Vom Euro-Krisenmanagement zu einer neuen politischen Architektur der EU?
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INTERNATIONALE POLITIKANALYSE Vom Euro-Krisenmanagement zu einer neuen politischen Architektur der EU? Optionen einer sozialen und demokratischen Vertiefung des Integrationsprojekts HANS-WOLFGANG PLATZER Juni 2012 Die Krise (in) der Eurozone und das bisherige Krisenmanagement haben innerhalb der Gesellschaften wie zwischen den Staaten der Europäischen Union integrations- geschichtlich beispiellose Spannungen und Konflikte hervorgebracht. Das Integra- tionsprojekt verlangt nach neuen Antworten auf Fragen des demokratischen und legitimen Regierens und der effektiven und nachhaltigen Problemlösung. Jeglicher Reformdiskurs ist mit mehreren Dilemmata konfrontiert. Denn während der Reformbedarf in Richtung »mehr Europa« wächst, schwinden gleichzeitig die dafür erforderlichen Voraussetzungen einer breiten bürgergesellschaftlichen Unter- stützung und einer pro-integrativen Haltung zahlreicher EU-Länder. Die EU weist nach den jüngsten Erweiterungsrunden ein nie gekanntes Maß an Wohlstandsun- terschieden zwischen den Mitgliedstaaten und eine deutlich gewachsene Hetero- genität nationaler Produktions- und Verteilungsregime auf. Gemeinschaftliche Pro- blemlösungen, die eines Interessenausgleichs entlang einer ordnungspolitischen, ei- ner integrationspolitischen und einer verteilungspolitischen Konfliktachse bedürfen, werden schwieriger. Die diskutierten Reformoptionen zeigen, dass innerhalb des bestehenden Vertrags- rahmens einzelne über die bisherigen Weichenstellungen in der Euro-Krise hinaus- führenden Problemlösungsstrategien möglich wären, die EU aber letztlich einer er- neuerten und erweiterten Vertragsgrundlage bedarf. Demzufolge sollte ein neuer Konvent einberufen werden, der losgelöst vom tagesaktuellen Krisenmanagement eine neue Kompetenz- und Entscheidungsarchitektur der EU vorbereitet.
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement Inhalt 1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Historische Erfahrungswerte und Dilemmata einer EU-Reform. . . . . . . . . . . . . . . . 4 3. Zur Problematik und den Perspektiven »differenzierter Integration«. . . . . . . . . . . 6 Zwischen vertragsgestützter Flexibilität und zwischenstaatlichen Abkommen. . . . . . . . . . 7 Zunehmende Heterogenität erfordert zukünftig ein Mehr an differenzierter Integration. . 7 Zwischen offenem Gravitationsraum und nicht vertragsgebundenen Gruppenbildungen. 8 Durch zwischenstaatliche Abkommen aus der Krise?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Ein Kerneuropa als Antwort auf die Krise?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 4. Zum institutionellen Status quo und den demokratischen Entwicklungsperspektiven der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Demokratisierung durch Parlamentarisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Reformoptionen für mehr Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 5. Probleme und Perspektiven der ökonomischen und sozialpolitischen E U-Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Erweiterte Steuerungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Sozialpolitisches Regieren (in) der EU: S ozialer Dialog und Offene Methode der Koordinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 6. Reformoptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement 1. Einleitung achtung der Maastricht-Regeln) einzelner EU-Mitglied- staaten; (d) die makro-ökonomischen Ungleichgewichte Die Weltfinanzmarktkrise mit ihren politisch bis dato nicht in der Eurozone infolge gravierender Mängel im institu- bewältigten Folgen und die jüngeren Entwicklungen und tionellen Design der Wirtschafts- und Währungsunion. Verwerfungen innerhalb der Eurozone haben das Integ- Ohne die Frage der Verursachung hier zu vertiefen, bleibt rationsprojekt in seine historisch bislang tiefste Krise ge- festzuhalten: Mittlerweile hat sich die Erzählung »Staats- führt und in seinen Grundfesten erschüttert. Es ist eine schuldenkrise« als dominantes Erklärungsmodell der Kri- Situation entstanden, die deutlich macht: Die Europäi- senursachen durchgesetzt. Dies ist ein diskurspolitisch sche Einigung ist kein irreversibles Projekt und ein Aus- erklärungsbedürftiges Phänomen, vor allem aber ein in einanderbrechen der Eurozone kann – ungeachtet der vielerlei Hinsicht gravierendes integrationspolitisches Pro- bislang entwickelten Rettungsmechanismen und »Brand- blem. Denn diese verkürzte Sichtweise führt nicht nur mauern« – noch immer nicht ausgeschlossen werden. zu politisch suboptimalen und sozial unausgewogenen Lösungsansätzen, sondern sie versperrt auch den Blick Wie in der jüngsten Vergangenheit, wird auch die nähere auf einen tiefergehenden Reformbedarf des EU-Systems. Zukunft der europäischen Politik nach aller Voraussicht durch ein fortlaufendes Krisenmanagement geprägt sein. Das aktuelle Krisengeschehen verlangt Antworten auf die Durch die bislang getroffenen Entscheidungen hat die folgenden Fragen: Frage, ob und wie sich die »Logik der effektiven Problem- lösung« mit der »Logik des legitimen Regierens« (Zürn Welche Instrumente gibt der Vertragsrahmen von Lis- 2006) vermitteln lässt, inzwischen eine Komplexität und sabon der EU an die Hand, um die aktuelle Krise (in) der politische Brisanz angenommen, die in der bisherigen Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) EU-Integrationsgeschichte beispiellos ist. Die bisherigen zu bewältigen und den Fortbestand der gemeinsamen politischen Weichenstellungen haben sowohl innerge- Währung langfristig zu sichern – und zwar jenseits des sellschaftlich als auch zwischenstaatlich zu Auseinander- bislang real praktizierten Krisenmanagements mit seinen setzungen geführt, die einer alten Grundsatzfrage der In- ordnungs- und verteilungspolitisch problematischen Wei- tegration neue Nahrung verleihen: »Wie viel Demokratie chenstellungen? verträgt Europa und wie viel Europa verträgt die Demo- kratie«? (Evers 1994). Wohl in keiner Phase der bisheri- In welchen Bereichen reichen die gegebene Kompe- gen Integrationsgeschichte war somit eine Debatte über tenzausstattung und die Entscheidungsverfahren nicht eine Reform der Kompetenzordnung und der politischen aus, um kohärent, effektiv und demokratisch legitimiert Entscheidungsstrukturen der EU so dringlich wie zum den Herausforderungen der globalisierten Finanzmärkte gegenwärtigen Zeitpunkt. Aber kaum je zuvor war es und den Verwerfungen innerhalb