Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa

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Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
Informationen zu Politik und Gesellschaft
Nachrichten, Berichte und Analysen aus dem Europäischen Parlament
Herausgegeben von Sabine Lösing, MEP 														                                                                      Nr. 7, März 2012

                                                         Jürgen Wagner
                                                                         Weltmacht EUropa
                                                                         Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein
                                                                         Militärisch-Industrieller Komplex für die
                                                                                                                     Die EU als Rüstungstreiber
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort                                                3       4.4 Weltraumrüstung mittels ziviler Haushaltsposten 28
                                                               4.5 Sicherheits- und Rüstungsforschung                  31
1. Einleitung                                          4
                                                               4.6 Militarisierung der Entwicklungs- und
2. Imperium Europa: Politische und                                 Katastrophenhilfe                                   33
  wirtschaftliche Interessen an der                            4.7 EAD: Institutionalisierte Militarisierung ziviler
  Militarisierung der Europäischen Union               7           Haushalte und Kapazitäten                           37
 2.1 Militärisch unterfütterter Weltmachtanspruch      7
                                                              5. Europas Militärisch-Industrieller Komplex 41
 2.2 Wirtschaftliche Expansionsagenda                  7
                                                               5.1 EU-MIK: Politische und industrielle Interessen      41
 2.3 Imperiale Geostrategie                            9
                                                               5.2 Eurochampions: Konzentrationsprozesse in der
 2.4 Rückkehr der Großmachtkonflikte                  11           EU-Rüstungsindustrie                                43
 2.5 Neoliberalismus, Armut und Krieg                 12       5.3 Defence Package: Ein EU-Rüstungsmarkt für den
 2.6 Lobby für Krieg und Profit                       14           EU-MIK                                        45
                                                               5.4 Europäisierung der Rüstungspolitik                  47
3. Brüsseler Rüstungsdruck                            16
                                                               5.5 „Rüstungsexporte sind überlebenswichtig!“           49
 3.1 EU-Militarisierung – eine Zwischenbilanz         16
                                                               5.6 Europäisierung der Militärpolitik - Die Krise als
 3.2 Rüstungsdruck durch Ständige Strukturierte
                                                                   Chance?                                             50
     Zusammenarbeit                                   18
 3.3 Eine Agentur für Aufrüstung                      20      6. EU-MIK: Risiken und Nebenwirkungen                    52
 3.4 Der Mythos sinkender Rüstungshaushalte           22

4. Offene und verdeckte Rüstungshaushalte
  und die Instrumentalisierung ziviler
  Außenpolitik                            26
 4.1 Das GASP-Budget und die Finanzierung „ziviler”            Titelbild: Eigene Grafik unter
     EU-Einsätze                                    26
                                                               Verwendung u.a. von Bildma-
 4.2 Athena:Verdeckte Kriegskasse                     26       terial des Europäischen Rates;
 4.3 Anschubfonds: Nukleus eines EU-Rüstungshaushalts?         Hubschrauberfoto © Matthias-
                                                   27          Kabel, CC Lizenz über Wikimedia

 Die EU als Rüstungstreiber: Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein
 Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht Europa
 Herausgeber der Broschüre sind Sabine Lösing, MdEP und die Fraktion
 GUE/NGL im Europäischen Parlament.
 Redaktionelle Berabeitung erfolgte durch:
 Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. ,
 Hechinger Str. 203
 72072 Tübingen
 www.imi-online.de
 Online-Ausgabe: März 2012 (Layout Elisa Rodé)

 Büro Brüssel:                             Bürgerbüro:                            Verbindungsbüro Deutscher Bundestag:
 Europäisches Parlament                    Abgeordnetenbüro Sabine Lösing         Europabüro Berlin
 Sabine Lösing                             Lange Geismarstraße 2                  Sabine Lösing, MdEP
 Rue Wiertz ASP 06F255                     37073 Göttingen                        Unter den Linden 50
 B-1047 Brüssel                            Tel.: 0551-50766823                    10178 Berlin
 Tel.: 0032-2-284 7894                     Fax: 0551-50766838                     Tel.: 030-227 71405
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 Mail: ota.jaksch@europarl.europa.eu       Mitarbeiter: Dr. Fritz Hellmer         Mail: sabine.loesing@europarl.europa.eu
 Mail: sabine.loesing@europarl.europa.eu                                          Mitarbeiter: Arne Brix
 Mitarbeiterin: Ota Jaksch         www.sabine-loesing.de
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
Vorwort
    Viele sehen in der Europäischen Union immer noch              Diese Entwicklung wird leider auch und gerade von
eine Zivilmacht, die mit Krieg und Rüstung wenig zu tun       fast allen meinen Kolleginnen und Kollegen im Europä-
hat. Eine „Zivilmacht Europa“ würde jedoch keinen rie-        ischen Parlament mit vorangetrieben. Symptomatisch für
sigen Militärapparat benötigen. Eine Weltmacht Europa,        die Haltung der großen Mehrheit der Abgeordneten ist
die bereit ist, ihre Interessen notfalls mit Gewalt durch-    etwa der „Bericht über die Auswirkungen der Finanzkrise
zusetzen, jedoch schon. Und tatsächlich ist es nahezu         auf den Verteidigungssektor in den EU-Mitgliedstaaten“,
unmöglich, die Augen vor der seit einigen Jahren stattfin-    der im November 2011 im Auswärtigen Ausschuss des Eu-
denden Militarisierung der Europäischen Union zu ver-         ropäischen Parlaments (AFET), dem auch ich angehöre,
schließen, sie ist eigentlich unübersehbar. Dennoch wird      vorgelegt wurde. Dort wird gewarnt, dass „Kürzungen der
immer wieder behauptet, die Europäische Union sei eine        Verteidigungshaushalte zu dem vollständigen Verlust be-
gute Sache, gerade für diejenigen, die im Militärbereich      stimmter militärischer Fähigkeiten in Europa führen könn-
sparen wollten. Mit wohlfeilen Phrasen wie „Effizienzstei-    ten.“ Um dies zu verhindern, fordert der Bericht künftig
gerung“, „Skaleneffekte“, „Einsparpotenziale“ wird dabei      auch Rüstungsforschung aus dem EU-Haushalt finanzie-
die Realität übertüncht. Während sich die Sozialausgaben      ren zu können und die Querfinanzierung von EU-Militär-
fast in jedem EU-Land im freien Fall befinden, bleiben die    einsätzen über den so genannten ATHENA-Mechanismus
Rüstungsetats nahezu ungeschoren: Die Mitgliedsstaaten        auszubauen. Ferner seien „Fortschritte bei der Konsoli-
gaben in diesem Bereich im Jahr 2010 nur unwesentlich         dierung der verteidigungstechnologischen und -industri-
weniger als in den Vorjahren aus: 288 Mrd. Dollar!            ellen Basis Europas notwendig.“ All das sind Vorschläge,
    Doch hierbei handelt es sich lediglich um die traurige    die dem Rüstungssektor mehr Geld zufließen lassen, aber
Spitze des Eisbergs. Selbst gut informierte und kritische     auch die Herausbildung eines Militärisch-Industriellen
Beobachter der EU-Außen- und Sicherheitspolitik dürf-         Komplexes vorantreiben.
ten durch das in dieser Studie umfassend ausgeleuchtete           Gleichzeitig wird so getan, als sei kein Geld vorhanden,
Ausmaß, mit dem die Europäische Union derzeit zahlrei-        um die Not und Armut unzähliger Menschen innerhalb,
che Militarisierungsprozesse vorantreibt, erschreckt sein.    aber vor allem auch außerhalb der Europäischen Union zu
Die hierfür verantwortliche allgegenwärtige Allianz aus       adressieren. Ein Bruchteil der weltweiten Rüstungsausga-
Politik und Industrie, die mir auch im Europäischen Par-      ben würde jedoch genügen, um die Millennium-Entwick-
lament unablässig begegnet, hat sich diesbezüglich leider     lungsziele zur Bekämpfung der Armut umsetzen zu kön-
als überaus effektiv erwiesen. Weit gehend unbemerkt ist      nen. Doch die große Allianz für Krieg und Profit päppelt
es dieser Militärlobby gelungen, einen enormen Rüstungs-      lieber einen gigantischen Militärapparat weiter auf, dessen
druck aufzubauen, immer mehr offizielle, aber vor allem       wesentliche Aufgabe gerade darin besteht, die existieren-
auch inoffizielle Rüstungshaushalte einzurichten und die      den Ausbeutungsstrukturen auf der Welt zu erhalten und
Herausbildung eines europäischen Militärisch-Industriel-      gewaltsam abzusichern. Dass dies alles derzeit auch noch
len Komplexes zu forcieren. Dies alles ist das Ergebnis aus   mit angeblichen Sparzwängen gerechtfertigt wird, die in
der Kombination zwischen den Weltmachtambitionen der          Wahrheit für den Militärbereich in dieser Form überhaupt
Europäischen Union bzw. ihrer Politiker und den Profitin-     nicht existieren, setzt dem allem die Krone auf. Die Alter-
teressen der Rüstungsindustrie. Sie ist dafür verantwort-     native dazu liegt auf der Hand: Denn wer wirklich sparen
lich, dass die Europäische Union zu einem regelrechten        will, rüstet ab!
Rüstungstreiber geworden ist.

