel Slater, der sich niemals für seinen Appetit auf            im Ofen goldbraun backen (eventuell früher rausnehmen, wenn
 einfache, schöne Dinge entschuldigen würde.                                  sich die Ränder zu dunkel färben).

Von Elisabeth Raether                                                        Foto Silvio Knezevic
SO FLEXIBEL.
SO SAUGSTARK. SO SCHNELL.
       #LifeBeyondOrdinary
           miele.de/Triflex
Deutschlandkarte                                                         16                                  ZU HAUSE ODER DAHEIM?

                                                                        Hamburg

                                                         Bremen

                                                                                                             Berlin
                                                                    Hannover

                                                                                                   Leipzig
                                   Düsseldorf
                                                                                                                  Dresden
                                     Köln

                                                        Frankfurt

                                                                                                                                                      Quelle  Jürgen Eichhoff: Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, Band 1, Berlin / Boston, De Gruyter Saur 1977, Karte 29
                                                                                    Nürnberg

                                                                                                                       Wo sagt man »zu Hause«
                                                             Stuttgart
                                                                                                                       und wo »daheim«?

                                                                                                                            »zu Haus(e)«
                                                                                           München                          »daheim«

                                                                                                                            eher »zu Haus(e)«,
                                                                                                                            auch »daheim«
                                                                                                                            eher »daheim«,
                                                                                                                            auch »zu Haus(e)«

Vor einigen Tagen flog ein Kleinflugzeug über Hamburg, um das                 dem Jahr 1977, seither hat sich kein Forscher mehr an das Begriffs-
derzeit epidemiologisch richtige Verhalten anzumahnen. Auf dem                paar gewagt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Grenze noch
Banner, das die Maschine hinter sich herzog, stand: »Stay at ­home!«          etwa zweihundert Kilometer weiter nördlich. Ein Grund für das Ver-
Also: »Bleiben Sie zu Hause!« Oder: »Bleiben Sie daheim!« Vielleicht          schieben nach Süden könnten neue Schulbücher in Nordrhein-West-
hatte sich der Pilot für das Englische entschieden, um sich nicht auf         falen oder Hessen gewesen sein, deren Autoren sich für »zu Hause«
einen der beiden Begriffe festlegen zu müssen. Die Deutschen haben            entschieden. Der Begriff wandert seither weiter südwärts. Bei In­sta­
das ja auch noch nicht geschafft: »Zu Hause« sagt man im Norden,              gram wird #zuhause fast zehnmal häufiger verwendet als #daheim.
»daheim« im Süden. Das Land ist bei diesem Sprachgebrauch in der              Aber: Das bayerische #dahoam ist erfolgreicher als #daheim. Offen-
Mitte geteilt. Oder besser: Es war es. Die Daten stammen nämlich aus          bar wird das Wort vor allem in seiner Dialektform überleben.

Von Matthias Stolz                                                            Illustration 1kilo
Gesellschaftskritik                   ÜBER MERKEL ZU HAUSE                        EIN MAGAZIN
                                                                                                                                      (NICHT) NUR
                                                                                                                                      FÜR MÄNNER!
                                                                                          Die Kanzlerin ist in Quarantäne.
                                                                                                Wie kann man sich
                                                                                           ihren neuen Alltag vorstellen?

                                            Unsere Regierungschefin befindet sich         philosophisch untersuchen könnte und
                                            in Quarantäne. Sie wurde vor unserem          der in Merkels Realität aber vor allem
                                            Redaktionsschluss am 27. März zwar            eins bedeutet: Hausarrest und ein net-
                                            negativ auf das Coronavirus getestet,         ter d­ ude, mit dem sie anscheinend ver-
                                            verbleibt aber trotzdem prophylaktisch        heiratet ist, der wohnt, wo sie wohnt,
                                            14 Tage lang in ihrer Wohnung in Ber-         der Joachim heißt und sogar einen ei-
                                            lin-Mitte. Man ahnt, die Lage muss            genen Nachnamen hat, ein Mann, der
                                            ernst sein, Ausnahmezustand muss herr-        die Kanzlerin liebt, und das schon so
                                            schen, um sich so etwas Befremdliches         viel länger als zwei Wochen. Vielleicht
                                            wie Angela Merkel als Stubenhockerin          hat Joachim sogar etwas vorbereitet,                 JETZT
                                            vorzustellen. Auch wenn wir natürlich         ein »Welcome ­Home, A/Engel«-Poster                 AM KIOSK
                                            wissen, dass sie das Land jetzt per Tele-    etwa oder einen mit Käse überbackenen
                                            fonschalte und Videokonferenz regiert,       Auflauf oder irgendetwas anderes, was
                                            wollen wir uns einmal der Fantasie hin-      ein Mensch so wollen kann, wenn alles
                                            geben: Was macht unsere Kanzlerin            andere unsicher ist.
                                            eigentlich mit so viel Zeit zu Hause?        Die zwei Wochen müssen ihr wie eine
                                            Däumchendrehen statt Merkelraute?            Ewigkeit vorkommen. Plötzlich: Zeit,
                                            Merkel mag falsch- oder richtigliegen,       Demut zu beweisen, gerade dann, wenn         Entdecken Sie jetzt das neue
                                            sich nach links oder rechts lehnen, am       auch eine Spitzenpolitikerin es nicht        Männermagazin der ZEIT!
                                            Ende glaubt man allem eins: dass ihr         schafft, sich bei Google Hangouts            Starke Charaktere berichten
                                            jeglicher Egoismus völlig abgeht. Was,       ­anzumelden, um mit Justin Trudeau
                                            ganz plötzlich, zu einer Frage führt: Was     zu sprechen, und das eigene Gesicht
                                                                                                                                      von den Entscheidungen
                                            will sie eigentlich, außer ihr Volk zu be-    plötzlich zu einem verzerrten, pixeligen    ihres Lebens und der Suche
                                            schützen? Erlebt sie den Hausarrest wie       Bildschirmfoto wird, auf dem man ir-        nach dem persönlichen Glück.
                                            wir Normalsterblichen, hängt sie auf          gendwie immer aussieht, als habe man
                                            der Couch vor Netflix ab? Klickt sie          gerade etwas viel zu Heißes gegessen.
                                            sich durch die Instagram-Profile ande-        Statt 24/7 aus dem Kanzleramt zu re-        Hier direkt bestellen:
                                                                                                                                         www.zeitmagazin.de/mann
Foto  Ralf Mueller / dpa Picture-Alliance

                                            rer Regierungschefs? Skypt sie von der        gieren, gilt für Merkel also nun: warten.
                                            Badewanne aus mit ihren beiden besten         Online Nachrichten checken, statt die
                                            Freundinnen aus Schulzeiten?                  Nachricht zu sein. Zu spät aufstehen,
                                            14 Tage sind lang, schon dann, wenn           Langeweile, Candy Crush. Mittags kurz
                                            man nicht Kanzlerin ist und wenig zu          Joachim anraunzen. Ihn dann doch
                                            tun hat, außer die Wettervorhersage und       sehr lieben. Einschlafen. Warten. Auf-
                                            Jobmöglichkeiten online zu aktualisie-        wachen. Anführen. Und dann, zwei
                                            ren. Man kehrt also heim. Heim, dieser        Wochen später: Kanzlerin sein, genau
                                            antiquierte Begriff, den man bestimmt         wie immer, vielleicht noch besser.

