Die EU als Rüstungstreiber - Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Informationen zu Politik und Gesellschaft Nachrichten, Berichte und Analysen aus dem Europäischen Parlament Herausgegeben von Sabine Lösing, MEP Nr. 7, März 2012 Jürgen Wagner Weltmacht EUropa Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Die EU als Rüstungstreiber
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort 3 4.4 Weltraumrüstung mittels ziviler Haushaltsposten 28 4.5 Sicherheits- und Rüstungsforschung 31 1. Einleitung 4 4.6 Militarisierung der Entwicklungs- und 2. Imperium Europa: Politische und Katastrophenhilfe 33 wirtschaftliche Interessen an der 4.7 EAD: Institutionalisierte Militarisierung ziviler Militarisierung der Europäischen Union 7 Haushalte und Kapazitäten 37 2.1 Militärisch unterfütterter Weltmachtanspruch 7 5. Europas Militärisch-Industrieller Komplex 41 2.2 Wirtschaftliche Expansionsagenda 7 5.1 EU-MIK: Politische und industrielle Interessen 41 2.3 Imperiale Geostrategie 9 5.2 Eurochampions: Konzentrationsprozesse in der 2.4 Rückkehr der Großmachtkonflikte 11 EU-Rüstungsindustrie 43 2.5 Neoliberalismus, Armut und Krieg 12 5.3 Defence Package: Ein EU-Rüstungsmarkt für den 2.6 Lobby für Krieg und Profit 14 EU-MIK 45 5.4 Europäisierung der Rüstungspolitik 47 3. Brüsseler Rüstungsdruck 16 5.5 „Rüstungsexporte sind überlebenswichtig!“ 49 3.1 EU-Militarisierung – eine Zwischenbilanz 16 5.6 Europäisierung der Militärpolitik - Die Krise als 3.2 Rüstungsdruck durch Ständige Strukturierte Chance? 50 Zusammenarbeit 18 3.3 Eine Agentur für Aufrüstung 20 6. EU-MIK: Risiken und Nebenwirkungen 52 3.4 Der Mythos sinkender Rüstungshaushalte 22 4. Offene und verdeckte Rüstungshaushalte und die Instrumentalisierung ziviler Außenpolitik 26 4.1 Das GASP-Budget und die Finanzierung „ziviler” Titelbild: Eigene Grafik unter EU-Einsätze 26 Verwendung u.a. von Bildma- 4.2 Athena:Verdeckte Kriegskasse 26 terial des Europäischen Rates; 4.3 Anschubfonds: Nukleus eines EU-Rüstungshaushalts? Hubschrauberfoto © Matthias- 27 Kabel, CC Lizenz über Wikimedia Die EU als Rüstungstreiber: Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein Militärisch-Industrieller Komplex für die Weltmacht Europa Herausgeber der Broschüre sind Sabine Lösing, MdEP und die Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament. Redaktionelle Berabeitung erfolgte durch: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. , Hechinger Str. 203 72072 Tübingen www.imi-online.de Online-Ausgabe: März 2012 (Layout Elisa Rodé) Büro Brüssel: Bürgerbüro: Verbindungsbüro Deutscher Bundestag: Europäisches Parlament Abgeordnetenbüro Sabine Lösing Europabüro Berlin Sabine Lösing Lange Geismarstraße 2 Sabine Lösing, MdEP Rue Wiertz ASP 06F255 37073 Göttingen Unter den Linden 50 B-1047 Brüssel Tel.: 0551-50766823 10178 Berlin Tel.: 0032-2-284 7894 Fax: 0551-50766838 Tel.: 030-227 71405 Fax: 0032-2-284 9894 Mail: europabuero-loesing@web.de Fax: 030-227 76819 Mail: ota.jaksch@europarl.europa.eu Mitarbeiter: Dr. Fritz Hellmer Mail: sabine.loesing@europarl.europa.eu Mail: sabine.loesing@europarl.europa.eu Mitarbeiter: Arne Brix Mitarbeiterin: Ota Jaksch www.sabine-loesing.de
Vorwort Viele sehen in der Europäischen Union immer noch Diese Entwicklung wird leider auch und gerade von eine Zivilmacht, die mit Krieg und Rüstung wenig zu tun fast allen meinen Kolleginnen und Kollegen im Europä- hat. Eine „Zivilmacht Europa“ würde jedoch keinen rie- ischen Parlament mit vorangetrieben. Symptomatisch für sigen Militärapparat benötigen. Eine Weltmacht Europa, die Haltung der großen Mehrheit der Abgeordneten ist die bereit ist, ihre Interessen notfalls mit Gewalt durch- etwa der „Bericht über die Auswirkungen der Finanzkrise zusetzen, jedoch schon. Und tatsächlich ist es nahezu auf den Verteidigungssektor in den EU-Mitgliedstaaten“, unmöglich, die Augen vor der seit einigen Jahren stattfin- der im November 2011 im Auswärtigen Ausschuss des Eu- denden Militarisierung der Europäischen Union zu ver- ropäischen Parlaments (AFET), dem auch ich angehöre, schließen, sie ist eigentlich unübersehbar. Dennoch wird vorgelegt wurde. Dort wird gewarnt, dass „Kürzungen der immer wieder behauptet, die Europäische Union sei eine Verteidigungshaushalte zu dem vollständigen Verlust be- gute Sache, gerade für diejenigen, die im Militärbereich stimmter militärischer Fähigkeiten in Europa führen könn- sparen wollten. Mit wohlfeilen Phrasen wie „Effizienzstei- ten.“ Um dies zu verhindern, fordert der Bericht künftig gerung“, „Skaleneffekte“, „Einsparpotenziale“ wird dabei auch Rüstungsforschung aus dem EU-Haushalt finanzie- die Realität übertüncht. Während sich die Sozialausgaben ren zu können und die Querfinanzierung von EU-Militär- fast in jedem EU-Land im freien Fall befinden, bleiben die einsätzen über den so genannten ATHENA-Mechanismus Rüstungsetats nahezu ungeschoren: Die Mitgliedsstaaten auszubauen. Ferner seien „Fortschritte bei der Konsoli- gaben in diesem Bereich im Jahr 2010 nur unwesentlich dierung der verteidigungstechnologischen und -industri- weniger als in den Vorjahren aus: 288 Mrd. Dollar! ellen Basis Europas notwendig.“ All das sind Vorschläge, Doch hierbei handelt es sich lediglich um die traurige die dem Rüstungssektor mehr Geld zufließen lassen, aber Spitze des Eisbergs. Selbst gut informierte und kritische auch die Herausbildung eines Militärisch-Industriellen Beobachter der EU-Außen- und Sicherheitspolitik dürf- Komplexes vorantreiben. ten durch das in dieser Studie umfassend ausgeleuchtete Gleichzeitig wird so getan, als sei kein Geld vorhanden, Ausmaß, mit dem die Europäische Union derzeit zahlrei- um die Not und Armut unzähliger Menschen innerhalb, che Militarisierungsprozesse vorantreibt, erschreckt sein. aber vor allem auch außerhalb der Europäischen Union zu Die hierfür verantwortliche allgegenwärtige Allianz aus adressieren. Ein Bruchteil der weltweiten Rüstungsausga- Politik und Industrie, die mir auch im Europäischen Par- ben würde jedoch genügen, um die Millennium-Entwick- lament unablässig begegnet, hat sich diesbezüglich leider lungsziele zur Bekämpfung der Armut umsetzen zu kön- als überaus effektiv erwiesen. Weit gehend unbemerkt ist nen. Doch die große Allianz für Krieg und Profit päppelt es dieser Militärlobby gelungen, einen enormen Rüstungs- lieber einen gigantischen Militärapparat weiter auf, dessen druck aufzubauen, immer mehr offizielle, aber vor allem wesentliche Aufgabe gerade darin besteht, die existieren- auch inoffizielle Rüstungshaushalte einzurichten und die den Ausbeutungsstrukturen auf der Welt zu erhalten und Herausbildung eines europäischen Militärisch-Industriel- gewaltsam abzusichern. Dass dies alles derzeit auch noch len Komplexes zu forcieren. Dies alles ist das Ergebnis aus mit angeblichen Sparzwängen gerechtfertigt wird, die in der Kombination zwischen den Weltmachtambitionen der Wahrheit für den Militärbereich in dieser Form überhaupt Europäischen Union bzw. ihrer Politiker und den Profitin- nicht existieren, setzt dem allem die Krone auf. Die Alter- teressen der Rüstungsindustrie. Sie ist dafür verantwort- native dazu liegt auf der Hand: Denn wer wirklich sparen lich, dass die Europäische Union zu einem regelrechten will, rüstet ab! Rüstungstreiber geworden ist. 3
