" DESIGN IST DAS LÖSEN EINES PROBLEMS" - N 0 15 2.4.2020 - Magazinos.com
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Inspiring design for your outdoor life. Hybrid, Sitzsystem Design von Antonio Citterio. www.bebitalia.com
2.4.20 N0 15 08 Martenstein Über Corona-Gefühle 12 Heiter bis glücklich Entdeckungen von Ana Kraš Wie sich unser Blick ändert: Bis vor Kur- sign-Ausgaben feiern: die Freude an Ideen, zem wäre die Frau auf unserem Cover, die unsere Welt schöner machen. Wobei 14 Wochenmarkt die ein Tuch als Mundschutz verwendet, für Ana Kraš selbst solche Kategorien keine Bescheiden-schlichte Tartes einfach eine Frau gewesen, die ein Tuch Rolle spielen. Ihr geht es um Emotionen, als Mundschutz verwendet. Heute ist der darum, das Beste aus ihrer Umgebung zu 16 Deutschlandkarte Titelfotos Daniel Arnold Mundschutz ein Symbol für unser aller machen – etwa ihre berühmte »Bonbon«- Wo sagt man »zu Hause«, Leben, in dem wenig so ist wie vor Corona. Lampe, die sie aus einem übrig gebliebenen wo »daheim«? Ana Kraš, die Frau mit dem Mundschutz, nackten Schirmgestell entworfen hat, wie Jahrgang 1984, kommt aus Belgrad und meine Kollegin C laire Beermann in ihrem 17 Gesellschaftskritik lebt heute in New York. Dort haben wir sie Porträt ab Seite 22 berichtet. Ana Kraš läuft Merkel in Quarantäne Mitte März fotografiert. New York: Auch mit offenen Augen durch die Welt und auf diese Stadt schauen wir nun mit einem kommt so auf ihre Ideen. Sie improvisiert, 18 Fotokolumne anderen Blick. probiert Neues aus, macht immer weiter. In Pittsburgh wird es endlich Und dennoch, nein, jetzt erst recht gilt es, Vielleicht ist ihre Arbeit genau deshalb jetzt wieder heller das zu feiern, was wir immer in unseren De- so inspirierend. Christoph Amend 22 Belgrad Ein Besuch in Ana Kraš’ Heimat 38 Entwürfe Wie Ana Kraš Accessoires für die Firma Hay designt FAST ÜBERHÖRT 40 Esstische Ana Kraš’ liebste Stücke und Nadine Redlich, 36, lebt und arbeitet als Cartoonistin in Düsseldorf. ihre Besitzer Hier zeichnet sie jede Woche kleine Szenen, die sie unterwegs beobachtet hat 50 Handtücher Eine fotografische Hommage 52 Ricardo Bofill Ein Gespräch mit dem berühm- Hätten Sie auch fast etwas überhört? Dann schreiben Sie uns an ueberhoert@zeit.de ten katalanischen Architekten 64 Ich habe einen Traum Die Autorin Jasmin Schreiber träumt von der Tiefsee 66 Stilkolumne Die Signalfarbe Orange 67 Unter Strom Ein Becher, der Kaffee warm hält 69 Frag doch den Therapeuten Soll sie mit ihm krank werden? 73 Prüfers Töchter Greta schaut TikTok 74 Ich brauche eine Rettung Birgit Wilms-Regen, Hotelbesit- zerin im Landkreis Heinsberg Diese Woche in der Tablet- und Smartphone-App »DIE ZEIT«: Eine Leseprobe aus Jasmin Schreibers Roman »Marianengraben«
SITZSYSTEM DANIELS - LOWBOARD-SYSTEM AMBER | DESIGN CHRISTOPHE DELCOURT SESSEL LAWSON | DESIGN RODOLFO DORDONI SIDEBOARD EASEL - COUCHTISCH WEDGE | DESIGN NENDO B E R L I N BY HERRENDORF, LIETZENBURGER STR. 99 - T. 030 755 4204 56 M Ü N C H E N BY EGETEMEIER WOHNKULTUR, OSKAR VON MILLER RING 1 - T. 089 55 27 32 510 AUCH BEI ANDEREN AUTORISIERTEN HÄNDLERN UND IN ANDEREN STÄDTEN. PLZ 0/1/2/3/4/5 HANDELSAGENTUR STOLLENWERK - T. 0221 2828259 - TIM.STOLLENWERK@WEB.DE PLZ 6/7/8/9 HANDELSAGENTUR GOESCHEN - T. 09131 4057047 - MAIL@AGENTURGOESCHEN.COM ENTDECKEN SIE MEHR BEI MINOTTI.COM/DANIELS
8 Harald Martenstein Über ambivalente Corona-Gefühle – und ein Vorschlag für eine neue Grußformel Es gibt immer mehr Corona-Songs, einer stammt von dem Enter- lichen Grüßen« wird häufig »mfG« abgekürzt. Ich hab’s jetzt ein tainer Michael Krebs und ist auf Facebook zu finden. Krebs schil- paarmal mit der Abkürzung »BSg!« versucht. Beim ersten Mal muss dert die ambivalenten Gefühle, die er im Moment hat, nicht als man’s erklären, danach greift der Kommunikationspartner die For- Einziger. Er genießt nämlich seine erzwungene Auszeit. »Corona«, mel »BSg!« oft auf. Unter sich Duzenden heißt es »Bg!«. Vielleicht singt Krebs, »du bringst uns um, und du bringst uns zum Chillen.« hält sich »Bleiben Sie gesund!« dauerhaft als Alternative zu den et- Oder: »Corona, Segen und Fluch / Leben sind bedroht / und ich was vernutzten »freundlichen Grüßen«. Und ich wäre für immer der les endlich mal ein Buch.« Allen Weicheiern aber, die über ihren Mann, der »BSg!« erfunden hat. Hausarrest jammern (ich nenn das jetzt einfach mal so), liest der Einer der großen Verlierer in dieser Krise ist das Wort »unmöglich«. britische Moderator Piers Morgan in einer Wutrede die Leviten: Ich kenne einen Kollegen, der seit Langem von zu Hause arbeiten »Geht nach Hause, seht fern, und wascht euch die Hände, wie wollte. Sein Chef sagte, dies sei unmöglich. Nun stellte sich blitz- schwer kann das sein?« schnell heraus, dass es ohne Weiteres möglich ist. Der Chef wollte Mauerfall, Nine Eleven, Corona, das alles hat keiner vorhersehen es bloß nicht. Wichtige Konferenzen finden auf einmal per Video können. Das Leben ist nichts für Kontrollfreaks. Du musst immer statt. Vielleicht bricht unser Gesundheitssystem zusammen, aber vor mit allem rechnen. Genieße den Tag! Wegen der abgesagten Termine einem Zusammenbruch des Konferenzwesens hat noch niemand habe ich endlich Zeit, um die Stapel auf meinem Schreibtisch durch- gewarnt. Es geht also. Ein Teil des Flug- und Autoverkehrs ist wirk- zusehen. Ich habe eine drei Jahre alte, vergessene Rechnung gefun- lich überflüssig, das wissen wir jetzt, die Klimaschützer werden es den, eine Mahnung ist nie gekommen, soll ich zahlen? Ich lese viel, sich merken. Man kann auch Grenzen dichtmachen, falls man will für das Kind ist trotzdem mehr Zeit da, wir machen Fahrradtouren, und es für nötig hält, unmöglich ist es nicht. Es ist auch möglich, in- die sind erlaubt. Jeden Abend wird gekocht, draußen herrscht Ruhe, nerhalb weniger Wochen ein Krankenhaus zu bauen. Es ist möglich, die Luft ist besser. Irgendwann wird es nerven, oder das Geld wird die Wirtschaft teilweise lahmzulegen und in kürzester Zeit riesige knapp, aber fürs Erste finde auch ich den Shutdown ganz angenehm. Milliardensummen auszuwerfen, möglich ist offenbar fast alles, falls Ich höre schon die Stimmen der Dummen, die rufen: »Er findet man nur will (das ewige Leben ausgenommen). Corona gut! Sperrt ihn doch endlich ein!« Aber meine treuen Freun- Alle, die in nächster Zukunft Worte wie »unmöglich« oder »alter- de, die Klugen, werden erwidern: »Er hat doch nichts über Corona nativlos« verwenden, stehen unter Rechtfertigungsdruck. Statt zu gesagt, sondern über den Hausarrest geredet. Er plädiert dafür, das erklären, etwas sei unmöglich, müssen sie erklären, warum sie das Beste draus zu machen, statt den Mond anzuheulen.« betreffende Etwas nicht wollen oder warum sie andere Prioritäten Mails, unter denen früher »mit freundlichen Grüßen« stand, werden setzen. Ob durch Corona womöglich die fast vergessene Kultur jetzt meistens mit »Bleiben Sie gesund!« unterzeichnet. »Mit freund- technik des Argumentierens zurückkehrt? Harald Martenstein Illustration Martin Fengel ist Redakteur des »Tagesspiegels« Zu hören unter www.zeit.de/audio
