Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...

Die Seite wird erstellt Hortensia-Solange Schulze
 
WEITER LESEN
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
SWP-Studie

  Peter Becker

Die EU auf dem Weg in eine
»Transferunion«?
         Ein Beitrag zur Entdramatisierung

                                                Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                            Deutsches Institut für
                                             Internationale Politik und Sicherheit

                                                                     SWP-Studie 8
                                                                       Juni 2018
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
Kurzfassung

In der Europäischen Union und der Eurozone wird hitzig über die Not-
wendigkeit zusätzlicher Transfers und das Zerrbild einer »Transferunion«
gestritten. Angesichts der Kontroversen erscheint es dringlicher denn je,
Vor- und Nachteile sowie Formen und Optionen von Transfers darzulegen
und damit die Diskussion zu versachlichen. Eine rationale Gesamt-
bewertung muss über die reinen Finanztransfers hinaus auch die weiter-
reichenden Vorteile einer geeinten Union und einer stabilen Währungs-
union einbeziehen.
   Die EU verfügt bereits über verschiedene Transferinstrumente innerhalb
und außerhalb ihres Budgets. Aber weder die vorhandenen noch die dis-
kutierten weiteren Mechanismen rechtfertigen die These, Europa befinde
sich auf dem Weg in eine Transferunion.
   Dennoch setzen die erreichte Integrationstiefe und die erforderliche weite-
re Vertiefung Anreize für neue Arten von Transfers. Es wird unumgänglich
sein, das Budget der EU aufzustocken und neue Transfermechanismen ein-
zuführen, um den Anforderungen an eine stetig enger zusammenwachsen-
de und interdependente EU mit einem Binnenmarkt und einer gemein-
samen Währung zu genügen. Dabei muss die Balance zwischen Solidar-
leistungen und mitgliedstaatlicher Eigenverantwortlichkeit gewahrt werden.
   Drei Prinzipien sollten beachtet werden. Erstens müssen klare Grenzen
gezogen werden, was Umfang, Dauer und Funktion von Finanztransfers als
Form europäischer Solidarität betrifft. Zweitens müssen Transfers an das
Prinzip der Konditionalität geknüpft werden, also der Belohnung von Regel-
konformität und der Sanktionierung von Regelverstößen. Drittens wird eine
Ultima-Ratio-Begrenzung für zusätzliche Transfers unabdingbar sein. Zu
denken ist hier an eine Staateninsolvenz und ein geordnetes Verfahren der
Schuldenrestrukturierung innerhalb der Eurozone.
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
SWP-Studie

Peter Becker

Die EU auf dem Weg in eine
»Transferunion«?
Ein Beitrag zur Entdramatisierung

                                       Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                   Deutsches Institut für
                                    Internationale Politik und Sicherheit

                                                            SWP-Studie 8
                                                              Juni 2018
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder vergleichbare
Verwendung von Arbeiten
der Stiftung Wissenschaft
und Politik ist auch in Aus-
zügen nur mit vorheriger
schriftlicher Genehmigung
gestattet.

SWP-Studien unterliegen
einem Begutachtungsverfah-
ren durch Fachkolleginnen
und -kollegen und durch die
Institutsleitung (peer review).
Sie geben die Auffassung der
Autoren und Autorinnen
wieder.

© Stiftung Wissenschaft und
Politik, Berlin, 2018

SWP
Stiftung Wissenschaft und
Politik
Deutsches Institut für
Internationale Politik und
Sicherheit

Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-200
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org

ISSN 1611-6372
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
Inhalt

5    Problemstellung und Empfehlungen

7    Finanzausgleich und Transfers:
     Welche, warum und in welcher Form?
8    Transfers und Finanzausgleich:
     Formen und Vorbedingungen
11   Transfers, Transferunion, Finanzausgleich?

12   Möglichkeiten und Formen eines
     Finanzausgleichs in der EU

15   Finanztransfers in der EU
15   Das EU-Budget und seine Transferinstrumente
18   Transfermechanismen und Finanzinstrumente
     außerhalb des Haushalts

21   Neue Transfermechanismen in der Eurozone
21   Drei Modelle zur Stabilisierung der Eurozone
24   Anforderungen an einen zusätzlichen
     Stabilisierungsmechanismus in der Eurozone

28   Prinzipien und Voraussetzungen für
     zusätzliche europäische Transfers
29   Das Prinzip begrenzter Solidarität
30   Das Konzept der Konditionalität
32   Einführung einer Ultima-Ratio-Grenze

33   Schlussfolgerungen

33   Abkürzungsverzeichnis
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
Dr. Peter Becker ist Wissenschaftler in der
Forschungsgruppe EU / Europa
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
Problemstellung und Empfehlungen

Die EU auf dem Weg in eine
»Transferunion«?
Ein Beitrag zur Entdramatisierung

Seit der tiefen Krise der Europäischen Union und vor
allem der Eurozone wird erneut über die Notwendig-
keit zusätzlicher Transfers in der EU und über das
Zerrbild einer »europäischen Transferunion« gestritten.
Bereits zu den Hochzeiten der Krise in der Eurozone
während der Jahre 2011 bis 2013 war diese Vorstel-
lung ein immer wiederkehrendes Thema in den Kom-
mentarspalten deutscher Zeitungen und in politi-
schen Talkshows.
   Der Begriff Transferunion ist negativ konnotiert,
wird er doch gemeinhin als unbegrenzte und dauer-
hafte Umverteilung öffentlicher Gelder zwischen
den Mitgliedstaaten der EU verstanden, als eine Art
europäischer Finanzausgleich. In der öffentlichen
Debatte wird kaum zwischen Formen, Funktionen
und Grundlagen von Transferzahlungen unterschieden
oder darüber diskutiert, wie begründet und zweck-
mäßig sie sind. Zum einen sind sie nicht per se sinn-
los oder schlecht und daher auch nicht umstandslos
abzulehnen. Zum anderen gibt es schon lange Instru-
mente und Mechanismen, mit denen Geld innerhalb
der EU umverteilt wird. Die Debatte über eine euro-
päische Transferunion sollte deshalb weniger über
das »Ob« geführt werden, sondern vielmehr über
das »Wie viel« und das »Wie und in welcher Form«.
Gerade angesichts der hitzigen Kontroversen über
das Thema erscheint es dringlicher denn je, Vor- und
Nachteile sowie Formen und Optionen von Transfers
in der Europäischen Union darzulegen und damit
die Diskussion wenn möglich zu versachlichen. Dazu
dienen fünf Leitfragen:
1. Was wird mit dem Begriff einer Transferunion
   verbunden?
2. Sind Finanztransfers in der EU gleichzusetzen
   mit Instrumenten eines europäischen Finanz-
   ausgleichs und bilden zusätzliche europäische
   Transfers Schritte zur Etablierung eines europäi-
   schen Finanzausgleichssystems?
3. Zu welchem Zweck und bis zu welchem Grad sind
   Transfers sinnvoll und erforderlich?
4. Über welche Transferleistungen und Mechanismen
   verfügt die EU bereits und in welchem Umfang
   werden Transfers vorgenommen?