1. Einleitung Im Zuge der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, hindarbenden Branche zu erwecken, die händeringend auf in der sich die EU-Länder derzeit befinden, werden quer umfassende staatliche Unterstützung angewiesen sei. Ex- über den Kontinent die Haushalte teils radikal zusammen- emplarisch hierfür ist etwa Domingo Ureña-Raso, Leiter gestrichen. Die große Mehrheit der europäischen1 Bevöl- von Airbus Military und bis Oktober 2011 Chef des größ- kerung spricht sich in diesem Zusammenhang für drasti- ten europäischen Branchenverbandes, der AeroSpace and sche Kürzungen bei den Rüstungshaushalten aus, anstatt Defence Industries Association of Europe (ASD): „Sollte die Sozialausgaben immer weiter zu senken – in Deutsch- sich die Lage in den nächsten Jahren nicht grundlegend land waren es bei einer Umfrage etwa überwältigende 82 verbessern, dann riskiert Europa, Schlüsselkapazitäten im Prozent.2 Auch in Frankreich und in anderen europäischen Verteidigungsbereich zu verlieren. Bis Europa aufwacht, Ländern ist die Stimmung ähnlich3: „Werden die Men- wird es zu spät sein. Einmal verloren oder signifikant schen vor die Wahl gestellt, einen Kompromiss zwischen erodiert, können High-Tech-Kapazitäten nicht so einfach Leistungen wie Renten, Gesundheitsversorgung und So- wieder hergestellt werden. Die Zeit zum Handeln ist nun zialhilfeausgaben einerseits und Verteidigungsausgaben gekommen.“6 So wird bewusst und erfolgreich der Ein- andererseits zu finden, ist die Antwort eindeutig. In Euro- druck erweckt, die Branche kämpfe um ihr Überleben. pa ‚zählen abstrakte Verweise auf die nationale Sicherheit Überschriften wie „Rüstungskonzerne wie EADS gehen und Verteidigung wenig, wenn fundamentale Fragen der schweren Zeiten entgegen“ oder „Budgetkürzungen zwin- sozialen Existenz auf dem Spiel stehen.‘“4 Dennoch sind gen Rüstungsindustrie zum Sparen“ sind in den Massen- die EU-Rüstungsausgaben 2010 gegenüber dem Vorjahr medien an der Tagesordnung.7 nur minimal gesunken und auch für die kommenden Jahre Bevor allerdings allzu großes Mitleid für die scheinbar ist leider mit gleichbleibend hohen Etats zu rechnen (vgl. notleidende Rüstungsindustrie aufkommen sollte: Diese Kapitel 3.4). Kassandra-Rufe haben mit der Realität nichts zu tun. Eine Vor diesem Hintergrund ist es umso empörender, dass im Mai 2011 veröffentlichte Untersuchung des Center for Politiker nahezu jedweder Couleur weiterhin erfolgreich Strategic and International Studies (CSIS) kam etwa zu den Eindruck erwecken, europaweit befänden sich die dem Ergebnis: „Die europäischen Sicherheits- und Vertei- Rüstungsausgaben im freien Fall. Symptomatisch für digungsfirmen haben sich in den letzten Jahren sehr gut den kreativen Umgang mit der Realität ist etwa eine Ent- gehalten, sowohl was die absoluten Zahlen anbelangt, als schließung der EU-Parlamentarier, in der es heißt: „Das auch gegenüber ihresgleichen im kommerziellen Sektor.“8 Europäische Parlament […] nimmt mit Sorge den zuneh- Zwar seien die Gewinne in den 1990er Jahren eingebro- menden Trend der vergangenen Jahre zu Kürzungen in den chen, in den letzten zehn Jahren sei das Geschäft mit Verteidigungshaushalten der meisten EU-Mitgliedstaaten Kriegsgütern jedoch äußerst profitabel gewesen. Die Ge- infolge der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise und winne der Branche wären von 63 Mrd. Euro im Jahr 2003 die potenziellen negativen Auswirkungen zur Kenntnis, um 49 Prozent auf 93 Mrd. Euro 2009 gestiegen. Das Fazit die diese Maßnahmen auf die militärischen Fähigkeiten der Studie ist demzufolge eindeutig: „Die europäischen und damit auf die Fähigkeit der EU haben, ihrer Verant- Sicherheits- und Verteidigungsunternehmen sind auf dem wortung bei Friedenserhaltung, Konfliktvermeidung und globalen Markt konkurrenzfähig.“9 Dieser Trend zu immer Stärkung der internationalen Sicherheit […] wirksam zu größeren Gewinnen setzte sich auch 2010 fort und hält bis entsprechen.“5 Vertreter der Rüstungsindustrie nehmen heute an. Kurz und schlecht: Der Rüstungsindustrie geht solche Steilvorlagen natürlich gerne auf und versuchen es prächtig.10 Die ganze Jammerei zielt demzufolge er- ihrerseits nach Kräften von sich das Bild einer vor sich stinstanzlich nicht darauf ab, eine Branche vor dem Un- tergang zu retten. Vielmehr geht es darum, die üppigen Profitmargen auf hohem Niveau zu stabilisieren oder im Optimalfall gar auszubauen und die militärische Schlag- kraft der Europäischen Union zu vergrößern. Hierfür hat sich eine mächtige Allianz gebildet, die auf einem Militarisierungskonsens von Politik und (Rüstungs-)Industrie basiert. Mit dem Ende des Kalten Krieges entfielen zahlreiche Beschränkungen, die eu- ropäischen machtpolitischen Ambitionen bis dato enge Fesseln angelegt hatten. Fortan stand der Aufstieg der Eu- ropäischen Union zu einem Global Player ganz oben auf der politischen Agenda. Hinzu kam der zunehmende Ein- flussgewinn global operierender europäischer Konzerne, die auf die Erschließung neuer Absatz- und Investitionsge- legenheiten außerhalb Europas – und letztlich auch auf de- 4
ren militärische Absicherung - drängten. Vor diesem Hin- tergrund verfolgt die Europäische Union mittlerweile eine gezielte Strategie, die auf die militärisch unterfütterte Er- weiterung der eigenen Macht- und Einflusssphäre abzielt. Auf dieser Basis hat sich innerhalb der Eliten die Überzeu- gung durchgesetzt, die Militarisierung der Europäischen Union müsse weiter intensiviert werden. Es handelt sich hierbei also um weit mehr als lediglich das Produkt effek- tiver Einflussnahme rein rüstungsindustrieller Interessen, Dwight D. Eisenhower: Warner vor dem Militärisch- obwohl von dieser Seite her logischerweise deutlich am Industriellen Komplex, Foto: Wikipedia meisten Druck ausgeübt wird. Inzwischen wurde eine am- bitionierte Militarisierungsagenda ausgearbeitet, für deren Umsetzung sich ein zunehmend dichtmaschiges und ein- flussreiches Lobbygeflecht stark macht (Kapitel 2). Auswärtigen Dienstes (EAD) ist die Vermischung ziviler Diesem Lobbynetzwerk ist es mittlerweile gelungen, und militärischer Kapazitäten und Gelder mittlerweile in- aus der Europäischen Union einen regelrechten Rüstungs- stitutionalisiert worden und hat einen Grad erreicht, dass treiber zu machen und hierdurch die Militarisierung der von einer zivilen, unabhängigen EU-Außenpolitik inzwi- Europäischen Union massiv voranzutreiben. Hierfür wer- schen keine Rede mehr sein kann (Kapitel 4). den die Einzelstaaten von Brüssel unter anderem einem Darüber hinaus sind sich Politik und Industrie darin ei- enormen Aufrüstungsdruck ausgesetzt. Mit dem am 1. nig, dass die Bündelung (Konsolidierung) des fragmentier- Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon ten EU-Militärbereiches oberste Priorität hat. Ob gewollt (EUV) werden zahlreiche neue „Aufrüstungsanreize“ ge- oder ungewollt, letztlich wird dies zwingend zur Heraus- setzt, sodass nicht damit zu rechnen sein wird, dass die bildung eines Europäischen Militärisch-Industriellen Militärhaushalte der Einzelstaaten in absehbarer Zeit sub- Komplexes (EU-MIK) führen. Denn die bereits angelau- stanziell sinken werden. Ursprüngliche Ankündigungen fenen Konzentrationsprozesse sollen über die Schaffung in den Mitgliedsstaaten drastische Einschnitte vornehmen eines einheitlichen europäischen Rüstungsmarktes, die zu wollen, wurden mittlerweile teils oder vollkommen re- Bündelung von Beschaffungsprojekten sowie die massive vidiert. In einigen Staaten wird sogar mehr in den Mili- Förderung von Rüstungsexporten weiter vorangetrieben tärbereich investiert als vor Beginn der Wirtschafts- und werden. Am Ende dieser Entwicklung soll staatlicherseits Finanzkrise (Kapitel 3). eine möglichst weit gehende Europäisierung der Militär- Allerdings sind sich Politik und Wirtschaft darüber politik stehen, die für die Umsetzung ihrer imperialen Am- im Klaren, dass unter den derzeitigen Bedingungen eine bitionen von wenigen mächtigen Superkonzernen im Rü- deutliche Erhöhung der Rüstungsausgaben wohl am Wi- stungsbereich, so genannten „Eurochampions“, mit Mili- derstand der Öffentlichkeit scheitern dürfte.11 Aus diesem tärgütern versorgt wird. Die Politik verspricht sich hiervon Grund werden Versuche intensiviert, Gelder aus Einnah- erhebliche Effizienzsteigungen und damit einen insgesamt mequellen jenseits der klassischen Verteidigungshaushal- deutlich schlagkräftigeren Militärapparat, während der In- te für militärische Belange mobilisieren zu können. Auch dustrie an einer Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit – hier weiß Brüssel zu helfen, denn augenscheinlich treffen und damit ihrer Profite – gelegen ist. Allerdings stehen die Rüstungsausgaben auf weniger Widerstand in der Bevöl- Nationalstaaten im hochsensiblen Militärbereich einem kerung, wenn sie im Rahmen der Europäischen Union ge- Abtritt von Souveränitätsrechten an die suprastaatliche tätigt werden, wie eine Studie des Strategic Studies Insti- EU-Ebene extrem skeptisch gegenüber. Vor diesem Hin- tute (SSI) der US-Armee ausführt: „Das EU-Label scheint tergrund sehen Befürworter eines EU-MIK in der aktuel- die Europäer in einer Weise dafür gewinnen zu können, len Wirtschafts- und Finanzkrise eine Gelegenheit, diese Geld zum Ausbau militärischer Kapazitäten auszugeben, Vorbehalte unter dem Deckmantel angeblicher Sparzwän- wie es die NATO nicht könnte.“12 Vor diesem Hintergrund ge auszuhebeln (Kapitel 5). werden derzeit auf EU-Ebene immer mehr offene und Tatsächlich wird mit diesem Militärapparat massiv verdeckte Rüstungshaushalte eingerichtet, die sich zu- Geld zum Fenster hinausgeworfen; und das in einer Zeit, dem auch noch weit gehend der Kontrolle durch die je- in der viele Menschen in der Europäischen Union von weiligen nationalstaatlichen oder durch das Europäische nackter Existenzangst betroffen sind. Ebenso wenig lassen Parlament entziehen. Hinzu kommt eine immer offenere sich die Ursachen heutiger Konflikte militärisch beseitigen Zweckentfremdung von Geldern aus zivilen EU-Haus- – im Gegenteil. Hierfür müsste stattdessen der ausbeute- haltstöpfen – vom Agrarhaushalt über das Forschungs- rischen europäischen Außenwirtschaftspolitik der Rücken rahmenprogramm bis zur Entwicklungshilfe – für militär- zugewendet, jegliche Form von Rüstungsexporten sofort relevante Zwecke. Mit der Einrichtung des Europäischen beendet und umfassend abgerüstet werden. Die hierdurch 5
freiwerdenden Gelder müssten als Reparationszahlungen biete. […] Damit die Industrie diese Anforderungen erfül- in sinnvolle Maßnahmen zur Armutsbekämpfung umgelei- len kann, bedarf es eines effektiven und effizienten Be- tet werden. So würde etwa ein kleiner Teil dessen, was die schaffungsprozesses auf Seiten des Auftraggebers: Über NATO-Staaten jährlich für Rüstung ausgeben, genügen, 70 Prozent der Befragten sehen hier Verbesserungsbedarf. um die Millennium-Entwicklungsziele zur Reduzierung Auch die wehrtechnische Industrie selbst muss sich auf der Armut in der Welt zu erreichen. neue Bedingungen einstellen. Sparzwänge der Streitkräf- Kurz gesagt: Die Etablierung einer gerechteren Welt- te in Europa und wachsender internationaler Wettbewerb ordnung ist die einzige Alternative zur gegenwärtig zwingen die nationale Rüstungsindustrie dazu, ihre Ge- stattfindenden Militarisierung. Weil die Eliten in Politik, schäftsfelder auszuweiten und neue Märkte zu erschlie- Wirtschaft und Militär hierzu aber nicht bereit sind, wird ßen. […] Trotz der massiven Herausforderungen bewerten auf den Ausbau der Fähigkeiten zum gewaltsamen Kri- die Teilnehmer der Studie die Zukunftsaussichten ihrer senmanagement gesetzt. Die Tatsache, dass es gelingt, für Unternehmen durchweg positiv: 73 Prozent der Befragten diesen Zweck weiter riesige Summen für die Rüstung zu glauben an steigende Umsätze innerhalb der nächsten zehn mobilisieren, zeigt, wie stark die Lobby für Krieg und Pro- Jahre. Gleichzeitig halten aber über 80 Prozent eine Kon- fit in der Europäischen Union schon geworden ist – und solidierung der Rüstungsindustrie auf europäischer Ebene ihr Einfluss droht durch die mittlerweile in Gang gesetz- für wahrscheinlich.“13 ten Konzentrationsprozesse noch weiter zuzunehmen. Je Fast genau 50 Jahre nachdem der damalige US-Präsi- mächtiger der sich herauskristallisierende Militärisch- dent Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede im Industrielle Komplex jedoch wird, desto mehr droht eine Januar 1961 vor den Folgen des sich herauskristallisie- Militarisierungsdynamik zu entstehen, die zur Folge renden Militärisch-Industriellen Komplexes für die USA haben wird, dass zur „Lösung“ von Konflikten mehr und warnte, sind seine Ausführungen deshalb heute aktueller mehr auf Gewalt gesetzt wird (vgl. Kapitel 6). denn je – es ist eine bittere Ironie, dass dies nun auch und Ein ebenso anschauliches wie erschreckendes Beispiel gerade für die Europäische Union zutrifft: für die stattfindende „Versicherheitlichung“ von Proble- „In der Regierung müssen wir uns in unserem Denken men, deren Lösung auf ganz andere als auf militärische vor dem Eindringen von unberechtigten Einflüssen des mi- Weise erfolgen müsste, liefert eine Umfrage unter Exper- litärisch industriellen Komplexes hüten, seien sie gewollt ten der Rüstungsindustrie, deren wichtigste Ergebnisse die oder auch nicht. Das Potential für die katastrophale Zunah- Unternehmensberatung Horváth & Partners im November me fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin 2011 in einer Pressemitteilung veröffentlichte: „Mehr als bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht die- 70 Prozent der für die Studie ‚Wehrtechnik im Wandel – ser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokra- Herausforderungen für die Industrie‘ befragten 73 Exper- tischen Prozesse gefährdet. […] Jede Kanone, die gebaut ten aus der Rüstungsindustrie glauben, dass die Zahl der wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, bewaffneten Auseinandersetzungen weltweit zunehmen jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl wird. Dabei wird vor allem eine Bedeutungszunahme von an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, an bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, Konflikten denen, die frieren und keine Kleidung haben. Eine Welt um knappe Güter wie Nahrungsmittel, Wasser und Roh- unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpul- stoffe sowie von Terrorismus erwartet. Ein weiterer Trend vert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wis- besteht in der Verlagerung von Kämpfen in bewohnte Ge- senschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“14 6