                                                                                                                             3
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
1. Einleitung

         Im Zuge der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise,       hindarbenden Branche zu erwecken, die händeringend auf
    in der sich die EU-Länder derzeit befinden, werden quer       umfassende staatliche Unterstützung angewiesen sei. Ex-
    über den Kontinent die Haushalte teils radikal zusammen-      emplarisch hierfür ist etwa Domingo Ureña-Raso, Leiter
    gestrichen. Die große Mehrheit der europäischen1 Bevöl-       von Airbus Military und bis Oktober 2011 Chef des größ-
    kerung spricht sich in diesem Zusammenhang für drasti-        ten europäischen Branchenverbandes, der AeroSpace and
    sche Kürzungen bei den Rüstungshaushalten aus, anstatt        Defence Industries Association of Europe (ASD): „Sollte
    die Sozialausgaben immer weiter zu senken – in Deutsch-       sich die Lage in den nächsten Jahren nicht grundlegend
    land waren es bei einer Umfrage etwa überwältigende 82        verbessern, dann riskiert Europa, Schlüsselkapazitäten im
    Prozent.2 Auch in Frankreich und in anderen europäischen      Verteidigungsbereich zu verlieren. Bis Europa aufwacht,
    Ländern ist die Stimmung ähnlich3: „Werden die Men-           wird es zu spät sein. Einmal verloren oder signifikant
    schen vor die Wahl gestellt, einen Kompromiss zwischen        erodiert, können High-Tech-Kapazitäten nicht so einfach
    Leistungen wie Renten, Gesundheitsversorgung und So-          wieder hergestellt werden. Die Zeit zum Handeln ist nun
    zialhilfeausgaben einerseits und Verteidigungsausgaben        gekommen.“6 So wird bewusst und erfolgreich der Ein-
    andererseits zu finden, ist die Antwort eindeutig. In Euro-   druck erweckt, die Branche kämpfe um ihr Überleben.
    pa ‚zählen abstrakte Verweise auf die nationale Sicherheit    Überschriften wie „Rüstungskonzerne wie EADS gehen
    und Verteidigung wenig, wenn fundamentale Fragen der          schweren Zeiten entgegen“ oder „Budgetkürzungen zwin-
    sozialen Existenz auf dem Spiel stehen.‘“4 Dennoch sind       gen Rüstungsindustrie zum Sparen“ sind in den Massen-
    die EU-Rüstungsausgaben 2010 gegenüber dem Vorjahr            medien an der Tagesordnung.7
    nur minimal gesunken und auch für die kommenden Jahre             Bevor allerdings allzu großes Mitleid für die scheinbar
    ist leider mit gleichbleibend hohen Etats zu rechnen (vgl.    notleidende Rüstungsindustrie aufkommen sollte: Diese
    Kapitel 3.4).                                                 Kassandra-Rufe haben mit der Realität nichts zu tun. Eine
         Vor diesem Hintergrund ist es umso empörender, dass      im Mai 2011 veröffentlichte Untersuchung des Center for
    Politiker nahezu jedweder Couleur weiterhin erfolgreich       Strategic and International Studies (CSIS) kam etwa zu
    den Eindruck erwecken, europaweit befänden sich die           dem Ergebnis: „Die europäischen Sicherheits- und Vertei-
    Rüstungsausgaben im freien Fall. Symptomatisch für            digungsfirmen haben sich in den letzten Jahren sehr gut
    den kreativen Umgang mit der Realität ist etwa eine Ent-      gehalten, sowohl was die absoluten Zahlen anbelangt, als
    schließung der EU-Parlamentarier, in der es heißt: „Das       auch gegenüber ihresgleichen im kommerziellen Sektor.“8
    Europäische Parlament […] nimmt mit Sorge den zuneh-          Zwar seien die Gewinne in den 1990er Jahren eingebro-
    menden Trend der vergangenen Jahre zu Kürzungen in den        chen, in den letzten zehn Jahren sei das Geschäft mit
    Verteidigungshaushalten der meisten EU-Mitgliedstaaten        Kriegsgütern jedoch äußerst profitabel gewesen. Die Ge-
    infolge der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise und       winne der Branche wären von 63 Mrd. Euro im Jahr 2003
    die potenziellen negativen Auswirkungen zur Kenntnis,         um 49 Prozent auf 93 Mrd. Euro 2009 gestiegen. Das Fazit
    die diese Maßnahmen auf die militärischen Fähigkeiten         der Studie ist demzufolge eindeutig: „Die europäischen
    und damit auf die Fähigkeit der EU haben, ihrer Verant-       Sicherheits- und Verteidigungsunternehmen sind auf dem
    wortung bei Friedenserhaltung, Konfliktvermeidung und         globalen Markt konkurrenzfähig.“9 Dieser Trend zu immer
    Stärkung der internationalen Sicherheit […] wirksam zu        größeren Gewinnen setzte sich auch 2010 fort und hält bis
    entsprechen.“5 Vertreter der Rüstungsindustrie nehmen         heute an. Kurz und schlecht: Der Rüstungsindustrie geht
    solche Steilvorlagen natürlich gerne auf und versuchen        es prächtig.10 Die ganze Jammerei zielt demzufolge er-
    ihrerseits nach Kräften von sich das Bild einer vor sich      stinstanzlich nicht darauf ab, eine Branche vor dem Un-
                                                                  tergang zu retten. Vielmehr geht es darum, die üppigen
                                                                  Profitmargen auf hohem Niveau zu stabilisieren oder im
                                                                  Optimalfall gar auszubauen und die militärische Schlag-
                                                                  kraft der Europäischen Union zu vergrößern.
                                                                      Hierfür hat sich eine mächtige Allianz gebildet, die
                                                                  auf einem Militarisierungskonsens von Politik und
                                                                  (Rüstungs-)Industrie basiert. Mit dem Ende des Kalten
                                                                  Krieges entfielen zahlreiche Beschränkungen, die eu-
                                                                  ropäischen machtpolitischen Ambitionen bis dato enge
                                                                  Fesseln angelegt hatten. Fortan stand der Aufstieg der Eu-
                                                                  ropäischen Union zu einem Global Player ganz oben auf
                                                                  der politischen Agenda. Hinzu kam der zunehmende Ein-
                                                                  flussgewinn global operierender europäischer Konzerne,
                                                                  die auf die Erschließung neuer Absatz- und Investitionsge-
                                                                  legenheiten außerhalb Europas – und letztlich auch auf de-