                                               SWP Berlin
               Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
                                                 Juni 2018

                                                        5
Die EU auf dem Weg in eine "Transferunion"? - SWP-Studie Peter Becker - Stiftung ...
Problemstellung und Empfehlungen

            5. Welche zusätzlichen Transfermechanismen              innerhalb der Eurozone in den Griff zu bekommen.
               werden diskutiert und welchem Zweck sollen sie       Diese zusätzlichen Mechanismen sind nötig, um den
               dienen?                                              Anforderungen an eine stetig enger zusammen-
               In der Diskussion sollte zuerst zwischen dauer-      wachsende und interdependente Europäische Union
            haften und begrenzten sowie zwischen bedingungs-        mit einem gemeinsamen Binnenmarkt und einer
            losen und konditionierten Transfers unterschieden       gemeinsamen Währung zu genügen. Doch auch
            werden. Die Bewertungsmaßstäbe für solche Transfer-     wenn es gute politische und ökonomische Gründe
            leistungen innerhalb des politischen Systems der        für zusätzliche Transfers gibt, wird darauf zu achten
            Europäischen Union wären Finanzierungsgerechtig-        sein, die Balance zwischen Solidarleistungen und
            keit und Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten    mitgliedstaatlicher Eigenverantwortlichkeit zu wahren.
            sowie Volumen und Dauer der Transfers, die erforder-    Die Geber der Finanztransfers dürfen nicht über-
            lich wären, um einen angemessenen Ausgleich bei         fordert werden.
            der Finanzierung der europäischen Aufgaben in den          Hierfür können einige Prinzipien hilfreich sein,
            Mitgliedstaaten sicherzustellen.                        um die geforderte Balance zwischen Eigenverant-
               Festzuhalten ist, dass Transferzahlungen in der EU   wortung und Solidaritätsanspruch auszutarieren.
            keinesfalls zwangsläufig den Weg in ein europäisches    So muss klar sein, dass europäische Solidarität, auch
            Finanzausgleichssystem ebnen. Hierfür fehlen die        in Form von Finanztransfers, ihre Grenzen hat,
            fundamentalen politischen, rechtlichen, sozialen und    und zwar in Umfang, Dauer und Funktion. Wo diese
            ökonomischen Voraussetzungen. Für unbefristete,         Grenzen genau liegen, muss vorab ausgehandelt
            allenfalls mäßig an Bedingungen geknüpfte Transfers     werden. Einen Bezugspunkt dafür liefert das Prinzip
            mangelt es in der Eurozone ebenso wie in der EU-27      der Konditionalität, also der Belohnung von Regel-
            an der notwendigen Homogenität und gemeinsamen          konformität oder Sanktionierung von Regelverstößen.
            Identität. Wahrscheinlich wäre der Finanzbedarf für     Auch wird eine Ultima-Ratio-Begrenzung notwendig
            dauerhafte Transfers innerhalb der Eurozone ohne-       werden, nämlich in Form einer Staateninsolvenz
            hin aus ökonomischen und politischen Gründen nicht      beziehungsweise eines geordneten Verfahrens der
            zu decken. Die Vorstellung von nahezu unbegrenzter      Schuldenrestrukturierung innerhalb der Eurozone.
            und unkontrollierter Umverteilung in der Europä-           Eine Gesamtbewertung von Finanztransfers wird
            ischen Union ist unrealistisch und löst Ängste aus.     über die Zusammenstellung der reinen Finanzströme
            Diese fördern die Tendenz, sich von notwendigen         hinausgehen müssen. Neben den materiellen und
            Reformschritten zu distanzieren oder gar den euro-      quantifizierbaren werden auch immaterielle und
            päischen Integrationsprozess grundsätzlich abzuleh-     kaum quantifizierbare Faktoren einzubeziehen sein.
            nen. Bedingungslose Transfers in größerem Rahmen        Für eine umfassende und rationale politische Ab-
            könnten so eher die aktuellen Desintegrations-          wägung sollten die Situationen und Überlegungen
            tendenzen verstärken, statt die EU sowie die Wirt-      der Partner in der EU berücksichtigt werden, denn
            schafts- und Währungsunion (WWU) zu stabilisieren.      deren Kosten-Nutzen-Kalküle beeinflussen sich gegen-
               Allerdings wird es unumgänglich sein, das Budget     seitig und relativieren einander.
            der EU aufzustocken sowie zusätzliche Finanz-
            instrumente und Transfermechanismen einzuführen.
            Der wichtigste Grund dafür ist die bislang erreichte
            Integrationsdichte, verbunden mit wachsender poli-
            tischer und ökonomischer Verflechtung. Hier geht es
            aber keineswegs darum, einen europäischen Finanz-
            ausgleich zu schaffen oder eine Transferunion zu
            konstruieren. Vielmehr erzeugen neue Herausforde-
            rungen auch neue Finanzbedarfe. So gilt es, euro-
            päische öffentliche Güter zu stärken, wie den Schutz
            der gemeinsamen Außengrenze und den Ausbau
            der gemeinsamen Verteidigung, und Antworten auf
            Migration, Klimawandel oder Digitalisierung zu
            finden. Auch werden Transfermechanismen gefordert,
            um die bisher ungelösten strukturellen Probleme

            SWP Berlin
            Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
            Juni 2018

            6
Finanzausgleich und Transfers: Welche, warum und in welcher Form?

Finanzausgleich und
Transfers: Welche, warum
und in welcher Form?

Mit dem Begriff Transferunion wird ein Bild von der                »Transferunion à la Macron«. 6 Auf der anderen Seite
Zukunft der Europäischen Union gezeichnet, in der                  wurden aber auch eine »ehrliche Transferunion« und
einige wirtschaftlich erfolgreiche Mitgliedstaaten im              ein europäisches Finanzausgleichssystem als einziger
Norden Europas auf Dauer immense Summen an                         Lösungsweg für die EU und die Eurozone angepriesen. 7
viele reformunwillige und ärmere Mitgliedstaaten im                   Diese immer wiederkehrende Debatte ist seit eini-
Süden zahlen, dass also »der Norden den Süden wird                 gen Jahrzehnten Bestandteil des Diskurses der deut-
aushalten müssen«. 1 Die Währungsunion sei im                      schen Europapolitik und umfasst zwei miteinander
Scheitern begriffen und habe ihre beste Zeit schon                 verwobene Argumentationsstränge. Zum einen wurde
hinter sich. 2 Sie entwickle sich immer stärker zu                 bereits im Zuge der ersten Überlegungen und Pläne
einer Transferunion, 3 die von einigen Mitgliedern als             für eine europäische Währungsunion über Notwen-
»Selbstbedienungsladen« interpretiert werde. 4 Vor                 digkeit und Sinn zusätzlicher Transferzahlungen
allem die Vorschläge des französischen Präsidenten                 diskutiert. Besonders intensiv war diese Debatte wäh-
Emmanuel Macron zur Reform der Eurozone haben                      rend der Verhandlungen über den Vertrag von Maas-
diese Debatte angefacht. 5 Macron propagiert ein                   tricht und die Vereinbarung über einen Stufenplan
gesondertes Budget der Eurozone, verwaltet von                     hin zu einer WWU in den 1990er Jahren. 8 Zum
einem europäischen Finanzminister, der wiederum                    anderen wird schon seit den 1970er Jahren kritisiert,
von einer eigenen parlamentarischen Kammer                         die deutschen Nettozahlungen und damit verbunde-
kontrolliert werden soll – es ist die Rede von einer               nen Transfers über das EU-Budget seien zu hoch.
                                                                   Häufig wird beklagt, Deutschlands sei »Zahlmeister«
                                                                   oder »Melkkuh« der EU. 9