2. Imperium Europa: Politische und wirtschaftliche Interessen an der Militarisierung der Europäischen Union Immer offener und raubeiniger reklamiert die Europä- Integration“ im Vordergrund stand. Diese „Strukturde- ische Union für sich eine Führungsrolle unter den Welt- terminanten“ hatten zur Folge, dass (militär-)strategische mächten. Ein schlagkräftiges Militär nebst potenter rü- Fragen auf EU-Ebene lange kaum eine Rolle spielten, sie stungsindustrieller Basis wird hierfür als notwendige Be- waren Sache der NATO – und damit vor allem der USA: dingung erachtet: „Die Europäische Union will über bei- „Unter den Bedingungen der US-Hegemonie und der Sy- des verfügen, die militärischen Fähigkeiten, die mit einer stemkonkurrenz konnte in den Nachkriegsjahrzehnten von globalen Macht assoziiert werden, und die Kapazitäten, einer eigenständigen europäischen Strategie keine Rede diese innerhalb ihrer Grenzen herzustellen.“15 Die Gründe sein. Dies galt insbesondere für die Außen- und Sicher- hierfür liegen in einer veränderten machtpolitischen und heitspolitik.“19 Mit dem Untergang der Sowjetunion, dem wirtschaftlichen Interessenlage, die beide dazu geführt ha- – schrittweisen – Machtverlust der Vereinigten Staaten so- ben, dass die Europäische Union immer offensiver auf die wie der offensiven Ausrichtung der deutschen Militärpoli- Expansion ihrer Macht- und Einflusssphäre drängt. tik veränderten sich alle bisherigen Rahmenbedingungen Dies führt zu zunehmenden Konflikten, sowohl mit an- ab Anfang der 1990er Jahre grundlegend. Die Gelegenheit deren Großmächten als auch mit Staaten der Peripherie, für einen machtpolitischen Aufstieg zum Global Player die aus Sicht der Eliten nur militärisch im eigenen Sinne war günstig – und sie wurde zielstrebig genutzt. „gelöst“ werden können. Der auf dieser Basis entstande- Umfassende militärische Fähigkeiten werden in die- nen Überzeugung, eine Militarisierung der Europäischen sem Zusammenhang als notwendige Bedingung gesehen, Union sei dringend erforderlich, verleiht ein zunehmend um den angestrebten „globalen Einfluss“ geltend machen einflussreicheres Lobbynetzwerk aus Politik und (Rü- zu können. So schreibt der ehemalige Leiter der EU-Ver- stungs-)Industrie Nachdruck: „Dass die graduelle Annähe- teidigungsagentur (EVA, engl.: EDA), Nick Witney: „Der rung der Interessen der europäischen Verteidigungsindu- Wert der bewaffneten europäischen Streitkräfte besteht strie und der Befürworter der Gemeinsamen Sicherheits- nicht so sehr darin, speziellen ‚Gefahren‘ zu begegnen, und Verteidigungspolitik das militärische Element in der sondern weil sie ein notwendiges Instrument von Macht EU-Politik gestärkt hat, ist unbestreitbar.“16 und Einfluss in einer sich schnell verändernden Welt dar- stellen, in der Armeen immer noch wichtig sind.“20 Kurz 2.1 Militärisch unterfütterter Weltmachtanspruch und schlecht: Eine Weltmacht Europa ist ohne einen Bis heute wird der Mythos, die Europäische Union sei mächtigen Militärapparat nicht zu haben, den es deshalb eine Art „Zivilmacht“, die der profanen Macht- und In- aufzubauen gilt. So schreibt Carlo Massala von der Bun- teressenspolitik vergangener Jahrhunderte abgeschworen deswehr-Universität in München: „Der politische Wille habe, in manchen Kreisen sorgsam gehegt und gepflegt: nach einer globalen (Mit-)Führung kann nur dann geltend „Die Gründungsphilosophie der EWG, aus der die EG und gemacht werden, wenn er auch machtpolitisch unterfüttert dann die EU wurden, richtete sich nach innen und entwic- wird. Dies bedeutet: solange militärische Macht und die kelte ein Gegenkonzept zu Geopolitik und zu geostrate- Bereitschaft, sie einzusetzen, das Charakteristikum einer gischen Dimensionen: Befriedung, Aussöhnung und po- globalen Macht auch im 21. Jahrhundert darstellt, so lange litische Kooperation durch wirtschaftliche Verflechtung wird Europa kein Pol dieser sich herausbildenden Welt- als Antithesen zur Geopolitik und zum Imperialismus.“17 ordnung sein. Es muss bereit sein, globale sicherheitspoli- Diese „geostrategische Abstinenzphase“ ist mittlerweile tische Verantwortung zu tragen.“21 zu Ende: „Kurz gesagt: seit den späten 1990ern hat sich 2.2 Wirtschaftliche Expansionsagenda die Europäische Union von der ‚Zivilmacht‘ (oder ‚nor- mativen Macht‘) mit ihrem Fokus auf die innere Entwick- Neben den beschriebenen politischen Entwicklungen lung wegbewegt und begann damit, eine globale Macht zu sind Veränderungen in der Außenwirtschafts- und Handels- werden.“18 politik eine weitere wesentliche Triebfeder für die neuen Die lange beobachtbare relative Zurückhaltung der europäischen Weltmachtambitionen: „Bei der Betrachtung Europäischen Union war allerdings nicht einer Aversion strategischer Leitideen, welche die EU-Politik bestimmen, gegenüber harter Machtpolitik, sondern der spezifischen lässt sich spätestens seit den 1990er Jahren ein Kurswech- Konstellation des Kalten Krieges geschuldet. Gemeint ist sel feststellen. Die aktuelle Ausrichtung beruht auf einer hier die - zumindest so empfundene – existenzielle Bedro- Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der herr- hung durch die Sowjetunion, der die EU-Staaten allein we- schenden Eliten seit den 1970er/80er Jahren. Bestimmend nig entgegenzusetzen hatten. Dies machte die Vereinigten sind seitdem die globalen Absatz- und Investitionsstrate- Staaten zwangsläufig zur unbestrittenen Hegemonialmacht gien europäischer transnationaler Konzerne (TNKs), die im westlichen Bündnis. Ohnehin galt darüber hinaus der in Folge von Fusions- und damit Konzentrationsprozessen „deutschen Frage“, der Einbindung des deutschen Macht- enorm an Bedeutung und Einfluss gewonnen hatten. Das strebens, in den Anfangsjahrzehnten der Europäischen eher nach innen gerichtete Ziel der Konsolidierung eines Union die Hauptaufmerksamkeit, weshalb die „innere gemeinsamen Wirtschaftsraums wurde dadurch verdrängt. 7