                                            Von Ronja von Rönne
PITTSBURGH 2 0 2 0
                                 E in Fotograf, seine Stadt und die Wahl in den USA (14)

Pittsburgh kann im Winter eine ziemlich graue Stadt sein. Wenn      zwischen ängstlich und ruhig. Aber in diesen Tagen wird es wieder
die Bäume kahl sind und die Tage kurz, ist es hier bedrückend. Im   heller, und die Grün- und Gelbtöne der Landschaft werden sicht-
Moment hat die Stadt komplett zugemacht, um sich gegen die Ver-     bar. Ich bin dankbar dafür­, es ist gut, daran erinnert zu werden,
breitung des Coronavirus zu schützen. Meine Stimmung schwankt       dass schwierige Zeiten vorübergehen.

               Jake Reinhart, 40, wuchs in Pittsburgh auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie, war Staatsanwalt
    und ist heute in der Verwaltung einer Bank tätig. Seit zehn Jahren fotografiert er seine Heimatstadt und ihre Umgebung
bongo bay
                                                  Design Kati Meyer-Brühl

                                                  bruehl.com

WINNER - Innovative Interior ICONIC AWARDS 2020

        NOMINEE - German Innovation Award ‘20
DIE DESIGNWELT VON ANA KRAŠ
Design hat für die serbische Möbeldesignerin und Künstlerin Ana Kraš
nichts mit eleganten Formen, auffälligen Farben oder schicken Objekten
zu tun, die man sich ins Regal stellt. Design wird vom Leben gemacht:
Kraš’ Entwürfe sind visuelle Erinnerungen an ihre Heimat und oft von
ihrer Biografie inspiriert. Ihre Lieblingsfarben sind ­B eige und Braun –
die Farben Belgrads. Ein Beistelltisch, den sie entworfen hat, erinnert
an die Müllkörbe, die sie als Kind auf einer kroatischen Ferieninsel­
entdeckte. Abfallbehälter als Vorbild für Möbel: In der Formenwelt von
Ana Kraš geht es nicht um hübsch und hässlich, sondern darum, wie
sehr etwas für sie mit Emotionen aufgeladen ist. Das macht ihre Möbel
aufregend und ungekünstelt. Und gibt jedem, der mit ihnen lebt, etwas
Einzigartiges, das sich kaum gestalten lässt: Ein Gefühl von Zuhause

Rechte Seite: Mit ihrer Lampe »Bonbon« wurde Ana Kraš berühmt (oben links). Der Tisch »Noodle« für Et al. ist von Müllkörben
inspiriert (oben rechts). Den »Hug Chair« entwarf sie im Studium (unten links). Das gewebte Bild »Ricoh« ist eine Hommage an
die Kopiergeräte im Copyshop ihrer Eltern (unten rechts)

                                                            20
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IHRE SICHT AUF DIE DINGE
Ana Kraš lebt in New York, aber nichts inspiriert sie so sehr wie ihre Heimat
Belgrad. Hier begann ihre Karriere, hier entdeckt sie Besonderes in Sa-
chen, die nicht klassisch schön erscheinen – ein Talent, von dem wir jetzt
alle etwas brauchen können. Unterwegs mit ihr in der Hauptstadt Serbiens
Die meisten Bilder auf diesen Seiten nahm Ana Kraš auf, während wir sie in Belgrad begleiteten, einige stammen aus ihrem Archiv.
Linke Seite: Kraš im Jahr 2017 in der Küche ihrer Großmutter. Oben: Ein Netzstoff vor einem Fenster im Bezirk Braće Jerković
Von CLAIRE BEERMANN                                                24                                           Fotos ANA KRAŠ

