Die Epochenscheide 1989/1990 - Aufbruch in eine neue europäische Friedensordnung? Ein skeptischer Rückblick
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Die Epochenscheide 1989/1990 – Aufbruch in eine neue europäische Friedensordnung? Ein skeptischer Rückblick Rafael Biermann Erscheint in: Braun, Karl-Heinz et al. (Hg.), Historisches Jahrbuch, Jg. 138, 2018, Freiburg / München: Karl Alber (Vorabveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber). Abstract Dieser Beitrag rekonstruierte den Versuch, nach Ende des Kalten Krieges eine neue Friedensordnung in Europa zu etablieren. Mit Blick auf die erneute Konfrontation zwischen dem Westen und Russland argumentiert er, dass die Euphorie 1989/90 sehr wohl berechtigt war: Die neue Friedensordnung war friedlich errungen und schien auf einem gemeinsamen Wertefundament zu ruhen. Doch trug Versailles 1990 wie schon Versailles 1918 die Saat zum Scheitern in sich. Erstens bedeutete die Durchsetzung der gesamtdeutschen NATO- Mitgliedschaft eine Entscheidung gegen ein gemeinsam mit Russland entwickeltes neues gesamteuropäisches Sicherheitssystem, was in Moskau den Vorwurf des Vertrauensbruchs, eine Perzeption der Erniedrigung und die Rückkehr geostrategischen Denkens stimulierte. Zweitens führte Gorbatschows autokratischer Führungsstil dazu, dass der Wertekonsens mit Moskau zerbrach, als Gorbatschow abtrat. Drittens rief der Zerfall der Sowjetunion eine tiefe Identitätskrise Russlands hervor, die das Land zu einem unberechenbaren, auf Anerkennung pochenden Partner machte. 1. Friedensordnungen als kritische Weggabelungen Die Historische Sektion der Görres-Gesellschaft wandte sich auf der Jahrestagung 2018 einem Thema zu, das ebenso hoffnungsbeladen wie ernüchternd ist: den politischen Versuchen, Ordnungen des Friedens in einer Welt des Unfriedens aufzurichten. Allein der Blick auf die Reihung der für die Tagung ausgewählten vermeintlichen Friedensordnungen – vom Augsburger Religionsfrieden 1555 über den Frieden von Paris und Hubertusburg 1763, den Wiener Kongress 1815 und den Berliner Kongress 1878 bis hin zum Versailler Friedensschluss von 1918, dem Potsdamer Abkommen 1945 und dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 – verdeutlicht, wie brüchig diese von Menschen gemachten Ordnungen 1
sind. Momente des Neuanfangs und des Scheiterns scheinen unentwegt und unentrinnbar zu alternieren. John Herz, ein früher Vertreter der Theoriebildung in meiner Disziplin der Internationalen Beziehungen, drückte dies bereits 1951 so aus: „History thus offers a crazy picture of ever-repeated beginnings, followed by ever recurring frustrations, and again new beginnings.“1 Dennoch lohnt ein sorgsamer Blick auf diese Wegscheiden internationaler Politik. Es sind historische Zäsuren, in denen eine oft düstere, von Gewalt geprägte Ära der Weltpolitik zu Ende geht und feierlich eine neue Friedensordnung ausgerufen wird. Dies geschah zumeist auf Friedenskonferenzen, die als kritische Weggabelungen pfadabhängig Weichen in die Zukunft stellen. Pfadabhängigkeit, das Kernkonzept des historischen Institutionalismus, wird von Mahoney charakterisiert als “specifically those historical sequences in which contingent events set into motion institutional patterns or event chains that have deterministic properties.“2 Ich verstehe das Ende des Kalten Krieges als ein solches “contingent event”3, das “event chains” in Bewegung setzte, die bis heute ihre Wirkung entfalten. Die Teilnehmenden der Friedenskonferenzen, auf denen eine neue Friedensordnung proklamiert wurde, kamen in der Freude, endlich die Lasten der Vergangenheit hinter sich lassen zu können, und in der Hoffnung auf ein neues, friedvolleres Miteinander der Staaten und Völker. Sie kamen aber auch mit der latenten Unsicherheit, ob dieser Übergang in eine neue Epoche, deren Konturen sich erst abzeichneten, gelingen wird. Im Rückblick erweist sich diese Skepsis als angemessen. Viele der Friedensordnungen – Versailles 1918 steht paradigmatisch dafür – trugen selbst die Saat zu ihrem eigenen Scheitern in sich. Historiker, etwa auf unserer Tagung, verfolgen die Strickfehler oftmals bis in die Anfänge zurück. Die Friedensordnung, die nach dem Kalten Krieg entstand, reiht sich hier ein. Im Unterschied zu den anderen in diesem Band thematisierten Friedensordnungen hat die historische Debatte über die Qualität dieser Friedensordnung noch kaum begonnen. Gleichwohl hat die neue Konfrontation zwischen Russland und dem Westen (eine in den Diskurs zurückgekehrte Sprachfigur), insbesondere im Gefolge des Ukraine-Konfliktes seit 2014, das Nachdenken darüber inspiriert. Wie konnte es geschehen, dass auch diese Friedensordnung – zumindest 1 John Herz, Political Realism and Political Idealism, 2. Aufl., Chicago 1951, 42. 2 James Mahoney, Path Dependence in Historical Sociology, in: Theory and Society, 29 (2000), 507. 3 Die Forschung spricht auch von “critical junctures”. 2
scheint es vielen auf den ersten Blick so – zerbrochen ist und die Hoffnungen, die die Völker Europas 1989 in sie setzten, weitgehend zerstoben sind? Ob man die tiefe Krise des europäischen Integrationsprozesses in den Blick nimmt, den islamistischen Terrorismus seit 9/11, die neue Virulenz ethnischer Konflikte (v. a. im Balkan und im post-sowjetischen Raum) oder die russischen und chinesischen Expansionsbestrebungen – die Hoffnungen, die wir alle 1989 hegten, wurden von Ernüchterung, Unsicherheit und neuen Ängsten abgelöst. Die Ursachen sind vielfältig und können hier keinesfalls umfassend reflektiert werden. Dennoch soll ein Beitrag zur Urteilsbildung folgen, der die kritische Weggabelung von 1989/1990 noch einmal genauer in den Blick nimmt. Er sucht zu ergründen, in wie weit die strukturellen Weichenstellungen jener Jahre selbst dazu beitrugen, dass viele Hoffnungen sich nicht erfüllten – wohl wissend, dass Geschichte nicht deterministisch verläuft und dass auch Ereignisse und Entscheidungen in den 1990er und 2000er Jahren (NATO- Erweiterungen, Balkankriege etc.) zu dem führten, was uns heute in der europäischen Sicherheit herausfordert. Der Beitrag erinnert zunächst an die Euphorie zum Ende des Kalten Krieges, die sehr wohl begründet und nachvollziehbar war. Er wirft dann einige skeptische Anfragen ein, die Politikwissenschaftler hegen, wenn Friedensordnungen von der Politik proklamiert werden. Danach fokussiert der Beitrag auf Irritationen, die für aufmerksame Beobachter schon Ende 1990 nicht in den Geist der Zeit passten, damals jedoch in ihrer Tragweite kaum verstanden wurden: der Golfkrieg wie die Krisensymptome in der Sowjetunion und Jugoslawien. Schließlich richtet sich der Blick auf drei Weichenstellungen 1989/90, die im Rückblick dazu beitrugen, die neue Friedensordnung in Europa schon seit den frühen 1990er Jahren erodieren zu lassen: die Entscheidung zum Erhalt der NATO und zu ihrer Erweiterung nach Osten; der zentralisierte Führungsstil des sowjetischen Präsidenten Mikhail Gorbatschow, der große Teile der eigenen Nomenklatura und Gesellschaft nicht mitnahm; sowie der Zerfall der Sowjetunion und die daraus erwachsende tiefe Identitäts- und Statuskrise Russlands, welche die revisionistische Politik Wladimir Putins heute speist. 