der Eurozone zu be- analytisch so schwierig, politisch gangbare Reformwege gegnen? zwischen einem kurzfristig notwendigen Krisenmanage- ment und einem längerfristig tragfähigen Umbau der po- Welche erweiterten oder neuen supra-staatlichen litischen Architektur der EU aufzuzeigen. Kompetenzen benötigt die EU bzw. die Eurozone in den Bereichen der Haushalts-, Finanz-, Steuer-, Wirtschafts- Ein Grund für diese Schwierigkeiten ist die komplexe Ge- und Sozialpolitik? mengelage aus überkommenen Strukturproblemen der EU und historisch neuartigen Krisenphänomenen, deren Ist ein »Mehr an Europa« angesichts gegebener ge- Ursachen wissenschaftlich wie politisch höchst konträr sellschaftlicher Vorbehalte gegenüber einem Souverä- diagnostiziert werden. nitätstransfer (in einer relevanten Zahl von EU-Mitglied- staaten) bzw. angesichts national unterschiedlicher recht- So werden als prima causa oder als Verursachungskette licher Schranken (z. B. das Erfordernis eines Referendums der Euro-Krise u. a. die folgenden Entwicklungen ange- auch bei begrenzten EU-Vertragsreformen in einer Reihe führt: (a) die Fehlentwicklungen unregulierter globaler von EU-Ländern) eine Option, die sich kurz- und mittel- Finanzmärkte als Erbe der neoliberalen Ära; (b) das Aus- fristig realisieren lässt oder ein Projekt, das allenfalls lang- ufern chronischer Schuldenlasten der Staaten; (c) die po- fristig erreichbar ist? litischen Systemdefekte und das »defekte« Spiel (Miss- 3
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement Erfordert »ein Mehr an Europa« eine bewusste Stra- EU-Architektur. Dies kann im vorgegebenen Rahmen nur tegie »abgestufter Integration«, also etwa eine aus der eine analytische Skizze sein, die sich wiederum vorrangig Eurozone heraus zu denkende und zu entwickelnde Kon- auf drei miteinander verbundene Themenfelder konzen- zeption einer vertieften politischen Union? triert, denen unter dem Blickwinkel der Reform und Ver- tiefung des Integrationsprojekts besondere Bedeutung Oder gilt es angesichts der neoliberalen Drift, die das zukommt: dem Komplex »differenzierter Integration«, Integrationsprojekt in den vergangenen eineinhalb De- der Demokratiefrage und dem sozial-ökonomischen Re- kaden genommen hat, und der jüngsten Tendenzen hin gieren (in) der EU. zu technokratischen und intergouvernementalen Regie- rungsweisen, die das bisherige Krisenmanagement her- Anzumerken bleibt, dass dieser Problemaufriss zur ins- vorgebracht hat, Reformperspektiven gar in Richtung ei- titutionellen Architektur und zu möglichen Reformopti- nes »aufgeklärten Protektionismus« (Höppner 2012) zu onen der EU zwei analytischen Einschränkungen unter- denken, also Strategien zu entwickeln, die – nicht zuletzt liegt: Zum einen ist der Vertrag von Lissabon erst seit unter dem Gesichtspunkt demokratischen Regierens – Dezember 2009 in Kraft. Dies ist ein zu kurzer Erfah- darauf zielen, nationale Spielräume zu verteidigen oder rungszeitraum (der zudem gänzlich von der Euro-Krise wiederzugewinnen? beherrscht war), um empirisch fundierte, verlässliche Ein- schätzungen der neuen Regelwerke vornehmen zu kön- Dieser Beitrag unternimmt, ausgehend von den bisheri- nen. Dies gilt für den Bereich der Organe (z. B. ständiger gen Strategien der Krisenbewältigung, den Versuch, un- Ratspräsident), für die Entscheidungsverfahren (das Ent- terschiedliche Optionen einer sozial-ökonomischen Re- scheidungsverfahren der »doppelten Mehrheit« im Mi- gulierung und Steuerung und mögliche Wege zu einer nisterrat kommt erst ab 2014 zur Anwendung) wie für Vertiefung des Integrationsprojekts zu erörtern. die neuen direkt-demokratischen Elemente (die Europä- ische Bürgerinitiative ist bislang nicht erprobt worden). Die Reformoptionen werden mit Blick auf unterschied- liche Schrittlängen und Zeithorizonte reflektiert. Dem- Zum anderen sind Fragen zur Reform der institutionellen zufolge geht es einerseits um die Diskussion von Pro- Architektur untrennbar mit Fragen der politikfeldbezo- blemlösungen, die innerhalb des bestehenden EU-Ver- genen Kompetenzverteilung im EU-Mehrebenensystem tragsrahmens und der Grenzziehungen, die das Urteil verbunden. Dies wiederum würde eine (im vorgegebe- des Bundesverfassungsgerichts zum EU-Reformvertrag nen Rahmen nicht mögliche) differenzierte Auseinander- für die Bundesrepublik vorgibt, möglich sind, und an- setzung mit den Erfahrungen bisheriger Steuerungsleis- dererseits um eine Erörterung eines Reformbedarfs der tungen der EU nach einzelnen Politikfeldern erfordern. institutionellen EU-Architektur jenseits dieses Rahmens. Zur Sprache kommen lediglich ausgewählte Probleme Im letzteren Falle sind wiederum verschiedene Optionen der sozialpolitischen und ökonomischen EU-Governance. zu diskutieren, die sich zwischen einem (zeitintensiven) umfassenden Vertragsreformprozess (Einberufung eines neuen Konvents mit anschließenden Regierungskonfe- 2. Historische Erfahrungswerte renzen) und einer (auch kurz- und mittelfristig realisierba- und Dilemmata einer EU-Reform ren) zwischenstaatlichen Zusammenarbeit (Regierungs- absprachen, völkerrechtliche Arrangements außerhalb Zunächst zeigt ein Blick auf die Geschichte der EU-Ver- des EU-Rahmens) bewegen. tragsentwicklungen von Rom bis Lissabon, dass die Union zu Anpassungen ihrer Kompetenzausstattung und ihres Die Erörterung möglicher Reformpfade setzt voraus, Entscheidungsgefüges an veränderte innere und äußere zunächst einen kurzen Blick auf historische Erfahrungs- Anforderungen fähig ist. werte der Integration zu werfen und dabei auch die mul- tiplen Dilemmata sichtbar zu machen, mit denen jegliche Der nahezu ein Jahrzehnt dauernde, mühevolle Prozess Strategiedebatte konfrontiert ist. der Vertragsreform(en) von »Nizza nach Lissabon« lie- fert weitere historische Erfahrungswerte, die als Orientie- Des Weiteren erfordert die Erörterung von Reformop- rungspunkte einer Reformdebatte dienen können. Dazu tionen eine Analyse des Status quo der institutionellen zählt, dass sich die Konventsmethode bewährt hat und 4