4
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
ren militärische Absicherung - drängten. Vor diesem Hin-
tergrund verfolgt die Europäische Union mittlerweile eine
gezielte Strategie, die auf die militärisch unterfütterte Er-
weiterung der eigenen Macht- und Einflusssphäre abzielt.
Auf dieser Basis hat sich innerhalb der Eliten die Überzeu-
gung durchgesetzt, die Militarisierung der Europäischen
Union müsse weiter intensiviert werden. Es handelt sich
hierbei also um weit mehr als lediglich das Produkt effek-
tiver Einflussnahme rein rüstungsindustrieller Interessen,         Dwight D. Eisenhower: Warner vor dem Militärisch-
obwohl von dieser Seite her logischerweise deutlich am             Industriellen Komplex, Foto: Wikipedia
meisten Druck ausgeübt wird. Inzwischen wurde eine am-
bitionierte Militarisierungsagenda ausgearbeitet, für deren
Umsetzung sich ein zunehmend dichtmaschiges und ein-
flussreiches Lobbygeflecht stark macht (Kapitel 2).             Auswärtigen Dienstes (EAD) ist die Vermischung ziviler
    Diesem Lobbynetzwerk ist es mittlerweile gelungen,          und militärischer Kapazitäten und Gelder mittlerweile in-
aus der Europäischen Union einen regelrechten Rüstungs-         stitutionalisiert worden und hat einen Grad erreicht, dass
treiber zu machen und hierdurch die Militarisierung der         von einer zivilen, unabhängigen EU-Außenpolitik inzwi-
Europäischen Union massiv voranzutreiben. Hierfür wer-          schen keine Rede mehr sein kann (Kapitel 4).
den die Einzelstaaten von Brüssel unter anderem einem               Darüber hinaus sind sich Politik und Industrie darin ei-
enormen Aufrüstungsdruck ausgesetzt. Mit dem am 1.              nig, dass die Bündelung (Konsolidierung) des fragmentier-
Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon          ten EU-Militärbereiches oberste Priorität hat. Ob gewollt
(EUV) werden zahlreiche neue „Aufrüstungsanreize“ ge-           oder ungewollt, letztlich wird dies zwingend zur Heraus-
setzt, sodass nicht damit zu rechnen sein wird, dass die        bildung eines Europäischen Militärisch-Industriellen
Militärhaushalte der Einzelstaaten in absehbarer Zeit sub-      Komplexes (EU-MIK) führen. Denn die bereits angelau-
stanziell sinken werden. Ursprüngliche Ankündigungen            fenen Konzentrationsprozesse sollen über die Schaffung
in den Mitgliedsstaaten drastische Einschnitte vornehmen        eines einheitlichen europäischen Rüstungsmarktes, die
zu wollen, wurden mittlerweile teils oder vollkommen re-        Bündelung von Beschaffungsprojekten sowie die massive
vidiert. In einigen Staaten wird sogar mehr in den Mili-        Förderung von Rüstungsexporten weiter vorangetrieben
tärbereich investiert als vor Beginn der Wirtschafts- und       werden. Am Ende dieser Entwicklung soll staatlicherseits
Finanzkrise (Kapitel 3).                                        eine möglichst weit gehende Europäisierung der Militär-
    Allerdings sind sich Politik und Wirtschaft darüber         politik stehen, die für die Umsetzung ihrer imperialen Am-
im Klaren, dass unter den derzeitigen Bedingungen eine          bitionen von wenigen mächtigen Superkonzernen im Rü-
deutliche Erhöhung der Rüstungsausgaben wohl am Wi-             stungsbereich, so genannten „Eurochampions“, mit Mili-
derstand der Öffentlichkeit scheitern dürfte.11 Aus diesem      tärgütern versorgt wird. Die Politik verspricht sich hiervon
Grund werden Versuche intensiviert, Gelder aus Einnah-          erhebliche Effizienzsteigungen und damit einen insgesamt
mequellen jenseits der klassischen Verteidigungshaushal-        deutlich schlagkräftigeren Militärapparat, während der In-
te für militärische Belange mobilisieren zu können. Auch        dustrie an einer Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit –
hier weiß Brüssel zu helfen, denn augenscheinlich treffen       und damit ihrer Profite – gelegen ist. Allerdings stehen die
Rüstungsausgaben auf weniger Widerstand in der Bevöl-           Nationalstaaten im hochsensiblen Militärbereich einem
kerung, wenn sie im Rahmen der Europäischen Union ge-           Abtritt von Souveränitätsrechten an die suprastaatliche
tätigt werden, wie eine Studie des Strategic Studies Insti-     EU-Ebene extrem skeptisch gegenüber. Vor diesem Hin-
tute (SSI) der US-Armee ausführt: „Das EU-Label scheint         tergrund sehen Befürworter eines EU-MIK in der aktuel-
die Europäer in einer Weise dafür gewinnen zu können,           len Wirtschafts- und Finanzkrise eine Gelegenheit, diese
Geld zum Ausbau militärischer Kapazitäten auszugeben,           Vorbehalte unter dem Deckmantel angeblicher Sparzwän-
wie es die NATO nicht könnte.“12 Vor diesem Hintergrund         ge auszuhebeln (Kapitel 5).
werden derzeit auf EU-Ebene immer mehr offene und                   Tatsächlich wird mit diesem Militärapparat massiv
verdeckte Rüstungshaushalte eingerichtet, die sich zu-          Geld zum Fenster hinausgeworfen; und das in einer Zeit,
dem auch noch weit gehend der Kontrolle durch die je-           in der viele Menschen in der Europäischen Union von
weiligen nationalstaatlichen oder durch das Europäische         nackter Existenzangst betroffen sind. Ebenso wenig lassen
Parlament entziehen. Hinzu kommt eine immer offenere            sich die Ursachen heutiger Konflikte militärisch beseitigen
Zweckentfremdung von Geldern aus zivilen EU-Haus-               – im Gegenteil. Hierfür müsste stattdessen der ausbeute-
haltstöpfen – vom Agrarhaushalt über das Forschungs-            rischen europäischen Außenwirtschaftspolitik der Rücken
rahmenprogramm bis zur Entwicklungshilfe – für militär-         zugewendet, jegliche Form von Rüstungsexporten sofort
relevante Zwecke. Mit der Einrichtung des Europäischen          beendet und umfassend abgerüstet werden. Die hierdurch

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Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
freiwerdenden Gelder müssten als Reparationszahlungen         biete. […] Damit die Industrie diese Anforderungen erfül-
    in sinnvolle Maßnahmen zur Armutsbekämpfung umgelei-          len kann, bedarf es eines effektiven und effizienten Be-
    tet werden. So würde etwa ein kleiner Teil dessen, was die    schaffungsprozesses auf Seiten des Auftraggebers: Über
    NATO-Staaten jährlich für Rüstung ausgeben, genügen,          70 Prozent der Befragten sehen hier Verbesserungsbedarf.
    um die Millennium-Entwicklungsziele zur Reduzierung           Auch die wehrtechnische Industrie selbst muss sich auf
    der Armut in der Welt zu erreichen.                           neue Bedingungen einstellen. Sparzwänge der Streitkräf-
         Kurz gesagt: Die Etablierung einer gerechteren Welt-     te in Europa und wachsender internationaler Wettbewerb
    ordnung ist die einzige Alternative zur gegenwärtig           zwingen die nationale Rüstungsindustrie dazu, ihre Ge-
    stattfindenden Militarisierung. Weil die Eliten in Politik,   schäftsfelder auszuweiten und neue Märkte zu erschlie-
    Wirtschaft und Militär hierzu aber nicht bereit sind, wird    ßen. […] Trotz der massiven Herausforderungen bewerten
    auf den Ausbau der Fähigkeiten zum gewaltsamen Kri-           die Teilnehmer der Studie die Zukunftsaussichten ihrer
    senmanagement gesetzt. Die Tatsache, dass es gelingt, für     Unternehmen durchweg positiv: 73 Prozent der Befragten
    diesen Zweck weiter riesige Summen für die Rüstung zu         glauben an steigende Umsätze innerhalb der nächsten zehn
    mobilisieren, zeigt, wie stark die Lobby für Krieg und Pro-   Jahre. Gleichzeitig halten aber über 80 Prozent eine Kon-
    fit in der Europäischen Union schon geworden ist – und        solidierung der Rüstungsindustrie auf europäischer Ebene
    ihr Einfluss droht durch die mittlerweile in Gang gesetz-     für wahrscheinlich.“13
    ten Konzentrationsprozesse noch weiter zuzunehmen. Je             Fast genau 50 Jahre nachdem der damalige US-Präsi-
    mächtiger der sich herauskristallisierende Militärisch-       dent Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede im
    Industrielle Komplex jedoch wird, desto mehr droht eine       Januar 1961 vor den Folgen des sich herauskristallisie-
    Militarisierungsdynamik zu entstehen, die zur Folge           renden Militärisch-Industriellen Komplexes für die USA
    haben wird, dass zur „Lösung“ von Konflikten mehr und         warnte, sind seine Ausführungen deshalb heute aktueller
    mehr auf Gewalt gesetzt wird (vgl. Kapitel 6).                denn je – es ist eine bittere Ironie, dass dies nun auch und
         Ein ebenso anschauliches wie erschreckendes Beispiel     gerade für die Europäische Union zutrifft:
    für die stattfindende „Versicherheitlichung“ von Proble-          „In der Regierung müssen wir uns in unserem Denken
    men, deren Lösung auf ganz andere als auf militärische        vor dem Eindringen von unberechtigten Einflüssen des mi-
    Weise erfolgen müsste, liefert eine Umfrage unter Exper-      litärisch industriellen Komplexes hüten, seien sie gewollt
    ten der Rüstungsindustrie, deren wichtigste Ergebnisse die    oder auch nicht. Das Potential für die katastrophale Zunah-
    Unternehmensberatung Horváth & Partners im November           me fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin
    2011 in einer Pressemitteilung veröffentlichte: „Mehr als     bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht die-
    70 Prozent der für die Studie ‚Wehrtechnik im Wandel –        ser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokra-
    Herausforderungen für die Industrie‘ befragten 73 Exper-      tischen Prozesse gefährdet. […] Jede Kanone, die gebaut
    ten aus der Rüstungsindustrie glauben, dass die Zahl der      wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird,
    bewaffneten Auseinandersetzungen weltweit zunehmen            jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl
    wird. Dabei wird vor allem eine Bedeutungszunahme von         an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, an
    bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, Konflikten        denen, die frieren und keine Kleidung haben. Eine Welt
    um knappe Güter wie Nahrungsmittel, Wasser und Roh-           unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpul-
    stoffe sowie von Terrorismus erwartet. Ein weiterer Trend     vert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wis-
    besteht in der Verlagerung von Kämpfen in bewohnte Ge-        senschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“14