  1 Hans-Werner Sinn, »Brexit, Deutschland und die Zukunft           6 Malte Fischer, »Eine Transferunion à la Macron«, in:
  der EU«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.2.2018.            Wirtschaftswoche, 8.9.2017.
  2 Siehe Clemens Fuest, »Das Euro-Junktim«, in: Handelsblatt,       7 Christian von Bechtolsheim, »Europas Vorbild muss
  7.2.2018; Jürgen Stark, »Europa zuerst!«, in: Frankfurter All-     der Länderfinanzausgleich sein«, in: Süddeutsche Zeitung,
  gemeine Zeitung, 18.1.2018; Hans-Werner Sinn, »Die histori-        13.10.2011.
  sche Chance«, in: Handelsblatt, 1.2.2018.                          8 Siehe Ingo P. Thomas, Ein Finanzausgleich für die Europäische
  3 Siehe z.B. Oliver Höing, »Weder Stabilitäts- noch Trans-         Union? Eine allokationstheoretische und fiskalföderalistische Analyse,
  ferunion: der Europäische Stabilitätsmechanismus in einer          Tübingen 1997 (Kieler Studien, Bd. 285); Ulrich Häde, Finanz-
  reformierten Währungszone«, in: Integration, 39 (2016) 1,          ausgleich. Die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen
  S. 15–29.                                                          im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen
  4 Jörg König, Von der Währungs- zur Transferunion, Berlin:         Union, Tübingen 1996; Clemens Fuest, Eine Fiskalverfassung für
  Stiftung Marktwirtschaft, Januar 2016 (Argumente zu Markt-         die Europäische Union, Köln 1995 (Untersuchungen zur Wirt-
  wirtschaft und Politik, Nr. 132), S. 3.                            schaftspolitik, Bd. 100).
  5 Lüder Gerken, »Warum ein EU-Haushalt hoch proble-                9 Siehe Peter Becker, »Zwischen Zuchtmeister und Zahl-
  matisch wäre«, in: Hamburger Abendblatt, 17.8.2017; »Luxem-        meister – Deutsche Europapolitik und die europäischen
  burg für Transferunion«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,       Finanzverhandlungen«, in: Katrin Böttger/Mathias Jopp (Hg.),
  22.11.2017.                                                        Handbuch zur deutschen Europapolitik, Baden-Baden 2016,

                                                                                                                      SWP Berlin
                                                                                      Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
                                                                                                                        Juni 2018

                                                                                                                                         7
Finanzausgleich und Transfers: Welche, warum und in welcher Form?

                       Unklar ist, was unter einer                               Transfers und Finanzausgleich:
                    Transferunion zu verstehen wäre.                             Formen und Vorbedingungen

                Unklar bleibt allerdings, was man sich unter einer               Zunächst müssen zwei Typen von Transfers ausein-
             angeblich bevorstehenden Transferunion vorzustellen                 andergehalten werden. Vertikale Transfers werden
             hätte. Schon seit geraumer Zeit werden Transferzah-                 von einer staatlichen Ebene an eine andere geleistet,
             lungen nicht nur in der Europäischen Union und der                  also beispielsweise von der Zentralregierung an die
             Eurozone, sondern auch weltweit in Föderalstaaten                   Gliedstaaten oder von der Europäischen Union an
             geleistet. Sie sind ein allgemein anerkanntes wirt-                 einzelne Mitgliedstaaten. Horizontale Transfers
             schafts- und fiskalpolitisches Instrument staatlicher               bewegen sich auf derselben staatlichen Ebene, also
             Finanzverfassungen.                                                 etwa Ausgleichszahlungen zwischen Gliedstaaten
                Form, Ausmaß und Funktion von Transfers sind                     beziehungsweise Mitgliedstaaten. 12 Grundsätzlich
             in der Regel mit staatlichen Leistungen und Aufgaben                stehen sehr unterschiedliche Formen für vertikale
             verknüpft, die allen Staatsbürgern im gesamten                      Transferleistungen zur Verfügung, angefangen bei
             Staatsgebiet zugute kommen sollen. Die Verteilung                   Ergänzungszuweisungen zur Aufstockung der glied-
             der finanziellen Ressourcen eines Staates hängt dem-                staatlichen Finanzkraft über konditionierte Zuwei-
             zufolge auch von Aufteilung und Umfang staatlicher                  sungen mit besonderen Verwendungs- und Ziel-
             Leistungen und Aufgaben ab. Darüber hinaus folgen                   vorgaben bis zu Sonderbedarfen in einem Gliedstaat.
             die Transfers einer ökonomischen Rationalität, sind                 Möglich sind auch Mischfinanzierungen, die sich
             Ausdruck gegenseitiger Solidarität und daher auch                   aus zentral- und gliedstaatlichen Haushaltsmitteln
             einer gemeinsamen Identität. Die Form eines Finanz-                 zusammensetzen, beispielsweise die innerdeutschen
             ausgleichs und der Umfang der Transferzahlungen                     Gemeinschaftsaufgaben. Häufig wird eine direkte
             können insofern zum »Gradmesser für Souveränität                    Verbindung zwischen finanziellen Transfers und dem
             und Staatlichkeit« 10 werden. Weltweit besteht eine                 Angebot einer staatlichen Leistung hergestellt, wie
             große Vielfalt bundesstaatlicher Finanzausgleichs-                  etwa bei den spezifischen Zuschüssen (grants) der
             systeme. Sie haben sich aus spezifischen Ursprüngen                 bundesstaatlichen Ebene an die Bundesstaaten in den
             nationaler Staatsbildung und Staatsorganisation und                 USA. Transferzahlungen können auch explizit an
             damit auch aus unterschiedlichen Finanzverfassun-                   Bedingungen geknüpft sein, zum Beispiel an die Um-
             gen entwickelt.                                                     setzung von Strukturreformen, die Einschränkung
                Die heute bestehenden Finanzausgleichssysteme                    von Leistungen des Staates, die Kürzung seiner Aus-
             sind also historisch gewachsen und deshalb von                      gaben oder die Erhöhung seiner Einnahmen. Nach
             grundsätzlicheren politischen Entwicklungen beein-                  deutschem Staatsrechtsverständnis besteht eine Ver-
             flusst und mit ihnen verbunden. Sie gehen nicht auf                 bindung zwischen der Staatlichkeit von Gliedstaaten
             eine ideale Struktur zurück, die aus der Theorie des                in einer Union, die ihre Aufgaben erfüllen und
             fiskalischen Föderalismus 11 abgeleitet und angepasst               öffentliche Leistungen anbieten müssen, und ihrer
             worden wäre, sondern haben ihre eigenen Lösungs-                    angemessenen Finanzausstattung, die unter anderem
             wege gefunden. Deswegen ist es äußerst schwierig,                   über Transfermechanismen gewährleistet wird. 13
             Lösungsansätze auf andere Systeme zu übertragen
             oder Elemente eines bestehenden in ein anderes oder
             neues System einzugliedern.                                           12 Darüber hinaus sind Zahlungen aus öffentlichen Haus-
                                                                                   halten von »parafiskalischen Transfers« zu unterscheiden,
                                                                                   wie beispielsweise zwischen Sozialversicherungen oder
                                                                                   zwischen Banken über einen gemeinsamen Einlagensiche-
                                                                                   rungsfonds.
                                                                                   13 Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1986 in
                 S. 217–230; Peter Becker, Das Finanz- und Haushaltssystem der     seiner Grundsatzentscheidung zur bundesstaatlichen Finanz-
                 Europäischen Union. Grundlagen und Reformen aus deutscher         verfassung festgestellt, dass das »Ziel dieser Verteilung ist,
                 Perspektive, Wiesbaden 2014.                                      Bund und Länder finanziell in die Lage zu versetzen, die
                 10 Häde, Finanzausgleich [wie Fn. 8], S. 9.                       ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben auch
                 11 Siehe Richard A. Musgrave, The Theory of Public Finance,       wahrzunehmen«. Denn »[n]ur auf der Basis einer hinreichen-
                 New York 1959; Wallace E. Oates, Fiscal Federalism, New York      den Finanzausstattung sind die Länder und ist der Bund
                 1972.                                                             in der Lage, die eigene Staatlichkeit zu entfalten«. Bundes-

             SWP Berlin
             Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
             Juni 2018