Rimadesio Schiebetürenanlage Velaria, Fachböden Eos. Design Giuseppe Bavuso rimadesio.com München +49 89 724 684 32 munich@rimadesio.com Wildenberg (PLZ 0,1,2,3,4,5,6) Hamburg +49 40 30399898 info@flagstone-hamburg.de + 49 221 292 899 88 Agentur G-Form (PLZ 7,8,9) +49 170 2425009
12 Die Entdeckungen Eine der besten Anschaffungen meines von Lebens war dieser »Mino«-Lautsprecher von Lexon – er ist so klein, dass er Ana Kraš in die Hosentasche passt. Ich höre damit gerne auf dem Fahrrad Musik Heiter Ein Statement fürs Schlafzimmer ist dieser silberfarbene Bettbezug von Magniberg. Das dazugehörige Kissen liegt auf meinem Daybed. Schlafen tue ich bis lieber unter der Leinenwäsche des Labels glücklich Ich benutze kein Parfüm, nur Körperöle. Die Marke Rassa Oils wurde von einer Meditationslehrerin gegründet, ich mag die Sorte »Vitality« mit Thymian und Zypresse Fotos Lexon; Magniberg;; Apartamento Studios; S’well; Beatrice Valenzuela; Katarina Šoškić; Rigoni di Asiago Ich trinke schon lange nicht mehr aus Plastikflaschen, sondern fülle Wasser in meine Flasche von S’well. Sie nimmt keine Gerüche auf und passt in die Halterung an meinem Fahrrad Die Schlappen von Beatrice Valenzuela Die Belgrader Designerin Jovana Markovic Gerade habe ich diese Kakao-Nuss-Creme sind nicht aus Gummi, sondern aus Leder. macht feine Lederkleidung mit von Rigoni di Asiago entdeckt. Manchmal Ein klassischer Sommerschuh – am Schlitzen. Diesen Mantel mit Knittereffekt löffle ich sie direkt aus dem Glas – ein besten kauft man ihn in mehreren Farben trage ich besonders gern köstlicher Genuss in der Corona-Isolation
Moroso Udine Milano London Amsterdam Köln Gent New York Seoul moroso.it @morosofficial Gog g an by Patricia Urquiola - 2019 The Beetle tapestr y by Tord Boontje - 2018 ad Designwork – photo Alessandro Paderni set coordinator Marco Viola
Wochenmarkt 14 EINE GUTE TARTE Einfache, kleine Spargeltartes Zutaten für sechs Tartes: 15 Stangen grüner Spargel, 250 g Blätterteig (tiefgekühlt oder aus dem Kühlregal), 1 Ei, 150 g Ziegenkäse (zum Beispiel Ziegencamembert oder Ziegenfrischkäse), 150 g Frischkäse Da nun alle zu Hause bleiben müssen, verlagert man die Selbst- Backofen auf 200 Grad heizen. In einem mittelgroßen Topf Wasser optimierungsstrategien nach drinnen. Wer hat schon seine ewige zum Kochen bringen. Die Enden des Spargels abschneiden, Stangen Kruschtel-Schublade aufgeräumt? Wer macht Online-Meditations- in drei etwa gleich große Stücke zerteilen. Spargel in den Topf kurse? Wer führt jetzt endlich mal richtig tolle Gespräche mit dem geben, zwei Minuten lang kochen lassen, dann herausnehmen. Partner? Nicht die Leute, die Kinder haben, jedenfalls, denn sie sind Blätterteig in sechs gleich große Quadrate schneiden, die man auf mit Bastelnsingenholzeisenbahn beschäftigt beziehungsweise mit ein mit Backpapier ausgelegtes Blech gibt. Mit einem Messer rings- Schulstoff, der ihnen selbst zu hoch ist und von dem sie aus eigener um einritzen, und zwar einen Zentimeter vom Rand entfernt. Die Erfahrung wissen, dass er im Leben eigentlich zu nichts nutze ist. Randstreifen mit verquirltem Ei bestreichen. Hier also nicht noch ein Happy-Quarantäne-Rezept wie: endlich Spargel auf einem Geschirrtuch abtropfen lassen. Ziegenkäse mit einer mal Sauerkraut selbst stampfen! Sondern so bescheiden-schlichte Gabel zerkrümeln oder zerdrücken (je nach Konsistenz), Frischkäse Spargeltartes, dass ich mich ein bisschen schäme. Und das Rezept unterziehen. Masse auf den Teigquadraten verteilen, je ein paar stammt nicht mal von mir selbst, sondern von dem britischen Spargelstücke darauflegen. Dann die Tartes etwa 25 Minuten lang Küchengott Nigel Slater, der sich niemals für seinen Appetit auf im Ofen goldbraun backen (eventuell früher rausnehmen, wenn einfache, schöne Dinge entschuldigen würde. sich die Ränder zu dunkel färben). Von Elisabeth Raether Foto Silvio Knezevic
SO FLEXIBEL. SO SAUGSTARK. SO SCHNELL. #LifeBeyondOrdinary miele.de/Triflex
Deutschlandkarte 16 ZU HAUSE ODER DAHEIM? Hamburg Bremen Berlin Hannover Leipzig Düsseldorf Dresden Köln Frankfurt Quelle Jürgen Eichhoff: Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, Band 1, Berlin / Boston, De Gruyter Saur 1977, Karte 29 Nürnberg Wo sagt man »zu Hause« Stuttgart und wo »daheim«? »zu Haus(e)« München »daheim« eher »zu Haus(e)«, auch »daheim« eher »daheim«, auch »zu Haus(e)« Vor einigen Tagen flog ein Kleinflugzeug über Hamburg, um das dem Jahr 1977, seither hat sich kein Forscher mehr an das Begriffs- derzeit epidemiologisch richtige Verhalten anzumahnen. Auf dem paar gewagt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Grenze noch Banner, das die Maschine hinter sich herzog, stand: »Stay at home!« etwa zweihundert Kilometer weiter nördlich. Ein Grund für das Ver- Also: »Bleiben Sie zu Hause!« Oder: »Bleiben Sie daheim!« Vielleicht schieben nach Süden könnten neue Schulbücher in Nordrhein-West- hatte sich der Pilot für das Englische entschieden, um sich nicht auf falen oder Hessen gewesen sein, deren Autoren sich für »zu Hause« einen der beiden Begriffe festlegen zu müssen. Die Deutschen haben entschieden. Der Begriff wandert seither weiter südwärts. Bei Insta das ja auch noch nicht geschafft: »Zu Hause« sagt man im Norden, gram wird #zuhause fast zehnmal häufiger verwendet als #daheim. »daheim« im Süden. Das Land ist bei diesem Sprachgebrauch in der Aber: Das bayerische #dahoam ist erfolgreicher als #daheim. Offen- Mitte geteilt. Oder besser: Es war es. Die Daten stammen nämlich aus bar wird das Wort vor allem in seiner Dialektform überleben. Von Matthias Stolz Illustration 1kilo