Ana Kraš steht vor einem heruntergekommenen Haus im                     platz zwischen den Wohnblocks hat jemand Wäsche auf
Belgrader Stadtteil Braće Jerković. An einigen Fenstern sind            einer zwischen zwei Bäumen gespannten Leine aufgehängt.
die schmutzig weißen Jalousien heruntergelassen. Der Putz               Nur wenige Wochen später wird die Corona-Krise auch
bröckelt von den Balkonvorsprüngen. Das Haus ist un-                    hier die Leute in ihre Wohnungen verbannen, werden auch
scheinbar, verwahrlost, ein Gebäude, für das sich niemand               hier die Straßen ausgestorben sein, aber an diesem Tag Ende
mehr interessiert. Aber Ana Kraš hat hier gerade etwas                  Januar herrscht in Braće Jerković noch geschäftiger Alltag.
­gesehen, das ihr gefällt: einen hauchdünnen Netzstoff, den             Zwei Männer heben gerade eine Waschmaschine aus einem
 jemand vor ein Fenster gehängt hat und der im Licht der                Auto. Eine ältere Frau mit Einkaufstüte in der Hand steigt
 Mittagssonne schwach schimmert. »Siehst du diesen Stoff                die Treppe zu einem Haus hinauf. Es ist Mira Kraš, Anas
 da oben?«, fragt Kraš. »Der könnte auch in einem Show-                 Mutter. Sie hat gerade Börek fürs Frühstück gekauft.
 room von Margiela sein. Lustig! Und so zart. Das finde ich             Oben in der Wohnung sitzt Ana Kraš, ein Bein angewin-
 wunderschön. Das ist für mich Belgrad.«                                kelt, am Küchentisch, ihre rosa Socken passen zur Lack-
 Ana Kraš, 1984 geboren, lebt eigentlich in New York. Dort              farbe ihrer Fingernägel. Auf den ersten Blick wirkt sie mäd-
 gilt sie seit einigen Jahren als eine der aufregendsten jungen         chenhaft, aber sie hat auch etwas Androgynes an sich, eine
 – ja, was eigentlich: Designerinnen? Fotografinnen? Künst-             ungestüme, fast kindliche Art. In New York fährt sie ein
 lerinnen? Ana Kraš entwirft Stühle, Lampen und Tische,                 Männerrennrad und boxt, außerdem träumt sie von einem
 darunter eine Leuchte namens »Bonbon«, deren Schirm                    Schäferhund. Ihre Stimme ist laut, sie redet viel und legt
 mit bunten Fäden umwickelt ist, und ein Tisch, der auf                 einem dabei oft mit eindringlichem Blick die Hand auf
 dicken runden Säulen steht und »Slon« heißt, Serbisch für              den Arm. Zwischendurch wechselt sie ins Serbische, um
 »Elefant«. Sie fotografiert Lookbooks für das New Yorker               etwas zu ihrer Mutter zu sagen, sie klingt dann ein wenig
 Label Maryam Nassir Zadeh und gestaltet Laufstegkulissen               polternd. »Du denkst wahrscheinlich, wir streiten uns«,
 für die Schauen des dänischen Modehauses Ganni. Ge-                    unterbricht sie sich zwischendurch selbst und grinst. »Aber
 legentlich modelt sie. Sie hat Badeanzüge entworfen und                so klingt ein ganz normales, liebevolles Gespräch auf Ser-
 T-Shirts, die mit ihren Fotos bedruckt sind. Sie hat einen             bisch.« Mira Kraš stellt Teller mit dem Gebäck und zwei
 viel beachteten Bildband herausgebracht und ist als Gast-              Gläser mit einem Joghurtgetränk auf den Tisch. Das ist für
 sängerin mit dem Musiker Devendra Banhart aufgetreten.                 Ana Kraš Zuhause: mit Spinat und Käse gefüllter Filoteig,
 Ana Kraš macht von fast allem ein bisschen, sie wechselt               die grün-­beige gestreifte Tapete im Flur, der Blick in den
 mit Leichtigkeit zwischen den Handwerken, und wenn man                 Park vor dem Haus. Im Sommer kann man vom Balkon
 sich ihr Leben in New York anschaut, wo sie in einem Loft              aus die Blätter an den Bäumen berühren.
 in Chinatown wohnt und arbeitet, mit Mode­designern                    Ana Kraš hat bis zu ihrem 27. Lebensjahr in Belgrad ge-
 und Architekten befreundet ist und von der New York                    lebt, nach der Schule studierte sie hier Möbeldesign an der
 Times und der ­Vogue als »It-Girl« und »star of the moment«            Universität für angewandte Künste. Neben dem Studium
 bezeichnet wird, dann könnte man meinen, sie sei eine                  arbeitete sie als Model und entwarf Flyer für Nachtclubs
 Frau aus einer Welt, in der immer alle Türen offen standen,            und Zeitungsanzeigen für Reisebüros. Eines Tages bekam
 durch die sie nur hindurchlaufen musste, um sich von allem             sie mit, dass eine gemeinnützige Organisation plante, aus-
 das Beste auszusuchen.                                                 gewählten serbischen Jungdesignern die Teilnahme an
 Aber tatsächlich kommt Ana Kraš aus Belgrad. In dieser                 der ­für Nachwuchsdesigner reservierten Satellite-Ausstel-
 Stadt wuchs sie während des Jugoslawien-Kriegs in einer Zwei-          lung ­des Salone del Mobile zu ermöglichen, der weltweit
 zimmerwohnung in Braće Jerković auf, ihre Eltern waren                 wichtigsten Möbelmesse, die einmal im Jahr in Mailand
 Besitzer eines kleinen Copyshops. Dort zeichnete sie als               stattfindet. Interessierte sollten anonym ihre Projekte ein-
 Kind auf den Rückseiten alter Kopien und bastelte Colla-               reichen. Ana Kraš’ Entwurf für einen Stuhl aus Sperrholz