6
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
2. Imperium Europa: Politische und wirtschaftliche
Interessen an der Militarisierung der Europäischen
Union
    Immer offener und raubeiniger reklamiert die Europä-      Integration“ im Vordergrund stand. Diese „Strukturde-
ische Union für sich eine Führungsrolle unter den Welt-       terminanten“ hatten zur Folge, dass (militär-)strategische
mächten. Ein schlagkräftiges Militär nebst potenter rü-       Fragen auf EU-Ebene lange kaum eine Rolle spielten, sie
stungsindustrieller Basis wird hierfür als notwendige Be-     waren Sache der NATO – und damit vor allem der USA:
dingung erachtet: „Die Europäische Union will über bei-       „Unter den Bedingungen der US-Hegemonie und der Sy-
des verfügen, die militärischen Fähigkeiten, die mit einer    stemkonkurrenz konnte in den Nachkriegsjahrzehnten von
globalen Macht assoziiert werden, und die Kapazitäten,        einer eigenständigen europäischen Strategie keine Rede
diese innerhalb ihrer Grenzen herzustellen.“15 Die Gründe     sein. Dies galt insbesondere für die Außen- und Sicher-
hierfür liegen in einer veränderten machtpolitischen und      heitspolitik.“19 Mit dem Untergang der Sowjetunion, dem
wirtschaftlichen Interessenlage, die beide dazu geführt ha-   – schrittweisen – Machtverlust der Vereinigten Staaten so-
ben, dass die Europäische Union immer offensiver auf die      wie der offensiven Ausrichtung der deutschen Militärpoli-
Expansion ihrer Macht- und Einflusssphäre drängt.             tik veränderten sich alle bisherigen Rahmenbedingungen
    Dies führt zu zunehmenden Konflikten, sowohl mit an-      ab Anfang der 1990er Jahre grundlegend. Die Gelegenheit
deren Großmächten als auch mit Staaten der Peripherie,        für einen machtpolitischen Aufstieg zum Global Player
die aus Sicht der Eliten nur militärisch im eigenen Sinne     war günstig – und sie wurde zielstrebig genutzt.
„gelöst“ werden können. Der auf dieser Basis entstande-           Umfassende militärische Fähigkeiten werden in die-
nen Überzeugung, eine Militarisierung der Europäischen        sem Zusammenhang als notwendige Bedingung gesehen,
Union sei dringend erforderlich, verleiht ein zunehmend       um den angestrebten „globalen Einfluss“ geltend machen
einflussreicheres Lobbynetzwerk aus Politik und (Rü-          zu können. So schreibt der ehemalige Leiter der EU-Ver-
stungs-)Industrie Nachdruck: „Dass die graduelle Annähe-      teidigungsagentur (EVA, engl.: EDA), Nick Witney: „Der
rung der Interessen der europäischen Verteidigungsindu-       Wert der bewaffneten europäischen Streitkräfte besteht
strie und der Befürworter der Gemeinsamen Sicherheits-        nicht so sehr darin, speziellen ‚Gefahren‘ zu begegnen,
und Verteidigungspolitik das militärische Element in der      sondern weil sie ein notwendiges Instrument von Macht
EU-Politik gestärkt hat, ist unbestreitbar.“16                und Einfluss in einer sich schnell verändernden Welt dar-
                                                              stellen, in der Armeen immer noch wichtig sind.“20 Kurz
2.1 Militärisch unterfütterter Weltmachtanspruch              und schlecht: Eine Weltmacht Europa ist ohne einen
     Bis heute wird der Mythos, die Europäische Union sei     mächtigen Militärapparat nicht zu haben, den es deshalb
eine Art „Zivilmacht“, die der profanen Macht- und In-        aufzubauen gilt. So schreibt Carlo Massala von der Bun-
teressenspolitik vergangener Jahrhunderte abgeschworen        deswehr-Universität in München: „Der politische Wille
habe, in manchen Kreisen sorgsam gehegt und gepflegt:         nach einer globalen (Mit-)Führung kann nur dann geltend
„Die Gründungsphilosophie der EWG, aus der die EG und         gemacht werden, wenn er auch machtpolitisch unterfüttert
dann die EU wurden, richtete sich nach innen und entwic-      wird. Dies bedeutet: solange militärische Macht und die
kelte ein Gegenkonzept zu Geopolitik und zu geostrate-        Bereitschaft, sie einzusetzen, das Charakteristikum einer
gischen Dimensionen: Befriedung, Aussöhnung und po-           globalen Macht auch im 21. Jahrhundert darstellt, so lange
litische Kooperation durch wirtschaftliche Verflechtung       wird Europa kein Pol dieser sich herausbildenden Welt-
als Antithesen zur Geopolitik und zum Imperialismus.“17       ordnung sein. Es muss bereit sein, globale sicherheitspoli-
Diese „geostrategische Abstinenzphase“ ist mittlerweile       tische Verantwortung zu tragen.“21
zu Ende: „Kurz gesagt: seit den späten 1990ern hat sich
                                                              2.2 Wirtschaftliche Expansionsagenda
die Europäische Union von der ‚Zivilmacht‘ (oder ‚nor-
mativen Macht‘) mit ihrem Fokus auf die innere Entwick-           Neben den beschriebenen politischen Entwicklungen
lung wegbewegt und begann damit, eine globale Macht zu        sind Veränderungen in der Außenwirtschafts- und Handels-
werden.“18                                                    politik eine weitere wesentliche Triebfeder für die neuen
     Die lange beobachtbare relative Zurückhaltung der        europäischen Weltmachtambitionen: „Bei der Betrachtung
Europäischen Union war allerdings nicht einer Aversion        strategischer Leitideen, welche die EU-Politik bestimmen,
gegenüber harter Machtpolitik, sondern der spezifischen       lässt sich spätestens seit den 1990er Jahren ein Kurswech-
Konstellation des Kalten Krieges geschuldet. Gemeint ist      sel feststellen. Die aktuelle Ausrichtung beruht auf einer
hier die - zumindest so empfundene – existenzielle Bedro-     Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der herr-
hung durch die Sowjetunion, der die EU-Staaten allein we-     schenden Eliten seit den 1970er/80er Jahren. Bestimmend
nig entgegenzusetzen hatten. Dies machte die Vereinigten      sind seitdem die globalen Absatz- und Investitionsstrate-
Staaten zwangsläufig zur unbestrittenen Hegemonialmacht       gien europäischer transnationaler Konzerne (TNKs), die
im westlichen Bündnis. Ohnehin galt darüber hinaus der        in Folge von Fusions- und damit Konzentrationsprozessen
„deutschen Frage“, der Einbindung des deutschen Macht-        enorm an Bedeutung und Einfluss gewonnen hatten. Das
strebens, in den Anfangsjahrzehnten der Europäischen          eher nach innen gerichtete Ziel der Konsolidierung eines
Union die Hauptaufmerksamkeit, weshalb die „innere            gemeinsamen Wirtschaftsraums wurde dadurch verdrängt.