Gesellschaftskritik ÜBER MERKEL ZU HAUSE EIN MAGAZIN (NICHT) NUR FÜR MÄNNER! Die Kanzlerin ist in Quarantäne. Wie kann man sich ihren neuen Alltag vorstellen? Unsere Regierungschefin befindet sich philosophisch untersuchen könnte und in Quarantäne. Sie wurde vor unserem der in Merkels Realität aber vor allem Redaktionsschluss am 27. März zwar eins bedeutet: Hausarrest und ein net- negativ auf das Coronavirus getestet, ter d ude, mit dem sie anscheinend ver- verbleibt aber trotzdem prophylaktisch heiratet ist, der wohnt, wo sie wohnt, 14 Tage lang in ihrer Wohnung in Ber- der Joachim heißt und sogar einen ei- lin-Mitte. Man ahnt, die Lage muss genen Nachnamen hat, ein Mann, der ernst sein, Ausnahmezustand muss herr- die Kanzlerin liebt, und das schon so schen, um sich so etwas Befremdliches viel länger als zwei Wochen. Vielleicht wie Angela Merkel als Stubenhockerin hat Joachim sogar etwas vorbereitet, JETZT vorzustellen. Auch wenn wir natürlich ein »Welcome Home, A/Engel«-Poster AM KIOSK wissen, dass sie das Land jetzt per Tele- etwa oder einen mit Käse überbackenen fonschalte und Videokonferenz regiert, Auflauf oder irgendetwas anderes, was wollen wir uns einmal der Fantasie hin- ein Mensch so wollen kann, wenn alles geben: Was macht unsere Kanzlerin andere unsicher ist. eigentlich mit so viel Zeit zu Hause? Die zwei Wochen müssen ihr wie eine Däumchendrehen statt Merkelraute? Ewigkeit vorkommen. Plötzlich: Zeit, Merkel mag falsch- oder richtigliegen, Demut zu beweisen, gerade dann, wenn Entdecken Sie jetzt das neue sich nach links oder rechts lehnen, am auch eine Spitzenpolitikerin es nicht Männermagazin der ZEIT! Ende glaubt man allem eins: dass ihr schafft, sich bei Google Hangouts Starke Charaktere berichten jeglicher Egoismus völlig abgeht. Was, anzumelden, um mit Justin Trudeau ganz plötzlich, zu einer Frage führt: Was zu sprechen, und das eigene Gesicht von den Entscheidungen will sie eigentlich, außer ihr Volk zu be- plötzlich zu einem verzerrten, pixeligen ihres Lebens und der Suche schützen? Erlebt sie den Hausarrest wie Bildschirmfoto wird, auf dem man ir- nach dem persönlichen Glück. wir Normalsterblichen, hängt sie auf gendwie immer aussieht, als habe man der Couch vor Netflix ab? Klickt sie gerade etwas viel zu Heißes gegessen. sich durch die Instagram-Profile ande- Statt 24/7 aus dem Kanzleramt zu re- Hier direkt bestellen: www.zeitmagazin.de/mann Foto Ralf Mueller / dpa Picture-Alliance rer Regierungschefs? Skypt sie von der gieren, gilt für Merkel also nun: warten. Badewanne aus mit ihren beiden besten Online Nachrichten checken, statt die Freundinnen aus Schulzeiten? Nachricht zu sein. Zu spät aufstehen, 14 Tage sind lang, schon dann, wenn Langeweile, Candy Crush. Mittags kurz man nicht Kanzlerin ist und wenig zu Joachim anraunzen. Ihn dann doch tun hat, außer die Wettervorhersage und sehr lieben. Einschlafen. Warten. Auf- Jobmöglichkeiten online zu aktualisie- wachen. Anführen. Und dann, zwei ren. Man kehrt also heim. Heim, dieser Wochen später: Kanzlerin sein, genau antiquierte Begriff, den man bestimmt wie immer, vielleicht noch besser. Von Ronja von Rönne
PITTSBURGH 2 0 2 0 E in Fotograf, seine Stadt und die Wahl in den USA (14) Pittsburgh kann im Winter eine ziemlich graue Stadt sein. Wenn zwischen ängstlich und ruhig. Aber in diesen Tagen wird es wieder die Bäume kahl sind und die Tage kurz, ist es hier bedrückend. Im heller, und die Grün- und Gelbtöne der Landschaft werden sicht- Moment hat die Stadt komplett zugemacht, um sich gegen die Ver- bar. Ich bin dankbar dafür, es ist gut, daran erinnert zu werden, breitung des Coronavirus zu schützen. Meine Stimmung schwankt dass schwierige Zeiten vorübergehen. Jake Reinhart, 40, wuchs in Pittsburgh auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie, war Staatsanwalt und ist heute in der Verwaltung einer Bank tätig. Seit zehn Jahren fotografiert er seine Heimatstadt und ihre Umgebung
bongo bay Design Kati Meyer-Brühl bruehl.com WINNER - Innovative Interior ICONIC AWARDS 2020 NOMINEE - German Innovation Award ‘20
DIE DESIGNWELT VON ANA KRAŠ Design hat für die serbische Möbeldesignerin und Künstlerin Ana Kraš nichts mit eleganten Formen, auffälligen Farben oder schicken Objekten zu tun, die man sich ins Regal stellt. Design wird vom Leben gemacht: Kraš’ Entwürfe sind visuelle Erinnerungen an ihre Heimat und oft von ihrer Biografie inspiriert. Ihre Lieblingsfarben sind B eige und Braun – die Farben Belgrads. Ein Beistelltisch, den sie entworfen hat, erinnert an die Müllkörbe, die sie als Kind auf einer kroatischen Ferieninsel entdeckte. Abfallbehälter als Vorbild für Möbel: In der Formenwelt von Ana Kraš geht es nicht um hübsch und hässlich, sondern darum, wie sehr etwas für sie mit Emotionen aufgeladen ist. Das macht ihre Möbel aufregend und ungekünstelt. Und gibt jedem, der mit ihnen lebt, etwas Einzigartiges, das sich kaum gestalten lässt: Ein Gefühl von Zuhause Rechte Seite: Mit ihrer Lampe »Bonbon« wurde Ana Kraš berühmt (oben links). Der Tisch »Noodle« für Et al. ist von Müllkörben inspiriert (oben rechts). Den »Hug Chair« entwarf sie im Studium (unten links). Das gewebte Bild »Ricoh« ist eine Hommage an die Kopiergeräte im Copyshop ihrer Eltern (unten rechts) 20
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IHRE SICHT AUF DIE DINGE Ana Kraš lebt in New York, aber nichts inspiriert sie so sehr wie ihre Heimat Belgrad. Hier begann ihre Karriere, hier entdeckt sie Besonderes in Sa- chen, die nicht klassisch schön erscheinen – ein Talent, von dem wir jetzt alle etwas brauchen können. Unterwegs mit ihr in der Hauptstadt Serbiens
Die meisten Bilder auf diesen Seiten nahm Ana Kraš auf, während wir sie in Belgrad begleiteten, einige stammen aus ihrem Archiv. Linke Seite: Kraš im Jahr 2017 in der Küche ihrer Großmutter. Oben: Ein Netzstoff vor einem Fenster im Bezirk Braće Jerković
