Vom Euro-Krisenmanagement zu einer neuen politischen Architektur der EU?

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INTERNATIONALE POLITIKANALYSE

Vom Euro-Krisenmanagement zu einer
 neuen politischen Architektur der EU?
               Optionen einer sozialen und demokratischen
                       Vertiefung des Integrationsprojekts

                                                           HANS-WOLFGANG PLATZER
                                                                         Juni 2012

       „„ Die Krise (in) der Eurozone und das bisherige Krisenmanagement haben innerhalb
          der Gesellschaften wie zwischen den Staaten der Europäischen Union integrations-
          geschichtlich beispiellose Spannungen und Konflikte hervorgebracht. Das Integra-
          tionsprojekt verlangt nach neuen Antworten auf Fragen des demokratischen und
          legitimen Regierens und der effektiven und nachhaltigen Problemlösung.

       „„ Jeglicher Reformdiskurs ist mit mehreren Dilemmata konfrontiert. Denn während
          der Reformbedarf in Richtung »mehr Europa« wächst, schwinden gleichzeitig die
          dafür erforderlichen Voraussetzungen einer breiten bürgergesellschaftlichen Unter-
          stützung und einer pro-integrativen Haltung zahlreicher EU-Länder. Die EU weist
          nach den jüngsten Erweiterungsrunden ein nie gekanntes Maß an Wohlstandsun-
          terschieden zwischen den Mitgliedstaaten und eine deutlich gewachsene Hetero-
          genität nationaler Produktions- und Verteilungsregime auf. Gemeinschaftliche Pro-
          blemlösungen, die eines Interessenausgleichs entlang einer ordnungspolitischen, ei-
          ner integrationspolitischen und einer verteilungspolitischen Konfliktachse bedürfen,
          werden schwieriger.

       „„ Die diskutierten Reformoptionen zeigen, dass innerhalb des bestehenden Vertrags-
          rahmens einzelne über die bisherigen Weichenstellungen in der Euro-Krise hinaus-
          führenden Problemlösungsstrategien möglich wären, die EU aber letztlich einer er-
          neuerten und erweiterten Vertragsgrundlage bedarf. Demzufolge sollte ein neuer
          Konvent einberufen werden, der losgelöst vom tagesaktuellen Krisenmanagement
          eine neue Kompetenz- und Entscheidungsarchitektur der EU vorbereitet.
Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

Inhalt

         1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       3

         2. Historische Erfahrungswerte und Dilemmata einer EU-Reform. . . . . . . . . . . . . . . .                                              4

         3. Zur Problematik und den Perspektiven »differenzierter Integration«. . . . . . . . . . .  6
            Zwischen vertragsgestützter Flexibilität und zwischenstaatlichen Abkommen. . . . . . . . . .  7
            Zunehmende Heterogenität erfordert zukünftig ein Mehr an differenzierter Integration. .  7
            Zwischen offenem Gravitationsraum und nicht vertragsgebundenen Gruppenbildungen.  8
            Durch zwischenstaatliche Abkommen aus der Krise?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  10
            Ein Kerneuropa als Antwort auf die Krise?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  10

         4. Zum institutionellen Status quo und den demokratischen
            Entwicklungsperspektiven der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11
            Demokratisierung durch Parlamentarisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11
            Reformoptionen für mehr Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12

         5. Probleme und Perspektiven der ökonomischen und
            sozialpolitischen E ­ U-Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13
            Erweiterte Steuerungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13
            Sozialpolitisches Regieren (in) der EU: S­ ozialer Dialog und Offene Methode
            der Koordinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  14

         6. Reformoptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17

         Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

                                        1. Einleitung              achtung der Maastricht-Regeln) einzelner EU-Mitglied-
                                                                   staaten; (d) die makro-ökonomischen Ungleichgewichte
Die Weltfinanzmarktkrise mit ihren politisch bis dato nicht        in der Eurozone infolge gravierender Mängel im institu-
bewältigten Folgen und die jüngeren Entwicklungen und              tionellen Design der Wirtschafts- und Währungsunion.
Verwerfungen innerhalb der Eurozone haben das Integ-               Ohne die Frage der Verursachung hier zu vertiefen, bleibt
rationsprojekt in seine historisch bislang tiefste Krise ge-       festzuhalten: Mittlerweile hat sich die Erzählung »Staats-
führt und in seinen Grundfesten erschüttert. Es ist eine           schuldenkrise« als dominantes Erklärungsmodell der Kri-
Situation entstanden, die deutlich macht: Die Europäi-             senursachen durchgesetzt. Dies ist ein diskurspolitisch
sche Einigung ist kein irreversibles Projekt und ein Aus-          erklärungsbedürftiges Phänomen, vor allem aber ein in
einanderbrechen der Eurozone kann – ungeachtet der                 vielerlei Hinsicht gravierendes integrationspolitisches Pro-
bislang entwickelten Rettungsmechanismen und »Brand-               blem. Denn diese verkürzte Sichtweise führt nicht nur
mauern« – noch immer nicht ausgeschlossen werden.                  zu politisch suboptimalen und sozial unausgewogenen
                                                                   Lösungsansätzen, sondern sie versperrt auch den Blick
Wie in der jüngsten Vergangenheit, wird auch die nähere            auf einen tiefergehenden Reformbedarf des EU-Systems.
Zukunft der europäischen Politik nach aller Voraussicht
durch ein fortlaufendes Krisenmanagement geprägt sein.             Das aktuelle Krisengeschehen verlangt Antworten auf die
Durch die bislang getroffenen Entscheidungen hat die               folgenden Fragen:
Frage, ob und wie sich die »Logik der effektiven Problem-
lösung« mit der »Logik des legitimen Regierens« (Zürn              „„ Welche Instrumente gibt der Vertragsrahmen von Lis-
2006) vermitteln lässt, inzwischen eine Komplexität und            sabon der EU an die Hand, um die aktuelle Krise (in) der
politische Brisanz angenommen, die in der bisherigen               Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU)
EU-Integrationsgeschichte beispiellos ist. Die bisherigen          zu bewältigen und den Fortbestand der gemeinsamen
politischen Weichenstellungen haben sowohl innerge-                Währung langfristig zu sichern – und zwar jenseits des
sellschaftlich als auch zwischenstaatlich zu Auseinander-          bislang real praktizierten Krisenmanagements mit seinen
setzungen geführt, die einer alten Grundsatzfrage der In-          ordnungs- und verteilungspolitisch problematischen Wei-
tegration neue Nahrung verleihen: »Wie viel Demokratie             chenstellungen?
verträgt Europa und wie viel Europa verträgt die Demo-
kratie«? (Evers 1994). Wohl in keiner Phase der bisheri-           „„ In welchen Bereichen reichen die gegebene Kompe-
gen Integrationsgeschichte war somit eine Debatte über             tenzausstattung und die Entscheidungsverfahren nicht
eine Reform der Kompetenzordnung und der politischen               aus, um kohärent, effektiv und demokratisch legitimiert
Entscheidungsstrukturen der EU so dringlich wie zum                den Herausforderungen der globalisierten Finanzmärkte
gegenwärtigen Zeitpunkt. Aber kaum je zuvor war es                 und den Verwerfungen innerhalb der Eurozone zu be-
analytisch so schwierig, politisch gangbare Reformwege             gegnen?
zwischen einem kurzfristig notwendigen Krisenmanage-
ment und einem längerfristig tragfähigen Umbau der po-             „„ Welche erweiterten oder neuen supra-staatlichen
litischen Architektur der EU aufzuzeigen.                          Kompetenzen benötigt die EU bzw. die Eurozone in den
                                                                   Bereichen der Haushalts-, Finanz-, Steuer-, Wirtschafts-
Ein Grund für diese Schwierigkeiten ist die komplexe Ge-           und Sozialpolitik?
mengelage aus überkommenen Strukturproblemen der
EU und historisch neuartigen Krisenphänomenen, deren               „„  Ist ein »Mehr an Europa« angesichts gegebener ge-
Ursachen wissenschaftlich wie politisch höchst konträr             sellschaftlicher Vorbehalte gegenüber einem Souverä-
diagnostiziert werden.                                             nitätstransfer (in einer relevanten Zahl von EU-Mitglied-
                                                                   staaten) bzw. angesichts national unterschiedlicher recht-
So werden als prima causa oder als Verursachungskette              licher Schranken (z. B. das Erfordernis eines Referendums
der Euro-Krise u. a. die folgenden Entwicklungen ange-             auch bei begrenzten EU-Vertragsreformen in einer Reihe
führt: (a) die Fehlentwicklungen unregulierter globaler            von EU-Ländern) eine Option, die sich kurz- und mittel-
Finanzmärkte als Erbe der neoliberalen Ära; (b) das Aus-           fristig realisieren lässt oder ein Projekt, das allenfalls lang-
ufern chronischer Schuldenlasten der Staaten; (c) die po-          fristig erreichbar ist?
litischen Systemdefekte und das »defekte« Spiel (Miss-