Mittlerweile bestimmt ein Elitenetzwerk bestehend aus und „gleiche Bedingungen“ verbirgt, ist nackter Egois- Kommission (Bürokratie), globalisierten Unternehmen, mus, denn Freihandel unter ungleichen Partnern nutzt einzelnen EU- und nationalen Politikern und Experten immer dem ökonomisch Stärkeren: „Die Freihandelsför- die europäische Außenwirtschaftspolitik. Unterstützt wird derung war historisch immer das Vorrecht der Mächtigen. ihr Projekt von der Presse durch die Rhetorik der „not- Und die Förderung und Aufrechterhaltung der Ungleich- wendigen“ Weltmachtrolle, welche die EU einzunehmen heit war immer eine Voraussetzung für das erfolgreiche habe. Die inhaltliche Ausrichtung nach dem beschriebenen Funktionieren der auf Freihandel basierenden kapitali- Kurswechsel ist in wichtigen Strategiepapieren wie der stischen Marktwirtschaft. […] Die Evozierung der Prin- ‚Lissabon-Strategie‘ (2000), ‚Global Europe‘ (2006) und zipien der sportlichen Fairness und des unbehinderten ‚Europe 2020‘ (2010) nachzulesen.“22 Wettbewerbs, ignoriert aber die schreiende Disparität der Die aggressive Erschließung neuer Märkte und Inve- wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse im stitionsmöglichkeiten wurde so zu einem vorrangigen Ziel globalen Handel.“24 Obgleich diese neoliberale Politik der EU-Politik – und das wesentliche Mittel hierfür war eine massive Verarmung der Bevölkerungen im globalen die Predigt des neoliberalen Evangeliums von offenen Süden zur Folge hat25, wird dieser Umstand zugunsten der Märkten, Freihandel und Wettbewerbsgleichheit. Exem- eigenen Konzernprofite augenscheinlich billigend in Kauf plarisch hierfür ist ein im Oktober 2007 unter dem Namen genommen. Mittlerweile hat die Europäische Union sogar „Das europäische Interesse – Erfolg im Zeitalter der Glo- die Vereinigten Staaten als weltweit wichtigsten Liberali- balisierung“ vorgelegtes Kommissionspapier, in dem es sierungstreiber überholt.26 heißt: „Als weltgrößter Exporteur von Waren und Dienst- Dabei wäre es naiv anzunehmen, dass die „erfolgrei- leistungen [...] profitiert die EU in erheblichem Maße von che“ Durchsetzung dieser Wirtschaftsagenda letztlich einer offenen Weltwirtschaft. [...] Sie hat ein offenkundi- nicht auch auf der Fähigkeit zur „effektiven“ Androhung ges Interesse daran, dass die Weltordnungspolitik Regeln und Anwendung von Gewalt beruhen würde: „Kom- folgt, die ihre Interessen und Werte widerspiegeln. [...] Die plementär zum internen Umbau zielt ‚Global Europe’ EU muss das ihr zur Verfügung stehende Instrumentarium vor allem auf die aggressive Durchsetzung der eigenen in vollem Umfang nutzen, wenn sie ihre Stellung in ei- Wirtschaftsagenda gegenüber anderen Ländern, während ner globalisierten Welt stärken will. [...] Gleichzeitig ist es ‚Europe 2020’ die Fortführung beider Strategien über die wichtig, dass die EU ihren Einfluss in internationalen Ver- globale Wirtschaftskrise hinaus festlegt. Im Kern werden handlungen geltend macht, um auch von anderen Offen- hierbei stets dieselben Maßnahmen propagiert: Die Schaf- heit einzufordern: Offenheit lässt sich politisch nur dann fung günstiger Wettbewerbsbedingungen für europäische rechtfertigen, wenn sie auf Gegenseitigkeit basiert. Die TNKs durch die Liberalisierung von Waren- und Dienst- EU muss dafür sorgen, dass ihre Exporteure und Investo- leistungshandel durch die Gleichstellung ausländischer ren in Drittländern ein angemessenes Niveau an Offenheit und inländischer Investitionen und den weltweiten Schutz sowie Grundregeln vorfinden, die unsere Fähigkeit nicht von Unternehmen und geistigem Eigentum vor dem Zu- beeinträchtigen, unsere Interessen zu schützen.“23 griff der Staaten. Dementsprechend besteht natürlich auch Die gesamte EU-Außenwirtschafts- und Handelspoli- ein Interesse seitens der EU-Konzerne, dass Rechtssicher- tik basiert also auf der Auffassung, ein Wettrennen zwi- heit und Investitionsschutz nötigenfalls von der Europä- schen einem Ferrari und einem VW Käfer sei deshalb fair, ischen Union auch militärisch gewährleistet werden – so weil sie auf derselben Straße fahren. Was sich allerdings zieht der Expansionsdrang der Unternehmen auch den des hinter so egalitär anmutenden Phrasen wie „Offenheit“ Militärs nach sich. Die strategische Ausrichtung der EU zielt also auf eine Ver- tiefung der ökonomi- schen Globalisierung, was insbesondere den weiteren, radikalen Umbau von Staaten des Südens durch Freihan- delsverhandlungen er- fordert.“27 Wohl nicht zufällig begann deshalb der for- cierte Aufbau eines EU- Militärapparates kurz vor Veröffentlichung der Lissabon-Strategie. Mit ihr wurde im Jahr 2000 das ehrgeizige Ziel ausgegeben, inner- halb von zehn Jahren zur Weltwirtschafts- macht Nummer eins aufsteigen zu wollen – spätestens ab diesem 8
Zeitpunkt war die Zeit der Bescheidenheit vorüber. Ähn- Doch weil der Beitritt weiterer Länder die Machtposi- lich forsch klang auch die „Europäische Sicherheitsstrate- tion der EU-Großmächte aus ihrer Sicht zu stark schwä- gie“ vom Dezember 2003: „Als Zusammenschluss von 25 chen würde, stehen derzeit - abseits einiger kleinerer Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Vier- Länder - keine neuerlichen Beitritte ernsthaft zur Debat- tel des Bruttosozialprodukts (BSP) weltweit erwirtschaf- te.32 Neue Wege für die Expansion der EU-Einflusssphäre ten, ist die Europäische Union, der zudem ein umfangrei- mussten deshalb gesucht und gefunden werden: „Schon ches Instrumentarium zur Verfügung steht, zwangsläufig vor dem Vollzug der Osterweiterung 2004 setzten in der ein globaler Akteur.“28 EU-Kommission Überlegungen ein, wie es danach weiter- gehen sollte. Klar war aber auch, daß ein abruptes Ende 2.3 Imperiale Geostrategie der Expansionsdynamik nicht im Interesse der EU sein konnte.“33 Das Ergebnis dieser Überlegungen ist die Eu- Die Erweiterung der europäischen Macht- und Ein- ropäische Nachbarschaftspolitik (ENP), deren Intention flusssphäre wird innerhalb der Brüsseler Chefetagen als über die Formel „Expansion ohne Erweiterung“ treffend notwendige Bedingung für den anvisierten Aufstieg zur beschrieben ist. Globalmacht erachtet (und sie deckt sich zudem auch noch mit den Expansionsinteressen der Wirtschaft): „Eine Rei- Die Arbeiten an der ENP wurden bereits im November he von Berichten der Europäischen Kommission und Ana- 2002 aufgenommen und die Ergebnisse von der EU-Kom- lysen von EU-Wissenschaftlern argumentieren, dass eine mission in Form des Papiers „Größeres Europa“ im März fortgesetzte Erweiterung notwendig ist, will die EU öko- 2003 veröffentlicht. Das Dokument steckte erstmals den nomisch und politisch in der Lage sein, mit anderen glo- Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik ab, die balen Akteuren zu konkurrieren“.29 Hierbei gilt es Schritt ein Jahr später auch offiziell so benannt wurde und die sich für Schritt vorzugehen: „Selbstverständlich muss die EU gegenwärtig auf 16 Staaten erstreckt. Das Ziel sei es, um sich als Macht in ihrer eigenen Region etablieren, wenn sie die Europäische Union einen „Ring befreundeter Staaten“ eine globale Macht werden will.