Von CLAIRE BEERMANN 24 Fotos ANA KRAŠ Ana Kraš steht vor einem heruntergekommenen Haus im platz zwischen den Wohnblocks hat jemand Wäsche auf Belgrader Stadtteil Braće Jerković. An einigen Fenstern sind einer zwischen zwei Bäumen gespannten Leine aufgehängt. die schmutzig weißen Jalousien heruntergelassen. Der Putz Nur wenige Wochen später wird die Corona-Krise auch bröckelt von den Balkonvorsprüngen. Das Haus ist un- hier die Leute in ihre Wohnungen verbannen, werden auch scheinbar, verwahrlost, ein Gebäude, für das sich niemand hier die Straßen ausgestorben sein, aber an diesem Tag Ende mehr interessiert. Aber Ana Kraš hat hier gerade etwas Januar herrscht in Braće Jerković noch geschäftiger Alltag. gesehen, das ihr gefällt: einen hauchdünnen Netzstoff, den Zwei Männer heben gerade eine Waschmaschine aus einem jemand vor ein Fenster gehängt hat und der im Licht der Auto. Eine ältere Frau mit Einkaufstüte in der Hand steigt Mittagssonne schwach schimmert. »Siehst du diesen Stoff die Treppe zu einem Haus hinauf. Es ist Mira Kraš, Anas da oben?«, fragt Kraš. »Der könnte auch in einem Show- Mutter. Sie hat gerade Börek fürs Frühstück gekauft. room von Margiela sein. Lustig! Und so zart. Das finde ich Oben in der Wohnung sitzt Ana Kraš, ein Bein angewin- wunderschön. Das ist für mich Belgrad.« kelt, am Küchentisch, ihre rosa Socken passen zur Lack- Ana Kraš, 1984 geboren, lebt eigentlich in New York. Dort farbe ihrer Fingernägel. Auf den ersten Blick wirkt sie mäd- gilt sie seit einigen Jahren als eine der aufregendsten jungen chenhaft, aber sie hat auch etwas Androgynes an sich, eine – ja, was eigentlich: Designerinnen? Fotografinnen? Künst- ungestüme, fast kindliche Art. In New York fährt sie ein lerinnen? Ana Kraš entwirft Stühle, Lampen und Tische, Männerrennrad und boxt, außerdem träumt sie von einem darunter eine Leuchte namens »Bonbon«, deren Schirm Schäferhund. Ihre Stimme ist laut, sie redet viel und legt mit bunten Fäden umwickelt ist, und ein Tisch, der auf einem dabei oft mit eindringlichem Blick die Hand auf dicken runden Säulen steht und »Slon« heißt, Serbisch für den Arm. Zwischendurch wechselt sie ins Serbische, um »Elefant«. Sie fotografiert Lookbooks für das New Yorker etwas zu ihrer Mutter zu sagen, sie klingt dann ein wenig Label Maryam Nassir Zadeh und gestaltet Laufstegkulissen polternd. »Du denkst wahrscheinlich, wir streiten uns«, für die Schauen des dänischen Modehauses Ganni. Ge- unterbricht sie sich zwischendurch selbst und grinst. »Aber legentlich modelt sie. Sie hat Badeanzüge entworfen und so klingt ein ganz normales, liebevolles Gespräch auf Ser- T-Shirts, die mit ihren Fotos bedruckt sind. Sie hat einen bisch.« Mira Kraš stellt Teller mit dem Gebäck und zwei viel beachteten Bildband herausgebracht und ist als Gast- Gläser mit einem Joghurtgetränk auf den Tisch. Das ist für sängerin mit dem Musiker Devendra Banhart aufgetreten. Ana Kraš Zuhause: mit Spinat und Käse gefüllter Filoteig, Ana Kraš macht von fast allem ein bisschen, sie wechselt die grün-beige gestreifte Tapete im Flur, der Blick in den mit Leichtigkeit zwischen den Handwerken, und wenn man Park vor dem Haus. Im Sommer kann man vom Balkon sich ihr Leben in New York anschaut, wo sie in einem Loft aus die Blätter an den Bäumen berühren. in Chinatown wohnt und arbeitet, mit Modedesignern Ana Kraš hat bis zu ihrem 27. Lebensjahr in Belgrad ge- und Architekten befreundet ist und von der New York lebt, nach der Schule studierte sie hier Möbeldesign an der Times und der Vogue als »It-Girl« und »star of the moment« Universität für angewandte Künste. Neben dem Studium bezeichnet wird, dann könnte man meinen, sie sei eine arbeitete sie als Model und entwarf Flyer für Nachtclubs Frau aus einer Welt, in der immer alle Türen offen standen, und Zeitungsanzeigen für Reisebüros. Eines Tages bekam durch die sie nur hindurchlaufen musste, um sich von allem sie mit, dass eine gemeinnützige Organisation plante, aus- das Beste auszusuchen. gewählten serbischen Jungdesignern die Teilnahme an Aber tatsächlich kommt Ana Kraš aus Belgrad. In dieser der für Nachwuchsdesigner reservierten Satellite-Ausstel- Stadt wuchs sie während des Jugoslawien-Kriegs in einer Zwei- lung des Salone del Mobile zu ermöglichen, der weltweit zimmerwohnung in Braće Jerković auf, ihre Eltern waren wichtigsten Möbelmesse, die einmal im Jahr in Mailand Besitzer eines kleinen Copyshops. Dort zeichnete sie als stattfindet. Interessierte sollten anonym ihre Projekte ein- Kind auf den Rückseiten alter Kopien und bastelte Colla- reichen. Ana Kraš’ Entwurf für einen Stuhl aus Sperrholz gen aus den Papierschnipseln, die aus der Schneidemaschine wurde ausgewählt. Im Jahr darauf, 2010, nahm sie wieder fielen. Es ist ungewöhnlich, dass jemandem aus einer Welt teil und reichte dieses Mal vier Projekte ein, darunter ihre mit so wenig Möglichkeiten der Aufstieg nach ganz oben ge- »Bonbon«-Lampe. Unter den sechs Projekten, die ausge- lingt, in die kreative High Society einer der einflussreichsten wählt wurden, waren alle vier von Ana Kraš. Dieses Mal Städte. Ana Kraš hat es geschafft – und dabei trotzdem nie reiste sie nach Mailand zur Ausstellung – und wurde dort vergessen, woher sie kommt. Wie hat Belgrad sie geprägt? mit Lob überhäuft, vor allem für den »Bonbon«-Entwurf. Was hat diese Stadt mit ihrem Erfolg zu tun? Um das zu ver- »Es war ein totaler Schock«, erinnert sie sich. »Die Leute wa- stehen, muss man mit Ana Kraš ihre alte Heimat besuchen. ren begeistert von dieser Lampe. Alle wollten sie kaufen oder Die Straße, in der sie groß geworden ist und in der ihre produzieren. Ich musste erst mal alle Angebote ablehnen Mutter heute immer noch lebt, heißt Meštrovićeva. Hier – ich hatte ja nur meine Prototypen dabei, die ich selbst von sehen die meisten Häuser aus wie jenes, an dem Ana Kraš Hand gebaut hatte.« Der Idee für »Bonbon« war ursprüng- später an diesem Tag den hauchdünnen Netzschleier ent lich ein anderer Entwurf vorausgegangen: eine Lampe mit decken wird: hellbeige Klötze aus den Sechzigerjahren, einem nackten Schirmgestell, über das man anstelle eines Graffiti, Klimaanlagen an den Fassaden. An einem Spiel- Bezugs Kleidung oder Tücher werfen kann – eine [ S . 2 9 ]
25 Ana Kraš mit ihrer Mutter Mira in ihrem alten Kinderzimmer. Mira Kraš lebt heute allein in der Wohnung, mit der Ana Kraš viele Erinnerungen verbindet
Viele Gebäude in Belgrad erinnern an die Zeit, in der Serbien zum sozialistischen Jugoslawien gehörte – Treppenhäuser ebenso wie Fassaden. Unten rechts: Der Copyshop von Ana Kraš’ Eltern, den heute ihre Schwester führt
Ana Kraš achtet auf scheinbar Unpassendes oder Zufälliges – etwa eine rote Ziegelwand, die an ein Mosaik erinnert (oben rechts), eine Marmorbank auf einem Gehweg (oben links) oder das Graffito einer Gang mit dem poetischen Namen Shadows
28 Ana Kraš vor dem Haus in Belgrad, in dem sie aufgewachsen ist. Hier erlebte sie, wie Nato-Flugzeuge 1999 die Stadt bombardierten