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

„„ Erfordert »ein Mehr an Europa« eine bewusste Stra-              EU-Architektur. Dies kann im vorgegebenen Rahmen nur
tegie »abgestufter Integration«, also etwa eine aus der            eine analytische Skizze sein, die sich wiederum vorrangig
Eurozone heraus zu denkende und zu entwickelnde Kon-               auf drei miteinander verbundene Themenfelder konzen-
zeption einer vertieften politischen Union?                        triert, denen unter dem Blickwinkel der Reform und Ver-
                                                                   tiefung des Integrationsprojekts besondere Bedeutung
„„ Oder gilt es angesichts der neoliberalen Drift, die das         zukommt: dem Komplex »differenzierter Integration«,
Integrationsprojekt in den vergangenen eineinhalb De-              der Demokratiefrage und dem sozial-ökonomischen Re-
kaden genommen hat, und der jüngsten Tendenzen hin                 gieren (in) der EU.
zu technokratischen und intergouvernementalen Regie-
rungsweisen, die das bisherige Krisenmanagement her-               Anzumerken bleibt, dass dieser Problemaufriss zur ins-
vorgebracht hat, Reformperspektiven gar in Richtung ei-            titutionellen Architektur und zu möglichen Reformopti-
nes »aufgeklärten Protektionismus« (Höppner 2012) zu               onen der EU zwei analytischen Einschränkungen unter-
denken, also Strategien zu entwickeln, die – nicht zuletzt         liegt: Zum einen ist der Vertrag von Lissabon erst seit
unter dem Gesichtspunkt demokratischen Regierens –                 Dezember 2009 in Kraft. Dies ist ein zu kurzer Erfah-
darauf zielen, nationale Spielräume zu verteidigen oder            rungszeitraum (der zudem gänzlich von der Euro-Krise
wiederzugewinnen?                                                  beherrscht war), um empirisch fundierte, verlässliche Ein-
                                                                   schätzungen der neuen Regelwerke vornehmen zu kön-
Dieser Beitrag unternimmt, ausgehend von den bisheri-              nen. Dies gilt für den Bereich der Organe (z. B. ständiger
gen Strategien der Krisenbewältigung, den Versuch, un-             Ratspräsident), für die Entscheidungsverfahren (das Ent-
terschiedliche Optionen einer sozial-ökonomischen Re-              scheidungsverfahren der »doppelten Mehrheit« im Mi-
gulierung und Steuerung und mögliche Wege zu einer                 nisterrat kommt erst ab 2014 zur Anwendung) wie für
Vertiefung des Integrationsprojekts zu erörtern.                   die neuen direkt-demokratischen Elemente (die Europä-
                                                                   ische Bürgerinitiative ist bislang nicht erprobt worden).
Die Reformoptionen werden mit Blick auf unterschied-
liche Schrittlängen und Zeithorizonte reflektiert. Dem-            Zum anderen sind Fragen zur Reform der institutionellen
zufolge geht es einerseits um die Diskussion von Pro-              Architektur untrennbar mit Fragen der politikfeldbezo-
blemlösungen, die innerhalb des bestehenden EU-Ver-                genen Kompetenzverteilung im EU-Mehrebenensystem
tragsrahmens und der Grenzziehungen, die das Urteil                verbunden. Dies wiederum würde eine (im vorgegebe-
des Bundesverfassungsgerichts zum EU-Reformvertrag                 nen Rahmen nicht mögliche) differenzierte Auseinander-
für die Bundesrepublik vorgibt, möglich sind, und an-              setzung mit den Erfahrungen bisheriger Steuerungsleis-
dererseits um eine Erörterung eines Reformbedarfs der              tungen der EU nach einzelnen Politikfeldern erfordern.
institutionellen EU-Architektur jenseits dieses Rahmens.           Zur Sprache kommen lediglich ausgewählte Probleme
Im letzteren Falle sind wiederum verschiedene Optionen             der sozialpolitischen und ökonomischen EU-Governance.
zu diskutieren, die sich zwischen einem (zeitintensiven)
umfassenden Vertragsreformprozess (Einberufung eines
neuen Konvents mit anschließenden Regierungskonfe-                 2. Historische Erfahrungswerte
renzen) und einer (auch kurz- und mittelfristig realisierba-       und Dilemmata einer EU-Reform
ren) zwischenstaatlichen Zusammenarbeit (Regierungs-
absprachen, völkerrechtliche Arrangements außerhalb                Zunächst zeigt ein Blick auf die Geschichte der EU-Ver-
des EU-Rahmens) bewegen.                                           tragsentwicklungen von Rom bis Lissabon, dass die Union
                                                                   zu Anpassungen ihrer Kompetenzausstattung und ihres
Die Erörterung möglicher Reformpfade setzt voraus,                 Entscheidungsgefüges an veränderte innere und äußere
zunächst einen kurzen Blick auf historische Erfahrungs-            Anforderungen fähig ist.
werte der Integration zu werfen und dabei auch die mul-
tiplen Dilemmata sichtbar zu machen, mit denen jegliche            Der nahezu ein Jahrzehnt dauernde, mühevolle Prozess
Strategiedebatte konfrontiert ist.                                 der Vertragsreform(en) von »Nizza nach Lissabon« lie-
                                                                   fert weitere historische Erfahrungswerte, die als Orientie-
Des Weiteren erfordert die Erörterung von Reformop-                rungspunkte einer Reformdebatte dienen können. Dazu
tionen eine Analyse des Status quo der institutionellen            zählt, dass sich die Konventsmethode bewährt hat und