“30 zu schaffen, ohne diesen aber eine Beitrittsperspektive zu eröffnen: „Die durch Nähe und Nachbarschaft aufgewor- Diesem Ziel diente zunächst die „Expansion per Erwei- fenen praktischen Fragen sind getrennt von der Frage der terung“ durch die Aufnahme zehn neuer EU-Mitgliedslän- Aussicht auf einen EU-Beitritt zu beantworten.“34 Den- der in den Jahren 2004 und 2007. Bereits 1993 hatte der noch – oder gerade deswegen – war die Einführung der Europäische Rat hierfür die so genannten „Kopenhagener ENP von der Signalwirkung her „revolutionär“: Mit ihr Kriterien“ aufgestellt, die als Vorbedingung für eine EU- untermauerte die Europäische Union ihr „Bestreben, ein Mitgliedschaft einen neoliberalen Umbau des Wirtschafts- Machtblock außerhalb ihrer Grenzen zu sein bzw. zu wer- systems sowie die vollständige Übernahme des gesamten den, ein Global Player.“35 Rechtsbestands der EU, des so genannten Acquis commu- nautaire, verlangten. Hinsichtlich der Triebfedern der EU- Vorrangiges Ziel der ENP ist die Schaffung einer Osterweiterung schreibt der Wirtschaftshistoriker Hannes „Großeuropäischen Wirtschaftszone“, indem die angren- Hofbauer in seinem Standardwerk über diesen Prozess: zenden Länder ganz ähnlich wie beim EU-Ostererweite- „Die Triebkraft zur Erweiterung der Europäischen Union rungsprozess mit zahlreichen Maßnahmen zum Abbau in Richtung Osten geht von der Produktivität der großen anlagesuchenden Unternehmen Westeuro- pas aus. [...] Nicht Ent- wicklungshilfe oder ka- rikativer Gestus sind es, auch nicht die Solidarität einer christlichen Werte- gemeinschaft, die Brüssel veranlassen, die Grenzen der Europäischen Union auszudehnen, sondern eine Überproduktions- krise in den westeuro- päischen Zentren ist der Grund. [...] Die Osterwei- terung der Europäischen Union dient vornehmlich dazu, den stärksten Kräf- ten im Westen - den so genannten ‚Global Play- ers‘ – neuen Marktraum zu erschließen und mit Hilfe des Regelwerks des ‚Acquis communautaire‘ Grand Area: Imperiales Raumkonzept, Quelle: James Rogers, A New Geography of European Power, abzusichern.“31 Egmont Paper 42, Januar 2011, S. 25 9
von Handelshemmnissen und zur Übernahme des Acquis die folgendes „Anforderungsprofil“ erfüllen: „Aus einem communautaire „ermutigt“ werden.36 Der neoliberale Um- geopolitischen Blickwinkel muss diese Zone fünf Kriteri- bau erfolgt in Form von Aktionsplänen, die von Brüssel en genügen: Sie muss einseitig diktiert werden. Erst wenn die Europäische Uni- 1. über alle grundlegenden Ressourcen verfügen, die not- on zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Vorgaben zufrie- wendig sind, um die europäische industrielle Produkti- denstellend implementiert wurden, erfolgt eine Belohnung on und künftige industrielle Bedürfnisse zu decken; in Form einer engeren wirtschaftlichen Integration. Die 2. alle wesentlichen Handelsrouten, insbesondere Ener- Mitspracherechte der Anrainerstaaten sind also - vorsich- gie-Pipelines und maritime Schifffahrtsrouten aus an- tig formuliert - begrenzt, weshalb zahlreiche Beobachter deren Regionen ins europäische Heimatland einschlie- kritisch auf den imperialen Charakter und das ausgepräg- ßen; te Zentrum-Peripherie-Gefälle der Nachbarschaftspoli- tik hingewiesen haben.37 Andere, wie etwa der ehemali- 3. so wenig wie möglich geopolitische Problemfälle ent- ge Kommentarchef der Welt am Sonntag, Alan Posener, halten, die zu einer Desintegration der Region führen kommen zwar zu demselben Ergebnis, sehen dies jedoch und damit die künftige wirtschaftliche Entwicklung als eine „naturgegebene“ Folge der aus ihrer Sicht erfor- Europas schädigen könnten; derlichen EU-Expansionspolitik: „Auf die Feinheiten der 4. die geringste Wahrscheinlichkeit einer relevanten Europäischen Nachbarschaftspolitik kommt es hier nicht Beanspruchung durch andere mächtige ausländische an, sondern auf die Feststellung, dass Europa, von seinen Akteure im Vergleich zu ihrer Bedeutung für die euro- eigenen Bürgern fast unbemerkt, bereits eine imperiale päische Wirtschaft und ihre geopolitischen Interessen Politik des ‚Größeren Europa‘ betreibt; und dass es dabei aufweisen; das typische Merkmal aller Imperien entwickelt, nämlich 5. eine Region sein, die die Europäische Union am ko- eine Asymmetrie und ein Spannungsverhältnis zwischen steneffektivsten durch eine Ausweitung der Gemeinsa- Zentrum und Peripherie.“38 men Sicherheits- und Verteidigungspolitik verteidigen Doch geht es nach den Propagandisten einer Weltmacht kann.“41 Europa, ist mit der Kontrolle des Nachbarschaftsraums Die „Grand Area“ soll Rogers zufolge mit einem eng beileibe noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. gestrickten Netz aus europäischen Militärbasen überzo- So plädiert etwa Mark Leonard, Chef des einflussreichen gen und so unter Kontrolle gebracht werden: „Das Kon- European Council on Foreign Relations, perspektivisch zept der ‚Grand Area‘ würde versuchen, diese Länder in für die Etablierung eines deutlich größeren imperialen ein dauerhaftes EU-geführtes System zu integrieren, das Großraums, den er als „Eurosphere“ bezeichnet: „Die Eu- durch Militärbasen, bessere Kommunikationslinien und ropäische Union beginnt damit, eine enorme Einflusssphä- engere Partnerschaften abgesichert wird – eine europä- re zu entwickeln, die sich weit über ihre Grenzen hinaus ische Vorwärtspräsenz, um die Notwendigkeit sporadi- erstreckt und die ‚ Eurosphere ‘ genannt werden könnte. scher Interventionen zu reduzieren.“42 Mit diesem Mili- Dieser Ring aus achtzig Staaten umfasst die ehemalige tärbasennetz soll vor allem folgenden Zielen Nachdruck Sowjetunion, den westlichen Balkan, den Mittleren Osten, verliehen werden: „Erstens, ausländische Mächte davon Nordafrika und Sub-Sahara Afrika und beinhaltet 20 Pro- abzuhalten, sich in Länder in der größeren europäischen zent der Weltbevölkerung.“39 Nachbarschaft einzumischen; und zweitens Halsstarrigkeit Am bündigsten wurden diese imperialen Expansions- und Fehlverhalten auf Seiten der lokalen Machthaber vor- pläne von dem Briten James Rogers, der u.a. beim Institu- zubeugen.“43 Konkret wird daraufhin die Errichtung einer te for Security Studies der Europäischen Union publizierte ganzen Reihe neuer Basen vorgeschlagen: „Neue europä- und auch als Berater des Europäischen Rates tätig war, in ische Militäranlagen könnten im Kaukasus und Zentrala- ein einheitliches geostrategisches EU-Raumkonzept ge- sien, der arktischen Region und entlang der Küstenlinie gossen. Der Chef der Group on Grand Strategy (GoGS), des indischen Ozeans benötigt werden. Das Ziel dieser in deren Beirat sich Mitglieder zahlreicher einflussreicher Einrichtungen wäre es, […] eine latente aber permanente EU-Denkfabriken tummeln, macht keinen Hehl daraus, Macht innerhalb der ‚Grand Area‘ auszuüben.