             8
Transfers und Finanzausgleich: Formen und Vorbedingungen

Auch die Formen der Transfers und die Modi ihrer                  union abfedern, um Wohlstandsverlusten und einem
Auszahlung können stark voneinander abweichen.                    Anstieg der Arbeitslosigkeit vorzubeugen.
So können Finanzmittel direkt ausgezahlt oder Trans-
fers indirekt geleistet werden, etwa in Form verzinster           Vorbedingungen für einen
Kredite oder durch Sicherheiten und Bürgschaften.                 Finanzausgleich
   Finanzausgleichssysteme bedürfen einer recht-
lichen Grundlage, können also auf juristisch unter-               Aus diesen Strukturen und Zielen bestehender Finanz-
mauerte Ansprüche und Verpflichtungen im Rahmen                   ausgleichssysteme lassen sich einige allgemeine Vor-
einer Finanzverfassung zurückgreifen. 14 Diese recht-             bedingungen und Grundlagen eines Finanzausgleichs
liche Fixierung der Form sowie der Voraussetzungen,               ableiten, die sowohl finanzpolitischer und staats-
Regeln und Bedingungen von Transfers bietet damit                 organisatorischer als auch grundsätzlich politischer
auch eine Absicherung gegen übermäßige oder un-                   Art sind:
zureichende Transfers sowie zu hohe Erwartungen                   1. Es bedarf einer rechtlichen Grundlage für jegliche
und übertriebene Forderungen – unabhängig von                        Formen umfassender Finanztransfers beziehungs-
tagespolitischer Aktualität oder machtpolitischer                    weise eines Finanzausgleichs. Sowohl die Ansprü-
Durchsetzungsstärke einzelner Akteure.                               che als auch die Bedingungen und Eckpunkte der
   Auch Funktionen und Ziele von Transfers können                    Quantifizierung für Transferleistungen müssen
durchaus unterschiedlich sein oder zumindest einer                   rechtlich verbindlich festgeschrieben werden. Das
Mischung verschiedener Motive folgen. Abgeleitet von                 Institut eines Finanzausgleichs darf nicht immer
der Theorie des fiskalischen Föderalismus werden                     wieder grundsätzlich in Frage gestellt werden kön-
meist die drei klassischen Ziele aufgeführt – Alloka-                nen und sollte so gegen tagespolitische Auseinan-
tionsziele, Distributionsziele und Stabilitätsziele. Die             dersetzungen weitgehend immunisiert werden.
Bereitstellung öffentlicher Güter, also allokative Ziele,         2. Ein innerstaatlicher Finanzausgleich über öffent-
sollte über einen vertikalen Finanzausgleich gefördert               liche Haushalte verfolgt zumeist eine staatsorgani-
werden, denn die effizienteste und effektivste Auf-                  satorische Zweckorientierung. Ansprüche auf staatliche
gabenverteilung soll dem sinnvollsten Einsatz öffent-                Leistungen sind mit staatsorganisatorischen Fragen
licher Ressourcen auf den verschiedenen politischen                  der Kompetenzverteilung zwischen den staatlichen
Ebenen entsprechen. Die Transferzahlungen, so die                    Ebenen verknüpft. Das schließt ein, dass ein Finanz-
Annahme, könnten so eine zusätzliche Wachstums-                      ausgleich in der Regel den Zweck erfüllen soll, die
dynamik mit neuen Arbeitsplätzen auslösen, so dass                   Diskrepanz zwischen der unterschiedlichen Finanz-
sich in der Folge auch die Wohlstandsniveaus der                     kraft der Gliedstaaten auszugleichen. Die Notwen-
Gliedstaaten einander annähern könnten. Hinzu                        digkeit von Transfers resultiert also daraus, dass
kommen redistributive Motive, um ökonomische und                     einerseits der Staat nicht unbegrenzt Aufgaben
soziale Divergenzen, also Wohlstandsunterschiede,                    übernehmen kann, andererseits die Bevölkerung
mit Transfers aus den öffentlichen Haushalten zu ver-                Anspruch auf Erbringung eines Mindeststandards
ringern. Schließlich dienen Finanzausgleichssysteme                  staatlicher Leistungen im gesamten Staatsgebiet
auch stets dem Stabilisierungsziel. Sie sollen ökono-                hat (was als Nachweis der Staatlichkeit gilt).
mische Schocks und Konjunkturabschwünge in einem                  3. Es müssen ausreichende Ressourcen vorhanden sein,
gemeinsamen Wirtschaftsraum oder einer Währungs-                     um Transferzahlungen und einen Finanzausgleich
                                                                     finanzieren zu können. Es ist eine Frage der Im-
  verfassungsgerichtsentscheidung (BVerfGE) 72, 330,                 plementierung, ob die Ressourcen schon über eine
  24.6.1986, Ziffer 179.                                             weitgehende Besteuerungsautonomie (wie etwa im
  14 Auch das komplizierte mehrstufige deutsche Finanz-              schweizerischen Wettbewerbsföderalismus) bereit-
  ausgleichssystem basiert auf einer verfassungsrechtlich fest-      gestellt werden oder über eine Umverteilung der
  geschriebenen Finanzverfassung. Mit ihr muss der Gesetz-           Steuereinnahmen mit Hilfe horizontaler und verti-
  geber unabhängig von wechselnden Ausgleichsbedürfnissen            kaler Transfermechanismen.
  und von konkreten Zuteilungs- und Ausgleichssummen              4. Um diese rechtlichen, staatsorganisatorischen und
  langfristig anwendbare Maßstäbe bestimmen, aus denen               fiskalischen Voraussetzungen dauerhaft sicherstel-
  dann die konkreten, in Zahlen gefassten Zuteilungs- und
                                                                     len zu können, müssen zusätzliche Vorbedingun-
  Ausgleichsfolgen abgeleitet werden können. So das Bundes-
                                                                     gen erfüllt sein. So ist die institutionelle Stabilität des
  verfassungsgericht in seinem 3. Leitsatz des Grundsatzurteils
                                                                     Gemeinwesens fundamental für die horizontale
  zum Länderfinanzausgleich vom 11. November 1999.

                                                                                                                   SWP Berlin
                                                                                   Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
                                                                                                                     Juni 2018