 gen aus den Papierschnipseln, die aus der Schneidemaschine             wurde ausgewählt. Im Jahr darauf, 2010, nahm sie wieder
 fielen. Es ist ungewöhnlich, dass jemandem aus einer Welt              teil und reichte dieses Mal vier Projekte ein, darunter ihre
 mit so wenig Möglichkeiten der Aufstieg nach ganz oben ge-             »Bonbon«-Lampe. Unter den sechs Projekten, die ausge-
 lingt, in die kreative High Society einer der einflussreichsten        wählt wurden, waren alle vier von Ana Kraš. Dieses Mal
 Städte. Ana Kraš hat es geschafft – und dabei trotzdem nie             reiste sie nach Mailand zur Ausstellung – und wurde dort
 vergessen, woher sie kommt. Wie hat Belgrad sie geprägt?               mit Lob überhäuft, vor allem für den »Bonbon«-Entwurf.
 Was hat diese Stadt mit ihrem Erfolg zu tun? Um das zu ver-            »Es war ein totaler Schock«, erinnert sie sich. »Die Leute wa-
 stehen, muss man mit Ana Kraš ihre alte Heimat besuchen.               ren begeistert von dieser Lampe. Alle wollten sie kaufen oder
 Die Straße, in der sie groß geworden ist und in der ihre               produzieren. Ich musste erst mal alle Angebote ablehnen
 Mutter heute immer noch lebt, heißt Meštrovićeva. Hier                 – ich hatte ja nur meine Prototypen dabei, die ich selbst von
 sehen die meisten Häuser aus wie jenes, an dem Ana Kraš                Hand gebaut hatte.« Der Idee für »Bonbon« war ursprüng-
 später an diesem Tag den hauchdünnen Netzschleier ent­                 lich ein anderer Entwurf vorausgegangen: eine Lampe mit
 decken wird: hellbeige Klötze aus den Sechzigerjahren,                 einem nackten Schirmgestell, über das man anstelle eines
 Graffiti, Klimaanlagen an den Fassaden. An einem Spiel-                Bezugs Kleidung oder Tücher werfen kann – eine [   S . 2 9    ]
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Ana Kraš mit ihrer Mutter Mira in ihrem alten Kinderzimmer. Mira Kraš lebt heute allein in der Wohnung, mit der Ana Kraš viele
Erinnerungen verbindet
Viele Gebäude in Belgrad erinnern an die Zeit, in der Serbien zum sozialistischen Jugoslawien gehörte – Treppenhäuser ebenso
wie Fassaden. Unten rechts: Der Copyshop von Ana Kraš’ Eltern, den heute ihre Schwester führt
Ana Kraš achtet auf scheinbar Unpassendes oder Zufälliges – etwa eine rote Ziegelwand, die an ein Mosaik erinnert (oben rechts),
eine Marmorbank auf einem Gehweg (oben links) oder das Graffito einer Gang mit dem poetischen Namen Shadows
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Ana Kraš vor dem Haus in Belgrad, in dem sie aufgewachsen ist. Hier erlebte sie, wie Nato-Flugzeuge 1999 die Stadt bombardierten
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Auftragsarbeit für das vom Modehaus Margiela eingerich-              dingungen sind irre, sie beeinflussen dein Leben immens.
tete Hotel La Maison Champs Elysées in Paris. »Die hatten            Aber im Alltag hast du die gleichen Gefühle wie jemand,
meine Sachen auf meiner Web­site entdeckt und wollten,               der sich um nichts sorgen muss. Du wirst genauso wütend
dass ich diese Lampe für sie baue«, sagt Kraš. Nachdem das           oder freust dich über Dinge.« Sie erinnert sich, wie sie
Projekt abgeschlossen war, hatte sie noch ein Lampengestell          als Familie damals manchmal aufs Dach stiegen, um sich
übrig und kam auf die Idee, es mit farbigen Wollfäden zu             die Luftangriffe wie ein Fußballspiel anzuschauen. »Man
umwickeln. Die Garnrollen, die sie dafür verwendete, waren           konnte alles gut von da oben sehen, es war gar nicht weit
Restposten einer serbischen Strickmodefirma. »Meine ganze            weg, guck mal« – sie zeigt durch das Fenster auf ein Hoch-
Familie lachte mich aus«, sagt Kraš und muss selbst l­achen.         haus, das wenige Kilometer Luftlinie entfernt sein muss –,
»Sie meinten, das sei die schlimmste Idee überhaupt!« Aber           »als dieses Haus von einer Bombe getroffen wurde, sind
in Mailand kam »Bonbon« bestens an. Ana Kraš war plötz-              bei uns die Fensterscheiben zerbrochen. Es war Nacht, der
lich kein unbekannter Name mehr. Sie tat sich mit der                Himmel war rot, und ich dachte, die Bombe habe unser
­dänischen Marke Hay zusammen, um die Lampe zu pro-                  Haus getroffen. Ich lag im Bett und wartete darauf zu ver-
 duzieren. Nach und nach bekam sie immer mehr Anfragen               brennen.« Sie erzählt all das mit ruhiger Stimme, zwischen-
 für kleine Designprojekte, aber auch für Illustrations- und         durch lacht sie. »Stell dir mal vor, das würde in Amerika
 Fotoarbeiten, etwa von dem Wohnmagazin Apartamento.                 passieren. Die Leute würden vor Panik sterben, bevor sie
 Im Jahr 2011 flog sie nach Los Angeles, um eine Freundin            dazu kämen, sich die Bombardierung anzuschauen!«
 zu besuchen und den Musiker Devendra Banhart für Apar-              Nach dem Frühstück laufen wir durch die Straßen des
 tamento zu fotografieren. Die beiden wurden ein Paar. Ana           Viertels. Ana Kraš fotografiert eine Balkonbalustrade aus
 Kraš blieb in Los Angeles. 2013 zog sie nach New York, wo           Kieselbeton, hinter der eine Hand mit Zigarette hervor-
 sie heute wieder als Single lebt.                                   lugt, und ein Fenster mit moosgrünem Vorhang, vor dem