29 Auftragsarbeit für das vom Modehaus Margiela eingerich- dingungen sind irre, sie beeinflussen dein Leben immens. tete Hotel La Maison Champs Elysées in Paris. »Die hatten Aber im Alltag hast du die gleichen Gefühle wie jemand, meine Sachen auf meiner Website entdeckt und wollten, der sich um nichts sorgen muss. Du wirst genauso wütend dass ich diese Lampe für sie baue«, sagt Kraš. Nachdem das oder freust dich über Dinge.« Sie erinnert sich, wie sie Projekt abgeschlossen war, hatte sie noch ein Lampengestell als Familie damals manchmal aufs Dach stiegen, um sich übrig und kam auf die Idee, es mit farbigen Wollfäden zu die Luftangriffe wie ein Fußballspiel anzuschauen. »Man umwickeln. Die Garnrollen, die sie dafür verwendete, waren konnte alles gut von da oben sehen, es war gar nicht weit Restposten einer serbischen Strickmodefirma. »Meine ganze weg, guck mal« – sie zeigt durch das Fenster auf ein Hoch- Familie lachte mich aus«, sagt Kraš und muss selbst lachen. haus, das wenige Kilometer Luftlinie entfernt sein muss –, »Sie meinten, das sei die schlimmste Idee überhaupt!« Aber »als dieses Haus von einer Bombe getroffen wurde, sind in Mailand kam »Bonbon« bestens an. Ana Kraš war plötz- bei uns die Fensterscheiben zerbrochen. Es war Nacht, der lich kein unbekannter Name mehr. Sie tat sich mit der Himmel war rot, und ich dachte, die Bombe habe unser dänischen Marke Hay zusammen, um die Lampe zu pro- Haus getroffen. Ich lag im Bett und wartete darauf zu ver- duzieren. Nach und nach bekam sie immer mehr Anfragen brennen.« Sie erzählt all das mit ruhiger Stimme, zwischen- für kleine Designprojekte, aber auch für Illustrations- und durch lacht sie. »Stell dir mal vor, das würde in Amerika Fotoarbeiten, etwa von dem Wohnmagazin Apartamento. passieren. Die Leute würden vor Panik sterben, bevor sie Im Jahr 2011 flog sie nach Los Angeles, um eine Freundin dazu kämen, sich die Bombardierung anzuschauen!« zu besuchen und den Musiker Devendra Banhart für Apar- Nach dem Frühstück laufen wir durch die Straßen des tamento zu fotografieren. Die beiden wurden ein Paar. Ana Viertels. Ana Kraš fotografiert eine Balkonbalustrade aus Kraš blieb in Los Angeles. 2013 zog sie nach New York, wo Kieselbeton, hinter der eine Hand mit Zigarette hervor- sie heute wieder als Single lebt. lugt, und ein Fenster mit moosgrünem Vorhang, vor dem Nach Belgrad zurückzukehren sei immer wie ein Realitäts- rosafarbene Rosen blühen. Sie deutet auf einen Balkon, der Check, hier sei es so schön »o. g.«, sagt Kraš – eine Slang- mit blauen Gitterstäben eingezäunt ist: »Hier war jeman- Abkürzung für »original gangster«, die sie oft verwendet. dem nach einem blauen Gefängnis.« Ein Fensterrahmen Real, authentisch meint sie damit. »Ich vermisse Belgrad trägt noch die Folie, mit der er geliefert wurde. »Das ist sehr. Hier geht es für mich um die Beziehungen zu Men- typisch«, sagt Kraš. »Die Leute lassen die Folie dran, um zu schen. Darum, alltägliche Momente zu genießen.« zeigen, dass das Fenster neu ist.« An einer Hausfassade hat 21 Jahre nach dem Ende des Jugoslawien-Kriegs spürt man jedes Stockwerk eine andere Farbe. Das Bauen sei in Bel- in Belgrad noch immer, wie die Entwicklung der Stadt grad nicht wirklich reguliert, erklärt sie. Ärmere Hausbe- durch die jahrelangen Konflikte massiv gebremst wurde. wohner hätten ihren Teil der Fassade einfach ungestrichen Von den Folgen des Kriegs hat sich die Wirtschaft Serbiens gelassen. Jetzt sieht es aus wie Patchwork. »Für mich ist nie ganz erholt. Die Arbeitslosigkeit lag im Jahr 2018 bei Design, wozu Menschen sich aufgrund ihrer Bedürfnisse 13 Prozent, der Durchschnittslohn bei 500 Euro. Zugleich entscheiden«, sagt Kraš. »Design ist nicht Dekoration. De- hat die Stadt etwas charmant Altmodisches. In den Fußgän- sign ist, etwas zum Funktionieren zu bringen. Design ist gerzonen gibt es Wägelchen, die Popcorn verkaufen, und ein Denkprozess, das Lösen eines Problems.« Stände, an denen man rot-weiße Zuckerstangen bekommt. Ana Kraš’ Vater, der vor einigen Jahren gestorben ist, war Ein Geschäft, an dessen Fassade ein riesiger Schlips hängt, Ingenieur und hatte sich auf das Reparieren von Kopier- verkauft Fliegen und Krawatten, wechselt aber auch Geld. geräten spezialisiert. 1981 beschloss er, mit seiner Frau ein Die erste Adresse der Stadt ist das Hotel Moskau – drinnen eigenes Kopiergeschäft zu eröffnen. Nahe dem Copyshop sitzt man auf Brokatsofas und isst Sahnetorte im Zigaretten- lag das Atelier des Grafikers Bata Knežević, mit dem sich dunst. In Serbien gelten nur lasche Nichtrauchergesetze. ihre Eltern anfreundeten. Er wurde Ana Kraš’ Patenonkel Das Viertel vor ihrer Tür, um die Meštrovićeva herum, sei – und er ist einer der Menschen, die sie besonders geprägt ein Ghetto, sagt Ana Kraš, ein Arbeiterviertel. Als sie hier haben. Am Nachmittag nehmen wir ein Taxi, um ihn in als Kind von der Schule nach Hause kam, habe sie immer seinem Haus in den Hügeln außerhalb Belgrads zu besu- ein bisschen Angst gehabt. Zu Kriegszeiten hätten ihre El- chen. Knežević ist ein weißhaariger Mann Anfang 70, mit tern monatelang gespart, um ihr ein Paar Nike-Turnschuhe freundlichem Bartgesicht und roter Brille. Sein Haus hat zum Geburtstag schenken zu können. Als sie einmal da- er selbst entworfen. Es riecht nach gebratenem Fleisch und mit draußen herumlief, zwangen ältere Kinder sie, die Schu- Zigarettenrauch und ist voller kurioser Dinge. Überall ste- he herzugeben. Sie musste auf Socken nach Hause laufen. hen Pflanzen und Glaskaraffen herum, eine Vitrine ist mit Wie hat sie das Leben in diesem Viertel geprägt? »Ich weiß Muscheln und Meeresschnecken gefüllt, von einem Holz- nicht, wie es gewesen wäre, unter normaleren Umständen balken baumeln lange Ketten aus bunten Perlen, Mobiles aufzuwachsen«, sagt Kraš schulterzuckend. 1999, als Streit- und eine pinkfarbene Trillerpfeife. »Die nehme ich mit, kräfte der Nato das Stadtzentrum Belgrads bombardierten, wenn ich gegen die Regierung demonstrieren gehe«, erklärt war sie 14. »Aber selbst in dieser Zeit haben wir relativ Knežević munter – er findet, die amtierende Partei sei zu normal gelebt. Das ist das Verrückte am Krieg. Die Be- stark vom Westen beeinflusst. Seine Frau Svetlana, [ S . 3 7 ]
30 Neu-Belgrad fasziniert Ana Kraš besonders, ein Bezirk, der zur Zeit des Sozialismus als modernes Wohngebiet mit Häusern im brutalistischen Stil angelegt wurde