                                                                                                                            7
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
Mittlerweile bestimmt ein Elitenetzwerk bestehend aus             und „gleiche Bedingungen“ verbirgt, ist nackter Egois-
    Kommission (Bürokratie), globalisierten Unternehmen,              mus, denn Freihandel unter ungleichen Partnern nutzt
    einzelnen EU- und nationalen Politikern und Experten              immer dem ökonomisch Stärkeren: „Die Freihandelsför-
    die europäische Außenwirtschaftspolitik. Unterstützt wird         derung war historisch immer das Vorrecht der Mächtigen.
    ihr Projekt von der Presse durch die Rhetorik der „not-           Und die Förderung und Aufrechterhaltung der Ungleich-
    wendigen“ Weltmachtrolle, welche die EU einzunehmen               heit war immer eine Voraussetzung für das erfolgreiche
    habe. Die inhaltliche Ausrichtung nach dem beschriebenen          Funktionieren der auf Freihandel basierenden kapitali-
    Kurswechsel ist in wichtigen Strategiepapieren wie der            stischen Marktwirtschaft. […] Die Evozierung der Prin-
    ‚Lissabon-Strategie‘ (2000), ‚Global Europe‘ (2006) und           zipien der sportlichen Fairness und des unbehinderten
    ‚Europe 2020‘ (2010) nachzulesen.“22                              Wettbewerbs, ignoriert aber die schreiende Disparität der
         Die aggressive Erschließung neuer Märkte und Inve-           wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse im
    stitionsmöglichkeiten wurde so zu einem vorrangigen Ziel          globalen Handel.“24 Obgleich diese neoliberale Politik
    der EU-Politik – und das wesentliche Mittel hierfür war           eine massive Verarmung der Bevölkerungen im globalen
    die Predigt des neoliberalen Evangeliums von offenen              Süden zur Folge hat25, wird dieser Umstand zugunsten der
    Märkten, Freihandel und Wettbewerbsgleichheit. Exem-              eigenen Konzernprofite augenscheinlich billigend in Kauf
    plarisch hierfür ist ein im Oktober 2007 unter dem Namen          genommen. Mittlerweile hat die Europäische Union sogar
    „Das europäische Interesse – Erfolg im Zeitalter der Glo-         die Vereinigten Staaten als weltweit wichtigsten Liberali-
    balisierung“ vorgelegtes Kommissionspapier, in dem es             sierungstreiber überholt.26
    heißt: „Als weltgrößter Exporteur von Waren und Dienst-               Dabei wäre es naiv anzunehmen, dass die „erfolgrei-
    leistungen [...] profitiert die EU in erheblichem Maße von        che“ Durchsetzung dieser Wirtschaftsagenda letztlich
    einer offenen Weltwirtschaft. [...] Sie hat ein offenkundi-       nicht auch auf der Fähigkeit zur „effektiven“ Androhung
    ges Interesse daran, dass die Weltordnungspolitik Regeln          und Anwendung von Gewalt beruhen würde: „Kom-
    folgt, die ihre Interessen und Werte widerspiegeln. [...] Die     plementär zum internen Umbau zielt ‚Global Europe’
    EU muss das ihr zur Verfügung stehende Instrumentarium            vor allem auf die aggressive Durchsetzung der eigenen
    in vollem Umfang nutzen, wenn sie ihre Stellung in ei-            Wirtschaftsagenda gegenüber anderen Ländern, während
    ner globalisierten Welt stärken will. [...] Gleichzeitig ist es   ‚Europe 2020’ die Fortführung beider Strategien über die
    wichtig, dass die EU ihren Einfluss in internationalen Ver-       globale Wirtschaftskrise hinaus festlegt. Im Kern werden
    handlungen geltend macht, um auch von anderen Offen-              hierbei stets dieselben Maßnahmen propagiert: Die Schaf-
    heit einzufordern: Offenheit lässt sich politisch nur dann        fung günstiger Wettbewerbsbedingungen für europäische
    rechtfertigen, wenn sie auf Gegenseitigkeit basiert. Die          TNKs durch die Liberalisierung von Waren- und Dienst-
    EU muss dafür sorgen, dass ihre Exporteure und Investo-           leistungshandel durch die Gleichstellung ausländischer
    ren in Drittländern ein angemessenes Niveau an Offenheit          und inländischer Investitionen und den weltweiten Schutz
    sowie Grundregeln vorfinden, die unsere Fähigkeit nicht           von Unternehmen und geistigem Eigentum vor dem Zu-
    beeinträchtigen, unsere Interessen zu schützen.“23                griff der Staaten. Dementsprechend besteht natürlich auch
         Die gesamte EU-Außenwirtschafts- und Handelspoli-            ein Interesse seitens der EU-Konzerne, dass Rechtssicher-
    tik basiert also auf der Auffassung, ein Wettrennen zwi-          heit und Investitionsschutz nötigenfalls von der Europä-
    schen einem Ferrari und einem VW Käfer sei deshalb fair,          ischen Union auch militärisch gewährleistet werden – so
    weil sie auf derselben Straße fahren. Was sich allerdings         zieht der Expansionsdrang der Unternehmen auch den des
    hinter so egalitär anmutenden Phrasen wie „Offenheit“             Militärs nach sich. Die strategische Ausrichtung der EU
                                                                                                         zielt also auf eine Ver-
                                                                                                         tiefung der ökonomi-
                                                                                                         schen Globalisierung,
                                                                                                         was insbesondere den
                                                                                                         weiteren,      radikalen
                                                                                                         Umbau von Staaten des
                                                                                                         Südens durch Freihan-
                                                                                                         delsverhandlungen er-
                                                                                                         fordert.“27
                                                                                                             Wohl nicht zufällig
                                                                                                         begann deshalb der for-
                                                                                                         cierte Aufbau eines EU-
                                                                                                         Militärapparates kurz
                                                                                                         vor Veröffentlichung
                                                                                                         der Lissabon-Strategie.
                                                                                                         Mit ihr wurde im Jahr
                                                                                                         2000 das ehrgeizige
                                                                                                         Ziel ausgegeben, inner-
                                                                                                         halb von zehn Jahren
                                                                                                         zur     Weltwirtschafts-
                                                                                                         macht Nummer eins
                                                                                                         aufsteigen zu wollen
                                                                                                         – spätestens ab diesem