                                                                                                                              9
Finanzausgleich und Transfers: Welche, warum und in welcher Form?

                und vertikale Umverteilung im Rahmen eines                wirken sich auf die Gesamtheit aus. Transferzahlun-
                Finanzausgleichs. Können die rechtliche Veranke-          gen dienen auch dazu, Übersprungseffekte einzu-
                rung sowie die Beachtung der Kriterien für Bezug          grenzen und zugleich die Verantwortung des einzel-
                und Erbringung von Transfers nicht dauerhaft und          nen Gliedstaates für die gesamte Union zu betonen.
                verlässlich gesichert werden, wird die Bereitschaft          Bevor solidarische Transferleistungen in Anspruch
                deutlich sinken, sich an einem Finanzausgleichs-          genommen werden können, müssen alle vorhande-
                system zu beteiligen. Dasselbe gilt mit Blick auf         nen eigenen Finanzquellen ausgeschöpft werden, und
                die Garantie, dass die staatliche Ordnung und der         zwar durch Einnahmensteigerung (Steuern, Gebüh-
                Kreis der Gliedstaaten auch jenseits der finanziel-       ren, Veräußerungen) und Ausgabenkürzungen. Sind
                len Umverteilung bestehen bleiben. Denkbar wäre           Transferleistungen dennoch erforderlich, ist zu be-
                beispielsweise, dass ein Gliedstaat vom Nehmer            achten, dass die Eigenbeteiligung des Empfängers an
                zum Geber von Transferleistungen wird, daraufhin          Maßnahmen in der Regel auch die Effizienz der
                das Finanzausgleichssystem in Frage stellt oder gar       solidarischen Hilfsleistungen erhöht und Mitnahme-
                mit Austritt aus dem Staatsverbund droht. In diesem       effekte verringert. Ein Verzicht auf Eigenbeteiligung
                Fall dürften auch die anderen Gliedstaaten immer          könnte folglich den falschen Anreiz verstärken, sich
                weniger geneigt sein, dem System die Treue zu             nicht um eigene Einnahmen zu bemühen.
                halten, weil seine institutionelle Stabilität erodiert.      Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urtei-
             5. Bedingung für diese Stabilität ist zudem, dass die        len zum deutschen System des mehrstufigen Finanz-
                Systematik und die rechtlichen Grundlagen des             ausgleichs festgestellt, dass es nur die Ultima Ratio
                Finanzausgleichs über ausreichende politische             sein kann, solidarische Hilfen zur Sanierung über-
                Verbindlichkeit und breite politische Legitimität und     strapazierter Länderhaushalte zu gewähren. Sanie-
                Akzeptanz verfügen. Ohne demokratisch legitimier-         rungshilfen seien »Fremdkörper innerhalb des gelten-
                te und respektierte Entscheidungsprozesse, welche         den bundesstaatlichen Finanzausgleichs«. 15 Dies
                die Akzeptanz des Finanzausgleichssystems sichern,        bedeutet, dass Solidarität auch in einem Bundesstaat
                ist Bereitschaft zu Transferleistungen und Solidari-      nicht unbegrenzt gewährt wird.
                tät kaum vorstellbar.
             6. Die erforderliche Akzeptanz auf Seiten der Glied-         b) Dem Prinzip des föderalen Wettbewerbs einerseits
                staaten und Gesellschaften sowie die Legitimität          steht der Grundsatz der Gleichbehandlung der Glied-
                des Transfersystems werden bestimmt von einer             staaten andererseits gegenüber.
                verbindenden Identität in einer Union beziehungs-            Das Gleichheitsprinzip beinhaltet, dass die Glied-
                weise einem Bundesstaat sowie zwischen den                staaten gleichwertige staatliche Leistungen erbringen
                Gliedstaaten und den Gesellschaften. Wird allge-          müssen und dass etwaige objektive Hemmnisse für
                mein in einem Bundesstaat oder einer Union die            die Gliedstaaten mit Transferzahlungen kompensiert
                Einsicht in ein gemeinsames Schicksal geteilt, ist        werden können. Der Grundsatz der Gleichbehand-
                dies sicher die beste Grundlage für gegenseitige          lung verlangt allerdings erhöhte Transparenz im Hin-
                Solidarität in Form eines Finanzausgleichs und            blick auf Verteilung und Umfang der staatlichen
                von Transferleistungen.                                   Aufgaben und Leistungen sowie darauf basierend die
                In einem Finanzausgleichssystem mit geregelten            Feststellung angemessener Transferleistungen über
             Transferzahlungen wird über die richtige Balance             einen Finanzausgleich. Nur wenn Systematik und
             zwischen verschiedenen Grundprinzipien diskutiert            Kriterien des Finanzausgleichs nachvollziehbar sind,
             werden müssen.                                               kann ein Vergleich und schließlich auch eine Gleich-
                                                                          behandlung der Gliedstaaten gewährleistet und
             a) Auf der einen Seite sind stets die Prinzipien der         garantiert werden. Die Umsetzung des Gleichbehand-
             Eigenverantwortung und Eigenanstrengung zu be-               lungprinzips schließt ein, dass allgemeine und
             achten. Sie müssen mit dem Prinzip der Solidarität           transparente Kriterien bei der Konkretisierung eines
             in einem Bundesstaat beziehungsweise einer Union             Finanzausgleichs formuliert werden. Allerdings kann
             auf der anderen Seite in Einklang gebracht werden.           die Anwendung des Prinzips nicht bedeuten, dass die
                Die Politik eines Gliedstaates wird in einem Bun-         Finanzkraft der Gliedstaaten auf ein einheitliches
             desstaat immer Konsequenzen für die Politik anderer          Niveau gebracht wird. Transferzahlungen sollen nicht
             und deshalb auch für diesen selbst haben. Sowohl
             eine nachhaltige als auch eine verfehlte Finanzpolitik
                                                                            15 BVerfGE, 19.10.2006, 2. Leitsatz.

             SWP Berlin
             Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
             Juni 2018

             10
Transfers, Transferunion, Finanzausgleich?

dazu dienen, die Unterschiede in der Leistungsfähig-       auch, die Eigenstaatlichkeit der Gliedstaaten abzu-
keit der Gliedstaaten zu beseitigen und damit die Idee     sichern und zu garantieren. Die bloße Existenz von
des Wettbewerbs zwischen ihnen zu konterkarieren.          Transfermechanismen und Transferleistungen ist
Ein Finanzausgleich sollte nicht die relative Position     noch kein Beleg dafür, dass ein Finanzausgleichs-
der Gliedstaaten verändern, das heißt ein ärmerer          system oder eine sogenannte Transferunion vorliegt.
Gliedstaat darf durch Transfers nicht wohlhabender         Die Titulierung als »Transferunion« oder die Einord-
werden als deren Geber. Ein solches Verbot der             nung von Transferzahlungen in ein Finanzausgleichs-
Nivellierung mit Hilfe eines Finanzausgleichs stärkt       system hängt demzufolge davon ab, wie die jeweili-
wiederum die Idee des Wettbewerbsföderalismus.             gen Formen und das Ausmaß von Finanztransfers zu
Sie besagt, dass ein föderaler Wettbewerb zwischen         bewerten sind. Es ist so gut wie unmöglich, feste
den Gliedstaaten mehr Effizienz, größere Innova-           Maßstäbe oder objektive Kriterien für das Vorhanden-
tionsfähigkeit und damit höhere Wachstumsraten             sein eines Finanzausgleichs oder einer sogenannten
und mehr Wohlstand für alle erzeugen soll.                 Transferunion zu definieren. Die Maßstäbe sind
                                                           relativ und nur vor dem Hintergrund der politischen
c) Der Grundsatz der angemessenen Hilfe für ärmere         Ziele und der Interessen zu setzen.
Gliedstaaten muss gegen die Gefahr einer Überforde-
rung der Geber abgewogen werden.                              Ein Finanzausgleich beschränkt sich
   Transparenz und die allgemeingültige Festlegung              keineswegs auf Finanztransfers.
der Umsetzungskriterien sind zugleich Vorbedingun-
gen dafür, zu verhindern, dass Geber in einem Finanz-         Ein Finanzausgleich umfasst also deutlich mehr
ausgleichssystem überfordert werden. Ebenso wenig          als nur Finanztransfers. Er ist an staatliche Aufgaben
sollte ein Finanzausgleich bewirken, dass die davon        und öffentliche Leistungen gekoppelt und somit
profitierenden Gliedstaaten ein höheres Niveau staat-      untrennbar mit einer föderalen Staatsorganisation
licher Leistungen aufweisen als dessen Geber. Einfluss-    verbunden. Darüber hinaus erfordert ein Finanz-
nahme durch die Politik könnte eine Überforderung          ausgleichssystem politische, soziale und ökonomische
der Geber oder die Nivellierung von Unterschieden          Voraussetzungen, die ebenfalls weit über die Form
noch verstärken. Politische Koppelgeschäfte können         von Transferzahlungen hinausgehen.
zwei Auswirkungen auf das Gesamtsystem haben:                 Auch wenn ein Finanzausgleichssystem grund-
Zum einen kann mit politischen Verhandlungen der           sätzlich zweckmäßig ist und die Einführung zusätz-
Druck verringert werden, Eigenverantwortung zu             licher Transfermechanismen sorgfältig abgewogen
übernehmen und Reformen einzuleiten. Zum anderen           wurde, bedeutet das nicht, dass alle Formen und
können solche Geschäfte dazu führen, dass sich durch-      Wege von Transferleistungen gleichermaßen wirk-
setzungsstarke Umverteilungskoalitionen bilden.            sam, akzeptabel und für jedes politische System
                                                           angemessen wären. Vielmehr werden auch die Vor-
                                                           behalte und Argumente gegen Finanzausgleichs-
Transfers, Transferunion,                                  systeme und Transferzahlungen berücksichtigt werden
Finanzausgleich?                                           müssen. Dabei wird stets auf Fehlanreize und Miss-
                                                           brauchsmöglichkeiten hingewiesen, die aus Eigen-
Ein Finanzausgleich mit vertikalen oder horizontalen       interessen politischer Akteure der einzelnen Glied-
Transferzahlungen ist also keine reine »Umverteilungs-     staaten erwachsen können. Im Spannungsfeld wider-
union«, wie es das Wort Transferunion suggerieren          streitender Grundprinzipien lassen sich solche
soll. Transferleistungen geht stets eine politische        schädlichen Entwicklungen nicht völlig vermeiden.
Kosten-Nutzen-Abwägung voraus, die sich zusätzlich         Deshalb ist es nur dann sinnvoll, Transferzahlungen
in Rechtsansprüchen manifestiert. Daher ist ein            zu erweitern oder ein Finanzausgleichssystem auf-
Finanzausgleich Ausdruck eines bundesstaatlichen           zubauen, wenn Vorkehrungen gegen falsche Anreize,
Staatsverständnisses und einer Solidargemeinschaft. 16     Missbrauch und Trittbrettfahrerei getroffen werden.
Aufgabe und Zweck eines Finanzausgleichs ist aber

  16 So auch das Bundesverfassungsgericht in seinem
  Grundsatzurteil zum deutschen Finanzausgleich, BVerfGE
  72, 330, 24.6.1986, Ziffer 172.