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Der Balkon und das Bad mit brauner Wanne in der Wohnung von Ana Kraš’ Mutter (oben links, unten rechts). Ein Imbiss in der Nachbarschaft (links unten). Rechts oben: Kraš’ verstorbener Vater Miloš
Die Vergangenheit ist in Belgrad immer gegenwärtig – auch in Gestalt des Autos Yugo, das nicht mehr hergestellt wird. Oben rechts: Der Genex-Turm. Unten rechts: Ana Kraš’ Schwester Izabel und ihr Sohn Lazar suchen nach alten Fotos
34 Das Schlafzimmer von Ana Kraš’ Großmutter Mara, fotografiert 2015. Die Einrichtung mit den lila gemusterten Kissen und dem karierten Bettgestell spiegele ihren eigenen Design-Stil wider, sagt Kraš
35 Die Terrasse des Strandhauses von Ana Kraš’ Vater Miloš in Montenegro, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte und sie ihn oft besuchte
36 Bata Knežević, Ana Kraš’ Patenonkel, ist Grafiker, die Besuche bei ihm haben sie als Kind geprägt. Seine neue Leidenschaft ist die Malerei
37 die als Kostümbildnerin arbeitet, und seine Tochter Hana, Tomaten auf dem Bürgersteig liegen. An einem Wohnhaus die ebenfalls Grafikerin ist, sitzen rauchend im Wohnzim sind einige Außenwände mit Ziegelsteinen in unterschied mer, es gibt Tee und eine Art Apfelstrudel. »Als ich klein lichen Rottönen verkleidet. »Das hier ist für mich wie eine war, war das hier das ungewöhnlichste Haus, das ich je ge Kunstausstellung!«, sagt Ana Kraš. Tatsächlich erinnern die sehen hatte«, sagt Ana Kraš. »Es fühlte sich so offen und frei Wände ein bisschen an verpixelte Rothko-Gemälde. Es ist an, und es war voller interessanter Sachen. Bata und Svet interessant: Nach nur ein paar Stunden an ihrer Seite sieht lana waren ständig damit beschäftigt, irgendwelche Dinge man selbst plötzlich Dinge, die man vorher nie als aufre zu gestalten.« Im Atelier im Keller des Hauses zeigt uns Bata gend oder gar ästhetisch wahrgenommen hätte. Knežević Arbeitstische und Regale, die er selbst mit feinen Ana Kraš hat aber nicht nur einen wachsamen Blick. Sie Farbspritzern verziert hat, Siebdruckposter, die er für Thea arbeitet auch schnell und weiß genau, wonach sie sucht. ter und Museen entwarf, und die Früchte seiner neuesten Am späten Nachmittag, als die Sonne schon untergegan Leidenschaft, der Malerei: grellbunte Gemälde von Spie gen ist, entdeckt sie in einem dunklen Garten ein winziges geleiern, Wassermelonen und Atompilzen. Dass man sich Stiefmütterchenbeet. Auf einem Spielplatz steigt sie auf ein nicht auf eine Kunstform konzentrieren muss, sondern sehr Klettergerüst, um das gegenüberliegende Hochhaus besser gut alles durcheinander machen kann – das konnte Ana fotografieren zu können. Nachdem das Bild im Kasten ist, Kraš sich auch bei ihrem Patenonkel abschauen. nimmt sie die Rutsche nach unten. Einerseits ist sie von Am Tag darauf unternehmen wir eine Spazierfahrt durch einem unbändigen Ehrgeiz getrieben, alles festzuhalten, Neu-Belgrad, den Bezirk, der von der Altstadt durch die was ihr ins Auge fällt. Gleichzeitig sieht sie nie aus, als Save getrennt ist. Nach dem Vorbild der Stadtplanungen würde sie arbeiten. Ihre Produktivität hat etwas Spieleri des französischen Architekten Le Corbusier entstand dort sches, Instinktives und dabei sehr Gelassenes an sich. nach dem Zweiten Weltkrieg ein modernes Wohngebiet: Am Abend gehen wir in ein traditionelles serbisches Res Bauten im brutalistischen Stil, angelegt auf nummerierten taurant namens Vuk, »wo alle Politiker essen«, sagt Kraš. Blocks, dazwischen Spielplätze und Parks. Nach dem Zer Sie bestellt Rakija, einen Obstschnaps, als Aperitif, danach fall Jugoslawiens und der Privatisierung von Wohnungen Tomatensalat, gebackene Kartoffeln, Lammwürstchen. Mit wurden viele Gebäude und Plätze aus Geldmangel ver dem Fotografieren kann sie auch beim Dessert nicht auf nachlässigt. Trotzdem ist die Architektur von Neu-Belgrad hören: Kastaniencreme mit Sahnehäubchen, in einem hell immer noch eindrucksvoll. Hier steht auch ein Wahrzei blauen Eisbecher. Was steckt hinter ihrer Unermüdlichkeit? chen der Stadt, der 115 Meter hohe Genex-Turm aus zwei »Meine Neugier«, sagt sie. »Ich kann kaum eine Straße run Hochhäusern, die wie zwei Vorderzähne mit Lücke in den tergehen, ohne Dinge zu sehen, die ich interessant finde. Und Himmel ragen. ich versuche immer, Spaß an meiner Arbeit zu haben. Wenn Ana Kraš möchte aber woandershin: zum SIV-Gebäude, man Spaß hat, zweifelt man nicht. Man zweifelt nur, wenn einem flachen, sandfarbenen Komplex in H-Form, der man krampfhaft versucht, ein Statement zu machen.« 1962 als Regierungsgebäude Jugoslawiens fertiggestellt Als wir zwei Monate später noch einmal telefonieren, ist wurde (SIV, kurz für Savezno izvršno veće, Bundesexekutiv Ana Kraš allein in ihrem Loft in New York, das Coronavi rat, bezeichnete die Bundesregierung Jugoslawiens). Rings rus hat die Stadt fest im Griff. Kraš ist besorgt, die Isolation um liegen gepflegte grüne Wiesen, vor dem Hauptein stört sie aber nicht groß. Sie sei ohnehin eine Eigenbröt gang erstreckt sich ein gigantischer Vorplatz. Eine erhabene lerin. »Ich bin für die Quarantäne gemacht«, sagt sie. »Ich Stille umgibt den Bau. Kraš macht ein paar Fotos aus dem habe mich noch nie gelangweilt.« Sie tanze jetzt viel in der fahrenden Auto; als sie sich mit der Kamera in der Hand Wohnung, arbeite an einem neuen Bildband, boxe auf der zu Fuß dem Gebäude nähert, wird sie von Wächtern ver Terrasse und fahre Fahrrad. trieben. Sie dreht sich achselzuckend um und macht statt Es ist dieses Freie und Unverkopfte, was Ana Kraš auch in dessen ein Bild von einem nahe gelegenen Hochhaus mit ihrem Design, ihrer Fotografie, in allem, was sie gestaltet, so Coca-Cola-Schriftzug auf dem Dach. außergewöhnlich und aufrichtig macht. Und ihr Mangel an Seit 2006 wird das SIV-Gebäude »Palast Serbiens« genannt, Eitelkeit, den sie wohl ihrer Herkunft zu verdanken hat. Vie eine Bezeichnung, die Ana Kraš heute zum ersten Mal hört. le Künstler und Designer nähmen ihre Arbeit unglaublich Für viele Bauten der Stadt haben die Belgrader ihre eigenen ernst, sagt sie. Sie wollten immer den weltbesten Entwurf Spitznamen. Die riesigen grauen Wohnblocks mit terrassen machen. Ana Kraš aber, die ohne viele Möglichkeiten aufge artigen Stufen nennen sie »Treppen«. Ein anderes Gebäude wachsen ist, die nicht aus einem Milieu kommt, in dem man heißt im Volksmund »TV-Haus«, weil die Fenster an seiner schon als Kind den Druck verspürt, besser sein zu müssen als Fassade aussehen wie alte Fernsehgeräte. Ana Kraš hingegen alle anderen, glaubt gar nicht, dass sie mit dem, was sie tut, nennt es »Zug«, weil es so lang ist. Als Kind war sie fas die Welt verändern wird. »Wenn ich einen Tisch entwerfe, ziniert von dem Zug-Haus. »Ich weiß noch, wie ich jeman dann mache ich das nicht, um etwas Unglaubliches und Iko den kennengelernt habe, der da drin wohnte – das war für nisches zu erschaffen«, sagt sie. »So zu denken wäre für mich mich, als würde ich einen Promi treffen!« Wir fahren durch lähmend. Ich tue, was ich tue, weil es mich interessiert. Es eine Straße, in der kugelrunde rote Poller wie übergroße bedeutet nicht die Welt. Es steht für einen Moment.« 2.4.20 N0 15