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

institutionelle Reformfortschritte (auch in Richtung De-         Fortschritte [zeichnet], die bei der Herausbildung eines
mokratisierung und Parlamentarisierung des EU-Systems)           europäischen Gemeinschaftsglaubens in den Bevölkerun-
möglich sind. Zugleich zeigte sich, dass Fortschritte in         gen der EU-Staaten bis jetzt erreicht werden konnten«
Richtung eines neuen Vertragswerks für die gesamte               (209  f.). Diese nur schwach ausgeprägte Wir-Identität der
Union nur um den Preis der Beibehaltung bestehender              Unionsbürger »erschwert jedoch eine Demokratisierung
oder neuer Opting-outs möglich sind und somit die Re-            der EU, weil die »Zumutungen« und »Bürden« der De-
alität »differenzierter Integration« auch bei jeglicher          mokratie ohne einen robusten Gemeinschaftsglauben
perspektivischer Reformdebatte zu berücksichtigen sein           der Bürgerinnen und Bürger nicht so ohne weiteres ver-
wird. Der Prozess bis zur Verabschiedung des EU-Reform-          arbeitet werden können« (210).
vertrags hat zudem auch sehr deutlich die Grenzen ei-
ner Integrationsvertiefung offen gelegt. Ausdruck einer          Dieser strukturelle Hintergrund wird durch die Krise (in)
gescheiterten Konstitutionalisierung (EU-Verfassungs-            der Eurozone um weitere Probleme und offene Fragen
vertrag) sind die negativen Referenden in Frankreich, in         angereichert: Kommt es in den Augen der Unionsbür-
den Niederlanden und in Irland. Der Verhandlungspro-             gerinnen und -bürger zu einem (weiteren) Verlust einer
zess zur Ausgestaltung einzelner Politikfelder, etwa der         utilitaristischen Legitimation der EU (eine EU, die »nützt
EU-Arbeits- und Sozialpolitik, der im Ergebnis zu einem          und schützt«)? Führen die gesellschaftlichen Krisenlas-
»konstitutionellen Minimalismus« (Platzer 2009) geführt          ten und Verwerfungen, zumal in den »Krisenländern«,
hat, steht exemplarisch für Barrieren und Grenzen eines          zu politisch instabilen Regierungen, die eine kohärente
sachpolitischen Souveränitätstransfers.                          Politik auf europäischer Ebene (zusätzlich) erschweren?
                                                                 Werden nationale Reflexe und anti-europäische Kräfte
Im Falle der Bundesrepublik kommt hinzu, dass das Urteil         gestärkt, wodurch insgesamt die politisch zentrifugalen
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Lissabon-             Kräfte in der EU zunehmen? Oder wirkt umgekehrt die
Vertrag spezifische verfassungsrechtliche Bedingungen            Krise als Katalysator einer Entwicklung, bei der die Erfah-
und Grenzziehungen einer weitergehenden Kompetenz-               rungen einer »Schicksalsgemeinschaft« zu neuen trans-
übertragung formuliert.                                          nationalen Solidaritätsmustern und zu pro-integrativen
                                                                 Handlungsorientierungen führen, die Reformbestrebun-
Dass es in der gegenwärtigen integrationspolitischen             gen in Richtung einer Vertiefung des Integrationsprojekts
Lage keine einfachen Antworten auf die Frage möglicher           begünstigen würden?
Reformpfade gibt, wird deutlich, wenn man sich kurz die
Dilemmata vor Augen führt, die die Integration (schon            Die mittelfristigen Gravitationswirkungen der Krise sind
vor der aktuellen Krise) hervorgebracht hat. Nach Kaina          aus heutiger Sicht nicht verlässlich einzuschätzen. Die
(2009) haben die rasante Erweiterung und die Schritte            jüngeren Entwicklungen, darunter das krisenbedingte
zur Vertiefung der EU in den vergangenen eineinhalb              Auseinanderbrechen von Regierungen, die unkalku-
Dekaden zu einem »Dilemma der gegensätzlichen Ge-                lierbaren Entwicklungen Griechenlands nach der Parla-
schwindigkeiten« geführt: »Demnach ist die Entwicklung           mentswahl, der enorme Zuwachs EU-kritischer Wähler-
der Europäischen Union den Voraussetzungen ihres künf-           schichten, den der erste französische Präsidentschafts-
tigen Erfolgs und den Bedingungen ihrer Bestandssiche-           wahlgang und die griechischen Parlamentswahlen offen
rung teilweise vorausgeeilt« (209). Diese müssen sich »zu        gelegt haben, deuten eher in Richtung der skeptischen
einem Teil erst noch in langfristigen und unkalkulierbaren       Szenarien. Damit entsteht ein zusätzliches integrations-
Prozessen supranationaler kollektiver Identitätsbildungs-        politisches Dilemma: während in vielen EU-Ländern der
prozesse entwickeln; zu einem anderen Teil müssen sich           Widerstand gegen die »Gemeinschaftszumutungen«
diese Voraussetzungen in einem für die Bevölkerungsak-           (Austeritätspolitik hier – Bürgschaften dort) wächst und
zeptanz und die Problemlösungsfähigkeit der EU ebenso            eine »Reformerschöpfung« zunimmt, wächst gleichzei-
schwierigen wie unsicheren Umfeld bewähren« (ebd.).              tig der Reformbedarf, der neben nationalstaatlichen An-
Ein weiteres Dilemma, das »Dilemma der Gleichzeitig-             passungsleistungen vor allem – so die Prämisse dieses
keit«, sieht Kaina im Zusammenhang der Beziehungen               Beitrags – in Richtung supranationaler Problemlösungen
zwischen einer supranationalen kollektiven Identitätsbil-        und transnationaler Solidaritätsleistungen verweist.
dung und der Demokratisierung der EU, da die Empi-
rie »das ungeschönte Bild fehlender oder nur spärlicher

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

3. Zur Problematik und den Perspektiven                              nomen und die Praxis »differenzierter Integration« sind
             »differenzierter Integration«                           seit Langem Gegenstand integrationspolitischer und
                                                                     -wissenschaftlicher Debatten (zusammenfassend: Leuf-
 Das nachstehende Schaubild verdeutlicht – in gesamt­                fen, Rittberger, Schimmelfennig 2012). Vor dem Hinter-
 europäischem Zuschnitt – zunächst die verschiedenen                 grund der Krise (in) der EWWU gewinnen die damit ver-
 ­Integrationsräume und die gegenwärtige Realität diffe-             bundenen integrationsstrategischen Fragen zusätzliche
  renzierter oder flexibler Integration in Europa. Das Phä­          Aktualität.

 Differenzierte Integration

         Assoziierungsabkommen                                                                    Türkei

         Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen                                               **Kroatien
                                                                                                  Mazedonien
                                                                                                  Montenegro
                                                                                                  Serbien
                                                                                                  Bosnien Herzegowina
                              Schengen Abkommen*            Schweiz                               Albanien ?

                EWR                                         Norwegen
                                                            Island
                                                            Liechtenstein (*eingeschränkt)

                EU-27                                       Bulgarien          Lettland         **Kroatien (2013)
                                                            Tschechien         Litauen
                                                            Rumänien           Vereinigtes
                                                                               Königreich
                                                            Schweden
                                                                               (*eingeschr.)
                                                            Ungarn
                                                                               Polen
                                                            Dänemark

                                     EUROZONE 17
                                     Belgien                Luxemburg
                                     Deutschland            Malta (2008)
                                     Estland (2011)         Niederlande
                                     Finnland               Österreich
                                     Frankreich             Portugal
                                     Griechenland           Slowakei (2009)
                                     Irland (*eingeschr.)   Slowenien (2007)
                                     Italien                Spanien

                                                            Zypern (2008)