 Nach Belgrad zurückzukehren sei immer wie ein Realitäts-            rosafarbene Rosen blühen. Sie deutet auf einen Balkon, der
 Check, hier sei es so schön »o. g.«, sagt Kraš – eine Slang-        mit blauen Gitterstäben eingezäunt ist: »Hier war jeman-
 Abkürzung für »original gangster«, die sie oft verwendet.           dem nach einem blauen Gefängnis.« Ein Fensterrahmen
 Real, authentisch meint sie damit. »Ich vermisse Belgrad            trägt noch die Folie, mit der er geliefert wurde. »Das ist
 sehr. Hier geht es für mich um die Beziehungen zu Men-              typisch«, sagt Kraš. »Die Leute lassen die Folie dran, um zu
 schen. Darum, alltägliche Momente zu genießen.«                     zeigen, dass das Fenster neu ist.« An einer Hausfassade hat
 21 Jahre nach dem Ende des Jugoslawien-Kriegs spürt man             jedes Stockwerk eine andere Farbe. Das Bauen sei in Bel-
 in Belgrad noch immer, wie die Entwicklung der Stadt                grad nicht wirklich reguliert, erklärt sie. Ärmere Hausbe-
 durch die jahrelangen Konflikte massiv gebremst wurde.              wohner hätten ihren Teil der Fassade einfach ungestrichen
 Von den Folgen des Kriegs hat sich die Wirtschaft Serbiens          gelassen. Jetzt sieht es aus wie Patchwork. »Für mich ist
 nie ganz erholt. Die Arbeitslosigkeit lag im Jahr 2018 bei          Design, wozu Menschen sich aufgrund ihrer Bedürfnisse
 13 Prozent, der Durchschnittslohn bei 500 Euro. Zugleich            entscheiden«, sagt Kraš. »Design ist nicht Dekoration. De-
 hat die Stadt etwas charmant Altmodisches. In den Fußgän-           sign ist, etwas zum Funktionieren zu bringen. Design ist
 gerzonen gibt es Wägelchen, die Popcorn verkaufen, und              ein Denkprozess, das Lösen eines Problems.«
 Stände, an denen man rot-weiße Zuckerstangen bekommt.               Ana Kraš’ Vater, der vor einigen Jahren gestorben ist, war
 Ein Geschäft, an dessen Fassade ein riesiger Schlips hängt,         Ingenieur und hatte sich auf das Reparieren von Kopier-
 verkauft Fliegen und Krawatten, wechselt aber auch Geld.            geräten spezialisiert. 1981 beschloss er, mit seiner Frau ein
 Die erste Adresse der Stadt ist das Hotel Moskau – drinnen          eigenes Kopiergeschäft zu eröffnen. Nahe dem Copyshop
 sitzt man auf Brokatsofas und isst Sahnetorte im Zigaretten-        lag das Atelier des Grafikers Bata Knežević, mit dem sich
 dunst. In Serbien gelten nur lasche Nichtrauchergesetze.            ihre Eltern anfreundeten. Er wurde Ana Kraš’ Patenonkel
 Das Viertel vor ihrer Tür, um die Meštrovićeva herum, sei           – und er ist einer der Menschen, die sie besonders geprägt
 ein Ghetto, sagt Ana Kraš, ein Arbeiterviertel. Als sie hier        haben. Am Nachmittag nehmen wir ein Taxi, um ihn in
 als Kind von der Schule nach Hause kam, habe sie immer              seinem Haus in den Hügeln außerhalb Belgrads zu besu-
 ein bisschen Angst gehabt. Zu Kriegszeiten hätten ihre El-          chen. Knežević ist ein weißhaariger Mann Anfang 70, mit
 tern monatelang gespart, um ihr ein Paar Nike-­Turn­schu­he         freundlichem Bartgesicht und roter Brille. Sein Haus hat
 zum Geburtstag schenken zu können. Als sie einmal da-               er selbst entworfen. Es riecht nach gebratenem Fleisch und
 mit draußen herumlief, zwangen ältere Kinder sie, die Schu-         Zigarettenrauch und ist voller kurioser Dinge. Überall ste-
 he herzugeben. Sie musste auf Socken nach Hause laufen.             hen Pflanzen und Glaskaraffen herum, eine Vitrine ist mit
 Wie hat sie das Leben in diesem Viertel geprägt? »Ich weiß          Muscheln und Meeresschnecken gefüllt, von einem Holz-
 nicht, wie es gewesen wäre, unter normaleren Umständen              balken baumeln lange Ketten aus bunten Perlen, Mobiles
 aufzuwachsen«, sagt Kraš schulterzuckend. 1999, als Streit-         und eine pinkfarbene Trillerpfeife. »Die nehme ich mit,
 kräfte der Nato das Stadtzentrum Belgrads bombardierten,            wenn ich gegen die Regierung demonstrieren gehe«, erklärt
 war sie 14. »Aber selbst in dieser Zeit haben wir relativ           Knežević munter – er findet, die amtierende Partei sei zu
 normal gelebt. Das ist das Verrückte am Krieg. Die Be-              stark vom Westen beeinflusst. Seine Frau Svetlana, [   S . 3 7    ]
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Neu-Belgrad fasziniert Ana Kraš besonders, ein Bezirk, der zur Zeit des Sozialismus als modernes Wohngebiet mit Häusern im
brutalistischen Stil angelegt wurde
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Der Balkon und das Bad mit brauner Wanne in der Wohnung von Ana Kraš’ Mutter (oben links, unten rechts). Ein Imbiss in der
Nachbarschaft (links unten). Rechts oben: Kraš’ verstorbener Vater Miloš
Die Vergangenheit ist in Belgrad immer gegenwärtig – auch in Gestalt des Autos Yugo, das nicht mehr hergestellt wird. Oben rechts:
Der Genex-Turm. Unten rechts: Ana Kraš’ Schwester Izabel und ihr Sohn Lazar suchen nach alten Fotos
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Das Schlafzimmer von Ana Kraš’ Großmutter Mara, fotografiert 2015. Die Einrichtung mit den lila gemusterten Kissen und dem
karierten Bettgestell spiegele ihren eigenen Design-Stil wider, sagt Kraš
35