“44 worin er die Hauptaufgabe einer Geostrategie sieht – in Das imperiale Konzept von James Rogers entstand militärgestützter Machtakkumulation: „Das ultimative selbstredend nicht im luftleeren Raum. Direkt rekurriert Ziel einer Geostrategie ist es, Geografie und Politik mitein- er etwa auf die Arbeiten von Robert Cooper45, dem frü- ander zu verknüpfen, um die Macht und die Einflusssphä- heren Büroleiter des langjährigen EU-Außenbeauftragten re des heimischen Territoriums zu maximieren. […] Ein Javier Solana. Cooper gilt als einer der einflussreichsten solches Konzept muss von einem subtilen, aber hervorra- EU-Strategen46 und tritt gleichzeitig schon lange mit der gend aufgestellten Militär unterstützt werden, das darauf Forderung an die Öffentlichkeit, die Europäische Union abzielt, das Auftauchen möglicher Rivalen zu vereiteln.“40 müsse sich einer Strategie zuwenden, die er als „liberaler Anschließend steckt James Rogers einen „Grand Area“ Imperialismus“ bezeichnet: „Der postmoderne Imperialis- genannten europäischen Großraum ab, den es gelte, unter mus hat zwei Komponenten. Die erste ist der freiwillige Kontrolle zu bringen und legt damit nicht weniger als die Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normaler- Kartografie eines „Imperium Europa“ vor. Es umfasst gro- weise von einem internationalen Konsortium durch inter- ße Teile Afrikas, die ölreiche kaspische und zentralasiati- nationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank aus- sche Region und den Mittleren Osten, reicht aber auch bis geübt […] Die zweite Dimension des postmodernen Impe- weit nach Ostasien, wo es gilt, die zentralen Schifffahrts- rialismus könnte der Imperialismus des Nachbarn genannt routen zu kontrollieren (siehe Grafik). Konkret sollen Län- werden. Instabilität in der Nachbarschaft stellt eine Gefahr der und Regionen in die „Grand Area“ integriert werden, dar, die kein Staat ignorieren kann. Politische Misswirt- 10
schaft, ethnische Gewalt und Kriminalität auf dem Balkan Prozess des Machtübergangs von den bestehenden Mäch- stellen eine Gefahr für Europa dar. Die Antwort hierauf ten auf die aufstrebenden Mächte beschleunigt hat.”54 An- war, eine Art freiwilliges UN-Protektorat im Kosovo und schließend wird jedoch unmissverständlich klargestellt, in Bosnien zu schaffen.”47 dass man nicht beabsichtigt, diese Entwicklung still- Offen redet Cooper damit einer neuen EU-Koloni- schweigend hinzunehmen: „Das Europäische Parlament alpolitik das Wort, wobei gerade das von ihm gewählte […] weist die Behauptung nachdrücklich zurück, dass Beispiel Kosovo zeigt, wie wenig „freiwillig“ die europä- sich der Westen angesichts des Entstehens neuer außenpo- ischen wirtschaftspolitischen Präferenzen aufgezwungen litisch maßgeblicher Wirtschaftsmächte und potenzieller werden. Die serbische Provinz wurde unter der westlichen Rivalen damit abfinden sollte, seine Führungsrolle aufzu- Besatzung vollständig entlang neoliberaler Ordnungs- geben, und sich auf die Bewältigung seines Niedergangs vorstellungen umgebaut – ebenso im Übrigen wie auch konzentrieren sollte.“55 Bosnien, Afghanistan und der Irak.48 Die volle Wucht Um sich für diese heraufziehenden Rivalitäten zu des EU-Militärapparats soll nach den Vorstellungen Coo- wappnen, müsse die Europäische Union stärker machtpo- pers all diejenigen treffen, die seine Begeisterung für den litische Fragen in den Mittelpunkt rücken und ihre Kapa- „freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie“ aus zitäten bündeln, ansonsten sei der Abstieg nicht zu vermei- verständlichen Gründen nicht teilen: „Die Herausforde- den, so die weitverbreitete Auffassung. Beispielhaft hier- rung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter für äußerte sich der ehemalige britische Premierminister Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Ba- Tony Blair im Juni 2011: „Für Europa ist es wesentlich, sis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. dass es versteht, dass die einzige Möglichkeit, um Unter- Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des stützung für Europa zu erhalten, heute nicht auf einer Art postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die Nachkriegssicht basieren kann, dass die EU notwendig für raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen – den Frieden ist. […] Die Existenzberechtigung Europas Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer basiert heute auf Macht, nicht auf Frieden. […] In einer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im Welt, in der vor allem China dabei ist, zur dominierenden 19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber Macht des 21. Jahrhunderts zu werden, ist es für Europa stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn vernünftig, sich zusammenzuschließen, um sein kollek- wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Ge- tives Gewicht zu nutzen, um globalen Einfluss zu erlan- setz des Dschungels anwenden.”49 Überhaupt ist es seit ei- gen.“56 Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen nigen Jahren wieder chic, von einem „Imperium Europa“ spielt aus herrschender Sicht ein mächtiger Militärapparat zu reden50, selbst hohe EU-Politiker wie EU-Kommissi- eine wichtige Rolle: „Das Recht des Stärkeren war und ist onschef José Manuel Barroso bedienen sich mittlerweile […] ein wesentlicher Aspekt des zwischengesellschaftli- ohne falsche Scheu dieser Begrifflichkeit.51 chen Verkehrs. Macht und Einfluss in internationalen Or- Jedenfalls ist klar, dass sich die Europäische Union ganisationen hängen hiervon entscheidend ab. Militärische mit diesem imperialen Programm endgültig von der Zi- Stärke etwa gilt als ‚diskrete Hintergrundinformation‘ vilmacht verabschiedet, die sie teils immernoch vorgibt über die Kräfteverhältnisse.“57 zu sein. So beschrieb die Bertelsmann-Stiftung in einer Es mehren sich seit einigen Jahren sogar die westlichen Studie über mögliche EU-Zukunftsszenarien die von ihr Stimmen, die einer neuen epochalen Konfrontation, einem präferierte Option folgendermaßen: „Im Szenario Super- „Neuen Kalten Krieg“ zwischen „Demokratien“ (USA und macht Europa wird das große Europa seinem objektiven EU) und „Autokratien“ (China und Russland) das Wort re- Weltmachtpotential gerecht. Die Europäische Union nutzt den.58 Vor allem die Thesen des einflussreichen Politikwis- ihre materiellen und institutionellen Ressourcen in vol- senschaftlers Robert Kagan prägen die diesbezügliche De- lem Umfang. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Bevöl- batte: „Die alte Rivalität zwischen Liberalismus und Au- kerungszahl, militärisches Potential und das europäische tokratie ist neu entflammt, und die Großmächte der Welt Wertesystem bieten ihr eine beachtliche Handlungsbasis. beziehen entsprechend ihrer Regierungsform Position. [...] [...] Die Supermacht Europa verabschiedet sich endgültig Die Geschichte ist zurückgekehrt, und die Demokratien von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneinge- müssen sich zusammentun, um sie zu gestalten – sonst schränkt der Mittel internationaler Machtpolitik. […] Die werden andere dies für sie tun.