 Quelle: Eigene Darstellung

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

Folgende Eckpunkte verdienen zunächst, hervorgehoben               dam verankert, um Projekte voranzutreiben bzw. sekun-
zu werden:                                                         därrechtliche Regulierungen zu verabschieden, die von
                                                                   einer Gruppe von Staaten für wichtig erachtet werden,
Die EU basiert auf dem Ideal einer einheitlichen und zeit-         die aber keine Realisierungschancen im Geleitzug aller
gleichen politischen, wirtschaftlichen und auch rechtli-           Unionsmitglieder haben.
chen Integration. Eine besondere, im Weltmaßstab sin-
guläre Qualität der EU ist die einer Rechtsgemeinschaft,           Die Regularien für die Anwendung dieses Verfahrens
die für ihre Mitglieder verbindliches supranationales              wurden in den nachfolgenden Verträgen angepasst
Recht setzt. Diesem Gemeinschaftsprinzip und der uni-              und im EU-Reformvertrag als »ständige strukturierte Zu-
tarischen Leitidee einer synchronen primär- und sekun-             sammenarbeit« (Art. 42 und 46 EUV (EU-Vertrag)) auch
därrechtlichen Entwicklung des Integrationsverbundes               auf die Verteidigungspolitik ausgeweitet. Die »ermäch-
(mit der unmittelbar auch demokratiepolitische Aspekte             tigende« Form der verstärkten Zusammenarbeit dürfte
verknüpft sind) steht seit geraumer Zeit die Realität diffe-       perspektivisch am ehesten im Bereich Inneres und Justiz
renzierter Integration gegenüber. Unter diesem Terminus            Anwendung finden (ein bereits existierendes Beispiel ist
können »alle Formen des spezifischen, den gemeinsa-                die Regelung für grenzüberschreitende Scheidungen); sie
men Acquis überschreitenden Zusammenwirkens einer                  ist aber grundsätzlich auch in anderen Regulierungsfel-
Teilmenge von Mitgliedstaaten der Europäischen Union               dern (etwa einer künftigen gemeinsamen Bemessungs-
erfasst werden, unabhängig davon, ob dies supranatio-              grundlage für Körperschaftssteuern) eine denkbare Op-
nal oder intergouvernemental geschieht. Dieses Zusam-              tion.
menwirken ist sowohl modellförmig als auch inhaltlich
aufgliederbar« (Müller-Graf 2007: 129  f.).                        Im Zusammenhang differenzierter Integration ist schließ-
                                                                   lich der Schengen-Prozess zu nennen. Er steht für einen
                                                                   Ansatz abgestufter Integration, der auf der Basis eines
         Zwischen vertragsgestützter Flexibilität                  zwischenstaatlichen Abkommens begonnen und dann
          und zwischenstaatlichen Abkommen                         schrittweise in das EU-Vertragswerk überführt wurde –
                                                                   mit sukzessiven Beitritten weiterer EU-Staaten sowie ein-
Ausdruck differenzierter Integration sind zunächst die             zelner Nicht-EU-Staaten.
vertragspolitischen Opting-outs. Dieser Problemlösungs-
modus fand erstmals Anwendung, als Großbritannien                  Außerhalb dieser in den EU-Verträgen normierten Grup-
die Europäische Sozialcharta, die als Protokoll der Ein-           penschaften (Eurozone, Schengen-Zone) hat sich zudem
heitlichen Europäischen Akte verabschiedet wurde, nicht            eine (informelle) Kooperationspraxis herausgebildet, da-
übernahm. Einem im Maastrichter Vertrag fortgesetzten              runter beispielsweise die deutsch-französisch-britische
britischen Opting-out im Bereich der EU-Sozialpolitik              Irangruppe, die Zusammenarbeit der sechs größten
folgte im Amsterdamer Vertrag ein Opting-in. Die bedeu-            Staaten in Fragen der Kriminalitäts- und Terrorismus-
tendsten Fälle sind das britische und dänische Opting-out          bekämpfung (G-6), oder die in diesem Bereich explizit
bezüglich der dritten Stufe der Wirtschafts- und Wäh-              als Gegengewicht auf Initiative Österreichs operierende
rungsunion (Schweden, das aufgrund eines Referendums               »Salzburg-Gruppe« kleinerer Staaten. Jüngstes Glied in
nicht der EWWU beitrat, verfügt über kein de jure Opt-             dieser Kette differenzierter Integration ist der (nachste-
ing-out, praktiziert jedoch ein de facto Opting-out). Der          hend diskutierte) am 2. März 2012 unterzeichnete Ver-
Lissabonner Vertrag sieht weitere politikbereichsspezifi-          trag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der
sche Ausnahmeregeln für einige Staaten vor; für Groß-              Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt).
britannien im Bereich der polizeilichen und strafrechtli-
chen Zusammenarbeit sowie – im Verbund mit Polen und
Tschechien – im Hinblick auf den Geltungsbereich und               Zunehmende Heterogenität erfordert zukünf-
Durchsetzungsmodus der Grundrechtecharta. Schließlich              tig ein Mehr an differenzierter Integration
enthält der EU-Reformvertrag neue Regeln zum Eintritt
in Formen der verstärkten Zusammenarbeit unter dem                 Insgesamt zeigen die skizzierten Entwicklungen: Es geht
Dach der EU. Dieses Prinzip differenzierter Integration            nicht mehr um ein ob der differenzierten Integration,
wurde primärrechtlich erstmals im Vertrag von Amster-              sondern um ein wie, also um die Frage, mittels welcher

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

Strategien im Inneren ein möglichst hohes Maß an Iden-            mension hinzugetreten bzw. erneut hervorgetreten: die
tität, Konsistenz und Legitimität und nach Außen eine             Konkurrenz unterschiedlicher währungspolitischer Tradi-
möglichst kohärente und überzeugende Aktions- und                 tionen und Stabilitätskulturen der Eurozonen-Mitglieder.
Handlungsfähigkeit geschaffen werden kann. Die Diffe-
renzierungsregeln des Reformvertrages schaffen einen              Anders formuliert: gemeinschaftliche Problemlösungen
diesbezüglich erweiterten Flexibilisierungsrahmen. Die            bedürfen einer Interessenvermittlung entlang dreier in-
ungelösten Fragen der Wirtschafts- und Fiskalpolitik las-         terdependenter Konfliktachsen, einer ordnungspoliti-
sen erwarten, dass die bisherige Praxis differenzierter und       schen Konfliktachse (Markt versus Staat; Austeritätspo-
abgestufter Integration perspektivisch eher noch stärker          litik versus Wachstumspolitik etc.), einer integrations-
zum Tragen kommt. Ein kurzer Blick auf den weit rei-              politischen Konfliktachse (Stärkung der supranationalen
chenden Wandel des Integrationssystems unterstreicht –            Union versus Erhalt nationalstaatlicher Domänen etc.)
betrachtet man allein die sozial-ökonomischen Struk-              und einer verteilungspolitischen Konfliktachse (die aus
turgegebenheiten und Problemhaushalte – eine solche               den mitgliedstaatlichen varieties of capitalism resultieren-
Perspektive:                                                      den unterschiedlichen »Kosten« europäischer Problem-
                                                                  lösungen).
Im Unterschied zur Gründung der Europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft, die ökonomisch (zunächst nur) auf            In Anbetracht dieser Konfigurationen und den Schwie-
den freien Warenverkehr zwischen sechs in ihren sozial-           rigkeiten, zunehmend heterogene Interessen zu vermit-
staatlichen Strukturen und ökonomischen Verhältnissen             teln, zeichnen sich mit Blick auf die Frage differenzierter
vergleichsweise »homogenen« Mitgliedstaaten zielte,               Integration mehr denn je Entscheidungssituationen ab, in
weist die EU nach den jüngsten Erweiterungsrunden                 denen die Erosionsgefahr des Integrationsprojekts oder
zum einen ein nie gekanntes Maß an Wohlstandsunter-               zumindest seine Delegitimierung durch mangelnde Ent-
schieden zwischen den Mitgliedstaaten und eine deutlich           scheidungseffizienz, die durch Blockadekonstellationen
gewachsene Pluralität und Heterogenität nationaler Pro-           hervorgerufen wird, größer ist als eine Erosionsgefahr,
duktions- und Verteilungsregime auf. Damit verändern              die durch eine Auflösung der Vertragseinheit befördert
sich – um es nur anzudeuten – die Politisierungsmuster            würde. Welche Optionen differenzierter Integration ste-
und Konfliktkonfigurationen: »Die Auseinandersetzun-              hen also zur Verfügung und welche sollten genutzt wer-
gen der vergangenen Jahre waren vielfach das Resultat             den?
von Verteilungskonflikten zwischen den Mitgliedstaaten.
So verliefen die Konfliktlinien bei der Dienstleistungs-
richtlinie und der Übernahmerichtlinie vor allem zwischen         Zwischen offenem Gravitationsraum und
Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Kapitalismus- und           nicht vertragsgebundenen Gruppenbildungen
Wohlfahrtsstaatsmodellen, weniger hingegen entlang
der Links-Rechts-Achse der Parteiensysteme« (Höpner/              Die diskutierten Strategien differenzierter Integration (die
Schäfer 2010: 4). Die heutige EU ist zum anderen im               sich teilweise überlappen und in unterschiedlicher Weise
Bereich der Wirtschaftsintegration (im Unterschied zu             bereits Anwendung finden) werden begrifflich und ana-
den Anfangsdekaden des Integrationsprozesses) durch               lytisch unterschiedlich gefasst.1
ein nie gekanntes Maß an Marktliberalisierung (die mitt-
lerweile neben den Produktmärkten auch die Arbeits-,              Die geläufigsten, sich in der Diskussion befindlichen
Kapital- und Dienstleistungsmärkte umfasst) geprägt und           »Modelle« sind ein »Kerneuropa«, ein »Europa konzen-
durch die »Klammer« der gemeinsamen Währung (deren                trischer Kreise«, ein »Europa der variablen Geometrie«,
Bedingungen auch auf die nicht der Eurozone angehö-               ein »Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeit« und
renden EU-Mitgliedstaaten ausstrahlen) einem historisch           ein »Europa à la carte«.
gleichfalls beispiellosen Interdependenzzusammenhang
unterworfen. Zu den traditionellen integrationspoliti-            Eine gewisse Präferenz bezüglich dieser Varianten gilt
schen Konfliktkonfigurationen entlang der Links-Rechts-           in den wissenschaftlichen Debatten der Vorstellung ei-
Achse der Parteiensysteme und entlang der unterschied-
lichen Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsmodelle ist im           1. Auf die Problematik einer Begriffsflut – im englischsprachigen Raum
                                                                  finden sich zurzeit rund 30 Bezeichnungen – soll hier nicht eingegangen
Zuge der Krise (in) der Eurozone eine weitere Konfliktdi-         werden.