Die Terrasse des Strandhauses von Ana Kraš’ Vater Miloš in Montenegro, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte und
sie ihn oft besuchte
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Bata Knežević, Ana Kraš’ Patenonkel, ist Grafiker, die Besuche bei ihm haben sie als Kind geprägt. Seine neue Leidenschaft ist
die Malerei
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die als Kostümbildnerin arbeitet, und seine Tochter Hana,             Tomaten auf dem Bürgersteig liegen. An einem Wohnhaus
die ebenfalls Grafikerin ist, sitzen rauchend im Wohnzim­             sind einige Außenwände mit Ziegelsteinen in unterschied­
mer, es gibt Tee und eine Art Apfelstrudel. »Als ich klein            lichen Rottönen verkleidet. »Das hier ist für mich wie eine
war, war das hier das ungewöhnlichste Haus, das ich je ge­            Kunstausstellung!«, sagt Ana Kraš. Tatsächlich erinnern die
sehen hatte«, sagt Ana Kraš. »Es fühlte sich so offen und frei        Wände ein bisschen an verpixelte Rothko-Gemälde. Es ist
an, und es war voller interessanter Sachen. Bata und Svet­            interessant: Nach nur ein paar Stunden an ihrer Seite sieht
lana waren ständig damit beschäftigt, irgendwelche Dinge              man selbst plötzlich Dinge, die man vorher nie als aufre­
zu gestalten.« Im Atelier im Keller des Hauses zeigt uns Bata         gend oder gar ästhetisch wahrgenommen hätte.
Knežević Arbeitstische und Regale, die er selbst mit feinen           Ana Kraš hat aber nicht nur einen wachsamen Blick. Sie
Farbspritzern verziert hat, Siebdruckposter, die er für Thea­         arbeitet auch schnell und weiß genau, wonach sie sucht.
ter und Museen entwarf, und die Früchte seiner neuesten               Am späten Nachmittag, als die Sonne schon untergegan­
Leidenschaft, der Malerei: grellbunte Gemälde von Spie­               gen ist, entdeckt sie in einem dunklen Garten ein winziges
geleiern, Wassermelonen und Atompilzen. Dass man sich                 Stiefmütterchenbeet. Auf einem Spielplatz steigt sie auf ein
nicht auf eine Kunstform konzentrieren muss, sondern sehr             Klettergerüst, um das gegenüberliegende Hochhaus besser
gut alles durch­ein­an­der machen kann – das konnte Ana               fotografieren zu können. Nachdem das Bild im Kasten ist,
Kraš sich auch bei ihrem Patenonkel abschauen.                        nimmt sie die Rutsche nach unten. Einerseits ist sie von
Am Tag darauf unternehmen wir eine Spazierfahrt durch                 ­einem unbändigen Ehrgeiz getrieben, alles festzuhalten,
Neu-Belgrad, den Bezirk, der von der Altstadt durch die                was ihr ins Auge fällt. Gleichzeitig sieht sie nie aus, als
Save getrennt ist. Nach dem Vorbild der Stadtplanungen                 ­würde sie arbeiten. Ihre Produktivität hat etwas Spieleri­
des französischen Architekten Le Corbusier entstand dort                sches, Instinktives und dabei sehr Gelassenes an sich.
nach dem Zweiten Weltkrieg ein modernes Wohngebiet:                     Am Abend gehen wir in ein traditionelles serbisches Res­
Bauten im brutalistischen Stil, angelegt auf nummerierten               taurant namens Vuk, »wo alle Politiker essen«, sagt Kraš.
Blocks, dazwischen Spielplätze und Parks. Nach dem Zer­                 Sie ­bestellt Rakija, einen Obstschnaps, als Aperitif, danach
fall Jugoslawiens und der Privatisierung von Wohnungen                  Tomatensalat, gebackene Kartoffeln, Lammwürstchen. Mit
wurden viele Gebäude und Plätze aus Geldmangel ver­                     dem Fotografieren kann sie auch beim Dessert nicht auf­
nachlässigt. Trotzdem ist die Architektur von Neu-Belgrad               hören: Kastaniencreme mit Sahnehäubchen, in einem hell­
immer noch eindrucksvoll. Hier steht auch ein Wahrzei­                  blauen Eisbecher. Was steckt hinter ihrer Unermüdlichkeit?
chen der Stadt, der 115 Meter hohe Genex-Turm aus zwei                  »Meine Neugier«, sagt sie. »Ich kann kaum eine Straße run­
Hochhäusern, die wie zwei Vorderzähne mit Lücke in den                  tergehen, ohne Dinge zu sehen, die ich interessant finde. Und
Himmel ragen.                                                           ich versuche immer, Spaß an meiner Arbeit zu haben. Wenn
Ana Kraš möchte aber woandershin: zum SIV-Gebäude,                      man Spaß hat, zweifelt man nicht. Man zweifelt nur, wenn
einem flachen, sandfarbenen Komplex in H-Form, der                      man krampfhaft versucht, ein State­ment zu machen.«
1962 als Regierungsgebäude Jugoslawiens fertiggestellt                  Als wir zwei Monate später noch einmal telefonieren, ist
wurde (SIV, kurz für Savezno izvršno veće, Bundesexekutiv­              Ana Kraš allein in ihrem Loft in New York, das Coronavi­
rat, bezeichnete die Bundesregierung Jugoslawiens). Rings­              rus hat die Stadt fest im Griff. Kraš ist besorgt, die Isolation
um liegen gepflegte grüne Wiesen, vor dem Hauptein­                     stört sie aber nicht groß. Sie sei ohnehin eine Eigenbröt­
gang erstreckt sich ein gigantischer Vorplatz. Eine erhabene            lerin. »Ich bin für die Quarantäne gemacht«, sagt sie. »Ich
Stille umgibt den Bau. Kraš macht ein paar Fotos aus dem                habe mich noch nie gelangweilt.« Sie tanze jetzt viel in der
fahrenden Auto; als sie sich mit der Kamera in der Hand                 Wohnung, arbeite an einem neuen Bildband, boxe auf der
zu Fuß dem Gebäude nähert, wird sie von Wächtern ver­                   Terrasse und fahre Fahrrad.
trieben. Sie dreht sich achselzuckend um und macht statt­               Es ist dieses Freie und Unverkopfte, was Ana Kraš auch in
dessen ein Bild von einem nahe gelegenen Hochhaus mit                   ihrem Design, ihrer Fotografie, in allem, was sie gestaltet, so
Coca-Cola-Schriftzug auf dem Dach.                                      außergewöhnlich und aufrichtig macht. Und ihr Mangel an
Seit 2006 wird das SIV-Gebäude »Palast Serbiens« genannt,               Eitelkeit, den sie wohl ihrer Herkunft zu verdanken hat. Vie­
eine Bezeichnung, die Ana Kraš heute zum ersten Mal hört.               le Künstler und Designer nähmen ihre Arbeit unglaublich
Für viele Bauten der Stadt haben die Belgrader ihre eigenen             ernst, sagt sie. Sie wollten immer den weltbesten Entwurf
Spitznamen. Die riesigen grauen Wohnblocks mit terrassen­               machen. Ana Kraš aber, die ohne viele Möglichkeiten aufge­
artigen Stufen nennen sie »Treppen«. Ein anderes Gebäude                wachsen ist, die nicht aus einem Milieu kommt, in dem man
heißt im Volksmund »TV-Haus«, weil die Fenster an seiner                schon als Kind den Druck verspürt, besser sein zu müssen als
Fassade aussehen wie alte Fernsehgeräte. Ana Kraš hingegen              alle anderen, glaubt gar nicht, dass sie mit dem, was sie tut,
nennt es »Zug«, weil es so lang ist. Als Kind war sie fas­              die Welt verändern wird. »Wenn ich einen Tisch entwerfe,
ziniert von dem Zug-Haus. »Ich weiß noch, wie ich jeman­                dann mache ich das nicht, um etwas Unglaubliches und Iko­
den kennengelernt habe, der da drin wohnte – das war für                nisches zu erschaffen«, sagt sie. »So zu denken wäre für mich
mich, als würde ich einen Promi treffen!« Wir fahren durch              lähmend. Ich tue, was ich tue, weil es mich interessiert. Es
eine Straße, in der kugelrunde rote Poller wie übergroße                bedeutet nicht die Welt. Es steht für einen Moment.«