8
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
Zeitpunkt war die Zeit der Bescheidenheit vorüber. Ähn-            Doch weil der Beitritt weiterer Länder die Machtposi-
lich forsch klang auch die „Europäische Sicherheitsstrate-    tion der EU-Großmächte aus ihrer Sicht zu stark schwä-
gie“ vom Dezember 2003: „Als Zusammenschluss von 25           chen würde, stehen derzeit - abseits einiger kleinerer
Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Vier-      Länder - keine neuerlichen Beitritte ernsthaft zur Debat-
tel des Bruttosozialprodukts (BSP) weltweit erwirtschaf-      te.32 Neue Wege für die Expansion der EU-Einflusssphäre
ten, ist die Europäische Union, der zudem ein umfangrei-      mussten deshalb gesucht und gefunden werden: „Schon
ches Instrumentarium zur Verfügung steht, zwangsläufig        vor dem Vollzug der Osterweiterung 2004 setzten in der
ein globaler Akteur.“28                                       EU-Kommission Überlegungen ein, wie es danach weiter-
                                                              gehen sollte. Klar war aber auch, daß ein abruptes Ende
2.3 Imperiale Geostrategie                                    der Expansionsdynamik nicht im Interesse der EU sein
                                                              konnte.“33 Das Ergebnis dieser Überlegungen ist die Eu-
    Die Erweiterung der europäischen Macht- und Ein-
                                                              ropäische Nachbarschaftspolitik (ENP), deren Intention
flusssphäre wird innerhalb der Brüsseler Chefetagen als
                                                              über die Formel „Expansion ohne Erweiterung“ treffend
notwendige Bedingung für den anvisierten Aufstieg zur
                                                              beschrieben ist.
Globalmacht erachtet (und sie deckt sich zudem auch noch
mit den Expansionsinteressen der Wirtschaft): „Eine Rei-           Die Arbeiten an der ENP wurden bereits im November
he von Berichten der Europäischen Kommission und Ana-         2002 aufgenommen und die Ergebnisse von der EU-Kom-
lysen von EU-Wissenschaftlern argumentieren, dass eine        mission in Form des Papiers „Größeres Europa“ im März
fortgesetzte Erweiterung notwendig ist, will die EU öko-      2003 veröffentlicht. Das Dokument steckte erstmals den
nomisch und politisch in der Lage sein, mit anderen glo-      Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik ab, die
balen Akteuren zu konkurrieren“.29 Hierbei gilt es Schritt    ein Jahr später auch offiziell so benannt wurde und die sich
für Schritt vorzugehen: „Selbstverständlich muss die EU       gegenwärtig auf 16 Staaten erstreckt. Das Ziel sei es, um
sich als Macht in ihrer eigenen Region etablieren, wenn sie   die Europäische Union einen „Ring befreundeter Staaten“
eine globale Macht werden will.“30                            zu schaffen, ohne diesen aber eine Beitrittsperspektive zu
                                                              eröffnen: „Die durch Nähe und Nachbarschaft aufgewor-
    Diesem Ziel diente zunächst die „Expansion per Erwei-
                                                              fenen praktischen Fragen sind getrennt von der Frage der
terung“ durch die Aufnahme zehn neuer EU-Mitgliedslän-
                                                              Aussicht auf einen EU-Beitritt zu beantworten.“34 Den-
der in den Jahren 2004 und 2007. Bereits 1993 hatte der
                                                              noch – oder gerade deswegen – war die Einführung der
Europäische Rat hierfür die so genannten „Kopenhagener
                                                              ENP von der Signalwirkung her „revolutionär“: Mit ihr
Kriterien“ aufgestellt, die als Vorbedingung für eine EU-
                                                              untermauerte die Europäische Union ihr „Bestreben, ein
Mitgliedschaft einen neoliberalen Umbau des Wirtschafts-
                                                              Machtblock außerhalb ihrer Grenzen zu sein bzw. zu wer-
systems sowie die vollständige Übernahme des gesamten
                                                              den, ein Global Player.“35
Rechtsbestands der EU, des so genannten Acquis commu-
nautaire, verlangten. Hinsichtlich der Triebfedern der EU-         Vorrangiges Ziel der ENP ist die Schaffung einer
Osterweiterung schreibt der Wirtschaftshistoriker Hannes      „Großeuropäischen Wirtschaftszone“, indem die angren-
Hofbauer in seinem Standardwerk über diesen Prozess:          zenden Länder ganz ähnlich wie beim EU-Ostererweite-
„Die Triebkraft zur Erweiterung der Europäischen Union        rungsprozess mit zahlreichen Maßnahmen zum Abbau
in Richtung Osten geht
von der Produktivität der
großen anlagesuchenden
Unternehmen Westeuro-
pas aus. [...] Nicht Ent-
wicklungshilfe oder ka-
rikativer Gestus sind es,
auch nicht die Solidarität
einer christlichen Werte-
gemeinschaft, die Brüssel
veranlassen, die Grenzen
der Europäischen Union
auszudehnen,       sondern
eine Überproduktions-
krise in den westeuro-
päischen Zentren ist der
Grund. [...] Die Osterwei-
terung der Europäischen
Union dient vornehmlich
dazu, den stärksten Kräf-
ten im Westen - den so
genannten ‚Global Play-
ers‘ – neuen Marktraum
zu erschließen und mit
Hilfe des Regelwerks des
‚Acquis communautaire‘ Grand Area: Imperiales Raumkonzept, Quelle: James Rogers, A New Geography of European Power,
abzusichern.“31                Egmont Paper 42, Januar 2011, S. 25

                                                                                                                             9
Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
von Handelshemmnissen und zur Übernahme des Acquis              die folgendes „Anforderungsprofil“ erfüllen: „Aus einem
 communautaire „ermutigt“ werden.36 Der neoliberale Um-          geopolitischen Blickwinkel muss diese Zone fünf Kriteri-
 bau erfolgt in Form von Aktionsplänen, die von Brüssel          en genügen: Sie muss
 einseitig diktiert werden. Erst wenn die Europäische Uni-       1. über alle grundlegenden Ressourcen verfügen, die not-
 on zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Vorgaben zufrie-             wendig sind, um die europäische industrielle Produkti-
 denstellend implementiert wurden, erfolgt eine Belohnung            on und künftige industrielle Bedürfnisse zu decken;
 in Form einer engeren wirtschaftlichen Integration. Die
                                                                 2. alle wesentlichen Handelsrouten, insbesondere Ener-
 Mitspracherechte der Anrainerstaaten sind also - vorsich-
                                                                     gie-Pipelines und maritime Schifffahrtsrouten aus an-
 tig formuliert - begrenzt, weshalb zahlreiche Beobachter
                                                                     deren Regionen ins europäische Heimatland einschlie-
 kritisch auf den imperialen Charakter und das ausgepräg-
                                                                     ßen;
 te Zentrum-Peripherie-Gefälle der Nachbarschaftspoli-
 tik hingewiesen haben.37 Andere, wie etwa der ehemali-          3. so wenig wie möglich geopolitische Problemfälle ent-
 ge Kommentarchef der Welt am Sonntag, Alan Posener,                 halten, die zu einer Desintegration der Region führen
 kommen zwar zu demselben Ergebnis, sehen dies jedoch                und damit die künftige wirtschaftliche Entwicklung
 als eine „naturgegebene“ Folge der aus ihrer Sicht erfor-           Europas schädigen könnten;
 derlichen EU-Expansionspolitik: „Auf die Feinheiten der         4. die geringste Wahrscheinlichkeit einer relevanten
 Europäischen Nachbarschaftspolitik kommt es hier nicht              Beanspruchung durch andere mächtige ausländische
 an, sondern auf die Feststellung, dass Europa, von seinen           Akteure im Vergleich zu ihrer Bedeutung für die euro-
 eigenen Bürgern fast unbemerkt, bereits eine imperiale              päische Wirtschaft und ihre geopolitischen Interessen
 Politik des ‚Größeren Europa‘ betreibt; und dass es dabei           aufweisen;
 das typische Merkmal aller Imperien entwickelt, nämlich         5. eine Region sein, die die Europäische Union am ko-
 eine Asymmetrie und ein Spannungsverhältnis zwischen                steneffektivsten durch eine Ausweitung der Gemeinsa-
 Zentrum und Peripherie.“38                                          men Sicherheits- und Verteidigungspolitik verteidigen
     Doch geht es nach den Propagandisten einer Weltmacht            kann.“41
 Europa, ist mit der Kontrolle des Nachbarschaftsraums               Die „Grand Area“ soll Rogers zufolge mit einem eng
 beileibe noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht.         gestrickten Netz aus europäischen Militärbasen überzo-
 So plädiert etwa Mark Leonard, Chef des einflussreichen         gen und so unter Kontrolle gebracht werden: „Das Kon-
 European Council on Foreign Relations, perspektivisch           zept der ‚Grand Area‘ würde versuchen, diese Länder in
 für die Etablierung eines deutlich größeren imperialen          ein dauerhaftes EU-geführtes System zu integrieren, das
 Großraums, den er als „Eurosphere“ bezeichnet: „Die Eu-         durch Militärbasen, bessere Kommunikationslinien und
 ropäische Union beginnt damit, eine enorme Einflusssphä-        engere Partnerschaften abgesichert wird – eine europä-
 re zu entwickeln, die sich weit über ihre Grenzen hinaus        ische Vorwärtspräsenz, um die Notwendigkeit sporadi-
 erstreckt und die ‚ Eurosphere ‘ genannt werden könnte.         scher Interventionen zu reduzieren.“42 Mit diesem Mili-
 Dieser Ring aus achtzig Staaten umfasst die ehemalige           tärbasennetz soll vor allem folgenden Zielen Nachdruck
 Sowjetunion, den westlichen Balkan, den Mittleren Osten,        verliehen werden: „Erstens, ausländische Mächte davon
 Nordafrika und Sub-Sahara Afrika und beinhaltet 20 Pro-         abzuhalten, sich in Länder in der größeren europäischen
 zent der Weltbevölkerung.“39                                    Nachbarschaft einzumischen; und zweitens Halsstarrigkeit
     Am bündigsten wurden diese imperialen Expansions-           und Fehlverhalten auf Seiten der lokalen Machthaber vor-
 pläne von dem Briten James Rogers, der u.a. beim Institu-       zubeugen.“43 Konkret wird daraufhin die Errichtung einer
 te for Security Studies der Europäischen Union publizierte      ganzen Reihe neuer Basen vorgeschlagen: „Neue europä-
 und auch als Berater des Europäischen Rates tätig war, in       ische Militäranlagen könnten im Kaukasus und Zentrala-
 ein einheitliches geostrategisches EU-Raumkonzept ge-           sien, der arktischen Region und entlang der Küstenlinie
 gossen. Der Chef der Group on Grand Strategy (GoGS),            des indischen Ozeans benötigt werden. Das Ziel dieser
 in deren Beirat sich Mitglieder zahlreicher einflussreicher     Einrichtungen wäre es, […] eine latente aber permanente
 EU-Denkfabriken tummeln, macht keinen Hehl daraus,              Macht innerhalb der ‚Grand Area‘ auszuüben.“44
 worin er die Hauptaufgabe einer Geostrategie sieht – in             Das imperiale Konzept von James Rogers entstand
 militärgestützter Machtakkumulation: „Das ultimative            selbstredend nicht im luftleeren Raum. Direkt rekurriert
 Ziel einer Geostrategie ist es, Geografie und Politik mitein-   er etwa auf die Arbeiten von Robert Cooper45, dem frü-
 ander zu verknüpfen, um die Macht und die Einflusssphä-         heren Büroleiter des langjährigen EU-Außenbeauftragten
 re des heimischen Territoriums zu maximieren. […] Ein           Javier Solana. Cooper gilt als einer der einflussreichsten
 solches Konzept muss von einem subtilen, aber hervorra-         EU-Strategen46 und tritt gleichzeitig schon lange mit der
 gend aufgestellten Militär unterstützt werden, das darauf       Forderung an die Öffentlichkeit, die Europäische Union
 abzielt, das Auftauchen möglicher Rivalen zu vereiteln.“40      müsse sich einer Strategie zuwenden, die er als „liberaler
     Anschließend steckt James Rogers einen „Grand Area“         Imperialismus“ bezeichnet: „Der postmoderne Imperialis-
 genannten europäischen Großraum ab, den es gelte, unter         mus hat zwei Komponenten. Die erste ist der freiwillige
 Kontrolle zu bringen und legt damit nicht weniger als die       Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normaler-
 Kartografie eines „Imperium Europa“ vor. Es umfasst gro-        weise von einem internationalen Konsortium durch inter-
 ße Teile Afrikas, die ölreiche kaspische und zentralasiati-     nationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank aus-
 sche Region und den Mittleren Osten, reicht aber auch bis       geübt […] Die zweite Dimension des postmodernen Impe-
 weit nach Ostasien, wo es gilt, die zentralen Schifffahrts-     rialismus könnte der Imperialismus des Nachbarn genannt
 routen zu kontrollieren (siehe Grafik). Konkret sollen Län-     werden. Instabilität in der Nachbarschaft stellt eine Gefahr
 der und Regionen in die „Grand Area“ integriert werden,         dar, die kein Staat ignorieren kann. Politische Misswirt-