Von der Skizze zum fertigen Produkt: Für Hay hat Ana Kraš Objekte aus aneinandergeknüpften Plastik- perlen entworfen, darunter Visitenkartenetuis und Handyhüllen »FÜR MICH IST ENTWERFEN DENKARBEIT« Ana Kraš geht es beim Designen weniger um das Resultat als um den Weg dorthin. Dabei zeichnet sie selten und skizziert ihre Ideen größten- teils im Kopf. Hier erklärt sie den Prozess hinter einem neuen Projekt für die Möbelmarke Hay: Accessoires aus chinesischen Plastikperlen
Von den Vasenhüllen gibt es bislang nur Zeichnungen (rechts), die Proto typen der Visitenkartenetuis sind fertig (unten). Die Perlenmuster illustrierte Ana Kraš am Computer (links) Eigentlich wollte ich immer Architektin Ich bin keine Designerin, die viel zeichnet. werden. Leider kann man nicht auf eigene Für mich ist Entwerfen vor allem Denk- Faust ein Haus bauen – eine Bank oder ei- arbeit. Was ich mir im Kopf vorstelle, ist nen Tisch allerdings schon. Das Entwickeln sehr nah an der Realität dran. Ich male mir einer Idee, die Ausarbeitung des Entwurfs keine Fantasieformen aus; ich denke eher und dann die tatsächliche Herstellung, all darüber nach, wie genau ich einen Gegen- das empfinde ich als unglaublich befrie- stand anfertigen würde. digend. Ich habe bei der Arbeit wirklich Bei diesem Projekt habe ich nur wenige Schmetterlinge im Bauch. Es macht mir Skizzen gemacht. Die Muster, nach denen Spaß, Probleme zu lösen. Nicht im Sinne die Perlen farblich angeordnet werden soll- eines mathematischen Problems (obwohl ten, habe ich dann mithilfe eines Illustrator- ich Mathematik mag), sondern als eine programms designt. Dabei habe ich mich Denkaufgabe, die ich mir selbst stelle. Und von bemalter Keramik inspirieren lassen, dazu kommt dann das Sinnliche: Wie soll die oft farblich abgesetzte Kanten hat. Per- der Entwurf aussehen, wie fühlt er sich an, len sind ein tolles Material: Weil sie sich wie welches Material verwende ich? Das ist toll ein Raster anordnen lassen, kann man sehr am Möbeldesign: Es vereint das Künstleri- einfach unterschiedliche Ornamente damit sche und das Technische. entwickeln, etwa Karos oder Streifen. Dieses Projekt ist eine neue Auftragsarbeit Ich mag klassische Formen – ein Stuhl, für die dänische Möbelmarke Hay. Mette so wie ein Kind ihn zeichnen würde, hat Hay, die Gründerin, war letztes Jahr bei mich schon immer mehr interessiert als mir in Chinatown zu Besuch. In einem La- einer mit drei Beinen. Die Vasenhüllen den entdeckte sie kleine Spielzeugfiguren, in dieser Kollektion, von denen es im hergestellt nach einer traditionellen chine- Moment nur technische Zeichnungen sischen Technik, bei der man Plastikperlen gibt (siehe oben), sollten deshalb auch aneinanderknüpft. So entstand die Idee, wie der Archetyp einer Vase geformt sein, etwas aus solchen Perlen zu machen, nur nur eben aus einem ungewohnten, über- eben kein Spielzeug, sondern große Körbe, raschenden Material. Obstschalen und Vasenhüllen (in die man Der Arbeitsprozess bedeutet mir mehr als ein Glasgefäß stellen kann), außerdem das fertige Objekt. Das Ausarbeiten einer Handytaschen zum Umhängen und Visi- Idee ist es, was mir den Kick gibt. Wenn tenkartenetuis. Von Letzteren wurden be- ich etwas fertiggestellt habe, fühlt es sich reits Prototypen produziert, die hier auch nicht mal mehr an wie meins. Der Prozess zu sehen sind. aber ist meiner. Deshalb entwerfe ich.
ANA KRAŠ, 35, an ihrem Tisch in ihrem New Yorker Atelier, in dem sie auch wohnt 40
WO DAS HERZ SCHLÄGT Ana Kraš verbindet mit Tischen besondere Geschichten und Kindheits- erinnerungen. Hier zeigt sie die liebsten Stücke aus ihrem Familien- und Freundeskreis – und die Besitzer erzählen, was ihren Tisch so einzig- artig macht Die Wohnung in Belgrad, in der ich aufgewachsen bin, ist sehr Gebrauch da waren. Nichts war nur repräsentativ, nichts muss- klein – nur 42 Quadratmeter. Darin lebten wir damals als vier- te geschont werden, keine Ecke war perfekt eingerichtet. Tische köpfige Familie. Meine elf Jahre ältere Adoptivschwester musste sind für mich sehr wichtig. Ich habe selbst mehrere entworfen; mit mir ihr Zimmer teilen. Es gab damals keinen Raum, in dem besonders mag ich runde. Dort sitzen sich alle gegenüber, und Platz für ein Sofa oder so gewesen wäre. Also war die Wohnküche man kann fast unbegrenzt Gäste daran unterbringen, es ist immer das Zentrum des Lebens. In ihrer Mitte steht bis heute ein runder noch für einen mehr Platz. Außerdem haben runde Formen eine Tisch (er ist auf Seite 44 zu sehen). Da saß ich immer. Ich malte besondere Energie. Ein großer Tisch ist das Herz einer Wohnung, oder spielte mit Legosteinen. Malen und Lego, das sind zentrale ein Ort der Gastlichkeit, den jeder ansteuert. Gastfreundschaft ist Begriffe meiner Kindheit. Ich war besessen von Legosteinen. Die- sehr wichtig in meiner Heimat. Serbien ist vom Lebensgefühl her ses Geräusch, wenn man alle Legosteine aus einer Kiste auf dem kein osteuropäisches, eher ein mediterranes Land, vergleichbar mit Tisch ausschüttete, das ist mir sehr vertraut. Der Tisch ist einfach Griechenland. Die Menschen sind sehr herzlich. Man ist einander verarbeitet, er ist nicht einmal aus Massivholz gemacht, sondern so verbunden, dass man innerhalb einer Familie nicht »Bitte« und mit Furnier beschichtet. Ganz genau erinnere ich mich an die »Danke« sagt. Das gilt sogar als Beleidigung: Wenn ich jemanden Tischdecke, ein Wachstuch. Es war grün, mit einem weihnacht- bitten muss, dann setze ich voraus, dass der andere mir so fremd lichen Rentier-Norwegermuster, meine Eltern hatten es von einer ist, dass es für ihn keine Selbstverständlichkeit ist, mir einen Gefal- Reise mitgebracht. Der Anblick hat sich mir eingebrannt, jahre- len zu tun. In New York hört man immerzu Freundlichkeits-For- lang habe ich das Muster beim Essen betrachtet. An der Wohnung meln, aber sie bedeuten nichts. Oft vermisse ich hier die Wärme, meiner Eltern fand ich immer sympathisch, dass alle Möbel zum die man an einem beliebigen serbischen Tisch spüren kann. Fotos ANA KRAŠ 41