2. 1989/1990 - auf der Schwelle zu einer neuen Friedensordnung Die Friedensordnung nach Ende des Kalten Krieges war eine historische Ausnahme: Ihr ging kein Krieg voraus. Sie wurde im Konsens geboren, und damit gab es keine Sieger, die den Frieden diktierten, und keine Besiegten, die ihn erduldeten und auf Revision sannen – 3
zumindest schien es so. Es schien ein gemeinsam errungener Sieg. Er schien deshalb tragfähiger, verlässlicher. Es gab in der Tat Grund zum Feiern.4 Vom 19. bis 21. November 1990 feierten die Staats- und Regierungschefs der 32 KSZE- Staaten5 im Spiegelsaal von Versailles einen rauschenden Ballabend, um das Ende des Kalten Krieges zu besiegeln. Paris knüpfte an die glänzenden Friedenskonferenzen der Vergangenheit an. Die feierliche Inszenierung im Prunksaal Ludwig XIV zelebrierte den Triumph über die Vergangenheit und legte den Grundstein für eine neue Ordnung der Zukunft – einen Monat nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Die Erleichterung über die Jahrzehnte der Blockkonfrontation und des nuklearen Wettrüstens beflügelte die Hoffnung auf eine Welt größerer Harmonie und Friedfertigkeit. Dass sich die Friedensschlüsse, die in Versailles früher, etwa 1871 und 1918, geschlossen worden waren, als brüchig erwiesen hatten, war kaum gewärtig. Diesmal schien alles anders. Die Stimmung spiegelte sich im Pathos der öffentlichen Deklarationen und Reden in Paris. Die Staats- und Regierungschefs unterzeichneten die „Charta von Paris für ein neues Europa“, in der es programmatisch hieß: „Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte (sic) von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an. Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“6 Die Staats- und Regierungschefs zelebrierten den glücklichen Ausgang des annus mirabilis 1989, das die repressiven Regime Osteuropas zum Einsturz gebracht hatte, und dies (fast) 4 Dieser Aufsatz beruht, in seinen historischen Anteilen, in beträchtlichem Maße auf Erkenntnissen meiner Dissertation; Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einigung rang, 2. Aufl., Paderborn u. a. 1998. 5 Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), aus der 1975 die Schlussakte von Helsinki hervorging, war die einzige gesamteuropäische Institution im Kalten Krieg und avancierte 1990 zum Hoffnungsträger einer neuen gesamteuropäischen Friedensordnung. 6 Charta von Paris für ein neues Europa, 21. November 1990, verfügbar unter https://www.osce.org/de/mc/39518?download=true, eingesehen am 21.9.2018. 4
gewaltlos. 1989 war das Jahr der Abkehr von der Vergangenheit; 1990 das Jahr der Hinwendung zur Zukunft. Mit den ersten freien Wahlen in fast allen Staaten des östlichen Europa seit 1945 war der Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft geebnet. Eine Kette „friedlicher Revolutionen“7 hatte die Mauer im Herzen Europas beseitigt, den Deutschen die Wiedervereinigung geschenkt, den Völkern des östlichen Europa die Freiheit. Die Vision eines geeinten Europa schien endlich wahr zu werden. Willy Brandts Diktum „es wächst zusammen, was zusammen gehört“ galt nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Im östlichen Mitteleuropa feierte man die „Rückkehr nach Europa“ (Vaclav Havel). Diese Friedensordnung schien sich prinzipiell von allen früheren zu unterscheiden. Sie war wertegebunden. Es war der neue demokratische Grundkonsens, der dieses zusammenwachsende Europa zusammenband. Er stand deshalb zu Recht im Mittelpunkt der Charta von Paris. Alle Teilnehmer des KSZE-Gipfels bekannten sich darin u. a. zur uneingeschränkten Achtung von freien und gerechten Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechten, territorialer Integrität, Gewaltverbot und Selbstbestimmungsrecht. Die Reden der Staats- und Regierungschefs verliehen diesem Glück des Augenblicks emphatisch Ausdruck. Dies Treffen, so der Präsident der Republik Zypern, George Vassiliou, „markiert das Ende einer Ära in der europäischen Geschichte“.8 „In dieser Halle”, so der griechische Premier Constantin Mitsotakis, “schreibt Europa Geschichte.” Das Ende der Blockkonfrontation „ist eine Quelle der Freude für uns alle – Siege, die errungen wurden, und Träume, die wahr wurden “, befand der schwedische Premierminister Ingvar Carlsson. Vaclav Havel, der soeben erste frei gewählte Präsident der Tschechoslowakei, sah in seinem Besuch in Paris den Höhepunkt seines bisherigen Lebens. Margaret Thatcher, die britische Premierministerin, nannte die Charta von Paris eine „europäische Magna Charta“; und Helmut Kohl, der Kanzler des soeben wiedervereinigten Deutschland, sprach von einer „Friedensordnung, die ganz Europa umfasst“, mit Deutschland als Eckstein. Man wolle nun das „Europa des ewigen Friedens“, das Immanuel Kant vor 200 Jahren beschwor, verwirklichen. 7 Ludger Kühnhardt, Umbruch – Wende – Revolution. Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41 (1997), 12-18. 8 Die folgenden Zitate entstammen einer Sammlung mit Redeauszügen von der Konferenz: M. Merrick Yamamoto (Hg.), The 1990 Paris Summit. Words of Wisdom from CSCE Leaders, Seabrook, Maryland 2016, 1-10 und 20-21. Alle Übersetzungen hier und nachfolgend wurden vom Autor vorgenommen. Auf eine Nennung konkreter Seitenzahlen und Einzelreferenzen wird aus Gründen der Übersichtlichkeit nachfolgend verzichtet. 5