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement institutionelle Reformfortschritte (auch in Richtung De- Fortschritte [zeichnet], die bei der Herausbildung eines mokratisierung und Parlamentarisierung des EU-Systems) europäischen Gemeinschaftsglaubens in den Bevölkerun- möglich sind. Zugleich zeigte sich, dass Fortschritte in gen der EU-Staaten bis jetzt erreicht werden konnten« Richtung eines neuen Vertragswerks für die gesamte (209 f.). Diese nur schwach ausgeprägte Wir-Identität der Union nur um den Preis der Beibehaltung bestehender Unionsbürger »erschwert jedoch eine Demokratisierung oder neuer Opting-outs möglich sind und somit die Re- der EU, weil die »Zumutungen« und »Bürden« der De- alität »differenzierter Integration« auch bei jeglicher mokratie ohne einen robusten Gemeinschaftsglauben perspektivischer Reformdebatte zu berücksichtigen sein der Bürgerinnen und Bürger nicht so ohne weiteres ver- wird. Der Prozess bis zur Verabschiedung des EU-Reform- arbeitet werden können« (210). vertrags hat zudem auch sehr deutlich die Grenzen ei- ner Integrationsvertiefung offen gelegt. Ausdruck einer Dieser strukturelle Hintergrund wird durch die Krise (in) gescheiterten Konstitutionalisierung (EU-Verfassungs- der Eurozone um weitere Probleme und offene Fragen vertrag) sind die negativen Referenden in Frankreich, in angereichert: Kommt es in den Augen der Unionsbür- den Niederlanden und in Irland. Der Verhandlungspro- gerinnen und -bürger zu einem (weiteren) Verlust einer zess zur Ausgestaltung einzelner Politikfelder, etwa der utilitaristischen Legitimation der EU (eine EU, die »nützt EU-Arbeits- und Sozialpolitik, der im Ergebnis zu einem und schützt«)? Führen die gesellschaftlichen Krisenlas- »konstitutionellen Minimalismus« (Platzer 2009) geführt ten und Verwerfungen, zumal in den »Krisenländern«, hat, steht exemplarisch für Barrieren und Grenzen eines zu politisch instabilen Regierungen, die eine kohärente sachpolitischen Souveränitätstransfers. Politik auf europäischer Ebene (zusätzlich) erschweren? Werden nationale Reflexe und anti-europäische Kräfte Im Falle der Bundesrepublik kommt hinzu, dass das Urteil gestärkt, wodurch insgesamt die politisch zentrifugalen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Lissabon- Kräfte in der EU zunehmen? Oder wirkt umgekehrt die Vertrag spezifische verfassungsrechtliche Bedingungen Krise als Katalysator einer Entwicklung, bei der die Erfah- und Grenzziehungen einer weitergehenden Kompetenz- rungen einer »Schicksalsgemeinschaft« zu neuen trans- übertragung formuliert. nationalen Solidaritätsmustern und zu pro-integrativen Handlungsorientierungen führen, die Reformbestrebun- Dass es in der gegenwärtigen integrationspolitischen gen in Richtung einer Vertiefung des Integrationsprojekts Lage keine einfachen Antworten auf die Frage möglicher begünstigen würden? Reformpfade gibt, wird deutlich, wenn man sich kurz die Dilemmata vor Augen führt, die die Integration (schon Die mittelfristigen Gravitationswirkungen der Krise sind vor der aktuellen Krise) hervorgebracht hat. Nach Kaina aus heutiger Sicht nicht verlässlich einzuschätzen. Die (2009) haben die rasante Erweiterung und die Schritte jüngeren Entwicklungen, darunter das krisenbedingte zur Vertiefung der EU in den vergangenen eineinhalb Auseinanderbrechen von Regierungen, die unkalku- Dekaden zu einem »Dilemma der gegensätzlichen Ge- lierbaren Entwicklungen Griechenlands nach der Parla- schwindigkeiten« geführt: »Demnach ist die Entwicklung mentswahl, der enorme Zuwachs EU-kritischer Wähler- der Europäischen Union den Voraussetzungen ihres künf- schichten, den der erste französische Präsidentschafts- tigen Erfolgs und den Bedingungen ihrer Bestandssiche- wahlgang und die griechischen Parlamentswahlen offen rung teilweise vorausgeeilt« (209). Diese müssen sich »zu gelegt haben, deuten eher in Richtung der skeptischen einem Teil erst noch in langfristigen und unkalkulierbaren Szenarien. Damit entsteht ein zusätzliches integrations- Prozessen supranationaler kollektiver Identitätsbildungs- politisches Dilemma: während in vielen EU-Ländern der prozesse entwickeln; zu einem anderen Teil müssen sich Widerstand gegen die »Gemeinschaftszumutungen« diese Voraussetzungen in einem für die Bevölkerungsak- (Austeritätspolitik hier – Bürgschaften dort) wächst und zeptanz und die Problemlösungsfähigkeit der EU ebenso eine »Reformerschöpfung« zunimmt, wächst gleichzei- schwierigen wie unsicheren Umfeld bewähren« (ebd.). tig der Reformbedarf, der neben nationalstaatlichen An- Ein weiteres Dilemma, das »Dilemma der Gleichzeitig- passungsleistungen vor allem – so die Prämisse dieses keit«, sieht Kaina im Zusammenhang der Beziehungen Beitrags – in Richtung supranationaler Problemlösungen zwischen einer supranationalen kollektiven Identitätsbil- und transnationaler Solidaritätsleistungen verweist. dung und der Demokratisierung der EU, da die Empi- rie »das ungeschönte Bild fehlender oder nur spärlicher 5
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement 3. Zur Problematik und den Perspektiven nomen und die Praxis »differenzierter Integration« sind »differenzierter Integration« seit Langem Gegenstand integrationspolitischer und -wissenschaftlicher Debatten (zusammenfassend: Leuf- Das nachstehende Schaubild verdeutlicht – in gesamt fen, Rittberger, Schimmelfennig 2012). Vor dem Hinter- europäischem Zuschnitt – zunächst die verschiedenen grund der Krise (in) der EWWU gewinnen die damit ver- Integrationsräume und die gegenwärtige Realität diffe- bundenen integrationsstrategischen Fragen zusätzliche renzierter oder flexibler Integration in Europa. Das Phä Aktualität. Differenzierte Integration Assoziierungsabkommen Türkei Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen **Kroatien Mazedonien Montenegro Serbien Bosnien Herzegowina Schengen Abkommen* Schweiz Albanien ? EWR Norwegen Island Liechtenstein (*eingeschränkt) EU-27 Bulgarien Lettland **Kroatien (2013) Tschechien Litauen Rumänien Vereinigtes Königreich Schweden (*eingeschr.) Ungarn Polen Dänemark EUROZONE 17 Belgien Luxemburg Deutschland Malta (2008) Estland (2011) Niederlande Finnland Österreich Frankreich Portugal Griechenland Slowakei (2009) Irland (*eingeschr.) Slowenien (2007) Italien Spanien Zypern (2008) Quelle: Eigene Darstellung 6