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schaft, ethnische Gewalt und Kriminalität auf dem Balkan      Prozess des Machtübergangs von den bestehenden Mäch-
stellen eine Gefahr für Europa dar. Die Antwort hierauf       ten auf die aufstrebenden Mächte beschleunigt hat.”54 An-
war, eine Art freiwilliges UN-Protektorat im Kosovo und       schließend wird jedoch unmissverständlich klargestellt,
in Bosnien zu schaffen.”47                                    dass man nicht beabsichtigt, diese Entwicklung still-
     Offen redet Cooper damit einer neuen EU-Koloni-          schweigend hinzunehmen: „Das Europäische Parlament
alpolitik das Wort, wobei gerade das von ihm gewählte         […] weist die Behauptung nachdrücklich zurück, dass
Beispiel Kosovo zeigt, wie wenig „freiwillig“ die europä-     sich der Westen angesichts des Entstehens neuer außenpo-
ischen wirtschaftspolitischen Präferenzen aufgezwungen        litisch maßgeblicher Wirtschaftsmächte und potenzieller
werden. Die serbische Provinz wurde unter der westlichen      Rivalen damit abfinden sollte, seine Führungsrolle aufzu-
Besatzung vollständig entlang neoliberaler Ordnungs-          geben, und sich auf die Bewältigung seines Niedergangs
vorstellungen umgebaut – ebenso im Übrigen wie auch           konzentrieren sollte.“55
Bosnien, Afghanistan und der Irak.48 Die volle Wucht               Um sich für diese heraufziehenden Rivalitäten zu
des EU-Militärapparats soll nach den Vorstellungen Coo-       wappnen, müsse die Europäische Union stärker machtpo-
pers all diejenigen treffen, die seine Begeisterung für den   litische Fragen in den Mittelpunkt rücken und ihre Kapa-
„freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie“ aus        zitäten bündeln, ansonsten sei der Abstieg nicht zu vermei-
verständlichen Gründen nicht teilen: „Die Herausforde-        den, so die weitverbreitete Auffassung. Beispielhaft hier-
rung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter     für äußerte sich der ehemalige britische Premierminister
Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Ba-       Tony Blair im Juni 2011: „Für Europa ist es wesentlich,
sis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um.      dass es versteht, dass die einzige Möglichkeit, um Unter-
Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des         stützung für Europa zu erhalten, heute nicht auf einer Art
postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die       Nachkriegssicht basieren kann, dass die EU notwendig für
raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen –        den Frieden ist. […] Die Existenzberechtigung Europas
Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer      basiert heute auf Macht, nicht auf Frieden. […] In einer
nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im       Welt, in der vor allem China dabei ist, zur dominierenden
19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber     Macht des 21. Jahrhunderts zu werden, ist es für Europa
stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn      vernünftig, sich zusammenzuschließen, um sein kollek-
wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Ge-      tives Gewicht zu nutzen, um globalen Einfluss zu erlan-
setz des Dschungels anwenden.”49 Überhaupt ist es seit ei-    gen.“56 Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen
nigen Jahren wieder chic, von einem „Imperium Europa“         spielt aus herrschender Sicht ein mächtiger Militärapparat
zu reden50, selbst hohe EU-Politiker wie EU-Kommissi-         eine wichtige Rolle: „Das Recht des Stärkeren war und ist
onschef José Manuel Barroso bedienen sich mittlerweile        […] ein wesentlicher Aspekt des zwischengesellschaftli-
ohne falsche Scheu dieser Begrifflichkeit.51                  chen Verkehrs. Macht und Einfluss in internationalen Or-
     Jedenfalls ist klar, dass sich die Europäische Union     ganisationen hängen hiervon entscheidend ab. Militärische
mit diesem imperialen Programm endgültig von der Zi-          Stärke etwa gilt als ‚diskrete Hintergrundinformation‘
vilmacht verabschiedet, die sie teils immernoch vorgibt       über die Kräfteverhältnisse.“57
zu sein. So beschrieb die Bertelsmann-Stiftung in einer            Es mehren sich seit einigen Jahren sogar die westlichen
Studie über mögliche EU-Zukunftsszenarien die von ihr         Stimmen, die einer neuen epochalen Konfrontation, einem
präferierte Option folgendermaßen: „Im Szenario Super-        „Neuen Kalten Krieg“ zwischen „Demokratien“ (USA und
macht Europa wird das große Europa seinem objektiven          EU) und „Autokratien“ (China und Russland) das Wort re-
Weltmachtpotential gerecht. Die Europäische Union nutzt       den.58 Vor allem die Thesen des einflussreichen Politikwis-
ihre materiellen und institutionellen Ressourcen in vol-      senschaftlers Robert Kagan prägen die diesbezügliche De-
lem Umfang. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Bevöl-        batte: „Die alte Rivalität zwischen Liberalismus und Au-
kerungszahl, militärisches Potential und das europäische      tokratie ist neu entflammt, und die Großmächte der Welt
Wertesystem bieten ihr eine beachtliche Handlungsbasis.       beziehen entsprechend ihrer Regierungsform Position. [...]
[...] Die Supermacht Europa verabschiedet sich endgültig      Die Geschichte ist zurückgekehrt, und die Demokratien
von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneinge-       müssen sich zusammentun, um sie zu gestalten – sonst
schränkt der Mittel internationaler Machtpolitik. […] Die     werden andere dies für sie tun.“59 Ganz ähnlich prophezeit
sich stetig in Richtung einer Supermacht Europa entwic-       Nikolaus Busse, Brüssel-Korrespondent der Frankfurter
kelnde Europäische Union erweist sich als ein äußerst         Allgemeinen Zeitung, eine „globale Großkonkurrenz“, auf
offenes System, das auch im Prozess der Staatswerdung         die folgendermaßen reagiert werden müsse: „Auf immer
fähig ist, neue Mitglieder aufzunehmen. Damit ist die EU      mehr Feldern werden wir leidenschaftliche Konkurrenz
global das einzige System, das territorial kontinuierlich     und harte Interessengegensätze mit den aufsteigenden
expandiert.“52                                                Großmächten erleben. Das erfordert eine beherzte globale
                                                              Präsenz des Westens, und zwar nicht nur der USA. [...]
2.4 Rückkehr der Großmachtkonflikte                           Europa kann in einer Welt harter geopolitischer Rivalität
                                                              nicht als große Friedensbewegung bestehen, sondern muss
    Angesichts der hochgesteckten Ziele sieht die Realität
                                                              zu einer anspruchsvollen Diplomatie und einem selbstbe-
für die europäischen Weltmachtansprüche allerdings eher
                                                              wussten Auftritt finden. Dieses Problem löst man nicht
düster aus: Kaum jemand bestreitet heute ernsthaft, dass
                                                              mit der Schaffung neuer Posten und Strukturen in Brüssel,
die Macht und der globale Einfluss der USA, aber eben
                                                              sondern indem die Eliten in den großen Mitgliedsstaaten
auch die Europäische Union abnehmen.53 So konstatierte
                                                              einen größeren Willen entwickeln, sich harten machtpoli-
etwa ein Berichtsentwurf des Europäischen Parlaments im
                                                              tischen Fragen gemeinsam zu stellen.“60
September 2011, „dass die derzeitige Wirtschaftskrise den