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

nes offenen Gravitationsraums, da sowohl ein fester ge-           tionsmacht in bereichsspezifischen Fragen zu beanspru-
schlossener Kern, der stets gemeinsam voranschreitet,             chen) im Hinblick auf ihre Unionstreue EU-rechtlich ge-
als auch ein à la carte-Modell beliebiger Wahlmöglichkei-         bunden und einer parlamentarischen Kontrolle durch das
ten letztlich Spaltungstendenzen in der Union befördern           Europäische Parlament unterworfen.
würden. Nach dem Modell eines offenen Gravitations-
raums muss jede Differenzierung auf der Zeitachse und             Dieses Zielmodell eines vertraglich abgestuften und ab-
nach Themenfeldern grundsätzlich für alle Mitgliedstaa-           gesicherten offenen Gravitationsraums, der die Innovati-
ten offen sein und im Einklang mit den allgemeinen Zie-           onspotentiale differenzierter Integration zu nutzen und
len und Entscheidungsregeln der Union stehen.                     gleichzeitig »Wildwuchs« und zentrifugale Tendenzen
                                                                  einzudämmen versucht, wird allerdings durch die jüngs-
Insbesondere die nicht vertragsgebundenen Gruppen-                ten Entwicklungen in der Eurozone von zwei Seiten in
bildungen, etwa die deutsch-französisch-britische Iran-           Frage gestellt.
gruppe, die Zusammenarbeit der sechs größten EU-Staa-
ten (G-6) in der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämp-            Zum einen gewinnen Vorstellungen eines qualitativ neu
fung, oder die in diesem Bereich auf Initiative Österreichs       zu strukturierenden »Kerneuropas« eine neue Dringlich-
als Gegengewicht operierende »Salzburg-Gruppe« ber-               keit und Aktualität, da – so eine der gegenwärtig domi-
gen demnach mehr Risiken als Chancen. Zwar kann etwa              nanten Begründungsachsen – die dauerhafte Stabilität
die Dreiergruppe Deutschland, Frankreich und Großbri-             der EWWU nur durch einen qualitativen Schritt hin zu
tannien der EU bei bestimmten außenpolitischen Fragen             einer quasi-föderalen Union zu erreichen ist, in der die
fallweise mehr Gewicht verleihen als die vertraglich vor-         Währungsunion in den politischen Rahmen einer umfas-
gesehenen Troika- oder Team-Präsidentschaften (vor al-            senden Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion eingebettet
lem dann, wenn die Troika der drei jeweils aufeinander            ist.
folgenden Ratspräsidentschaften aus kleineren Staaten
oder aus Staaten besteht, die sich außen-, sicherheits-           Nach dieser Sicht sind die innerhalb des derzeitigen Ver-
und militärpolitisch betont neutral verhalten müssen).            tragsrahmens möglichen Regulierungs- und Steuerungs-
Durch eine solche »Dreier-Avantgarde« wären aber zu-              formen, die etwa im sogenannten Sixpack (fünf Verord-
gleich permanente Spannungen vorprogrammiert. Und                 nungen und eine Richtlinie zur Stabilisierung und prä-
zwar einerseits mit Italien, Spanien und Polen, die sich          ventiven Steuerung der EWWU) zum Ausdruck kommen
ebenfalls zur Gruppe der größeren und einflussreiche-             und die nach der »Gemeinschaftsmethode« (unter Kode-
ren Staaten zählen, und andererseits mit den neuen Uni-           zision des EP) verabschiedet wurden, nicht ausreichend,
onsämtern, der Hohen Vertreterin für die Außen- und               um den Problemhaushalt in der Eurozone angemessen
Sicherheitspolitik und – auf der Ebene der Staats- und            zu bewältigen. (Auf die inhaltliche Problematik dieser Re-
Regierungschefs – dem gewählten Präsidenten des Eu-               gelwerke, denen etwa die Fraktionen der Sozialdemokra-
ropäischen Rates, die ja geschaffen wurden, um der EU             ten und Grünen im EP nicht zustimmten, kann an dieser
ein außenpolitisch konsistenteres und institutionell ko-          Stelle nicht eingegangen werden.) Die grundlegenden
härenteres Agieren zu ermöglichen. Die gravierendsten             Konstruktionsmängel der EWWU erfordern demnach ei-
Probleme aller informellen bzw. den EU-Regeln formal              nen neuen verfassungsgebenden Prozess.
enthobenen Gruppeninitiativen bestehen darin, dass sie
die Prinzipien der demokratisch-parlamentarischen Betei-          Zum anderen gibt es Vorstellungen, wonach zeitnahe Lö-
ligung und der rechtlichen Kontrolle auf je nationaler und        sungen der anstehenden Probleme nur in einem Ausbau
europäischer Ebene schwächen.                                     zwischenstaatlicher Abkommen und in einer Intensivie-
                                                                  rung intergouvernementaler Steuerungsformen gefun-
Anders gelagert sind die vertraglich abgesicherten Grup-          den werden können, also Pfade beschritten werden soll-
penbildungen, also die »Mehrheitskerne«, die sich auf-            ten bzw. unumgänglich sind, wie dies bei der Schaffung
grund von Opting-outs eines oder mehrerer Staaten                 des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) oder zu-
in bestimmten Funktionsfeldern der Union (Eurozone,               letzt beim Fiskalpakt der Fall war.
Schengen-Gruppe, strukturierte Zusammenarbeit in der
Verteidigungspolitik etc.) herausbilden. Denn diese sind
(auch wenn sie dazu tendieren, eine »exklusive« Defini-