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement Folgende Eckpunkte verdienen zunächst, hervorgehoben dam verankert, um Projekte voranzutreiben bzw. sekun- zu werden: därrechtliche Regulierungen zu verabschieden, die von einer Gruppe von Staaten für wichtig erachtet werden, Die EU basiert auf dem Ideal einer einheitlichen und zeit- die aber keine Realisierungschancen im Geleitzug aller gleichen politischen, wirtschaftlichen und auch rechtli- Unionsmitglieder haben. chen Integration. Eine besondere, im Weltmaßstab sin- guläre Qualität der EU ist die einer Rechtsgemeinschaft, Die Regularien für die Anwendung dieses Verfahrens die für ihre Mitglieder verbindliches supranationales wurden in den nachfolgenden Verträgen angepasst Recht setzt. Diesem Gemeinschaftsprinzip und der uni- und im EU-Reformvertrag als »ständige strukturierte Zu- tarischen Leitidee einer synchronen primär- und sekun- sammenarbeit« (Art. 42 und 46 EUV (EU-Vertrag)) auch därrechtlichen Entwicklung des Integrationsverbundes auf die Verteidigungspolitik ausgeweitet. Die »ermäch- (mit der unmittelbar auch demokratiepolitische Aspekte tigende« Form der verstärkten Zusammenarbeit dürfte verknüpft sind) steht seit geraumer Zeit die Realität diffe- perspektivisch am ehesten im Bereich Inneres und Justiz renzierter Integration gegenüber. Unter diesem Terminus Anwendung finden (ein bereits existierendes Beispiel ist können »alle Formen des spezifischen, den gemeinsa- die Regelung für grenzüberschreitende Scheidungen); sie men Acquis überschreitenden Zusammenwirkens einer ist aber grundsätzlich auch in anderen Regulierungsfel- Teilmenge von Mitgliedstaaten der Europäischen Union dern (etwa einer künftigen gemeinsamen Bemessungs- erfasst werden, unabhängig davon, ob dies supranatio- grundlage für Körperschaftssteuern) eine denkbare Op- nal oder intergouvernemental geschieht. Dieses Zusam- tion. menwirken ist sowohl modellförmig als auch inhaltlich aufgliederbar« (Müller-Graf 2007: 129 f.). Im Zusammenhang differenzierter Integration ist schließ- lich der Schengen-Prozess zu nennen. Er steht für einen Ansatz abgestufter Integration, der auf der Basis eines Zwischen vertragsgestützter Flexibilität zwischenstaatlichen Abkommens begonnen und dann und zwischenstaatlichen Abkommen schrittweise in das EU-Vertragswerk überführt wurde – mit sukzessiven Beitritten weiterer EU-Staaten sowie ein- Ausdruck differenzierter Integration sind zunächst die zelner Nicht-EU-Staaten. vertragspolitischen Opting-outs. Dieser Problemlösungs- modus fand erstmals Anwendung, als Großbritannien Außerhalb dieser in den EU-Verträgen normierten Grup- die Europäische Sozialcharta, die als Protokoll der Ein- penschaften (Eurozone, Schengen-Zone) hat sich zudem heitlichen Europäischen Akte verabschiedet wurde, nicht eine (informelle) Kooperationspraxis herausgebildet, da- übernahm. Einem im Maastrichter Vertrag fortgesetzten runter beispielsweise die deutsch-französisch-britische britischen Opting-out im Bereich der EU-Sozialpolitik Irangruppe, die Zusammenarbeit der sechs größten folgte im Amsterdamer Vertrag ein Opting-in. Die bedeu- Staaten in Fragen der Kriminalitäts- und Terrorismus- tendsten Fälle sind das britische und dänische Opting-out bekämpfung (G-6), oder die in diesem Bereich explizit bezüglich der dritten Stufe der Wirtschafts- und Wäh- als Gegengewicht auf Initiative Österreichs operierende rungsunion (Schweden, das aufgrund eines Referendums »Salzburg-Gruppe« kleinerer Staaten. Jüngstes Glied in nicht der EWWU beitrat, verfügt über kein de jure Opt- dieser Kette differenzierter Integration ist der (nachste- ing-out, praktiziert jedoch ein de facto Opting-out). Der hend diskutierte) am 2. März 2012 unterzeichnete Ver- Lissabonner Vertrag sieht weitere politikbereichsspezifi- trag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der sche Ausnahmeregeln für einige Staaten vor; für Groß- Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt). britannien im Bereich der polizeilichen und strafrechtli- chen Zusammenarbeit sowie – im Verbund mit Polen und Tschechien – im Hinblick auf den Geltungsbereich und Zunehmende Heterogenität erfordert zukünf- Durchsetzungsmodus der Grundrechtecharta. Schließlich tig ein Mehr an differenzierter Integration enthält der EU-Reformvertrag neue Regeln zum Eintritt in Formen der verstärkten Zusammenarbeit unter dem Insgesamt zeigen die skizzierten Entwicklungen: Es geht Dach der EU. Dieses Prinzip differenzierter Integration nicht mehr um ein ob der differenzierten Integration, wurde primärrechtlich erstmals im Vertrag von Amster- sondern um ein wie, also um die Frage, mittels welcher 7
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement Strategien im Inneren ein möglichst hohes Maß an Iden- mension hinzugetreten bzw. erneut hervorgetreten: die tität, Konsistenz und Legitimität und nach Außen eine Konkurrenz unterschiedlicher währungspolitischer Tradi- möglichst kohärente und überzeugende Aktions- und tionen und Stabilitätskulturen der Eurozonen-Mitglieder. Handlungsfähigkeit geschaffen werden kann. Die Diffe- renzierungsregeln des Reformvertrages schaffen einen Anders formuliert: gemeinschaftliche Problemlösungen diesbezüglich erweiterten Flexibilisierungsrahmen. Die bedürfen einer Interessenvermittlung entlang dreier in- ungelösten Fragen der Wirtschafts- und Fiskalpolitik las- terdependenter Konfliktachsen, einer ordnungspoliti- sen erwarten, dass die bisherige Praxis differenzierter und schen Konfliktachse (Markt versus Staat; Austeritätspo- abgestufter Integration perspektivisch eher noch stärker litik versus Wachstumspolitik etc.), einer integrations- zum Tragen kommt. Ein kurzer Blick auf den weit rei- politischen Konfliktachse (Stärkung der supranationalen chenden Wandel des Integrationssystems unterstreicht – Union versus Erhalt nationalstaatlicher Domänen etc.) betrachtet man allein die sozial-ökonomischen Struk- und einer verteilungspolitischen Konfliktachse (die aus turgegebenheiten und Problemhaushalte – eine solche den mitgliedstaatlichen varieties of capitalism resultieren- Perspektive: den unterschiedlichen »Kosten« europäischer Problem- lösungen). Im Unterschied zur Gründung der Europäischen Wirt- schaftsgemeinschaft, die ökonomisch (zunächst nur) auf In Anbetracht dieser Konfigurationen und den Schwie- den freien Warenverkehr zwischen sechs in ihren sozial- rigkeiten, zunehmend heterogene Interessen zu vermit- staatlichen Strukturen und ökonomischen Verhältnissen teln, zeichnen sich mit Blick auf die Frage differenzierter vergleichsweise »homogenen« Mitgliedstaaten zielte, Integration mehr denn je Entscheidungssituationen ab, in weist die EU nach den jüngsten Erweiterungsrunden denen die Erosionsgefahr des Integrationsprojekts oder zum einen ein nie gekanntes Maß an Wohlstandsunter- zumindest seine Delegitimierung durch mangelnde Ent- schieden zwischen den Mitgliedstaaten und eine deutlich scheidungseffizienz, die durch Blockadekonstellationen gewachsene Pluralität und Heterogenität nationaler Pro- hervorgerufen wird, größer ist als eine Erosionsgefahr, duktions- und Verteilungsregime auf. Damit verändern die durch eine Auflösung der Vertragseinheit befördert sich – um es nur