Europa wuchs zusammen, weil die Völker des östlichen Europa das kommunistische Joch abschüttelten, das sie nicht länger zu tragen bereit waren. Es war eine demokratische Revolution von unten, getragen von der Dissidentenbewegung im östlichen Europa, von der polnischen Arbeiterbewegung, der Charta 77, den Volksfronten im Baltikum, den Montagsdemonstrationen in der DDR. Die Gesellschaften waren die zentralen Träger des Regimewechsels.9 Sie konnten erfolgreich sein, weil ihnen der Generalsekretär der KPdSU, Mikhail Gorbatschow, mit seiner Reformpolitik von oben in der Sowjetunion seit 1985 die Tür öffnete und weil die Legitimität ihrer eigenen Staats- und Parteiapparate weitgehend erodiert war. Diese Reformpolitik bedeutete faktisch, auch wenn Gorbatschow dies vehement zurückwies, die schrittweise Übernahme westlicher Normen. Im Innern näherte sich die Sowjetunion mit Perestrojka und Glasnost den westlichen Vorstellungen von Demokratie, Pluralismus und Marktwirtschaft an. In der Außenpolitik, in ihrem neuen Denken, wandten sich die sowjetischen Reformer mit der Betonung allgemein-menschlicher Werte dem westlichen Menschenrechtsverständnis zu. Ihre Vorstellung von friedlicher Koexistenz und gemeinsamer Sicherheit, die Idee des Gemeinsamen Europäischen Hauses wie auch die Entstehung einer „neuen Nachdenklichkeit“10 in Bezug auf die deutsche Frage Jahre vor der Wiedervereinigung wiesen den Weg aus der Systemkonfrontation. Systemsprengende Kraft hatte primär die Idee der Freiheit der Wahl, also des Rechtes jedes Volkes, auch der eigenen Verbündeten, eigenständig über seine politische und ökonomische Ordnung, ja seine außenpolitische Orientierung zu bestimmen.11 Denn diese Idee, von Außenamtssprecher Gennadi Gerassimov „Frank-Sinatra-Doktrin“ („I did it my way“) genannt, eröffnete den Völkern Osteuropas den Handlungsspielraum, frei vom Damoklesschwert der Breschnew-Doktrin ihren eigenen Weg in innerer und äußerer Selbstbestimmung zu gehen. In seiner ersten Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988 bekräftigte Gorbatschow kategorisch: 9 Weiterführend Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980 – 1990, München/Wien 1990; ders., The Magic Lantern: The Revolution ‘89 witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, New York 1993; Detlev Preuße, Umbruch von unten. Die Selbstbefreiung Mittel- und Osteuropas und das Ende des Sowjetunion, Wiesbaden 2014; Renée de Nevers, Comrades no more. The seeds of change in Eastern Europe, Cambridge, MA 2002; Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge 2011. 10 Biermann (wie Anm. 4), 112-127. 11 Die Entwicklung dieser Idee ist nachgezeichnet in Biermann (Anm. 2), 87-99. 6
„Wir sind uns der Verpflichtung gegenüber der Freiheit der Wahl bewusst. Die Nichtanerkennung dieses Prinzips hat schwerste Folgen für den Weltfrieden. Dieses Recht der Völker zu negieren – unter welchen Umständen dies auch immer geschehen und in welche Werte es auch immer gekleidet werden mag –, bedeutet, sogar das instabile Gleichgewicht anzugreifen, das erreicht werden konnte. Die Freiheit der Wahl ist ein allgemeines Prinzip, für das es keine Ausnahmen geben darf.“12 In dieser Rede entwarf Gorbatschow auch die Vision einer „neuen Weltordnung“ – einer „miteinander verbundenen, inklusiven Welt“, in der sich, so Gorbatschow, die Politik am Gemeinwohl aller Völker orientiert, nationale Interessen ausbalanciert werden, Gewalt nicht mehr Instrument der Außenpolitik ist, zwischenstaatliche Beziehungen de-ideologisiert werden, Unterschiede respektiert werden und radikale Abrüstungsschritte hin zu einer nuklearwaffenfreien Welt möglich werden.13 Nach dem Rücktritt der kommunistischen Regime in den meisten Ländern des Ostblocks, der Streichung des Machtmonopols der kommunistischen Parteien aus den Verfassungen, der Anberaumung freier Wahlen und dem Fall der Mauer schwenkte die lange sehr skeptische U.S.-Administration schrittweise auf diese Rhetorik ein. Vor allem der Gipfel zwischen U.S.- Präsident George W. Bush und Mikhail Gorbatschow vom 4. Dezember 1989 an Bord eines sowjetischen Schiffes vor Malta wurde in den westlichen Medien als Sinnbild für das Ende des Kalten Krieges gefeiert.14 In ihrer anschließenden Pressekonferenz, der ersten gemeinsamen zwischen einem amerikanischen Präsidenten und einem KPdSU- Generalsekretär, berichtete Gorbatschow aus ihren Gesprächen: „Wir sagten beide, dass die Welt eine Epoche verlässt, die des Kalten Krieges, und in eine neue Epoche eintritt. Das ist 12 Address by Mikhail Gorbachev at the UN General Assembly Session (Excerpts), verfügbar unter https://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/116224.pdf?v=373893a00d59186510e13c0cc7b57141, eingesehen am 24.9.2018. 13 Deborah Welch Larson und Alexei Shevchenko interpretieren das neue Denken Gorbatschows als Versuch, die materiell kaum mehr mit den USA ebenbürtige Sowjetunion als moralische Führungsmacht zu etablieren, sehen es also durch eine Umdefinition traditioneller Statusmaßstäbe motiviert; dies., Shortcut to greatness: The new thinking and the revolution in Soviet foreign policy, in: International Organization, 57 (2003), 77-109. 14 Intern war der Gipfel wichtig, um im offenen Meinungsaustausch das noch immer virulente Misstrauen zwischen beiden Seiten abzubauen; Soviet Transcript of the Malta Summit December 2-3, 1989, verfügbar unter https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB298/Document%2010.pdf, eingesehen am 24.9.2018. 7
nur der Anfang, Wir gehen nur die ersten Schritte auf unserem langen Weg hin zu einer langanhaltenden Friedensperiode.“15 Dieses neue Einvernehmen hatte praktische Auswirkungen, die zuvor unvorstellbar waren, v.a. auf sowjetischer Seite: die Hinnahme der Abwahl, ja der Auflösung der kommunistischen Parteien in allen Ländern Ostmitteleuropas; die gesamtdeutsche NATO-Mitgliedschaft, also der einseitige Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt, und der Abzug der sowjetischen Truppen bei Verbleib der amerikanischen; Abzug der sowjetischen Streitkräfte auch aus Ungarn, der CSSR und Polen; schließlich die Auflösung des Warschauer Paktes und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Der Westen reagierte mit einer Reform der NATO- Strategie, stimmte der Aufwertung der KSZE zu sowie weitreichenden Abrüstungsschritten und investierte Milliarden in die Stabilisierung der Sowjetunion.16 Markantes Zeichen der normativen Annäherung von West und Ost waren die drei Treffen zur Menschlichen Dimension der KSZE 1989-1991, deren historische Abschlussdokumente den gemeinsamen Kanon an Menschen- und Minderheitenrechten in Europa fixierten, über die Ost und West im Kalten Krieg so tief zerstritten waren.17 Deutschland eröffnete Moskau mit dem neuen deutsch-sowjetischen Generalvertrag eine verheißungsvolle Perspektive der Kooperation im neuen Europa. Der Verhandlungsstil des Kaukasus-Gipfels vom Juli 1990 zeugte vom gewachsenen Vertrauen zwischen beiden Ländern auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene. 18 Gorbatschow bekannte anschließend, er habe stets an den „morgigen Tag gedacht“; schließlich sei die Bundesrepublik wichtigster Handelspartner der Sowjetunion im Westen und die DDR im Osten. Die Geschichte lehre, dass wir „eine Zukunft aufbauen müssen, in der wir zusammenleben und zusammenarbeiten können. Dies brauchen unsere Völker und Länder. Sie wollen ein besseres Leben und eine ruhige, zuversichtliche Zukunft für ihre Kinder.