“59 Ganz ähnlich prophezeit sich stetig in Richtung einer Supermacht Europa entwic- Nikolaus Busse, Brüssel-Korrespondent der Frankfurter kelnde Europäische Union erweist sich als ein äußerst Allgemeinen Zeitung, eine „globale Großkonkurrenz“, auf offenes System, das auch im Prozess der Staatswerdung die folgendermaßen reagiert werden müsse: „Auf immer fähig ist, neue Mitglieder aufzunehmen. Damit ist die EU mehr Feldern werden wir leidenschaftliche Konkurrenz global das einzige System, das territorial kontinuierlich und harte Interessengegensätze mit den aufsteigenden expandiert.“52 Großmächten erleben. Das erfordert eine beherzte globale Präsenz des Westens, und zwar nicht nur der USA. [...] 2.4 Rückkehr der Großmachtkonflikte Europa kann in einer Welt harter geopolitischer Rivalität nicht als große Friedensbewegung bestehen, sondern muss Angesichts der hochgesteckten Ziele sieht die Realität zu einer anspruchsvollen Diplomatie und einem selbstbe- für die europäischen Weltmachtansprüche allerdings eher wussten Auftritt finden. Dieses Problem löst man nicht düster aus: Kaum jemand bestreitet heute ernsthaft, dass mit der Schaffung neuer Posten und Strukturen in Brüssel, die Macht und der globale Einfluss der USA, aber eben sondern indem die Eliten in den großen Mitgliedsstaaten auch die Europäische Union abnehmen.53 So konstatierte einen größeren Willen entwickeln, sich harten machtpoli- etwa ein Berichtsentwurf des Europäischen Parlaments im tischen Fragen gemeinsam zu stellen.“60 September 2011, „dass die derzeitige Wirtschaftskrise den 11
Teils wird sogar offen ausgesprochen, das EU-Militär 2.5 Neoliberalismus, Armut und Krieg müsse sich für bewaffnete Auseinandersetzungen mit ri- valisierenden Großmächten rüsten. Im Mai 2011 erschien Das neoliberale Weltwirtschaftssystem verursacht etwa die deutsche Ausgabe des Sammelbandes „Perspek- nicht nur die Verarmung unzähliger Menschen, es hat auch tiven für die europäische Verteidigung 2020“, der von der weit reichende Folgen für die Frage von Krieg und Frie- hauseigenen Denkfabrik der Europäischen Union, dem den in der Welt. Denn entgegen dem gängigen Mediendis- Institute for Security Studies (ISS) in Paris, herausgege- kurs sind nicht Habgier, ethnische bzw. religiöse Konflikte benen wurde. In diesem derzeit wohl wichtigsten Vor- o.ä. der ausschlaggebende Faktor für den Ausbruch von schlagskatalog zur künftigen EU-Militärpolitik findet sich Bürgerkriegen in der so genannten Dritten Welt, sondern ein schockierend deutlicher Artikel von Tomas Ries, dem Armut. Der bekannte Friedensforscher Michael Brzoska Direktor des Swedish Institute for International Affairs. schreibt hierzu: „Wenn heute in der westlichen Welt von Unter namentlichem Bezug auf Russland und einige an- Kriegsgefahr die Rede ist, entsteht oft der Eindruck, sie dere Länder wird darin etwa festgestellt: „Die GSVP [Ge- ginge von irrationalen Einzelnen aus. Dabei ist in der meinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird bis Kriegsursachenforschung unumstritten, dass Armut der 2020 wahrscheinlich mehrere Aufgaben erfüllen müssen. wichtigste Faktor für Kriege ist. Armut steht als Indikator […] Gegenüber den entfremdeten modernen Staaten muss für wirtschaftliche als auch für soziale Benachteiligung, sie eine harte Machtpolitik verfolgen, die von der Einflus- bis hin zum Mangel an Möglichkeiten, das eigene Leben snahme im Clausewitzschen Sinne bis zur direkten militä- in Würde zu gestalten. Die Kriege der Zukunft werden im- rischen Konfrontation reichen kann.“61 mer häufiger Kriege um Wohlstand und Würde sein – und zumindest jenen, die sie betreiben, rational erscheinen.“64 Ein besonders heikler Bereich ist die Kontrolle von Selbst die Weltbank gelangte in einer bemerkenswerten Rohstoffvorkommen und ihren Transportwegen. Auf- Studie aus dem Jahr 2003 zu demselben Ergebnis: „Empi- grund der zunehmenden Verknappung nicht nur von Öl risch ist das auffälligste Muster, dass sich Bürgerkriege be- und Gas, sondern auch von anderen „vitalen“ Bodenschät- sonders auf arme Staaten konzentrieren. Krieg verursacht zen, drohen hier schwere Konflikte bis hin zu militärischen Armut, aber wichtiger noch für diese Konzentration ist, Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten. Dass dass Armut die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen er- es hierzu mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kommen höht. Somit kann unser zentrales Argument bündig zusam- kann, ist etwa die Auffassung der US-Geheimdienste oder mengefasst werden: Die zentrale Konfliktursache (central auch des Zentrums für Transformation der Bundeswehr.62 root cause of conflict) ist das Scheitern ökonomischer Ent- Schon in einem 2004 veröffentlichten Papier des Institu- wicklung.“65 te for Security Studies der Europäischen Union, das als Entwurf für ein EU-Weißbuch in die Debatte eingespeist Das Schlimmste und Empörendste daran ist, dass al- wurde, hieß es deshalb die „ökonomische Überlebensfä- len Entscheidungsträgern dieser Zusammenhang völlig higkeit“ erfordere den „Stabilitätsexport zum Schutz von bewusst ist, eine Änderung der neoliberalen Außenwirt- Handelsrouten und dem Fluss von Rohstoffen.“63 Ein sol- schaftspolitik, von denen die EU-Konzerne schließlich cher „Stabilitätsexport“ wird aus Sicht der EU-Eliten vor massiv profitieren, aber nicht ansatzweise auf der Tages- allem auch aufgrund der aggressiven europäischen Außen- ordnung steht. Gerade weil man um die fatalen Folgen wirtschaftspolitik immer notwendiger. Denn die von die- dieser Wirtschaftspolitik weiß, wird eine der wesentlichen ser Politik verursachte Armut bringt immer mehr Konflikte Aufgaben der EU-Sicherheitspolitik darin gesehen, die hervor, die „befriedet“ werden müssen, sollten sie wesent- vom Westen verschuldeten Globalisierungskonflikte mili- liche Interessen „bedrohen“. tärisch so „gut“ es eben geht zu deckeln. Dies wird etwa in dem bereits erwähnten einflussreichen Sammelband „Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020“ ganz offen eingestanden: “Abschottungseinsätze – Schutz der Reichen dieser 15 Armut befördert Bürgerkriege Welt vor den Spannungen und Problemen der Ar- Wahrscheinlichkeit eines Konflikts in % Mit wachsendem Wohlstand sinkt die men. Da der Anteil der ar- men, frustrierten Weltbe- 12 Gefahr gewaltsamer Konflikte völkerung weiterhin sehr hoch sein wird, werden 9 sich die Spannungen zwi- schen dieser Welt und der Welt der Reichen weiter 6 verschärfen – mit entspre- chenden Konsequenzen. Da es uns kaum gelin- © IMI 2011 3 gen wird, die Ursachen dieses Problems, d.h. die Funktionsstörungen der 500 1000 2000 3000 4000 5000 Gesellschaften, bis 2020 Bruttosozialprodukt je Kopf (US$) Source: Karl-Albrecht Immel: Armut fördert Bürgerkriege - wachsender zu beseitigen, werden wir Wohlstand senkt Konflikte, Welthungerhilfe, Januar/Februar 2006. uns stärker abschotten 12
Sie können auch lesen