                                                                                                                         11
Teils wird sogar offen ausgesprochen, das EU-Militär                                                              2.5 Neoliberalismus, Armut und Krieg
 müsse sich für bewaffnete Auseinandersetzungen mit ri-
 valisierenden Großmächten rüsten. Im Mai 2011 erschien                                                                      Das neoliberale Weltwirtschaftssystem verursacht
 etwa die deutsche Ausgabe des Sammelbandes „Perspek-                                                                  nicht nur die Verarmung unzähliger Menschen, es hat auch
 tiven für die europäische Verteidigung 2020“, der von der                                                             weit reichende Folgen für die Frage von Krieg und Frie-
 hauseigenen Denkfabrik der Europäischen Union, dem                                                                    den in der Welt. Denn entgegen dem gängigen Mediendis-
 Institute for Security Studies (ISS) in Paris, herausgege-                                                            kurs sind nicht Habgier, ethnische bzw. religiöse Konflikte
 benen wurde. In diesem derzeit wohl wichtigsten Vor-                                                                  o.ä. der ausschlaggebende Faktor für den Ausbruch von
 schlagskatalog zur künftigen EU-Militärpolitik findet sich                                                            Bürgerkriegen in der so genannten Dritten Welt, sondern
 ein schockierend deutlicher Artikel von Tomas Ries, dem                                                               Armut. Der bekannte Friedensforscher Michael Brzoska
 Direktor des Swedish Institute for International Affairs.                                                             schreibt hierzu: „Wenn heute in der westlichen Welt von
 Unter namentlichem Bezug auf Russland und einige an-                                                                  Kriegsgefahr die Rede ist, entsteht oft der Eindruck, sie
 dere Länder wird darin etwa festgestellt: „Die GSVP [Ge-                                                              ginge von irrationalen Einzelnen aus. Dabei ist in der
 meinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird bis                                                              Kriegsursachenforschung unumstritten, dass Armut der
 2020 wahrscheinlich mehrere Aufgaben erfüllen müssen.                                                                 wichtigste Faktor für Kriege ist. Armut steht als Indikator
 […] Gegenüber den entfremdeten modernen Staaten muss                                                                  für wirtschaftliche als auch für soziale Benachteiligung,
 sie eine harte Machtpolitik verfolgen, die von der Einflus-                                                           bis hin zum Mangel an Möglichkeiten, das eigene Leben
 snahme im Clausewitzschen Sinne bis zur direkten militä-                                                              in Würde zu gestalten. Die Kriege der Zukunft werden im-
 rischen Konfrontation reichen kann.“61                                                                                mer häufiger Kriege um Wohlstand und Würde sein – und
                                                                                                                       zumindest jenen, die sie betreiben, rational erscheinen.“64
     Ein besonders heikler Bereich ist die Kontrolle von
                                                                                                                       Selbst die Weltbank gelangte in einer bemerkenswerten
 Rohstoffvorkommen und ihren Transportwegen. Auf-
                                                                                                                       Studie aus dem Jahr 2003 zu demselben Ergebnis: „Empi-
 grund der zunehmenden Verknappung nicht nur von Öl
                                                                                                                       risch ist das auffälligste Muster, dass sich Bürgerkriege be-
 und Gas, sondern auch von anderen „vitalen“ Bodenschät-
                                                                                                                       sonders auf arme Staaten konzentrieren. Krieg verursacht
 zen, drohen hier schwere Konflikte bis hin zu militärischen
                                                                                                                       Armut, aber wichtiger noch für diese Konzentration ist,
 Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten. Dass
                                                                                                                       dass Armut die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen er-
 es hierzu mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kommen
                                                                                                                       höht. Somit kann unser zentrales Argument bündig zusam-
 kann, ist etwa die Auffassung der US-Geheimdienste oder
                                                                                                                       mengefasst werden: Die zentrale Konfliktursache (central
 auch des Zentrums für Transformation der Bundeswehr.62
                                                                                                                       root cause of conflict) ist das Scheitern ökonomischer Ent-
 Schon in einem 2004 veröffentlichten Papier des Institu-
                                                                                                                       wicklung.“65
 te for Security Studies der Europäischen Union, das als
 Entwurf für ein EU-Weißbuch in die Debatte eingespeist                                                                      Das Schlimmste und Empörendste daran ist, dass al-
 wurde, hieß es deshalb die „ökonomische Überlebensfä-                                                                 len Entscheidungsträgern dieser Zusammenhang völlig
 higkeit“ erfordere den „Stabilitätsexport zum Schutz von                                                              bewusst ist, eine Änderung der neoliberalen Außenwirt-
 Handelsrouten und dem Fluss von Rohstoffen.“63 Ein sol-                                                               schaftspolitik, von denen die EU-Konzerne schließlich
 cher „Stabilitätsexport“ wird aus Sicht der EU-Eliten vor                                                             massiv profitieren, aber nicht ansatzweise auf der Tages-
 allem auch aufgrund der aggressiven europäischen Außen-                                                               ordnung steht. Gerade weil man um die fatalen Folgen
 wirtschaftspolitik immer notwendiger. Denn die von die-                                                               dieser Wirtschaftspolitik weiß, wird eine der wesentlichen
 ser Politik verursachte Armut bringt immer mehr Konflikte                                                             Aufgaben der EU-Sicherheitspolitik darin gesehen, die
 hervor, die „befriedet“ werden müssen, sollten sie wesent-                                                            vom Westen verschuldeten Globalisierungskonflikte mili-
 liche Interessen „bedrohen“.                                                                                          tärisch so „gut“ es eben geht zu deckeln. Dies wird etwa
                                                                                                                       in dem bereits erwähnten einflussreichen Sammelband
                                                                                                                       „Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020“
                                                                                                                                                                   ganz offen eingestanden:
                                                                                                                                                                   “Abschottungseinsätze –
                                                                                                                                                                   Schutz der Reichen dieser
                                               15       Armut befördert Bürgerkriege                                                                               Welt vor den Spannungen
                                                                                                                                                                   und Problemen der Ar-
     Wahrscheinlichkeit eines Konflikts in %

                                                                                  Mit wachsendem Wohlstand sinkt die                                               men. Da der Anteil der ar-
                                                                                                                                                                   men, frustrierten Weltbe-
                                               12                                         Gefahr gewaltsamer Konflikte                                             völkerung weiterhin sehr
                                                                                                                                                                   hoch sein wird, werden
                                               9                                                                                                                   sich die Spannungen zwi-
                                                                                                                                                                   schen dieser Welt und der
                                                                                                                                                                   Welt der Reichen weiter
                                               6                                                                                                                   verschärfen – mit entspre-
                                                                                                                                                                   chenden Konsequenzen.
                                                                                                                                                                   Da es uns kaum gelin-
                                                                                                                                                     © IMI 2011

                                               3                                                                                                                   gen wird, die Ursachen
                                                                                                                                                                   dieses Problems, d.h. die
                                                                                                                                                                   Funktionsstörungen der
                                                          500 1000                    2000        3000                       4000                        5000      Gesellschaften, bis 2020
                                                    Bruttosozialprodukt je Kopf (US$)
                                                                                              Source: Karl-Albrecht Immel: Armut fördert Bürgerkriege - wachsender
                                                                                                                                                                   zu beseitigen, werden wir
                                                                                              Wohlstand senkt Konflikte, Welthungerhilfe, Januar/Februar 2006.     uns stärker abschotten

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