“19 15 The Malta Summit; Transcript of the Bush-Gorbachev New Conference in Malta, The New York Times, 4.12.2989, verfügbar unter https://www.nytimes.com/1989/12/04/world/the-malta-summit-transcript-of-the- bush-gorbachev-news-conference-in-malta.html, eingesehen am 24.9.2018. 16 Vgl. Biermann (Anm. 4), 615-767. 17 Vgl. Rafael Biermann, Lehrjahre im Kosovo. Das Scheitern der internationalen Krisenprävention vor Kriegsausbruch, Paderborn u. a. 2006, 296-308. 18 Rafael Biermann, Zur Bedeutung freundschaftlicher Verbundenheit in der Politik. Eine Annäherung am Beispiel des deutschen Einigungsprozesses, in Birgit Aschmann (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, München 2005, 197-230. 19 Zentrales Sowjetisches Fernsehen vom 16.7.1990. 8
Weltpolitisch erreichte das neue Einvernehmen seinen Höhepunkt im gemeinsamen Ultimatum der Mitglieder des VN-Sicherheitsrates vom August 1990 an den Irak, das annektierte Kuwait wieder freizugeben. Gorbatschow und Bush verkündeten einen Monat später in Helsinki: „Wir sind vereint in der Überzeugung, dass die Aggression Iraks nicht toleriert werden darf. Es ist keine friedliche internationale Ordnung möglich, wenn größere Staaten ihre kleineren Nachbarn schlucken können.“ 20 Seit Beginn des Kalten Krieges war der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die führende internationale Ordnungsinstanz, durch die unverantwortliche Ausübung des Vetorechts seiner permanenten Mitglieder lahmgelegt. Diese Blockade schien überwunden. Durch die zunehmende normative Übereinstimmung wuchs eine gemeinsame Identität zwischen Ost und West heran, verloren die Kategorien Ost und West selbst ihre politisch-trennende Bedeutung und gewann die Leerformel der internationalen Gemeinschaft Sinnhaftigkeit. Unter diesem Eindruck hielt der ansonsten nüchterne und vorsichtige George W. Bush am 11. September 1990 eine Rede vor beiden Häusern des Kongresses, die an Woodrow Wilsons vierzehn Punkte erinnerte: „Wir stehen heute an einer einzigartigen und außergewöhnlichen Wegscheide. Die Krise im Persischen Golf, so schwer sie ist, bietet uns auch die seltene Gelegenheit, eine historische Phase der Kooperation zu beginnen. Aus diesen aufgewühlten Zeiten kann unser […] Ziel – eine neue Weltordnung - erwachsen: eine neue Ära – freier von der Bedrohung des Terrorismus, stärker im Streben nach Gerechtigkeit und sicherer im Ringen um Frieden; eine Ära, in der die Nationen der Welt, Ost und West, Nord und Süd, gedeihen und in Harmonie leben können. Hundert Generationen haben nach diesem so schwer gangbaren Weg zum Frieden gesucht, während tausend Kriege tobten im Verlauf der Menschheitsgeschichte. Heute liegt eine neue Welt in den Geburtswehen, eine Welt, die sich sehr unterscheidet von der, die wir kannten; eine Welt, wo die Regeln des Gesetzes die Regeln des Dschungels überlagern; eine Welt, in der die Nationen die gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit anerkennen; eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren. Dies ist die Vision, die ich mit Präsident Gorbatschow in Helsinki geteilt habe. Er 20 Soviet Union-United States Joint Statement on the Persian Gulf Crisis, 9. September 1990, verfügbar unter http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=18809, eingesehen 24.9.2018. 9
und andere Politiker aus Europa, dem Golf, und auf der ganzen Welt verstehen: Wie wir diese Krise heute bewältigen, kann die Zukunft kommender Generationen prägen.“21 In diesem Geist der Einmütigkeit und des Optimismus fand der VN-Sicherheitsrat die Kraft, einstimmig die Rückeroberung Kuwaits zu autorisieren. In diesem Geist wurde auch die erste humanitäre Intervention vom Sicherheitsrat beschlossen: die Flugverbotszone im Irak, um Saddam Husseins Einsatz von Giftgas gegen die eigene Bevölkerung zu unterbinden.22 In diesem Geist meinte Jacques Poos als Ratsvorsitzender der Europäischen Gemeinschaft, den anbrechenden Konflikt in Jugoslawien 1991 alleine, ohne die Amerikaner, lösen zu können – „this is the hour of Europe.“23 Und in diesem Geist verkündete VN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali 1992 in seiner Agenda for Peace die neue Institution des Post-Conflict Peace Building, also jener VN-Operationen, die seither weltweit mit umfassendem Mandat und enormem Personalaufwand von Bosnien über Kosovo bis Afghanistan den Wiederaufbau ganzer Gesellschaften nach Kriegsende bewerkstelligen sollen.24 Den Worten folgten also erstaunliche, ambitionierte Taten. Dies war kein cheap talk. Die Weltgemeinschaft einte das Bewusstsein, an der Schwelle zu einer neuen, inklusiven Ära der Weltpolitik zu stehen. Die alte Ordnung war vergangen, etwas Neues, präsumptiv Besseres entstand. Die Politik, gewohnt in Prozessen zu denken, schritt voran, ohne den Ausgang zu kennen – in einem Geist der Geschlossenheit, des Glaubens an sich selbst und das Gute. 2. Friedensordnungen? Ein skeptischer Reflex So weit die dominante kollektive Befindlichkeit zum Ausgang des annus mirabilis 1990. Die Diagnose irritiert im Rückblick – allzu offensichtlich ist die Kluft zur Realität des Jahres 2019. 21 George W. Bush, Address Before a Joint Session of Congress, 11 September 1990, verfügbar unter https://millercenter.org/the-presidency/presidential-speeches/september-11-1990-address-joint-session- congress, eingesehen am 26.2.2019. 