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

          Durch zwischenstaatliche Abkommen                        möglich macht. Anzumerken bleibt, dass auch das ge-
                                 aus der Krise?                    genwärtige »Schengen-Europa« durch Steuerungsdefi-
                                                                   zite – mangelnde zwischenstaatliche Solidarität im Um-
Die Machtarithmetik, die zum Fiskalpakt geführt hat,               gang mit Aufnahmequoten, administrative Überlastung,
zeigt ein Muster, das das gesamte bisherige Krisenma-              mangelhafte Rechtspraxis in einzelnen »Aufnahmelän-
nagement in der Eurozone geprägt hat: eine starke Do-              dern« etc. – wiederholt in Frage gestellt wird und ohne
minanz Deutschlands im Zusammenspiel mit Frankreich                eine weitergehende Europäisierung gefährdet ist.
als Duopol, eine primär intergouvernementale Entschei-
dungslogik und ein weitgehendes Ausschalten der sup-
ranationalen EU-Organe Kommission und Europäisches                 Ein Kerneuropa als Antwort auf die Krise?
Parlament. Inwieweit eine – wenigstens nachgelagerte –
demokratische Kontrolle und Legitimation durch die na-             Die zweite gegenwärtig verstärkt diskutierte politische
tionalen Parlamente (im Falle Irlands durch ein Referen-           Option ist die eines »Kerneuropas«.
dum) erfolgen kann, wird erst der weitere Ratifikations-
prozess zeigen.                                                    Die Kerneuropa-Debatte ist nicht neu. Sie taucht(e) in
                                                                   europäischen Zukunftsdiskursen immer dann auf, wenn
Offen ist nach den französischen Präsidentschaftswah-              Schritte zu einem substantiellen Souveränitätstrans-
len mittlerweile auch, ob und inwieweit der Fiskalpakt             fer aus sachpolitischen Interessenerwägungen geboten
neu verhandelt, bzw. um einen »Wachstumspakt« er-                  scheinen und/oder die von Integrationisten oder Ver-
gänzt wird. Ungeachtet der politisch-ökonomisch prob-              fechtern eines föderalen Europa verfolgten Ziele sich im
lematischen Ratio des Fiskalpakts (Dominanz einer Aus-             Geleitzug aller EU-Mitgliedstaaten als nicht realisierbar
teritätslogik, mangelnde komplementäre Vorkehrungen                erweisen. Die Krise (in) der Eurozone, die Bedrohung des
im Bereich einer wachstumsfördernden Politik, keine                (kontinentalen oder rheinischen) »Europäischen Sozial-
transnational wirksamen Solidarmechanismen etwa                    modells« im Kontext der Globalisierung (Platzer 2011)
durch einen Schuldentilgungsfond, keine regulativen                und geostrategische Erwägungen zur Selbstbehauptung
Elemente auf der Einnahmenseite der Haushalte, etwa                Europas haben Vorstellungen eines Kerneuropas neue
Finanztransaktionssteuer etc.) verdient dieses »Modell«            Nahrung verliehen.
als Problemlösungspfad gleichwohl Beachtung. Denn
grundsätzlich könnte auf diesem Wege auch eine regu-               Institutionelle und normative Elemente eines solchen Ver-
lative Politik und eine »verbindliche« wachstums- und              tiefungsprojekts und politische Verfahrenswege sind von
beschäftigungsorientierte makro-ökonomische Politik                politischer Seite (Schäuble/Lamers 1994; Delors 2001;
vereinbart und gestaltet werden. Dies wäre dann eine               Fischer 2006; Verhofstadt 2006) wie von wissenschaft-
»Umgehungsstrategie« in Politikfeldern, in denen eine              licher Seite (zuletzt Habermas 2011 und Piris 2012) the-
Gruppe von Staaten Regulierungsbedarf sieht, jedoch die            matisiert worden. Die verschiedenen Beiträge fügen sich
vertraglichen Ermächtigungsgrundlagen nicht gegeben                aber weder zu einer einheitlichen Konzeption noch zu
sind und/oder eine Konstellation von Veto-Spielern zu              einem kohärenten strategischen Entwurf, die als »Blau-
erwarten ist, die auch »kleine Vertragsänderungen« nach            pause« einer institutionellen Reformdebatte dienen
den Regeln des Lissabon-Vertrages dauerhaft blockiert.             könnten.
Unter diesen Vorzeichen ist dieser Pfad zwischenstaatli-
cher Abkommen auch für Verfechter einer sozialpolitisch            Eine der diskutierten Vorstellungen lautet, ein Kern-
aktiveren EU eine Option, die es abzuwägen und auszu-              Europa werde sich gleichsam »naturwüchsig« aus der
loten, jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen gilt.        Schnittmenge der verschiedenen Formen der »verstärk-
Immerhin zeigt der Schengen-Prozess, dass ein solcher –            ten Zusammenarbeit« (Eurozone, Fiskalpakt ohne Groß-
zunächst zwischenstaatlicher – Problemlösungspfad, der             britannien, Schengen-Raum usw.) herausbilden. Ein
zunächst auch nur einen Teil der Mitgliedstaaten einbe-            solches Szenario entspricht eher einem offenen Gravi-
zieht, eine »pragmatische Konstitutionalisierung« nicht            tationsraum. Eine gezielte Kerneuropa-Strategie würde
ausschließt und eine (perspektivische) Überführung der             darüber hinausgehen. Danach würde eine Gruppe von
Regelwerke in den EU-Vertragsrahmen und damit eine                 Staaten – etwa angesichts der gegenwärtigen, um den
(teilweise) Rückbindung an die Gemeinschaftsmethode                EWWU-Komplex zentrierten Herausforderungen – den