                                                                                                          SWP Berlin
                                                                          Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
                                                                                                            Juni 2018

                                                                                                                   11
Möglichkeiten und Formen eines Finanzausgleichs in der EU

             Möglichkeiten und Formen
             eines Finanzausgleichs in
             der EU

             Die Diskussion über die Notwendigkeit eines Finanz-                    Mit ihren Transferzahlungen verfolgen die Mit-
             ausgleichssystems in der Europäischen Union reicht                 gliedstaaten der Europäischen Union Ziele, die ihren
             zurück bis zur Debatte der 1970er Jahre über die                   jeweiligen nationalen Interessen entsprechen. Trans-
             finanzpolitischen Zwänge, die in einer Wirtschafts-                fers sind ebenso wenig Selbstzweck wie Ausdruck
             und Währungsunion entstehen. Verknüpft war sie                     altruistischen Handelns. Die Beurteilung der Transfer-
             häufig mit Fragen zur Reform des europäischen                      leistungen innerhalb der Europäischen Union muss
             Haushalts, der Einräumung einer EU-Besteuerungs-                   deshalb in Beziehung zu den nationalen Interessen
             kompetenz und einer Verschuldungsmöglichkeit                       und den angestrebten Zielen gesetzt werden. Emp-
             sowie gesonderten makroökonomischen Stabilisie-                    fängerländer werden vor allem abwägen, inwieweit
             rungsinstrumenten in der Eurozone. Im Grundsatz                    zugesagte Finanztransfers die zu erwartenden Kosten
             ging es bei diesen Debatten stets darum, eine eigene               oder Nachteile von Integrationsfortschritten aufwie-
             europäische Finanzverfassung zu schaffen und damit                 gen können. Geberstaaten versuchen einzuschätzen,
             zu garantieren, dass die EU sowohl eigenständig als                ob Integrationsfortschritte und die Hoffnung auf poli-
             auch unabhängig von Einfluss und Überwachung                       tische, ökonomische, soziale oder sonstige Vorteile
             durch die Mitgliedstaaten bleibt.                                  die Lasten der Transfers kompensieren oder gar über-
                                                                                wiegen. Ein Ausgleich solcher nationaler Interessen
                     Transfers sind weder Selbstzweck                           und Abwägungen wird in der Regel während der Ver-
                       noch Ausdruck altruistischen                             handlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen
                                 Handelns.                                      der EU geschaffen, wenn Form, Volumen und Ziele
                                                                                der Finanztransfers ausgehandelt werden.
                Während Transfers in nationalen Finanzausgleichs-                   Diese Verhandlungen über prognostizierte und
             systemen aber meist mit staatlichen Aufgaben und                   erhoffte Gewinne oder Kosten zeichnen sich auch
             öffentlichen Leistungen verbunden sind, also dem                   dadurch aus, dass die einzelnen Mitgliedstaaten ihre
             Prinzip der föderalen Äquivalenz entsprechen sollten,              Kosten-Nutzen-Analyse in großer Unsicherheit über
             dienen sie in der Europäischen Union vornehmlich                   den Verhandlungsverlauf erstellen müssen. Hinzu
             dazu, Integrationsfortschritte zu kompensieren. 17                 kommt, dass nicht nur (wenigstens zum Teil) quan-
             Die erreichte Integrationstiefe beziehungsweise der                tifizierbare Gewinne und Kosten zu ermitteln sind,
             Grad der Integration bestimmt die nationalen Kosten-               sondern damit eng verknüpft auch andere Aspekte
             Nutzen-Abwägungen in den einzelnen Mitglied-                       erwogen werden müssen, beispielsweise politische
             staaten und folglich deren Bereitschaft, Transfers zu              Stabilität, Partnerschaft oder ökonomische Verflech-
             leisten.                                                           tung. 18 Abwägung und Gegenüberstellung von Kosten
                                                                                und Nutzen der Mitgliedschaft in der EU gehen folg-

                  17 Siehe Susanne Neheider, Die Kompensationsfunktion der
                  EU-Finanzen, Baden-Baden 2010; Cay Folkers, »Welches            18 Für eine frühe Diskussion dieser breiter angelegten
                  Finanzausgleichssystem braucht Europa?«, in: Helmut Karl/       Sichtweise und zur Abwägung des Nutzens von Integration
                  Wilhelm Henrichsmeyer (Hg.), Regionalentwicklung im Prozess     siehe Bernhard May, Kosten und Nutzen der deutschen EG-Mitglied-
                  der Europäischen Integration, Bonn 1995, S. 87–108.             schaft, 2. Aufl., Bonn 1985.

             SWP Berlin
             Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
             Juni 2018