22 Resolution 688 (1991) of 5 April 1991, verfügbar unter http://unscr.com/en/resolutions/doc/688, eingesehen am 24.9.2018. Außenminister Hans-Dietrich Genscher hielt fest, die Resolution „hat erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen in dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass die Missachtung der Menschenrechte den internationalen Frieden und die Sicherheit bedroht. Sie kann nicht mehr nur als innere Angelegenheit eines Staates behandelt werden. Das ist eine wichtige Fortentwicklung des Völkerrechtes. Künftig kann sich keine Regierung, die Völkerrecht und Menschenrechte mit Füßen tritt, die die Bürger ihres Landes unterdrückt und zur Flucht zwingt, darauf berufen, dass solche Vorgänge eine innere Angelegenheit sind“; zitiert in Biermann (Anm. 17), 93. 23 Vgl. Rafael Biermann, Back to the Roots. The European Community and the Dissolution of Yugoslavia – Policies under the Impact of Global Sea-Change, Journal for European Integration History, 10 (2004), 29-50. 24 Boutros Broutros Ghali, An Agenda for Peace. Report of the Secretary-General pursuant to the statement adopted by the Summit Meeting of the Security Council on 31 January 1992, verfügbar unter http://www.un- documents.net/a47-277.htm, eingesehen am 26.2.2019. 10
Bevor ein zweiter, genauerer Blick auf die Ambivalenzen und Ambiguitäten dieser Epochenscheide geworfen wird, ist eine konzeptionelle Einordnung vonnöten, die sich mit dem Phänomen der Friedensordnung kritisch auseinandersetzt. Der Begriff entstammt dem Vokabular der Politik. Politikwissenschaftler begegnen ihm mit Skepsis. Drei Gründe sind dafür maßgeblich. Erstens herrscht in meiner Disziplin weitgehend Konsens, dass die internationale Politik im Kern anarchisch ist – nicht im Sinne von chaotisch oder regellos, sondern in dem Sinn, dass es keine übergeordnete Autorität gibt, die verbindlich Regeln setzt und ihre Einhaltung durchsetzt.25 Das Fehlen einer ultimativen Regelungs- und Sanktionsinstanz oberhalb des Staates scheidet die Weltpolitik kategorisch vom innerstaatlichen Herrschaftsbereich, wo Parlamente, Regierungen und Gerichte verbindlich Recht setzen und das legitime Gewaltmonopol besitzen, dieses Recht auch durchzusetzen. Internationale Politik dagegen ist, so Kenneth Waltz, „politics in the absence of government.“26 Auch wenn Anarchie nicht multilaterale Regelsetzung ausschließt, regional und temporär, etwa durch das Völkerrecht und Verträge; auch wenn internationale Ordnungsbildung durch Diplomatie, internationale Organisationen und Regime oder die Ordnungsfunktion von Großmächten durchaus stattfindet; auch wenn die internationale Verrechtlichung voranschreitet, etwa durch die Einrichtung internationaler Gerichtshöfe und Schiedsgerichtsbarkeit – so ist doch jede internationale Ordnung und damit auch Friedensordnung aus strukturellen Gründen stets prekär und vorläufig. Zweitens dient das Bemühen um internationale Ordnung zwar primär dazu, Frieden zu wahren. Doch weiß die Friedens- und Konfliktforschung um die „schmerzhafte Unvollkommenheit des Friedens“ (Siegfried Lenz). Nachhaltiger, tragfähiger, stabiler, gerechter Frieden – die Adjektive sind inflationär – gelingt selten, trotz besten menschlichen Bemühens. Das kantische Ideal des ewigen Friedens, der wertegebunden Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte einschließt (hebr. shalom), wird erst im göttlichen Friedensreich verwirklicht.27 Oftmals ist schon viel gewonnen, wenn die Waffen schweigen (negativer Frieden) und Abschreckung und Rüstungskontrolle die Abwesenheit von Krieg sichern. Von welchem Frieden also ist hier die Rede? Ein Friedensverständnis, das Frieden als 25 Vgl. etwa Frank Schimmelfennig, Internationale Politik, Stuttgart 2010, 26. 26 Fox 1959, 35, zitiert nach Kenneth Waltz, Theory of International Politics, Boston 1979, 88. 27 Vgl. Thorsten Bonacker/Peter Imbusch, Zentrale Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung: Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden, in: Peter Imbusch/Ralf Zoll (Hgg.), Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung, 4. Aufl., Wiesbaden 2005, bes. 126-142. 11
Prozess (statt als Zustand) der schrittweisen Verwirklichung von Gerechtigkeit versteht, verbindet Gewünschtes mit Möglichem; es offenbart jedoch, dass um Frieden stets gerungen werden muss, dass die Politik bestenfalls auf dem Weg dorthin ist und dass das Erreichte in jedem Stadium umkehrbar ist. Drittens nährt die historische Erfahrung Skepsis, wenn Politiker die Vision einer neuen Friedensordnung entfalten. Meine Disziplin, die Internationalen Beziehungen, erwuchs aus den Trümmern der pazifistischen Ideen der 1920er und 1930er Jahre, dem Idealismus von drei Friedensnobelpreisträgern28, der sich in den vierzehn Punkten Woodrow Wilsons verdichtete. So wie George W. Bush 1991 den Kongress mit seiner Vision einer neuen Weltordnung für den Irakkrieg mobilisierte, suchte Wilson mit seinem Versprechen eines „war to end all wars“ den isolationistischen Kongress für den Kriegseintritt zu gewinnen. Die überhöhte Rhetorik – „to make the world safe for democracy“, „the culminating and final war for human liberty“, „the day of conquest and aggrandizement is gone by“29 – war einerseits inspiriert vom Optimismus der amerikanischen “Progressive Era”; andererseits war sie interessegeleitet vom strategischen Kalkül der Kriegsmobilisierung. Die Rhetorik vom „just and stable peace“ wurde durch die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages diskreditiert; sie wurde mit dem zerfallenden Völkerbund und dem aufkommenden Nationalismus begraben; und sie bereitete den Boden für Jahrzehnte der Dominanz einer Denkschule, die diese Ideen als gefährliches Wunschdenken ablehnten. Diese Realisten, etwa wie Edward Hallet Carr, warfen den Idealisten eine flagrante Missachtung der Realität vor, sahen die idealistischen Ideen an der zynischen Machtpolitik Hitlers und Stalins zerschellt und setzten dem Idealismus ein weitaus pessimistischeres Weltbild entgegen, das auf Macht und Interessen basiert.30 “International politics”, so der Begründer des klassischen Realismus, Hans Morgenthau, 1948 mit Blick auf die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, „is of necessity power politics“, davor dürfe man nicht die Augen verschließen. 31 Viertens wurde manchem aber seither bewusst, dass Politik von Idealen und Visionen lebt. Ideen entfalten Veränderungskraft, stimulieren und mobilisieren Einzelne wie ganze 28 Woodrow Wilson (1919), Norman Angell (1933) und Robert Cecil (1937). 29 Woodrow Wilson, Fourteen Points Speech (1918), verfügbar unter https://usa.usembassy.de/etexts/democrac/51.htm, eingesehen am 28.2.2019. 30 Edward Hallett Carr, The Twenty Years Crisis, 1919-1939. An introduction to the study of International Relations, 2. Aufl., London 1939. 31 Hans Morgenthau, Politics Among Nations. The Struggle for Power and Peace,, 7. Ausgabe, New York 2005, 35. 12