                                                                                               2.4.20  N0 15
Von der Skizze zum fertigen Produkt:
                                                    Für Hay hat Ana Kraš Objekte
                                                    aus aneinandergeknüpften Plastik-
                                                    perlen entworfen, darunter
                                                    Visitenkartenetuis und Handyhüllen

»FÜR MICH IST ENTWERFEN DENKARBEIT«
 Ana Kraš geht es beim Designen weniger um das Resultat als um den
 Weg dorthin. Dabei zeichnet sie selten und skizziert ihre Ideen größten-
 teils im Kopf. Hier erklärt sie den Prozess hinter einem neuen Projekt für
 die Möbelmarke Hay: Accessoires aus chinesischen Plastikperlen
Von den Vasenhüllen gibt es bislang
nur Zeichnungen (rechts), die Proto­
typen der Visitenkartenetuis sind fertig
(unten). Die Perlenmuster illustrierte
Ana Kraš am Computer (links)

Eigentlich wollte ich immer Architektin        Ich bin keine Designerin, die viel zeichnet.
werden. Leider kann man nicht auf eigene       Für mich ist Entwerfen vor allem Denk-
Faust ein Haus bauen – eine Bank oder ei-      arbeit. Was ich mir im Kopf vorstelle, ist
nen Tisch allerdings schon. Das Entwickeln     sehr nah an der Realität dran. Ich male mir
einer Idee, die Ausarbeitung des Entwurfs      keine Fantasieformen aus; ich denke eher
und dann die tatsächliche Herstellung, all     darüber nach, wie genau ich einen Gegen-
das empfinde ich als unglaublich befrie-       stand anfertigen würde.
digend. Ich habe bei der Arbeit wirklich       Bei diesem Projekt habe ich nur wenige
Schmetterlinge im Bauch. Es macht mir          Skizzen gemacht. Die Muster, nach denen
Spaß, Probleme zu lösen. Nicht im Sinne        die Perlen farblich angeordnet werden soll-
eines mathematischen Problems (obwohl          ten, habe ich dann mithilfe eines Illustrator-
ich Mathematik mag), sondern als eine          programms designt. Dabei habe ich mich
Denkaufgabe, die ich mir selbst stelle. Und    von bemalter Keramik inspirieren lassen,
dazu kommt dann das Sinnliche: Wie soll        die oft farblich abgesetzte Kanten hat. Per-
der Entwurf aussehen, wie fühlt er sich an,    len sind ein tolles Material: Weil sie sich wie
welches Material verwende ich? Das ist toll    ein Raster anordnen lassen, kann man sehr
am Möbeldesign: Es vereint das Künstleri-      einfach unterschiedliche Ornamente damit
sche und das Technische.                       entwickeln, etwa Karos oder Streifen.
Dieses Projekt ist eine neue Auftragsarbeit    Ich mag klassische Formen – ein Stuhl,
für die dänische Möbelmarke Hay. Mette         so wie ein Kind ihn zeichnen würde, hat
Hay, die Gründerin, war letztes Jahr bei       mich schon immer mehr interessiert als
mir in Chinatown zu Besuch. In einem La-       einer mit drei Beinen. Die Vasenhüllen
den entdeckte sie kleine Spielzeugfiguren,     in dieser Kollektion, von denen es im
hergestellt nach einer traditionellen chine-   Moment nur technische Zeichnungen
sischen Technik, bei der man Plastikperlen     gibt (siehe oben), sollten deshalb auch
aneinanderknüpft. So entstand die Idee,        wie der Archetyp einer Vase geformt sein,
etwas aus solchen Perlen zu machen, nur        nur eben aus einem ungewohnten, über-
eben kein Spielzeug, sondern große Körbe,      raschenden Material.
Obstschalen und Vasenhüllen (in die man        Der Arbeitsprozess bedeutet mir mehr als
ein Glasgefäß stellen kann), außerdem          das fertige Objekt. Das Ausarbeiten einer
Handytaschen zum Umhängen und Visi-            Idee ist es, was mir den Kick gibt. Wenn
tenkartenetuis. Von Letzteren wurden be-       ich etwas fertiggestellt habe, fühlt es sich
reits Prototypen produziert, die hier auch     nicht mal mehr an wie meins. Der Prozess
zu sehen sind.                                 aber ist meiner. Deshalb entwerfe ich.
ANA KRAŠ, 35, an ihrem Tisch in ihrem New Yorker Atelier, in dem sie auch wohnt

                                     40
WO DAS HERZ SCHLÄGT
Ana Kraš verbindet mit Tischen besondere Geschichten und Kindheits-
erinnerungen. Hier zeigt sie die liebsten Stücke aus ihrem Familien-
und Freundeskreis – und die Besitzer erzählen, was ihren Tisch so einzig-
artig macht

Die Wohnung in Belgrad, in der ich aufgewachsen bin, ist sehr               Gebrauch da waren. Nichts war nur repräsentativ, nichts muss-
klein – nur 42 Quadratmeter. Darin lebten wir damals als vier-              te geschont werden, keine Ecke war perfekt eingerichtet. Tische
köpfige Familie. Meine elf Jahre ältere Adoptivschwester musste             sind für mich sehr wichtig. Ich habe selbst mehrere entworfen;
mit mir ihr Zimmer teilen. Es gab damals keinen Raum, in dem                besonders mag ich runde. Dort sitzen sich alle gegenüber, und
Platz für ein Sofa oder so gewesen wäre. Also war die Wohnküche             man kann fast unbegrenzt Gäste daran unterbringen, es ist immer
das Zentrum des Lebens. In ihrer Mitte steht bis heute ein runder           noch für einen mehr Platz. Außerdem haben runde Formen eine
Tisch (er ist auf Seite 44 zu sehen). Da saß ich immer. Ich malte           besondere Energie. Ein großer Tisch ist das Herz einer Wohnung,
oder spielte mit Legosteinen. Malen und Lego, das sind zentrale             ein Ort der Gastlichkeit, den jeder ansteuert. Gastfreundschaft ist
Begriffe meiner Kindheit. Ich war besessen von Legosteinen. Die-            sehr wichtig in meiner Heimat. Serbien ist vom Lebensgefühl her
ses Geräusch, wenn man alle Legosteine aus einer Kiste auf dem              kein ost­euro­päi­sches, eher ein mediterranes Land, vergleichbar mit
Tisch ausschüttete, das ist mir sehr vertraut. Der Tisch ist einfach        Griechenland. Die Menschen sind sehr herzlich. Man ist ein­an­der
verarbeitet, er ist nicht einmal aus Massivholz gemacht, sondern            so verbunden, dass man innerhalb einer Familie nicht »Bitte« und
mit Furnier beschichtet. Ganz genau erinnere ich mich an die                »Danke« sagt. Das gilt sogar als Beleidigung: Wenn ich jemanden
Tischdecke, ein Wachstuch. Es war grün, mit einem weihnacht-                bitten muss, dann setze ich voraus, dass der andere mir so fremd
lichen Rentier-Norwegermuster, meine Eltern hatten es von einer             ist, dass es für ihn keine Selbstverständlichkeit ist, mir einen Gefal-
Reise mitgebracht. Der Anblick hat sich mir eingebrannt, jahre-             len zu tun. In New York hört man immerzu Freundlichkeits-For-
lang habe ich das Muster beim Essen betrachtet. An der Wohnung              meln, aber sie bedeuten nichts. Oft vermisse ich hier die Wärme,
meiner Eltern fand ich immer sympathisch, dass alle Möbel zum               die man an einem beliebigen serbischen Tisch spüren kann.

Fotos ANA KRAŠ                                                         41
PAUL VAN DER GRIENT, 32, arbeitet in einem Architekturstudio in New York an Bürgerprojekten

Der Esstisch meiner offenen Küche ist eine Notlösung. Die Einzel-        riss- und Trockenbauarbeiten noch nicht fertig. Da ich kein Kanto-
teile stammen aus Baumärkten in China­town und blieben bei der           nesisch kann und sie kein Englisch sprachen, kommunizierten wir
Renovierung der Wohnung übrig: Die Beine sind einfache Tisch-            per Google Translate und schrieben die Begriffe mit Bleistift an die
böcke, die Platte ist aus Sperrholz, als Decke verwende ich eine         Wand. Der Bauleiter war aber ein harter Kerl, der nicht so wirkte,
Abdeckplane aus Baumwolle. Eigentlich war der Tisch als Arbeits-         als hätte er die Geduld, um die Resultate meiner Zeichenkünste zu
fläche bei der Renovierung gedacht und zum Bauen von Möbeln.             entziffern. Als Geste des guten Willens brachte er uns allen Kaffee
Heute freue ich mich, wenn mich Freunde spontan besuchen und             und Teilchen von einer Bäckerei nebenan mit, die wir gemeinsam
wir gemeinsam an dem Tisch essen. Nach meinem Einzug waren               am Tisch verzehrten – in vereinender Stille. Das ist eine meiner
die Handwerker des Hausbesitzers noch nebenan, sie waren mit Ab-         liebsten Erinnerungen, die ich mit dem Tisch verbinde.