PAUL VAN DER GRIENT, 32, arbeitet in einem Architekturstudio in New York an Bürgerprojekten Der Esstisch meiner offenen Küche ist eine Notlösung. Die Einzel- riss- und Trockenbauarbeiten noch nicht fertig. Da ich kein Kanto- teile stammen aus Baumärkten in Chinatown und blieben bei der nesisch kann und sie kein Englisch sprachen, kommunizierten wir Renovierung der Wohnung übrig: Die Beine sind einfache Tisch- per Google Translate und schrieben die Begriffe mit Bleistift an die böcke, die Platte ist aus Sperrholz, als Decke verwende ich eine Wand. Der Bauleiter war aber ein harter Kerl, der nicht so wirkte, Abdeckplane aus Baumwolle. Eigentlich war der Tisch als Arbeits- als hätte er die Geduld, um die Resultate meiner Zeichenkünste zu fläche bei der Renovierung gedacht und zum Bauen von Möbeln. entziffern. Als Geste des guten Willens brachte er uns allen Kaffee Heute freue ich mich, wenn mich Freunde spontan besuchen und und Teilchen von einer Bäckerei nebenan mit, die wir gemeinsam wir gemeinsam an dem Tisch essen. Nach meinem Einzug waren am Tisch verzehrten – in vereinender Stille. Das ist eine meiner die Handwerker des Hausbesitzers noch nebenan, sie waren mit Ab- liebsten Erinnerungen, die ich mit dem Tisch verbinde. 42
MAIA RUTH LEE, 37, und PETER SUTHERLAND, 43, Künstler in New York Unser Esstisch steht im offenen Wohnraum in der Nähe des Kü- mal arbeiten wir auch mit dem Laptop an ihm. Der Tisch ist ein- chenbereichs. Als wir hier einzogen, hatten wir noch keine Möbel fach der Mittelpunkt unseres Familienlebens. Wir lieben es, Nima und auch nicht genug Geld, um uns hochpreisig einrichten zu am Tisch dabei zuzusehen, wie er größer wird. Zuerst saß er im können. Um Geld zu sparen, erstanden wir viele Möbelstücke on- Hochstuhl, dann bekam er eine Sitzerhöhung für unsere Stühle. line, auch den Tisch. Sein Design ist sehr schlicht. Wir mögen es, Wir haben viele wunderschöne Erinnerungen daran, wie wir hier dass er nicht zu edel aussieht. Auf dem Tisch herrscht immer völ- sitzen und ihn beobachten, während er als Baby um den Tisch lige Unordnung: Überall sind Dinge unseres zweijährigen Sohnes krabbelt, drum herumrennt, auf ihn oder auf einen Stuhl klettert. Nima ausgebreitet. Er malt, er isst, er spielt und knetet hier. Wir Er verursacht dann oft ein riesiges Chaos und verteilt sogar das selbst nutzen den Tisch meistens nur, um daran zu essen. Manch- Essen auf dem Boden. 43
MIRA KRAŠ, 72, die Mutter von Ana Kraš Ich habe diesen Tisch in Belgrad gekauft, er ist von dem serbi- 50 verschiedenen Stiften und einem Stapel Papier am Tisch sitzt schen Möbelhersteller Simpo und passte perfekt in die Küche. Er und zeichnet, mir eine Million Fragen stellt, während ich koche war immer viel mehr als nur ein Esstisch für mich: der Mittel- – daran denke ich gern. Auch heute liebe ich das Chaos auf dem punkt unseres Familienlebens. Wenn jemand die Familie besuch- Tisch, wenn Ana mich besuchen kommt. Da liegen dann ein oder te, gingen wir direkt in die Küche. Der Tisch war ein Ort der zwei ihrer Kameras, Papiere, Geld, ihr Laptop. Sie sitzt am Tisch Begrüßung, wo wir immer wieder zusammenkamen. Er war wie und arbeitet, ich koche, wir lachen, und schließlich schieben wir ein Kreisverkehr in einer Hauptstadt, hier war immer Trubel, ich das Chaos beiseite und essen. Der Tisch gleicht dann einem japa- verbinde mit ihm viele Erinnerungen. Ana machte hier ihre Haus- nischen Ikebana-Blumengesteck, bei dem zufällige Dinge immer aufgaben, wir plauderten dabei. Ana als Kind, wie sie zwischen kunstvoll arrangiert sind. 44
CHRISTOPHER CURRENCE, 23, Filmemacher und Fotograf in New York Mein Esstisch ist eigentlich ein Couchtisch und steht im Wohnzim- und ein paar meiner Lieblingskunstbände von Liz Johnson Artur mer. Mein Mitbewohner fand ihn auf der Straße, er passte perfekt und Yussuf Hassan. Ich habe außerdem fast alle Bilder für meine zu unserem TV-Regal. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die letzte Einzelausstellung auf diesem Tisch gerahmt. Als ich die Mail immer am Esszimmertisch zusammenkam. Das war der wichtigste bekam, dass meine Abschlussfilmarbeit an der Brooklyn Academy Ort für die Familie und die Freunde. Je älter ich wurde, desto mehr of Music gezeigt werden würde, saß ich gerade mit meiner Familie wurde das Essen für mich Nebensache. Ich nutze meinen Tisch heu- an dem Tisch. Es war genau der richtige Zeitpunkt, alle umarmten te eher, um am Laptop Bilder zu editieren, wenn ich gerade nicht mich. Das bedeutete mir sehr viel. In den letzten Jahren hat mich am Desktop arbeite. Deshalb liegen hier auch momentan mein der Tisch vielen Menschen nähergebracht. Ich bringe daran Per- Laptop, meine Festplatte, meine Leica M6, mein neuestes Fotobuch sonen zusammen, denen ich vertraue und die ich schätze. 45
MILOŠ KRAŠ, Anas Vater, der 2016 mit 64 Jahren starb. Hier schreibt seine Tochter über ihn Diesen Tisch in unserem Strandhaus in Montenegro hat mein Va- Händen gefertigt hat. Ich finde ihn wunderschön. Mein Vater und ter selbst geschreinert, er konnte handwerklich praktisch alles. Er ich hatten einen ähnlichen Geschmack, was Design und Architektur besaß das logische Denken eines Ingenieurs. Der Tisch ist zusam- angeht. Auf dem Tisch steht auf diesem Foto ein Aschenbecher – mengesetzt aus Holzresten unserer Terrasse und übrig gebliebenen mein Vater war ein leidenschaftlicher Raucher. Entweder er rauchte, Keramikfliesen des Hotels nebenan. Mein Vater setzte die Holzreste oder er drehte sich gerade die nächste Zigarette. Wenn man an dem zwischen die Fliesen und erzeugte so eine interessante Form, die Tisch saß, hörte man das Meeresrauschen. Lebte mein Vater noch, sehr an einen Spulentisch mit Details im japanischen Stil erinnert. wir würden hier sitzen und reden, manchmal auch Karten spielen. Ich wünschte, ich wüsste, was seine ursprüngliche Idee war. Es gibt Er würde dort schreiben, zeichnen, denken, seine Katze streicheln. weltweit keinen zweiten Tisch wie diesen, den mein Vater mit seinen Er war so kreativ in allem, was er tat. 46
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