             12
Möglichkeiten und Formen eines Finanzausgleichs in der EU

lich über die Betrachtung der Nettosalden hinaus.                  kann »im Geiste der Solidarität zwischen den
Nutzen oder Kosten der EU-Mitgliedschaft sind nicht                Mitgliedstaaten« einzelnen Mitgliedern finanziellen
identisch mit dem jeweiligen nationalen Nettosaldo.                Beistand leisten, und zwar im Fall gravierender
   Für die deutsche Kosten-Nutzen-Abwägung gilt,                   Schwierigkeiten, etwa bei ökonomischen Schocks
dass die offenen Märkte der anderen Mitgliedstaaten                oder einer Finanzkrise, und aufgrund von Natur-
sowie die weitgehende Wettbewerbsgleichheit im                     katastrophen (Art. 122 AEUV). Darüber hinaus kann
europäischen Binnenmarkt einen besonderen Wert                     die Union Staaten der EU, die noch kein Mitglied
für die größte europäische Exportwirtschaft darstellen.            der Eurozone sind, mit Finanzhilfen unterstützen,
In einer Analyse taxiert die Amerikanische Handels-                wenn sie in Zahlungsbilanzschwierigkeiten geraten
kammer in Europa den Wert der Integration in                       sind (Art. 143 und 144 AEUV). Um Solidarität und
den Binnenmarkt von 1990 bis 2015 für das Brutto-                  Kohäsion zwischen ihren Mitgliedstaaten zu fördern
inlandsprodukt in Deutschland auf eine Steigerung                  (Art. 3 Abs. 3 EUV), besitzt die EU entsprechende
pro Kopf von rund 2,4 Prozent oder rund 1700 Euro. 19              Instrumente, wie die Struktur- und Kohäsionsfonds.
Hinzu kommen die kaum zu beziffernden Vorteile                     Mit dem Vertrag von Lissabon geht die EU über diese
der politischen Integration und der Partnerschaft in               zwischenstaatliche Solidaritätsverpflichtung weit
der EU.                                                            hinaus und formuliert sogar die Förderung der Solida-
   In einer Union mit sich verdichtenden und zuneh-                rität zwischen den Generationen der EU-Bürgerinnen
mend interdependenten Wirtschafts-, Gesellschafts-                 und -Bürger als ihr politisches Ziel (Art. 3 EUV). In-
und politischen Systemen entsprechen die Vorteile                  soweit verfügt die EU bereits über Instrumente und
des einen nicht zwangsläufig den Nachteilen des                    Mechanismen, mit denen sie Transfers leisten kann
anderen Mitgliedstaates. Vielmehr ist davon auszu-                 und die zum Teil ebenfalls im europäischen Primär-
gehen, dass alle Mitgliedstaaten in jeweils unter-                 recht verankert sind. Sie besitzt aber keinen wirk-
schiedlichen Bereichen, zu verschiedenen Zeitpunk-                 lichen direkten Finanzausgleich in Form von Zahlun-
ten und in größerem oder kleinerem Umfang Nutz-                    gen an die nationalen Budgets, also keine geregelten
nießer und Gewinner dieser sich verdichtenden Inte-                ungebundenen Finanztransfers. Ebenso fehlen ihr
gration sind. Nur unter dieser Prämisse ist die der-               gemeinsame Sozialversicherungssysteme zur solida-
zeitige Finanzverfassung der EU zu verstehen. Die                  rischen Absicherung. Lediglich über den eigenen
Bewertung von Finanztransfers in der Europäischen                  Haushalt und mit eigenen Fonds kann sie Unter-
Union muss demzufolge sowohl die bestehende Inte-                  stützungszahlungen für zuvor definierte Ziele leisten,
grationstiefe als auch die angestrebten nationalen                 also gebundene Transfers in einem indirekten Aus-
Integrationsziele berücksichtigen.                                 gleichssystem. Die Transfers sind an spezifische
   Die Europäische Union verfügt über gemeinsame                   Fördervoraussetzungen und die Umsetzung besonde-
konstitutionelle Ziele und Werte, von denen eine                   rer Förderziele und -vorgaben gekoppelt. Ihrer Soli-
normative Verpflichtung der EU und ihrer Mitglied-                 daritätsverpflichtung versucht die EU mit Hilfe von
staaten zu Finanztransfers abgeleitet werden kann.                 Transferzahlungen über besondere Fonds mit mehr-
Solidarität ist zweifellos ein besonderer Grundwert                jährigen Laufzeiten zu genügen. Diese Gelder aus
der Union und seit Beginn des europäischen Inte-                   den Europäischen Struktur- und Kohäsionsfonds und
grationsprozesses ein prägendes Leitprinzip für die                über die Gemeinsame Agrarpolitik fließen nicht in
Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern. 20 Die EU                  die nationalen Budgets. Stattdessen gehen die Zah-
                                                                   lungen für spezifische Aufgaben an strukturschwache
  19 American Chamber of Commerce to the European                  Regionen oder landwirtschaftliche Betriebe. Demnach
  Union (AMCham EU), The EU Single Market: Impact on Member        sollen solche Transfers auf der Nachfrageseite weder
  States, Brüssel, Februar 2017, S. 41, .         bruch des Konsums ausgleichen, sondern auf der
  20 Siehe Hermann-Josef Blanke/Stefan Pilz, »Solidarische         Angebotsseite mittel- bis langfristige Investitionen
  Finanzhilfen als Lackmustest föderaler Balance in der Euro-      und Strukturreformen ermöglichen.
  päischen Union«, in: Europarecht, 49 (2014) 5, S. 540–565;
  Peter Hilpold, »Solidarität im EU-Recht: Die ›Inseln der Soli-
  darität‹ unter besonderer Berücksichtigung der Flüchtlings-
  problematik und der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-             bild einer »solidarité de fait« und die Staats- und Regierungs-
  rungsunion«, in: Europarecht, 51 (2016) 4, S. 373–404. Bereits     chefs im Europäischen Rat proklamierten im Dezember 2001
  die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 enthielt das Leit-           gar, Europa sei der »Kontinent der Solidarität«.

                                                                                                                    SWP Berlin
                                                                                    Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
                                                                                                                      Juni 2018

                                                                                                                                 13
Möglichkeiten und Formen eines Finanzausgleichs in der EU

                Auch das Volumen der europäischen Finanz-                             Ein solcher föderaler Integrationsschritt zu einem
             transfers über das EU-Budget und die bestehenden                      europäischen Finanzausgleich ist derzeit weder vor-
             Fonds hat sich im Zuge der Krisenreaktion und der                     stellbar, noch wird er angestrebt. Im Gegensatz zu
             Rettungspakete nicht deutlich vergrößert. Allerdings                  den 1990er Jahren wird er nicht einmal ernsthaft dis-
             sind sowohl zwischenstaatliche Kreditzusagen als                      kutiert. Dennoch wird zusätzlicher Bedarf an euro-
             auch Zusagen für neue Finanzinstrumente stark ge-                     päischen Finanztransfers angemeldet und begründet.
             stiegen. Dabei handelt es sich bislang aber in erster
             Linie um potentielle Finanztransferleistungen. 21 Die
             eigentliche Transferleistung bestand darin, gemein-
             schaftlich neue Fazilitäten außerhalb des EU-Budgets
             und der EU-Institutionen zu schaffen. Diese Fazilitä-
             ten verfügen zwar nur über einen begrenzten Kapital-
             stock, übernahmen aber die Haftung und damit die
             Finanzrisiken der Krisenstaaten. Auf diese Weise tru-
             gen sie dazu bei, deren Kreditwürdigkeit und Reputa-
             tion langfristig wiederherzustellen und abzusi-
             chern. 22
                In einer europäischen Transferunion oder einem
             europäischen Finanzausgleich, die wie nationale
             Modelle föderalen Zielen folgen und so auch die Staat-
             lichkeit der Mitgliedsländer stärken sollen, müssten
             den unterschiedlichen Entscheidungsebenen zunächst
             klare, an föderalen Prinzipien orientierte Kompeten-
             zen übertragen werden. Das würde auch bedeuten,
             den Mitgliedstaaten vergleichbare staatliche Aufga-
             ben und Leistungsverpflichtungen gegenüber den
             Unionsbürgerinnen und -bürgern zuzuweisen, um
             eine etwaige Finanzierungslücke bemessen zu
             können. Darüber hinaus müsste definiert werden,
             was genau unter europäischen Transferzahlungen
             verstanden werden soll. Konkret wäre zu klären,
             welche Funktionen erfüllt und welche Ziele erreicht
             werden sollen, wie ein Ausgleich gestaltet werden
             und welche Elemente und Instrumente ein Aus-
             gleichssystem umfassen sollte.

                  21 Siehe Nicolaus Heinen, Transferunion Europa. Wie groß,
                  wie stark, wie teuer?, Frankfurt a.M.: Deutsche Bank Research,
                  28.6.2011 (Beiträge zur europäischen Integration, EU-
                  Monitor 81).
                  22 Horizontale Transfers zwischen den EU-Mitgliedstaaten,
                  z.B. in Form bilateraler Finanzhilfen, sind in der Regel sou-
                  veräne Entscheidungen der Mitgliedstaaten und damit keine
                  Frage eines europäischen Finanzausgleichs. Auch die Instru-
                  mente zwischen den privaten Bankinstituten im Rahmen der
                  im Aufbau befindlichen Bankenunion und ihres Einlagen-
                  sicherungssystems werden hier nicht behandelt. Denn ledig-
                  lich auf der letzten Stufe der Einlagensicherung könnten
                  Zahlungen aus öffentlichen Haushalten in Frage kommen.
                  In dieser Bewertung werden nur tatsächliche und direkte
                  Finanztransfers aus öffentlichen Budgets innerhalb der Euro-
                  päischen Union berücksichtigt.