Gesellschaften – etwa die Idee der Beendigung der Sklaverei oder der Apartheid. Nüchterner Realismus habe, so John Herz 1951, große Überzeugungskraft. Doch unterschätze er die Wirkmächtigkeit von Ideen in der internationalen Politik. Die Idealisten seien „das Salz der politischen Erde. Viel von dem, was erreicht wurde […] geht auf ihr Denken zurück.“32 Das gilt auch für die Idee der Friedensordnung. 3. Eine nur partiell verwirklichte Friedensordnung Was ist aus der Friedensordnung, wie sie auf dem KSZE-Gipfel 1990 beschworen wurde, geworden? Ein grober Zeitvergleich nährt die Versuchung, gleich die Frage nachzuschieben: Was ist schiefgelaufen? Es reicht ein kursorischer Blick auf die Weltpolitik, um zu erkennen, dass die Vision der neuen Weltordnung von 1990 der rauen Wirklichkeit internationaler Machtpolitik nicht standgehalten hat. Die Ohnmacht der internationalen Syrienpolitik führte dies ein Jahrzehnt sinnfällig vor Augen. Dennoch lohnt eine genauere Analyse. Die Zahl der Vetos im Sicherheitsrat ist ein wichtiger Indikator, um zu prüfen, wie sich das Miteinander der Großmächte seit 1989/90 entwickelt hat. Zunächst bleibt festzuhalten: Das präzedenzlose Einvernehmen des Sicherheitsrates im Fall Kuwait blieb eine Episode. Zwei Jahre, 1991 und 1992, blieben Vetos im Sicherheitsrat aus, dann schwang das Pendel zurück. Doch fällt auf, dass die durchschnittliche Zahl der Vetos pro Jahr seit 1990 signifikant unter der Zahl während des Kalten Krieges liegt. Zwischen 1990 und 2018 wurden im Jahresschnitt 1,41 Resolutionen des Sicherheitsrates mit einem Veto blockiert – zwischen 1946 und 1989 waren es 3,54 pro Jahr, also weit mehr als doppelt so viele.33 Allerdings lag die Vetozahl in den letzten zwei Jahren über dem Schnitt (2017: 6) bzw. im Schnitt (2018: 3) des Kalten Krieges – die Tendenz ist also deutlich negativ. Alle Vetos konzentrierten sich auf den Nahen und Mittleren Osten (v.a. Syrien, auch Palästina und Jemen). Von einer Neuauflage des Kalten Krieges in der Weltpolitik zu sprechen wäre jedoch bei dieser Datenlage unangemessen. Zum zweiten haben sich die USA und Russland (Sowjetunion) aus ihren Einfluss-Sphären des Kalten Krieges zurückgezogen, vor allem in Europa, Ursprung und primärer Austragungsort des Kalten Krieges. Dieses Ende der Fremdbestimmung wurde nicht nur im östlichen Europa, 32 Herz (Anm. 1) 39. 33 Eigene Berechnung basierend auf der Vetoliste der Dag Hammerskjöld Library, verfügbar unter http://research.un.org/en/docs/sc/quick/, eingesehen am 25.9.2018. 13
sondern auch in Westeuropa gerade in den 1980er Jahren vielfach gefordert, unter Stichworten wie Europäisierung, Selbstbehauptung oder Selbstbestimmung Europas. Europa, primär die EU, sah die Chance, sich selbst zu gestalten, und dies setzte jene Kräfte frei, die zur Etablierung einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen Währung führten. Mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon erlebte die EU einen Aufbruch, der allerdings spätestens mit der Flüchtlingskrise und dem Brexit in eine tiefe Existenzkrise der Union mündete. Dass mit dem Rückzug der USA und Russlands auch ein Freiraum geschaffen wurde für die Entfaltung eines neuen Nationalismus, in Europa wie im Nahen Osten und Afrika, wurde 1989/90 kaum gesehen. Mit der Dismembration der Sowjetunion und Jugoslawiens ist der konventionelle Krieg nach Europa zurückgekehrt, im Balkan in den 1990er Jahren, im postsowjetischen Raum bis heute – die Periode des „langen Friedens“ im Kalten Krieg im Sinne der Abwesenheit physischer Gewalt (auch wenn nur in Europa) ist vorbei und manche Parallele zur Zwischenkriegszeit wird gezogen.34 Die meisten der neuen Konflikte sind Sezessionskonflikte, die als lang andauernde Konflikte niedriger Intensität ungelöst auf- und abschwellen.35 Im östlichen Europa schließlich bietet sich ein differenziertes Bild. Die neue Konfrontation mit Russland ist nicht zuletzt davon geleitet, dass der russische Demokratisierungsprozess in eine autoritäre Form defekter Demokratie mündete. Im „nahen Ausland“, d. h. im post- sowjetischen Raum, sucht Russland unter Wladimir Putin die Hegemonialstellung der Sowjetunion zu re-etablieren – durch hybride Kriegsführung, Propaganda und Patronage sezessionistischer Gebilde. Zugleich will Russland geostrategische Positionen jenseits des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion zurückgewinnen, oftmals durch Stützung autoritärer Regime.36 Die normative Annäherung Russlands an Freiheit, Demokratie und Menschenrechte unter Mikhail Gorbatschow und dem frühen Boris Jelzin ist passé, die Konfrontationslogik und mit ihr die Denkschablonen vom Westen und Osten sind zurückgekehrt. Die NATO und Deutschland rüsten wieder auf. 37 34 John Lewis Gaddis, The Long Peace; Inquiries Into the History of the Cold War, Oxford 1989. 35 Vgl. Rafael Biermann, Coercive Europeanization. The EU’s struggle to contain secessionism in the Balkans, in: European Security, 23 (2014), 484-508. 36 Elias Götz, It’s geopolitics, stupid: explaining Russia’s Ukraine policy, in: Global Affairs, 1 (2015), 3-10. 37 Vgl. Rafael Biermann, Sezession und Völkerrecht im Ukraine-Konflikt. Droht ein neuer Kalter Krieg? In: Andreas Braune / Michael Dreyer / Susanne Rau / Franka Günther / Elke Deparade (Hgg.), Umbrüche. Festivalband zum 6. Weimarer Rendezvous mit der Geschichte, Bad Berka 2015, 151-157. 14