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MAIA RUTH LEE, 37, und PETER SUTHERLAND, 43, Künstler in New York

Unser Esstisch steht im offenen Wohnraum in der Nähe des Kü-               mal arbeiten wir auch mit dem Laptop an ihm. Der Tisch ist ein-
chenbereichs. Als wir hier einzogen, hatten wir noch keine Möbel           fach der Mittelpunkt unseres Familienlebens. Wir lieben es, Nima
und auch nicht genug Geld, um uns hochpreisig einrichten zu                am Tisch dabei zuzusehen, wie er größer wird. Zuerst saß er im
können. Um Geld zu sparen, erstanden wir viele Möbelstücke on-             Hochstuhl, dann bekam er eine Sitzerhöhung für unsere Stühle.
line, auch den Tisch. Sein Design ist sehr schlicht. Wir mögen es,         Wir haben viele wunderschöne Erinnerungen daran, wie wir hier
dass er nicht zu edel aussieht. Auf dem Tisch herrscht immer völ-          sitzen und ihn beobachten, während er als Baby um den Tisch
lige Unordnung: Überall sind Dinge unseres zweijährigen Sohnes             krabbelt, drum herumrennt, auf ihn oder auf einen Stuhl klettert.
Nima ausgebreitet. Er malt, er isst, er spielt und knetet hier. Wir        Er verursacht dann oft ein riesiges ­Chaos und verteilt sogar das
selbst nutzen den Tisch meistens nur, um daran zu essen. Manch-            Essen auf dem Boden.

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MIRA KRAŠ, 72, die Mutter von Ana Kraš

Ich habe diesen Tisch in Belgrad gekauft, er ist von dem serbi-         50 verschiedenen Stiften und einem Stapel Papier am Tisch sitzt
schen Möbelhersteller Simpo und passte perfekt in die Küche. Er         und zeichnet, mir eine Mil­lion Fragen stellt, während ich koche
war immer viel mehr als nur ein Esstisch für mich: der Mittel-          – daran denke ich gern. Auch heute liebe ich das ­Chaos auf dem
punkt unseres Familienlebens. Wenn jemand die Familie besuch-           Tisch, wenn Ana mich besuchen kommt. Da liegen dann ein oder
te, gingen wir direkt in die Küche. Der Tisch war ein Ort der           zwei ihrer Kameras, Papiere, Geld, ihr Laptop. Sie sitzt am Tisch
Begrüßung, wo wir immer wieder zusammenkamen. Er war wie                und arbeitet, ich koche, wir lachen, und schließlich schieben wir
ein Kreisverkehr in einer Hauptstadt, hier war immer Trubel, ich        das ­Chaos beiseite und essen. Der Tisch gleicht dann einem japa-
verbinde mit ihm viele Erinnerungen. Ana machte hier ihre Haus-         nischen Ikebana-Blumengesteck, bei dem zufällige Dinge immer
aufgaben, wir plauderten dabei. Ana als Kind, wie sie zwischen          kunstvoll arrangiert sind.

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CHRISTOPHER CURRENCE, 23, Filmemacher und Fotograf in New York

Mein Esstisch ist eigentlich ein Couchtisch und steht im Wohnzim-          und ein paar meiner Lieblingskunstbände von Liz Johnson Artur
mer. Mein Mitbewohner fand ihn auf der Straße, er passte perfekt           und Yussuf Hassan. Ich habe außerdem fast alle Bilder für meine
zu unserem TV-Regal. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die            letzte Einzelausstellung auf diesem Tisch gerahmt. Als ich die Mail
immer am Esszimmertisch zusammenkam. Das war der wichtigste                bekam, dass meine Abschlussfilmarbeit an der Brooklyn Academy
Ort für die Familie und die Freunde. Je älter ich wurde, desto mehr        of Music gezeigt werden würde, saß ich gerade mit meiner Familie
wurde das Essen für mich Nebensache. Ich nutze meinen Tisch heu-           an dem Tisch. Es war genau der richtige Zeitpunkt, alle umarmten
te eher, um am Laptop Bilder zu editieren, wenn ich gerade nicht           mich. Das bedeutete mir sehr viel. In den letzten Jahren hat mich
am Desktop arbeite. Deshalb liegen hier auch momentan mein                 der Tisch vielen Menschen nähergebracht. Ich bringe daran Per-
Laptop, meine Festplatte, meine Leica M6, mein neuestes Fotobuch           sonen zusammen, denen ich vertraue und die ich schätze.

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MILOŠ KRAŠ, Anas Vater, der 2016 mit 64 Jahren starb. Hier schreibt seine Tochter über ihn

Diesen Tisch in unserem Strandhaus in Montenegro hat mein Va-              Händen gefertigt hat. Ich finde ihn wunderschön. Mein Vater und
ter selbst geschreinert, er konnte handwerklich praktisch alles. Er        ich hatten einen ähnlichen Geschmack, was Design und Architektur
besaß das logische Denken eines Ingenieurs. Der Tisch ist zusam-           angeht. Auf dem Tisch steht auf diesem Foto ein Aschenbecher –
mengesetzt aus Holzresten unserer Terrasse und übrig gebliebenen           mein Vater war ein leidenschaftlicher Raucher. Entweder er rauchte,
Keramikfliesen des Hotels nebenan. Mein Vater setzte die Holzreste         oder er drehte sich gerade die nächste Zigarette. Wenn man an dem
zwischen die Fliesen und erzeugte so eine interessante Form, die           Tisch saß, hörte man das Meeresrauschen. Lebte mein Vater noch,
sehr an einen Spulentisch mit Details im japanischen Stil erinnert.        wir würden hier sitzen und reden, manchmal auch Karten spielen.
Ich wünschte, ich wüsste, was seine ursprüngliche Idee war. Es gibt        Er würde dort schreiben, zeichnen, denken, seine Katze streicheln.
weltweit keinen zweiten Tisch wie diesen, den mein Vater mit seinen        Er war so kreativ in allem, was er tat.

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