anzudeuten – die Politisierungsmuster würde. Welche Optionen differenzierter Integration ste- und Konfliktkonfigurationen: »Die Auseinandersetzun- hen also zur Verfügung und welche sollten genutzt wer- gen der vergangenen Jahre waren vielfach das Resultat den? von Verteilungskonflikten zwischen den Mitgliedstaaten. So verliefen die Konfliktlinien bei der Dienstleistungs- richtlinie und der Übernahmerichtlinie vor allem zwischen Zwischen offenem Gravitationsraum und Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Kapitalismus- und nicht vertragsgebundenen Gruppenbildungen Wohlfahrtsstaatsmodellen, weniger hingegen entlang der Links-Rechts-Achse der Parteiensysteme« (Höpner/ Die diskutierten Strategien differenzierter Integration (die Schäfer 2010: 4). Die heutige EU ist zum anderen im sich teilweise überlappen und in unterschiedlicher Weise Bereich der Wirtschaftsintegration (im Unterschied zu bereits Anwendung finden) werden begrifflich und ana- den Anfangsdekaden des Integrationsprozesses) durch lytisch unterschiedlich gefasst.1 ein nie gekanntes Maß an Marktliberalisierung (die mitt- lerweile neben den Produktmärkten auch die Arbeits-, Die geläufigsten, sich in der Diskussion befindlichen Kapital- und Dienstleistungsmärkte umfasst) geprägt und »Modelle« sind ein »Kerneuropa«, ein »Europa konzen- durch die »Klammer« der gemeinsamen Währung (deren trischer Kreise«, ein »Europa der variablen Geometrie«, Bedingungen auch auf die nicht der Eurozone angehö- ein »Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeit« und renden EU-Mitgliedstaaten ausstrahlen) einem historisch ein »Europa à la carte«. gleichfalls beispiellosen Interdependenzzusammenhang unterworfen. Zu den traditionellen integrationspoliti- Eine gewisse Präferenz bezüglich dieser Varianten gilt schen Konfliktkonfigurationen entlang der Links-Rechts- in den wissenschaftlichen Debatten der Vorstellung ei- Achse der Parteiensysteme und entlang der unterschied- lichen Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsmodelle ist im 1. Auf die Problematik einer Begriffsflut – im englischsprachigen Raum finden sich zurzeit rund 30 Bezeichnungen – soll hier nicht eingegangen Zuge der Krise (in) der Eurozone eine weitere Konfliktdi- werden. 8
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement nes offenen Gravitationsraums, da sowohl ein fester ge- tionsmacht in bereichsspezifischen Fragen zu beanspru- schlossener Kern, der stets gemeinsam voranschreitet, chen) im Hinblick auf ihre Unionstreue EU-rechtlich ge- als auch ein à la carte-Modell beliebiger Wahlmöglichkei- bunden und einer parlamentarischen Kontrolle durch das ten letztlich Spaltungstendenzen in der Union befördern Europäische Parlament unterworfen. würden. Nach dem Modell eines offenen Gravitations- raums muss jede Differenzierung auf der Zeitachse und Dieses Zielmodell eines vertraglich abgestuften und ab- nach Themenfeldern grundsätzlich für alle Mitgliedstaa- gesicherten offenen Gravitationsraums, der die Innovati- ten offen sein und im Einklang mit den allgemeinen Zie- onspotentiale differenzierter Integration zu nutzen und len und Entscheidungsregeln der Union stehen. gleichzeitig »Wildwuchs« und zentrifugale Tendenzen einzudämmen versucht, wird allerdings durch die jüngs- Insbesondere die nicht vertragsgebundenen Gruppen- ten Entwicklungen in der Eurozone von zwei Seiten in bildungen, etwa die deutsch-französisch-britische Iran- Frage gestellt. gruppe, die Zusammenarbeit der sechs größten EU-Staa- ten (G-6) in der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämp- Zum einen gewinnen Vorstellungen eines qualitativ neu fung, oder die in diesem Bereich auf Initiative Österreichs zu strukturierenden »Kerneuropas« eine neue Dringlich- als Gegengewicht operierende »Salzburg-Gruppe« ber- keit und Aktualität, da – so eine der gegenwärtig domi- gen demnach mehr Risiken als Chancen. Zwar kann etwa nanten Begründungsachsen – die dauerhafte Stabilität die Dreiergruppe Deutschland, Frankreich und Großbri- der EWWU nur durch einen qualitativen Schritt hin zu tannien der EU bei bestimmten außenpolitischen Fragen einer quasi-föderalen Union zu erreichen ist, in der die fallweise mehr Gewicht verleihen als die vertraglich vor- Währungsunion in den politischen Rahmen einer umfas- gesehenen Troika- oder Team-Präsidentschaften (vor al- senden Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion eingebettet lem dann, wenn die Troika der drei jeweils aufeinander ist. folgenden Ratspräsidentschaften aus kleineren Staaten oder aus Staaten besteht, die sich außen-, sicherheits- Nach dieser Sicht sind die innerhalb des derzeitigen Ver- und militärpolitisch betont neutral verhalten müssen). tragsrahmens möglichen Regulierungs- und Steuerungs- Durch eine solche »Dreier-Avantgarde« wären aber zu- formen, die etwa im sogenannten Sixpack (fünf Verord- gleich permanente Spannungen vorprogrammiert. Und nungen und eine Richtlinie zur Stabilisierung und prä- zwar einerseits mit Italien, Spanien und Polen, die sich ventiven Steuerung der EWWU) zum Ausdruck kommen ebenfalls zur Gruppe der größeren und einflussreiche- und die nach der »Gemeinschaftsmethode« (unter Kode- ren Staaten zählen, und andererseits mit den neuen Uni- zision des EP) verabschiedet wurden, nicht ausreichend, onsämtern, der Hohen Vertreterin für die Außen- und um den Problemhaushalt in der Eurozone angemessen Sicherheitspolitik und – auf der Ebene der Staats- und zu bewältigen. (Auf die inhaltliche Problematik dieser Re- Regierungschefs – dem gewählten Präsidenten des Eu- gelwerke, denen etwa die Fraktionen der Sozialdemokra- ropäischen Rates, die ja geschaffen wurden, um der EU ten und Grünen im EP nicht zustimmten, kann an dieser ein außenpolitisch konsistenteres und institutionell ko- Stelle nicht eingegangen werden.) Die grundlegenden härenteres Agieren zu ermöglichen. Die gravierendsten Konstruktionsmängel der EWWU erfordern demnach ei- Probleme aller informellen bzw. den EU-Regeln formal nen neuen verfassungsgebenden Prozess. enthobenen Gruppeninitiativen bestehen darin, dass sie die Prinzipien der demokratisch-parlamentarischen Betei- Zum anderen gibt es Vorstellungen, wonach zeitnahe Lö- ligung und der rechtlichen Kontrolle auf je nationaler und sungen der anstehenden Probleme nur in einem Ausbau europäischer Ebene schwächen. zwischenstaatlicher Abkommen und in einer Intensivie- rung intergouvernementaler Steuerungsformen gefun- Anders gelagert sind die vertraglich abgesicherten Grup- den werden können, also Pfade beschritten werden soll- penbildungen, also die »Mehrheitskerne«, die sich auf- ten bzw. unumgänglich sind, wie dies bei der Schaffung grund von Opting-outs eines oder mehrerer Staaten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) oder zu- in bestimmten Funktionsfeldern der Union (Eurozone, letzt beim Fiskalpakt der Fall war. Schengen-Gruppe, strukturierte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik etc.) herausbilden. Denn diese sind (auch wenn sie dazu tendieren, eine »exklusive« Defini- 9