             SWP Berlin
             Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
             Juni 2018

             14
Das EU-Budget und seine Transferinstrumente

Finanztransfers in der EU

Transfers zwischen der EU und den Mitgliedstaaten        Während im Bundeshaushalt die Aufwendungen für
sind nichts Neues. Es handelt sich dabei entweder um     Sozial- und Arbeitsmarktpolitik den größten Block
vertikale Finanzflüsse oder um horizontale Transfers     darstellen, sind es im Budget der EU die marktbezoge-
zwischen den Mitgliedstaaten. Seit ihren ersten Inte-    nen Ausgaben und die Direktzahlungen an landwirt-
grationsschritten verfügt die Europäische Union über     schaftliche Betriebe aus dem Europäischen Garantie-
Transferinstrumente.                                     fonds für die Landwirtschaft (EGFL). Die Ausgaben-
                                                         prioritäten des EU-Budgets orientieren sich nicht an
                                                         den üblichen staatlichen Leistungen oder den Er-
Das EU-Budget und seine                                  kenntnissen des fiskalischen Föderalismus, sondern
Transferinstrumente                                      an der Kompetenz- und Aufgabenverteilung in den
                                                         Europäischen Verträgen und damit der historischen
Der europäische Haushalt unterscheidet sich grund-       Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses.
sätzlich von nationalen Budgets, was Größe, Aus-         So ist der EU keine redistributive Sozialpolitik ge-
gabenstruktur und Finanzierung anbelangt. Mit einem      stattet. Sie darf nur Programme in den Bereichen Bil-
Volumen von derzeit weniger als 1 Prozent des Brutto-    dung, Forschung und Entwicklung auflegen, welche
nationaleinkommens (BNE) der EU ist ihr Budget           die nationalen Politiken ergänzen. Trotz der gemein-
deutlich kleiner als vergleichbare nationale föderal-    samen Währung verfügt die EU zudem über keine
staatliche Haushalte, zum Beispiel diejenigen Kana-      europäische Fiskalpolitik mit stabilisierenden makro-
das, Australiens und der USA oder Budgets euro-          ökonomischen konjunkturpolitischen Instrumenten.
päischer Föderalstaaten wie der Schweiz, Österreich      Vielmehr können die derzeitigen Ausgabenprioritä-
oder Deutschland (siehe Grafik 1, S. 16).                ten des EU-Budgets als Folge und Ergebnis der ökono-
    Nicht nur in Relation zum Bruttoinlandsprodukt       mischen Integrationsschritte interpretiert werden,
der als Beispiele genannten Staaten ist der Unions-      die von einer Zollunion über einen gemeinsamen
haushalt klein, sondern auch in absoluten Zahlen. Er     Binnenmarkt bis zu einer Währungsunion reichen.
ist nicht einmal halb so groß wie der Bundeshaushalt
und weniger als doppelt so groß wie der nordrhein-              Der hohe deutsche Nettosaldo
westfälische Landeshaushalt (siehe Tabelle).                 kann auch als Gegenleistung dafür
                                                              interpretiert werden, dass andere
EU-Haushalt im Vergleich,                                      Länder ihre Märkte für deutsche
in Mrd. Euro                                                 Industrieprodukte geöffnet haben.

                             2016          2017             Die Umverteilung über das EU-Budget wird üblicher-
                                                         weise mit Hilfe von Nettosalden errechnet, also mit
EU-Haushalt                  143,9         134,5
                                                         den Zahlungen aus den Mitgliedstaaten an die Euro-
Bundeshaushalt               317,4         329,1
                                                         päische Union und den Rückflüssen aus deren Haus-
Landeshaushalt NRW            70,0          74,1         halt in die jeweiligen Staaten.
Staatshaushalt                                              Grundsätzlich bestätigen die Finanzberichte der
Frankreich                   409,9         427,4         Kommission, dass Deutschland zu den größten Netto-
                                                         zahlern in der EU gehört, und zwar in absoluten
Obgleich damit die Größe des EU-Budgets erheblich        Haushaltssalden, im Verhältnis zum Bruttonational-
relativiert wird, führt ein Vergleich dieser Haushalte   einkommen und mit Blick auf die nationalen Netto-
in die Irre. Die Ausgabenprioritäten des Etats der EU    salden in Relation pro Einwohner (siehe Grafik 2,
unterscheiden sich von jenen nationaler Haushalte.       S. 17).

                                                                                                        SWP Berlin
                                                                        Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
                                                                                                          Juni 2018

                                                                                                                15
Finanztransfers in der EU

              Grafik 1

              Ausgaben der Bundesebene 2010–2014 (ohne Sozialversicherung), in Prozent des BIP

              Quelle: IMF Government Finance Statistics – Expense
              (Central Government excl. Social Security Funds).

                 Der hohe deutsche Nettosaldo kann allerdings auch     Bild. Aufgrund der besonderen Struktur der Ausgaben-
              als Gegenleistung dafür interpretiert werden, dass       prioritäten des EU-Budgets werden über den Haushalt
              andere Länder ihre Märkte für deutsche Industrie-        die Gelder nicht von reicheren an ärmere Mitglied-
              produkte geöffnet haben. Die Fixierung des bis heute     staaten oder von reichen an arme Unionsbürger um-
              größten Ausgabenblocks, der marktbezogenen Aus-          verteilt. Vielmehr fließen die Mittel zwischen den
              gaben und der Direktzahlungen in der Gemeinsamen         Politikbereichen, also zwischen den überproportional
              Agrarpolitik, war offensichtlich das Ergebnis eines      großen Ausgabekategorien und den als weniger prio-
              deutsch-französischen Kompromisses, der im Zuge          ritär und deshalb mit geringeren Finanzressourcen
              der Verhandlungen zu den Römischen Verträgen über        ausgestatteten Politikfeldern. So kommen auch wohl-
              die Einrichtung einer Zollunion und die Öffnung der      habendere Mitgliedstaaten in den Genuss, Geld aus
              Industriegütermärkte zustande kam. Auch die zwei-        den Fonds der EU zu erhalten. Bei den marktbezoge-
              malige deutliche Erhöhung des zweitgrößten Aus-          nen Auszahlungen und den Direktzahlungen in der
              gabenblocks im EU-Haushalt, der Europäischen Struk-      Gemeinsamen Agrarpolitik waren Frankreich, Spanien
              turfonds, in den Jahren 1988 und 1992 wird darauf        und Deutschland 2016 die größten Empfänger. Aus
              zurückgeführt, dass man sich verständigte, einen euro-   den Europäischen Strukturfonds erhielten im selben
              päischen Binnenmarkt und eine europäische Wäh-           Jahr Polen, Italien und Rumänien die meisten EU-
              rungsunion aus der Taufe zu heben. Bei den Verhand-      Fördergelder. Doch auch die drei größten europäi-
              lungen zu den ersten beiden Haushaltspaketen, dem        schen Volkswirtschaften Deutschland, Großbritannien
              Delors-1-Paket für 1988 bis 1992 und dem Delors-2-       und Frankreich bekamen jeweils noch über 1 Milliarde
              Paket für 1993 bis 2000, stimmte die damalige Bundes-    Euro aus den EU-Strukturfonds (siehe Grafik 3, S. 19).
              regierung dieser Ausgabensteigerung zu, um das Ein-         Bei einem Bruttonationaleinkommen der EU in
              verständnis aller Mitgliedstaaten zur Vollendung         Höhe von insgesamt rund 14,8 Billionen Euro ist das
              des Binnenmarktes und zur Schaffung der WWU zu           Umverteilungsvolumen über den EU-Haushalt außer-
              gewinnen. Die bis heute dominierenden Ausgaben-          ordentlich gering. Es beläuft sich lediglich auf etwa
              prioritäten des EU-Haushalts sind demzufolge als         35 Milliarden Euro oder 0,25 Prozent des BNE der
              Kompensationen für Vertiefung und Ausbau der             Union und entfaltet daher nur bescheidene Wirkung.
              europäischen Wirtschaftsintegration sowie für die           Die Prioritätensetzung des EU-Budgets auf der
              Öffnung nationaler Märkte zu verstehen.                  Ausgabenseite bewirkt also, dass es nur begrenzt als
                 Darüber hinaus liefert die Aufstellung der opera-     Instrument für Transfers von wohlhabenderen an
              tiven Haushaltssalden nur ein sehr oberflächliches       ärmere Mitgliedstaaten genutzt wird und stattdessen

              SWP Berlin
              Die EU auf dem Weg in eine »Transferunion«?
              Juni 2018

              16
Sie können auch lesen