Andererseits hat sich der Friedensraum europäischer Integration bis zur Grenze Russlands und Weißrusslands ausgedehnt. Der Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn mag bedenklich sein. Dennoch haben sich Demokratie, Freiheit und Menschenrechte prinzipiell im Ostmitteleuropa durchgesetzt. Dies signalisieren die Osterweiterungen der Europäischen Union und der NATO seit 1996, deren Voraussetzung ein gemeinsames Wertefundament ist. Zudem haben die Länder Ostmitteleuropas, inklusive des Baltikums, ihre Souveränität und Freiheit zurückgewonnen. Für sie bleibt 1989/90 ein Glücksmoment ihrer Geschichte, ebenso wie für Deutschland. Die Völker jenseits von Oder und Neiße erfahren den Freiheits- und Wohlstandsgewinn täglich im Alltag. Die Friedensordnung im westlichen Europa hat sich nach Osten geweitet. Sicherlich, sie ist Stückwerk geblieben, doch hat sie das Leben der Deutschen, Esten und Polen tiefgreifend verändert. 4. Frühe Irritationen Auf der KSZE-Konferenz im November 1990 deuteten nur wenige Redner Ungewissheiten an. Der amerikanische Präsident flocht in seine Rede den Hinweis ein, „Europa betritt unbekannte Gewässer.“ Präsident François Mitterrand, der Gastgeber, warnte mit Blick auf den Osten Europas: „Die despotischen Regime wurden gestürzt; die Demokratie, die auf deren Ruinen entsteht, ist noch fragil. Freiheit wird überall verkündet; alte Gewohnheiten des Denkens bleiben. Der friedliche Verlauf der Revolutionen sollte nicht den langen Weg, der noch vor uns liegt, verschleiern.”38 Am Rande des Gipfels wurden in den Sitzungszimmern und Korridoren die Unsicherheiten der weltpolitischen Lage debattiert. Irak hatte Kuwait im August annektiert, das Ultimatum des Sicherheitsrates lief im Januar aus und der Sicherheitsrat rang um einen Konsens über das weitere Vorgehen. Hinter den Kulissen stand die Golfkrise im Mittelpunkt der Treffen.39 Gleichzeitig sah man besorgt auf die Zukunft der Sowjetunion. Die Außenminister der baltischen Staaten – diese hatten seit dem Frühjahr einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt, während Gorbatschow noch für seinen neuen Unionsvertrag warb – waren als „Ehrengäste“ von Frankreich zur Konferenz eingeladen worden, im Einvernehmen mit dem sowjetischen 38 Yamamoto (Anm. 8), S. 1-2. 39 Siehe etwa die Pressekonferenz von Margaret Thatcher und George W. Bush am Rande des Gipfels nach einem Vieraugengespräch in der US-Botschaft in Paris am 19. November 1990, verfügbar unter https://www.margaretthatcher.org/document/108248, eingesehen am 28.2.2019. 15
Außenministerium.40 Sie wurden jedoch kurz vor Sitzungsbeginn genötigt, den Saal zu verlassen. Gorbatschow hatte selbst mit dem Verlassen der Konferenz gedroht, wenn Republikführer der Sowjetunion anwesend sind. Die baltischen Außenminister beraumten eine Pressekonferenz an, deren Ankündigung jedoch durch das Konferenzsekretariat gestoppt wurde. Die Premierminister Dänemarks und Irlands organisierten daraufhin eine Ersatzpressekonferenz für die Balten. Der dänische Premierminister erklärte vor der Presse: „Wir verstehen Gorbatschows Probleme, aber die baltischen Staaten sind nicht Teil der Sowjetunion“; der schwedische fügte hinzu: „Die schwedische Regierung unterstützt vorbehaltlos das Recht der baltischen Staaten auf Selbstbestimmung im Geiste der Helsinki- Vereinbarungen“.41 Einen Monat nach der Pariser KSZE-Konferenz trat Außenminister Schewardnadse zurück. Zwei Monate später überrollten sowjetische Eliteneinheiten in Litauen und Lettland mit ihren Panzern friedliche Demonstranten. Der „Blutsonntag von Vilnius“ warf einen langen Schatten auf Gorbatschow, der zuvor die Streitkräfte als „wichtigste(s) Bollwerk der Staatssouveränität“ bezeichnet hatte und „das entschiedenste Vorgehen“ gegen die Separatisten im Baltikum forderte, denen man „eine Schlacht liefern“ müsse.42 Bei all dem hatten die Staats- und Regierungschefs in Paris die Zerfallsprozesse in Jugoslawien kaum im Blick.43 Was sich dort aufbaute, wurde „weit weggeschoben“, so der damalige deutsche Botschafter Hansjörg Eiff in Belgrad.44 Es passte nicht in die „Heiterkeit des Friedens“45, der in Paris herrschte. Auch wenn im Kosovo seit der gewaltsamen Auflösung des Parlamentes 1989 der Ausnahmezustand herrschte, die kommunistische Partei Jugoslawiens im Januar 1990 zerfiel und der Zentralstaat funktionsunfähig war, in Slowenien und Kroatien inzwischen sezessionswillige Führungen an der Macht waren und Slowenien in wenigen Tagen über seine Unabhängigkeit abstimmen wollte, vertrauten die Staats- und Regierungschefs in Paris auf die Selbstheilungskräfte Jugoslawiens, so wie der 40 Vgl. Maresca, John J., Helsinki Revisited. A key U.S. Negotiator’s memoirs on the development of the CSCE into the OSCE, 2016, Stuttgart: Ibidem Press, Annex 4. 41 Zitiert in ebd. 42 TASS vom 10.12.1990 (ZK-Plenum) und Zentrales Sowjetisches Fernsehen 17.12.1990 (4. Volkskongress), zitiert in Biermann (Anm. 4), 759. 43 Der folgende Jugoslawien-Passus basiert weitgehend auf Biermann (Anm. 17), 229-238 und 242-246. 44 Interview mit dem Verfasser am 2.5.2002 in Linz. Siehe ebenso das Interview mit Gerhard Almer, damals Referent für Jugoslawien und Albanien im Auswärtigen Amt, am 11.6.2002 in Berlin, und mit dem damaligen amerikanischen Botschafter in Belgrad, Warren Zimmermann, am 30.10.2002 in Washington, D.C.. 45 Michael Thumann, Between Ambition and Paralysis. Germany’s Policy Towards Yugoslavia, 1991-1993, in: Nationalities Papers, 25 (1997), 576. 16
Sowjetunion. Immerhin war Jugoslawiens „dritter Weg“ über Jahrzehnte ein veritables Alternativmodell im sozialistischen Lager, genoss das Land eine privilegierte Behandlung im Ostblock, auch finanziell, war mit Ante Markovic ein liberaler, im Westen hofierter Wirtschaftsfachmann Premierminister Jugoslawiens und war in Serbien ein Politiker Präsident, der führenden Politikern in Washington als vormaliger Banker und eloquenter Freund Amerikas bekannt war, Slobodan Milosevic. Im Übrigen war das Bild höchst inkohärent und verwirrend. Die Welle der Freiheitsrevolutionen schien auch Jugoslawien erfasst zu haben. Überall im Land hatten sich Oppositionsgruppen formiert, in Slowenien und Kroatien vollzog sich der Übergang zu parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft, in allen jugoslawischen Republiken hatten 1990 freie Wahlen stattgefunden oder standen sie kurz bevor (so die Wahl Milosevics). Warum sollte gerade Jugoslawien einen anderen Weg als Polen und Ungarn gehen? Und welche Bedeutung hatte Jugoslawien überhaupt noch, seit der Ostblock in sich zerfiel? Der gewaltbereite Ethnonationalismus, der sich dort aufbaute, lief dem Vektor der Demokratisierung im östlichen Europa diametral entgegen. Für die Staats- und Regierungschefs, die in Paris feierten, war dies, zumal in ihrer mentalen Disposition, kaum erkennbar. Erst im Frühjahr 1991, nach Beendigung der Golfkrise und den Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien, wachte die internationale Gemeinschaft auf und die EU begann mit ihrer hektischen Krisendiplomatie.46 5. Langfristige Weichenstellungen Golfkrieg, die Krisensymptome in der Sowjetunion und in Jugoslawien – so feierlich, wie sich die Staats- und Regierungschefs in Paris gaben, war ihnen wohl doch nicht zumute. Die Bundesregierung etwa, einen Putsch gegen Gorbatschow fürchtend, wollte den „Zwei-plus- Vier-Vertrag“ möglichst rasch im Obersten Sowjet ratifiziert sehen.47 Der Kontrast zwischen 1990 und heute sollte nicht überzeichnet werden. Dennoch bleibt die Frage, warum die Hoffnungen von 1990 so bruchstückhaft Wirklichkeit wurden, warum der verheißungsvolle Anfang steckengeblieben ist. Das Bild ist zu komplex, um es umfassend erklären zu können. Zentral ist der Rückfall in antagonistische Denkmuster zwischen Russland und dem Westen, der heute die Europa- wie 46 Biermann (Anm. 23). 47 Dies geschah im März 2019; siehe Biermann (Anm. 4), 757-767. 17