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement Durch zwischenstaatliche Abkommen möglich macht. Anzumerken bleibt, dass auch das ge- aus der Krise? genwärtige »Schengen-Europa« durch Steuerungsdefi- zite – mangelnde zwischenstaatliche Solidarität im Um- Die Machtarithmetik, die zum Fiskalpakt geführt hat, gang mit Aufnahmequoten, administrative Überlastung, zeigt ein Muster, das das gesamte bisherige Krisenma- mangelhafte Rechtspraxis in einzelnen »Aufnahmelän- nagement in der Eurozone geprägt hat: eine starke Do- dern« etc. – wiederholt in Frage gestellt wird und ohne minanz Deutschlands im Zusammenspiel mit Frankreich eine weitergehende Europäisierung gefährdet ist. als Duopol, eine primär intergouvernementale Entschei- dungslogik und ein weitgehendes Ausschalten der sup- ranationalen EU-Organe Kommission und Europäisches Ein Kerneuropa als Antwort auf die Krise? Parlament. Inwieweit eine – wenigstens nachgelagerte – demokratische Kontrolle und Legitimation durch die na- Die zweite gegenwärtig verstärkt diskutierte politische tionalen Parlamente (im Falle Irlands durch ein Referen- Option ist die eines »Kerneuropas«. dum) erfolgen kann, wird erst der weitere Ratifikations- prozess zeigen. Die Kerneuropa-Debatte ist nicht neu. Sie taucht(e) in europäischen Zukunftsdiskursen immer dann auf, wenn Offen ist nach den französischen Präsidentschaftswah- Schritte zu einem substantiellen Souveränitätstrans- len mittlerweile auch, ob und inwieweit der Fiskalpakt fer aus sachpolitischen Interessenerwägungen geboten neu verhandelt, bzw. um einen »Wachstumspakt« er- scheinen und/oder die von Integrationisten oder Ver- gänzt wird. Ungeachtet der politisch-ökonomisch prob- fechtern eines föderalen Europa verfolgten Ziele sich im lematischen Ratio des Fiskalpakts (Dominanz einer Aus- Geleitzug aller EU-Mitgliedstaaten als nicht realisierbar teritätslogik, mangelnde komplementäre Vorkehrungen erweisen. Die Krise (in) der Eurozone, die Bedrohung des im Bereich einer wachstumsfördernden Politik, keine (kontinentalen oder rheinischen) »Europäischen Sozial- transnational wirksamen Solidarmechanismen etwa modells« im Kontext der Globalisierung (Platzer 2011) durch einen Schuldentilgungsfond, keine regulativen und geostrategische Erwägungen zur Selbstbehauptung Elemente auf der Einnahmenseite der Haushalte, etwa Europas haben Vorstellungen eines Kerneuropas neue Finanztransaktionssteuer etc.) verdient dieses »Modell« Nahrung verliehen. als Problemlösungspfad gleichwohl Beachtung. Denn grundsätzlich könnte auf diesem Wege auch eine regu- Institutionelle und normative Elemente eines solchen Ver- lative Politik und eine »verbindliche« wachstums- und tiefungsprojekts und politische Verfahrenswege sind von beschäftigungsorientierte makro-ökonomische Politik politischer Seite (Schäuble/Lamers 1994; Delors 2001; vereinbart und gestaltet werden. Dies wäre dann eine Fischer 2006; Verhofstadt 2006) wie von wissenschaft- »Umgehungsstrategie« in Politikfeldern, in denen eine licher Seite (zuletzt Habermas 2011 und Piris 2012) the- Gruppe von Staaten Regulierungsbedarf sieht, jedoch die matisiert worden. Die verschiedenen Beiträge fügen sich vertraglichen Ermächtigungsgrundlagen nicht gegeben aber weder zu einer einheitlichen Konzeption noch zu sind und/oder eine Konstellation von Veto-Spielern zu einem kohärenten strategischen Entwurf, die als »Blau- erwarten ist, die auch »kleine Vertragsänderungen« nach pause« einer institutionellen Reformdebatte dienen den Regeln des Lissabon-Vertrages dauerhaft blockiert. könnten. Unter diesen Vorzeichen ist dieser Pfad zwischenstaatli- cher Abkommen auch für Verfechter einer sozialpolitisch Eine der diskutierten Vorstellungen lautet, ein Kern- aktiveren EU eine Option, die es abzuwägen und auszu- Europa werde sich gleichsam »naturwüchsig« aus der loten, jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen gilt. Schnittmenge der verschiedenen Formen der »verstärk- Immerhin zeigt der Schengen-Prozess, dass ein solcher – ten Zusammenarbeit« (Eurozone, Fiskalpakt ohne Groß- zunächst zwischenstaatlicher – Problemlösungspfad, der britannien, Schengen-Raum usw.) herausbilden. Ein zunächst auch nur einen Teil der Mitgliedstaaten einbe- solches Szenario entspricht eher einem offenen Gravi- zieht, eine »pragmatische Konstitutionalisierung« nicht tationsraum. Eine gezielte Kerneuropa-Strategie würde ausschließt und eine (perspektivische) Überführung der darüber hinausgehen. Danach würde eine Gruppe von Regelwerke in den EU-Vertragsrahmen und damit eine Staaten – etwa angesichts der gegenwärtigen, um den (teilweise) Rückbindung an die Gemeinschaftsmethode EWWU-Komplex zentrierten Herausforderungen – den 10
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement Weg einer substantiellen Integrationsvertiefung beschrei- tieproblem der EU verringert, wenn auch nicht gänzlich ten wollen und dabei bewusst in Kauf nehmen, dass sich gelöst. Dieses Demokratiedefizit bestand (besteht) darin, Avantgarde und restlicher Geleitzug weiter voneinander dass durch die schrittweise Vertiefung der europäischen entfernen. Ein solcher Schritt bedürfte notwendigerweise Integration immer mehr Legislativbefugnisse auf die eu- einer erneuten Vertragsreform, eines »neuen europäi- ropäische Ebene verlagert wurden, dass dieser Kompe- schen Grundvertrags« (Fischer) oder eines »Vertrags im tenztransfer zugunsten der Regierungen (Europäischer Vertrag« (Delors). Ob dabei die optimistische Einschät- Rat, Ministerrat) und zu Lasten der nationalen Parla- zung Habermas’ zutrifft, dass »der Weg zu einem poli- mente ging und immer erst in zeitlich nachgelagerten tisch handlungsfähigen und demokratisch legitimierten und nach Mitentscheidungsbereichen unvollständigen (Kern-)Europa keineswegs blockiert [ist]. Ja, mit dem Schritten die Rolle des Europäischen Parlaments (EP) ge- Lissabon-Vertrag die längste Strecke des Weges schon stärkt wurde. zurückgelegt [ist]« (Habermas 2011: 47), sei zunächst dahingestellt. Der