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

Weg einer substantiellen Integrationsvertiefung beschrei-         tieproblem der EU verringert, wenn auch nicht gänzlich
ten wollen und dabei bewusst in Kauf nehmen, dass sich            gelöst. Dieses Demokratiedefizit bestand (besteht) darin,
Avantgarde und restlicher Geleitzug weiter voneinander            dass durch die schrittweise Vertiefung der europäischen
entfernen. Ein solcher Schritt bedürfte notwendigerweise          Integration immer mehr Legislativbefugnisse auf die eu-
einer erneuten Vertragsreform, eines »neuen europäi-              ropäische Ebene verlagert wurden, dass dieser Kompe-
schen Grundvertrags« (Fischer) oder eines »Vertrags im            tenztransfer zugunsten der Regierungen (Europäischer
Vertrag« (Delors). Ob dabei die optimistische Einschät-           Rat, Ministerrat) und zu Lasten der nationalen Parla-
zung Habermas’ zutrifft, dass »der Weg zu einem poli-             mente ging und immer erst in zeitlich nachgelagerten
tisch handlungsfähigen und demokratisch legitimierten             und nach Mitentscheidungsbereichen unvollständigen
(Kern-)Europa keineswegs blockiert [ist]. Ja, mit dem             Schritten die Rolle des Europäischen Parlaments (EP) ge-
Lissabon-Vertrag die längste Strecke des Weges schon              stärkt wurde.
zurückgelegt [ist]« (Habermas 2011: 47), sei zunächst
dahingestellt.                                                    Der Lissabon-Vertrag wertet die Rolle des EP deutlich auf
                                                                  und stärkt damit die eigenständige europäische Legiti-
Im Rahmen möglicher Kerneuropa-Varianten präferiert               mitätsdimension der Union. Von besonderer Bedeutung
der Autor ein strategisches Konzept, das im abschließen-          ist der Ausbau der Legislativrechte des EPs. Das bishe-
den Teil skizziert wird.                                          rige Mitentscheidungsverfahren, das dem EP dem Rat
                                                                  gleichgestellte Beteiligungs- und Entscheidungsrechte
                                                                  einräumt, wird nicht nur dem Begriff nach zum »ordent-
       4. Zum institutionellen Status quo                         lichen Gesetzgebungsverfahren«, sondern auch der Zahl
                und den demokratischen                            der Artikel nach zum »Normalfall« künftiger Gesetzge-
        Entwicklungsperspektiven der EU                           bung (Ausweitung um 35 weitere Entscheidungsfälle,
                                                                  z. B. in der Asyl- und Einwanderungspolitik). Zu nennen
Es kann und soll im Folgenden weder um eine ausführ-              sind des Weiteren die gestärkten Haushaltsrechte (nun-
liche Analyse und Bewertung des EU-Systems auf der                mehr auch im Agrarbereich), die erweiterten Rechte im
Grundlage des Lissabon-Vertrages gehen (siehe u. a.               Bereich der Vertragsrevisionen, die Wahl des (allerdings
Lieb/Maurer 2009; Hoffmann/Wessels 2011), noch um                 von den Regierungen ernannten) Kommissionspräsiden-
eine vertiefte Auseinandersetzung mit den politikwissen-          ten und die Kontrolle der Europäischen Kommission.
schaftlichen Debatten über EU-adäquate Demokratiefor-
men (siehe u. a. Höreth 2002; Schäfer 2006) oder über             Stärker als in bisherigen Vertragswerken kommt auch
die Legitimität und Effektivität supranationalen Regierens        die Rolle nationaler Parlamente (Art. 12 EUV) zum Tra-
(siehe u. a. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2003; Stetter et al.        gen, durch die die nationale Komponente der Legiti-
2011).                                                            mitätsquelle der Union ausgebaut wird (u. a. durch ein
                                                                  »Frühwarnsystem«; die nationalen Parlamente als »Sub-
Vielmehr geht es darum, ausgewählte Aspekte der ins-              sidiariätswächter«). In der Bundesrepublik legt nach dem
titutionellen Architektur und der Verfahrensordnung zu            vorangegangenen BVerfG-Urteil das »Integrationsverant-
beleuchten, die für eine weiterführende Reformdebatte             wortungsgesetz« die entsprechenden Parlamentsrechte
relevant sind.                                                    und -funktionen (vergleichsweise extensiv) aus. Trotz
                                                                  dieser Stärkung der parlamentarischen Komponente auf
                                                                  nationaler und europäischer Ebene bestehen demokra-
 Demokratisierung durch Parlamentarisierung                       tiepolitisch problematische Entscheidungsprozeduren
                                                                  fort; darunter eine marginale Parlamentsbeteiligung in
Zunächst ist festzuhalten, dass der EU-Reformvertrag              den Politikbereichen der Gemeinsamen Außen- und Si-
zu substantiellen Fortschritten im Bereich einer Demo-            cherheitspolitik (GASP) sowie der Europäischen Sicher-
kratisierung des EU-Systems durch dessen Parlamenta-              heits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die Segmentie-
risierung, also durch die Stärkung der Mitwirkungsfunk-           rung der Ratsarbeiten in zahlreichen Ausschüssen und
tionen der Parlamente, insbesondere des Europäischen              Sondergremien, die sich einer ex-ante-Befassung der
Parlaments, im europäischen Entscheidungssystem ge-               Parlamente ebenso entziehen wie die seit 1997 prak-
führt hat. Damit wurde ein überkommenes Demokra-                  tizierten Verfahren der Offenen Koordinierung. Neben

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dem weiterhin fehlenden Initiativrecht des EP im Bereich          Reformoptionen auf: die Schaffung einer Kammer der
der EU-Gesetzgebung entsteht durch die Stärkung des               nationalen Parlamente neben Rat und EP (»zweite Kam-
Europäischen Rats (nunmehr auch mit dem Status ei-                mer«), bzw. einer Kammer derjenigen Europaabgeordne-
nes EU-Organs) innerhalb der gesamten Machtarchitek-              ten, deren Staaten einer Avantgardegruppe angehören;
tur der EU ein zusätzliches Ungleichgewicht zu Lasten             die Schaffung eines parlamentarisches Gremiums mit Eu-
demokratisch-parlamentarischer Standards. Denn dieses             ropaabgeordneten und nationalen Abgeordneten (Assi-
über dem Ministerrat stehende Gremium der Staats- und             sen, Kongress etc.), die vollständige oder teilweise Wahl
Regierungschefs entzieht sich fast vollständig einer par-         des EP aus dem Kreis nationaler Abgeordneter, und die
lamentarischen (ex-ante) Kontrolle. Ein Demokratiedefizit         Vertretung nationaler Parlamente in den Delegationen
entsteht insbesondere dann, wenn die Mitgliedstaaten              des Ministerrates in den Fällen, in denen der Rat seine
gemeinsam prä-legislative und quasi Exekutivfunktionen            gesetzgeberischen Befugnisse ausübt. Die hier genann-
wahrnehmen, wie dies im Zuge der »Gipfeldiplomatie«               ten Optionen können an dieser Stelle nicht eingehender
zur Lösung der Krise in der Eurozone fortlaufend der Fall         analysiert und bewertet werden. Präferiert wird eine (im
war. Berichtspflichten der Ratspräsidentschaft gegenüber          Schlussteil skizzierte) weitere Stärkung des EP. Unterhalb
dem EP und nationalstaatlich praktizierte Erklärungsrou-          dieser Schwelle einer Machterweiterung des EP im Zuge
tinen der Regierungschefs gegenüber ihren nationalen              eines neuen Vertrages lässt sich schon unter den gege-
Parlamenten bieten keine effektive parlamentarische               benen Vertragsstrukturen eine Strategie der verstärkten
Rückbindung und Kontrolle der Beratungen des Europä-              Kooperation zwischen den im EU-System beteiligten Par-
ischen Rates (dies schließt auch die Vorarbeiten seitens          lamentsebenen (weiter-)entwickeln, bei der entlang der
der Ratspräsidentschaften bzw. seitens des neu geschaf-           verschiedenen Stadien des gemeinschaftlichen Entschei­
fenen Ständigen Ratspräsidenten ein).                             dungszyklus die verschiedenen Parla­mentsebenen inter-
                                                                  agieren und auch zur vorausschauenden Planung von
Ein grundlegendes Spannungsfeld zwischen »transnati-              Gemeinschafts­in­itiativen beitragen können.2
onaler Demokratie und postdemokratischem Exekutiv­
föderalismus« (Habermas 2011: 48  ff.) ist mithin Teil der        Mit Blick auf die Demokratiefrage ist schließlich die erst-
gegenwärtigen institutionellen Architektur der EU, wobei          malige Einführung eines direkt-demokratischen Elements
sich die Gewichte im Zuge des Managements der Euro-               zu nennen, die »Bürgerinitiative«. Diese kann Vorschläge
Krise zu Gunsten des Letzteren verschoben haben.                  für Gesetzgebungen machen, die sich allerdings inner-
                                                                  halb des bestehenden primärrechtlichen Kompetenz-
                                                                  rahmens bewegen müssen. Jede Initiative muss zudem
          Reformoptionen für mehr Demokratie                      das Nadelöhr des Initiativmonopols der EU-Kommission
                                                                  passieren. Die möglichen Potentiale der europäischen
Bei einer Diskussion zur Weiterentwicklung der Demokra-           Bürgerinitiative hinsichtlich der Stärkung transnationaler
tie im EU-Entscheidungsgefüge über eine Stärkung des              bürgergesellschaftlicher Öffentlichkeiten, hinsichtlich der
parlamentarisch-repräsentativen Prinzips gilt es zu beach-        Schaffung eines europäischen Kommunikationsraums
ten, dass nur ein Teil der EU-Mitgliedstaaten (darunter           und hinsichtlich einer Stärkung der Legitimation der EU
Deutschland, Italien, Finnland und die Benelux-Staaten)           durch eine direkt-demokratisch initiierte, qualitätsvolle
traditionell offen gegenüber der Option sind, die Demo-           Regulation müssen erst künftige Bürgerbegehren erwei-
kratieprobleme über eine Stärkung des EP zu bearbeiten.           sen.
Demgegenüber stehen etwa Frankreich, Großbritannien,
Tschechien, Schweden oder Dänemark – aus unterschied-             Die Einführung einer neuen Entscheidungsregel, der
lichen Verfassungstraditionen und/oder integrationspoli-          »doppelten Mehrheit«, für die Abstimmungen des Mi-
tischen Grundhaltungen – einer supranational-parlamen-            nisterrats (ab 2014; allerdings mit weiteren Ausnahme-
tarischen Suprematie über die Regierung (wie im Falle             und Übergangsregeln), kann – grosso modo – gleichfalls
Frankreichs) oder über das nationale Parlament (wie im            unter einem graduellen Zugewinn demokratischer Prinzi-
Falle Großbritanniens) skeptisch bis ablehnend gegen-
über. Soweit in der Vergangenheit (und auch gegenwär-             2. Weiterentwicklung der »Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts-
tig) über die Stärkung des parlamentarischen Prinzips             und Europa-Angelegenheiten der Parlamente der EU«, COSAC, der Kon-
                                                                  ferenz der Parlamentspräsidenten sowie der Netzwerke von Fachaus-
diskutiert wurde (bzw. wird) tauchen u. a. die folgenden          schüssen des EP und der nationalen Parlamente.