Lissabon-Vertrag wertet die Rolle des EP deutlich auf und stärkt damit die eigenständige europäische Legiti- Im Rahmen möglicher Kerneuropa-Varianten präferiert mitätsdimension der Union. Von besonderer Bedeutung der Autor ein strategisches Konzept, das im abschließen- ist der Ausbau der Legislativrechte des EPs. Das bishe- den Teil skizziert wird. rige Mitentscheidungsverfahren, das dem EP dem Rat gleichgestellte Beteiligungs- und Entscheidungsrechte einräumt, wird nicht nur dem Begriff nach zum »ordent- 4. Zum institutionellen Status quo lichen Gesetzgebungsverfahren«, sondern auch der Zahl und den demokratischen der Artikel nach zum »Normalfall« künftiger Gesetzge- Entwicklungsperspektiven der EU bung (Ausweitung um 35 weitere Entscheidungsfälle, z. B. in der Asyl- und Einwanderungspolitik). Zu nennen Es kann und soll im Folgenden weder um eine ausführ- sind des Weiteren die gestärkten Haushaltsrechte (nun- liche Analyse und Bewertung des EU-Systems auf der mehr auch im Agrarbereich), die erweiterten Rechte im Grundlage des Lissabon-Vertrages gehen (siehe u. a. Bereich der Vertragsrevisionen, die Wahl des (allerdings Lieb/Maurer 2009; Hoffmann/Wessels 2011), noch um von den Regierungen ernannten) Kommissionspräsiden- eine vertiefte Auseinandersetzung mit den politikwissen- ten und die Kontrolle der Europäischen Kommission. schaftlichen Debatten über EU-adäquate Demokratiefor- men (siehe u. a. Höreth 2002; Schäfer 2006) oder über Stärker als in bisherigen Vertragswerken kommt auch die Legitimität und Effektivität supranationalen Regierens die Rolle nationaler Parlamente (Art. 12 EUV) zum Tra- (siehe u. a. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2003; Stetter et al. gen, durch die die nationale Komponente der Legiti- 2011). mitätsquelle der Union ausgebaut wird (u. a. durch ein »Frühwarnsystem«; die nationalen Parlamente als »Sub- Vielmehr geht es darum, ausgewählte Aspekte der ins- sidiariätswächter«). In der Bundesrepublik legt nach dem titutionellen Architektur und der Verfahrensordnung zu vorangegangenen BVerfG-Urteil das »Integrationsverant- beleuchten, die für eine weiterführende Reformdebatte wortungsgesetz« die entsprechenden Parlamentsrechte relevant sind. und -funktionen (vergleichsweise extensiv) aus. Trotz dieser Stärkung der parlamentarischen Komponente auf nationaler und europäischer Ebene bestehen demokra- Demokratisierung durch Parlamentarisierung tiepolitisch problematische Entscheidungsprozeduren fort; darunter eine marginale Parlamentsbeteiligung in Zunächst ist festzuhalten, dass der EU-Reformvertrag den Politikbereichen der Gemeinsamen Außen- und Si- zu substantiellen Fortschritten im Bereich einer Demo- cherheitspolitik (GASP) sowie der Europäischen Sicher- kratisierung des EU-Systems durch dessen Parlamenta- heits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die Segmentie- risierung, also durch die Stärkung der Mitwirkungsfunk- rung der Ratsarbeiten in zahlreichen Ausschüssen und tionen der Parlamente, insbesondere des Europäischen Sondergremien, die sich einer ex-ante-Befassung der Parlaments, im europäischen Entscheidungssystem ge- Parlamente ebenso entziehen wie die seit 1997 prak- führt hat. Damit wurde ein überkommenes Demokra- tizierten Verfahren der Offenen Koordinierung. Neben 11
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement dem weiterhin fehlenden Initiativrecht des EP im Bereich Reformoptionen auf: die Schaffung einer Kammer der der EU-Gesetzgebung entsteht durch die Stärkung des nationalen Parlamente neben Rat und EP (»zweite Kam- Europäischen Rats (nunmehr auch mit dem Status ei- mer«), bzw. einer Kammer derjenigen Europaabgeordne- nes EU-Organs) innerhalb der gesamten Machtarchitek- ten, deren Staaten einer Avantgardegruppe angehören; tur der EU ein zusätzliches Ungleichgewicht zu Lasten die Schaffung eines parlamentarisches Gremiums mit Eu- demokratisch-parlamentarischer Standards. Denn dieses ropaabgeordneten und nationalen Abgeordneten (Assi- über dem Ministerrat stehende Gremium der Staats- und sen, Kongress etc.), die vollständige oder teilweise Wahl Regierungschefs entzieht sich fast vollständig einer par- des EP aus dem Kreis nationaler Abgeordneter, und die lamentarischen (ex-ante) Kontrolle. Ein Demokratiedefizit Vertretung nationaler Parlamente in den Delegationen entsteht insbesondere dann, wenn die Mitgliedstaaten des Ministerrates in den Fällen, in denen der Rat seine gemeinsam prä-legislative und quasi Exekutivfunktionen gesetzgeberischen Befugnisse ausübt. Die hier genann- wahrnehmen, wie dies im Zuge der »Gipfeldiplomatie« ten Optionen können an dieser Stelle nicht eingehender zur Lösung der Krise in der Eurozone fortlaufend der Fall analysiert und bewertet werden. Präferiert wird eine (im war. Berichtspflichten der Ratspräsidentschaft gegenüber Schlussteil skizzierte) weitere Stärkung des EP. Unterhalb dem EP und nationalstaatlich praktizierte Erklärungsrou- dieser Schwelle einer Machterweiterung des EP im Zuge tinen der Regierungschefs gegenüber ihren nationalen eines neuen Vertrages lässt sich schon unter den gege- Parlamenten bieten keine effektive parlamentarische benen Vertragsstrukturen eine Strategie der verstärkten Rückbindung und Kontrolle der Beratungen des Europä- Kooperation zwischen den im EU-System beteiligten Par- ischen Rates (dies schließt auch die Vorarbeiten seitens lamentsebenen (weiter-)entwickeln, bei der entlang der der Ratspräsidentschaften bzw. seitens des neu geschaf- verschiedenen Stadien des gemeinschaftlichen Entschei fenen Ständigen Ratspräsidenten ein). dungszyklus die verschiedenen Parlamentsebenen inter- agieren und auch zur vorausschauenden Planung von Ein grundlegendes Spannungsfeld zwischen »transnati- Gemeinschaftsinitiativen beitragen können.2 onaler Demokratie und postdemokratischem Exekutiv föderalismus« (Habermas 2011: 48 ff.) ist mithin Teil der Mit Blick auf die Demokratiefrage ist schließlich die erst- gegenwärtigen institutionellen Architektur der EU, wobei malige Einführung eines direkt-demokratischen Elements sich die Gewichte im Zuge des Managements der Euro- zu nennen, die »Bürgerinitiative«. Diese kann Vorschläge Krise zu Gunsten des Letzteren verschoben haben. für Gesetzgebungen machen, die sich allerdings inner- halb des bestehenden primärrechtlichen Kompetenz- rahmens bewegen müssen. Jede Initiative muss zudem Reformoptionen für mehr Demokratie das Nadelöhr des Initiativmonopols der EU-Kommission passieren. Die möglichen Potentiale der europäischen Bei einer Diskussion zur Weiterentwicklung der Demokra- Bürgerinitiative hinsichtlich der Stärkung transnationaler tie im EU-Entscheidungsgefüge über eine Stärkung des bürgergesellschaftlicher Öffentlichkeiten, hinsichtlich der parlamentarisch-repräsentativen Prinzips gilt es zu beach- Schaffung eines europäischen Kommunikationsraums ten, dass nur ein Teil der EU-Mitgliedstaaten (darunter und hinsichtlich einer Stärkung der Legitimation der EU Deutschland, Italien, Finnland und die Benelux-Staaten) durch eine direkt-demokratisch initiierte, qualitätsvolle traditionell offen gegenüber der Option sind, die Demo- Regulation müssen erst künftige Bürgerbegehren erwei- kratieprobleme über eine Stärkung des EP zu bearbeiten. sen. Demgegenüber stehen etwa Frankreich, Großbritannien, Tschechien, Schweden oder Dänemark – aus unterschied- Die Einführung einer neuen Entscheidungsregel, der lichen Verfassungstraditionen und/oder integrationspoli- »doppelten Mehrheit«, für die Abstimmungen des Mi- tischen Grundhaltungen – einer supranational-parlamen- nisterrats (ab 2014; allerdings mit weiteren Ausnahme- tarischen Suprematie über die Regierung (wie im Falle und Übergangsregeln), kann – grosso modo – gleichfalls Frankreichs) oder über das nationale Parlament (wie im unter einem graduellen Zugewinn demokratischer Prinzi- Falle Großbritanniens) skeptisch bis ablehnend gegen- über. Soweit in der Vergangenheit (und auch gegenwär- 2. Weiterentwicklung der »Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- tig) über die Stärkung des parlamentarischen Prinzips und Europa-Angelegenheiten der Parlamente der EU«, COSAC, der Kon- ferenz der Parlamentspräsidenten sowie der Netzwerke von Fachaus- diskutiert wurde (bzw. wird) tauchen u. a. die folgenden schüssen des EP und der nationalen Parlamente. 12
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement pien (stärkere Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen) Vor diesem Hintergrund werden gegenwärtig zunächst verbucht werden. Für die Frage einer künftigen Steige- zwei Fragen diskutiert: Wie muss eine »Gesamtstrategie« rung der Entscheidungseffizienz des Rates ist allerdings beschaffen sein, um die aktuelle Krise zu überwinden nicht in erster Linie die neue Mehrheitsregel, sondern und eine nachhaltige Stabilität der Eurozone zu gewähr- die Ausweitung der Anwendungsfälle der qualifizierten leisten? Sind die bislang beschlossenen Maßnahmen, Mehrheit, die der Lissabon-Vertrag erbracht hat, ent- bestehend aus der Stärkung des SWP, der neuen wirt- scheidend. schaftspolitischen Koordinierung einschließlich der »Eu- ropa-2020-Strategie«, dem Europäischen Semester, den 5. Probleme und Perspektiven Europäischen Finanzstabilsierungsfazilitäten (EFSF) und der ökonomischen und dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM), sozialpolitischen E U-Governance problemadäquat und ausreichend? Beide Fragen finden in der (wirtschafts-)wissenschaftlichen und politischen Effizienz- und Demokratiefragen sind unmittelbar mit Diskussion höchst unterschiedliche und mit Blick auf die dem breiten Spektrum unterschiedlicher Governance- neuen Instrumente notwendigerweise spekulative Ant- Formen verbunden, die in der heutigen EU praktiziert worten, da deren kurze oder in der Zukunft liegende Er- werden. Diese sollen an ausgewählten, für eine institu- probungszeit keine empirisch gesättigten Einschätzun- tionelle Reformdebatte relevanten Beispielen im Bereich gen zulässt. der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik kurz be- leuchtet werden. Dies erschwert Antworten auf eine dritte, entscheidende Frage, nämlich ob und inwieweit zur Beseitigung der Ausgangspunkt einer Analyse des wirtschaftspolitischen Schieflagen in der Governance der EWWU ein neues Regierens (in) der EU ist der Befund, dass sich das im Vertragswerk erforderlich ist. Die diesbezüglichen Vor- Maastrichter Vertrag niedergelegte, 2005 durch den stellungen darüber »werden entweder im claire-obcure Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) erweiterte Regel- belassen oder weichen – wenn sie konkret werden – werk der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion stark voneinander ab. ›Economic Governance‹, ›Gouver- (EWWU) und seine Umsetzung offensichtlich als nicht nement Économique‹ oder ›Wirtschaftsregierung‹ sind ausreichend erwiesen haben, Entwicklungen zu vermei- nicht nationale Übersetzungen eines identischen Inhalts, den, die zur gegenwärtigen Euro-Krise geführt haben. sondern unterschiedliche Etiketten für unterschiedliche Auch wenn man alle Faktoren der Krisenverursachung nationalstaatliche Verständnisse. Die Bandbreite der in- oder Beschleunigung im Zusammenhang der Weltfi- haltlichen Vorstellungen reicht dabei von weiterer Integ- nanzmarktkrise (Bankenrettung, Konjunktureinbrüche ration in Form der ›Vereinigten Staaten von Europa‹ (…) und dadurch wachsende Staatsdefizite etc.) in Rechnung bis hin zur Renationalisierung und Desintegration durch stellt, wurde die Krise »mit dadurch verursacht, dass im Ausschluss von bisherigen Mitgliedstaaten.« (Koll: 12) ersten Jahrzehnt der Eurozone die Wirtschaftspolitik mehrfach fehlgeleitet war. Sie fokussierte sich primär auf nationale Fiskalsalden und deren Kontrolle. Überschie- Erweiterte Steuerungsformen ßende Divergenzen bei Inflationsraten, Lohnstückkosten oder Zahlungsbilanzen waren nicht im Blick. Zugleich be- Zu den innerhalb des derzeitigen Vertragsrahmens mög- schränkte sie sich auch in der Wirtschafts- und Währungs- lichen, bislang nicht ausgeschöpften Pfaden und Instru- union (WWU) primär auf die Strukturreform-Agenda der menten der Krisenbewältigung bzw. -prävention zählen Lissabon-Strategie. Nötig gewesen wären dagegen zum u. a. eine stärkere Konzentration der Europäischen Struk- einen ein starker, wachstums- und beschäftigungsorien- turfonds auf die Defizitländer und eine Modifikation der tierter Policy-Mix in der Konzertierung aller Instrumente, Transferregeln (Aussetzung der nationalen Ko-Finanzie- d. h. Geld- und Wechselkurs-, Fiskal- und Lohnpolitik auf rung) und eine Optimierung der makro-ökonomischen WWU-Ebene, zum anderen die Einhaltung des Preissta- Koordinierungsverfahren. bilitätsziels auf der Ebene aller Mitgliedstaaten, die kon- stitutiv für das Funktionieren einer Währungsunion ist.« In Erweiterung der bereits beschlossenen Maßnahmen, (Koll 2012: 3) wie dem SWP mit seinem präventiven und korrektiven Arm, dem (in seiner Steuerungsqualität letztlich fakulta- 13
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