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Hans-Wolfgang Platzer | Euro-Krisenmanagement

pien (stärkere Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen)            Vor diesem Hintergrund werden gegenwärtig zunächst
verbucht werden. Für die Frage einer künftigen Steige-             zwei Fragen diskutiert: Wie muss eine »Gesamtstrategie«
rung der Entscheidungseffizienz des Rates ist allerdings           beschaffen sein, um die aktuelle Krise zu überwinden
nicht in erster Linie die neue Mehrheitsregel, sondern             und eine nachhaltige Stabilität der Eurozone zu gewähr-
die Ausweitung der Anwendungsfälle der qualifizierten              leisten? Sind die bislang beschlossenen Maßnahmen,
Mehrheit, die der Lissabon-Vertrag erbracht hat, ent-              bestehend aus der Stärkung des SWP, der neuen wirt-
scheidend.                                                         schaftspolitischen Koordinierung einschließlich der »Eu-
                                                                   ropa-2020-Strategie«, dem Europäischen Semester, den
           5. Probleme und Perspektiven                            Europäischen Finanzstabilsierungsfazilitäten (EFSF) und
                   der ökonomischen und                            dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM),
         sozialpolitischen E­ U-Governance                         problemadäquat und ausreichend? Beide Fragen finden
                                                                   in der (wirtschafts-)wissenschaftlichen und politischen
Effizienz- und Demokratiefragen sind unmittelbar mit               Diskussion höchst unterschiedliche und mit Blick auf die
dem breiten Spektrum unterschiedlicher Governance-                 neuen Instrumente notwendigerweise spekulative Ant-
Formen verbunden, die in der heutigen EU praktiziert               worten, da deren kurze oder in der Zukunft liegende Er-
werden. Diese sollen an ausgewählten, für eine institu-            probungszeit keine empirisch gesättigten Einschätzun-
tionelle Reformdebatte relevanten Beispielen im Bereich            gen zulässt.
der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik kurz be-
leuchtet werden.                                                   Dies erschwert Antworten auf eine dritte, entscheidende
                                                                   Frage, nämlich ob und inwieweit zur Beseitigung der
Ausgangspunkt einer Analyse des wirtschaftspolitischen             Schieflagen in der Governance der EWWU ein neues
Regierens (in) der EU ist der Befund, dass sich das im             Vertragswerk erforderlich ist. Die diesbezüglichen Vor-
Maastrichter Vertrag niedergelegte, 2005 durch den                 stellungen darüber »werden entweder im claire-obcure
Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) erweiterte Regel-             belassen oder weichen – wenn sie konkret werden –
werk der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion               stark voneinander ab. ›Economic Governance‹, ›Gouver-
(EWWU) und seine Umsetzung offensichtlich als nicht                nement Économique‹ oder ›Wirtschaftsregierung‹ sind
ausreichend erwiesen haben, Entwicklungen zu vermei-               nicht nationale Übersetzungen eines identischen Inhalts,
den, die zur gegenwärtigen Euro-Krise geführt haben.               sondern unterschiedliche Etiketten für unterschiedliche
Auch wenn man alle Faktoren der Krisenverursachung                 nationalstaatliche Verständnisse. Die Bandbreite der in-
oder Beschleunigung im Zusammenhang der Weltfi-                    haltlichen Vorstellungen reicht dabei von weiterer Integ-
nanzmarktkrise (Bankenrettung, Konjunktureinbrüche                 ration in Form der ›Vereinigten Staaten von Europa‹ (…)
und dadurch wachsende Staatsdefizite etc.) in Rechnung             bis hin zur Renationalisierung und Desintegration durch
stellt, wurde die Krise »mit dadurch verursacht, dass im           Ausschluss von bisherigen Mitgliedstaaten.« (Koll: 12)
ersten Jahrzehnt der Eurozone die Wirtschaftspolitik
mehrfach fehlgeleitet war. Sie fokussierte sich primär auf
nationale Fiskalsalden und deren Kontrolle. Überschie-             Erweiterte Steuerungsformen
ßende Divergenzen bei Inflationsraten, Lohnstückkosten
oder Zahlungsbilanzen waren nicht im Blick. Zugleich be-           Zu den innerhalb des derzeitigen Vertragsrahmens mög-
schränkte sie sich auch in der Wirtschafts- und Währungs-          lichen, bislang nicht ausgeschöpften Pfaden und Instru-
union (WWU) primär auf die Strukturreform-Agenda der               menten der Krisenbewältigung bzw. -prävention zählen
Lissabon-Strategie. Nötig gewesen wären dagegen zum                u. a. eine stärkere Konzentration der Europäischen Struk-
einen ein starker, wachstums- und beschäftigungsorien-             turfonds auf die Defizitländer und eine Modifikation der
tierter Policy-Mix in der Konzertierung aller Instrumente,         Transferregeln (Aussetzung der nationalen Ko-Finanzie-
d. h. Geld- und Wechselkurs-, Fiskal- und Lohnpolitik auf          rung) und eine Optimierung der makro-ökonomischen
WWU-Ebene, zum anderen die Einhaltung des Preissta-                Koordinierungsverfahren.
bilitätsziels auf der Ebene aller Mitgliedstaaten, die kon-
stitutiv für das Funktionieren einer Währungsunion ist.«           In Erweiterung der bereits beschlossenen Maßnahmen,
(Koll 2012: 3)                                                     wie dem SWP mit seinem präventiven und korrektiven
                                                                   Arm, dem (in seiner Steuerungsqualität letztlich fakulta-

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