die Weltpolitik prägt. Hier kursieren vielfältige Erklärungen, die in unterschiedlichem Maße Russland und dem Westen Verantwortung zuschieben. Die einen machen den aus ihrer Sicht provokativen Affront der NATO-Erweiterung bis an Russlands Grenzen verantwortlich, dazu die unilaterale Kosovo-Intervention und -Anerkennung bis hin zum Regimewechsel im Irak und Libyen, ja auch die EU-Assoziierungspolitik im Rahmen der Östlichen Partnerschaft.48 Die anderen sehen die Ursache vor allem im Demokratie- und Menschenrechtsdefizit Russlands, in der Sowjetnostalgie und Putins Statusdenken, in der Verletzung von Grundprinzipien des Völkerrechts in Georgien und der Ukraine bis hin zur Politik verbrannter Erde in Tschetschenien und Syrien.49 Dieser Beitrag fokussiert auf Beobachtungen, die bisher wenig in den Ursachenanalysen auftauchen. Sie basieren auf einer Neubewertung jener Jahre 1989/90. Das zentrale Argument ist ein Doppeltes. Zum einen verdeckte der Aufbruch in die neue Friedensordnung schon 1990 tiefer liegende, sehr grundlegende Meinungsverschiedenheiten darüber, wie denn diese neue Friedensordnung aussehen sollte. Der ungelöste Konflikt um die Zukunft der Bündnisse in Europa stand hier im Mittelpunkt. Diese Differenzen blieben ungeklärt und legten den Grundstein für das Wiedererwachen des Antagonismus zwischen dem Westen und Russland. Zum zweiten wurde der Neuanfang durch Hypotheken aus den Jahren 1989 bis 1991 erschwert, die in Russland selbst zu suchen sind. Sie überforderten den Staats- und Nationsbildungsprozess Russlands und radikalisierten das Land in der kritischen Frühphase seiner Entwicklung. Die Hypotheken reichen vom Führungsstil Gorbatschows bis zum Zerfall des Landes, der den Verlust des Weltmachtstatus‘ und das Wegbrechen seiner Märkte nach sich zog. Diese Ursachen liegen in den Jahren 1990/91; sie brachen Mitte der 1990er Jahre offen aus. Der ungeklärte Konflikt um die Zukunft der Bündnisse Gorbatschow ging bei der Verkündung der „Freiheit der Wahl“ davon aus, dass das östliche Bündnissystem wie die Sowjetunion reformierbar sind und die notwendigen Reformen zur Revitalisierung des Kommunismus kontrollierbar – eine schwere Täuschung.50 Die 48 Besonders prononciert John J. Mearsheimer, Why the Ukraine Crisis Is the Wests Fault. The Liberal Delusions That Provoked Putin, in: Foreign Affairs, 93 (2014), 77-89. 49 Siehe etwa den Aufruf „Détente without Illusions”, 16.12.2014, verfügbar unter https://www.aicgs.org/2014/12/detente-without-illusions/, eingesehen am 28.2.2019. 50 Dies deutete sich erstmals bei der Abwahl der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) im Juni 1989 an; Biermann (Anm. 4), 92-97. 18
Delegitimierung der kommunistischen Herrschaft und damit die Desintegrationsbestrebungen waren bei den Verbündeten wie im eigenen Land viel weiter fortgeschritten als ihm bewusst war. Für Gorbatschow war die Existenz der Bündnisse und ihre Mitgliedschaft, genauso wie die deutsche Teilung, eine von der Geschichte gleichsam verfügte Tatsache, an der es nicht zu rütteln galt. Einen Bündniswechsel der DDR schloss er noch bei seiner Zustimmung zur Wiedervereinigung im Februar 1990 und zu Beginn der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen kategorisch aus.51 Auch wenn er anfangs zwischen diversen Optionen lavierte – Neutralisierung Deutschlands, französischer Status, Doppelmitgliedschaft in beiden Bündnissen, Einbindung in eine neues europäisches Sicherheitssystem – so war seine Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft ganz Deutschlands kategorisch und hoch-emotional. Noch im Mai 1990, zwei Monate vor dem Kaukasusgipfel, lehnte er im Politbüro vehement eine gesamtdeutsche NATO-Mitgliedschaft ab und rief erregt aus: „Eher nehme ich das Scheitern der Wiener KSZE-Verhandlungen und des START- Vertrages in Kauf, aber das lasse ich nicht zu.“52 Zu diesem Zeitpunkt vertraten die Bundesregierung, die USA, Großbritannien und Frankreich bereits dezidiert ihre Maximalposition einer NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands und lehnten uni sono jede Relativierung ab, auch in den eigenen Reihen. In den Zwei-plus-Vier- Verhandlungen avancierte die Idee, ein neues gesamteuropäisches Sicherheitssystem durch Auflösung beider Bündnisse und Ausbau der KSZE zu etablieren, zum zentralen, von Moskau geforderten Alternativmodell.53 In der deutschen Bevölkerung, die im Frühjahr 1990 einen rapiden Meinungswandel vollzog, fand dies breite Unterstützung. Für die Wiedervereinigung, so bekundeten schon im Dezember 1989 mehr als die Hälfte aller Deutschen, waren sie bereit, eine Neutralisierung Deutschlands in Kauf zu nehmen. 54 Sobald die Alternative eines neuen gesamteuropäischen Sicherheitssystems in den Umfragen 51 Ebd., 384-419 (Besuch Helmut Kohls in Moskau) und 514-565 (Positionssuche vor Beginn der Zwei-plus-Vier- Verhandlungen in Moskau). 52 Ebd., 563. In Wien wurde über konventionelle Truppenreduzierungen verhandelt, die sog. KSE- Verhandlungen (nicht KSZE) und USA und UdSSR verhandelten über weitere Abrüstung ihrer strategischen Nuklearwaffen (START-Verhandlungen). 53 Vgl. Biermann (Anm. 4), 529-531. 54 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer vom Nov. 1989. 19
angeboten wurde, optierten 54 Prozent der Deutschen dafür und nur noch 16% für einen Verbleib in der NATO.55 SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine äußerte sich ähnlich.56 Die westlichen Regierungen waren jedoch deutlich zurückhaltender. Zwar waren die NATO- Staaten zu gesichtswahrenden Kompromissen bereit – Reform der NATO, Gewaltverzichtserklärungen, KSZE-Aufwertung. Doch warum sollten sie ein bewährtes Forum transatlantischer Sicherheitsvorsorge aufgeben und ein neues System entwerfen, das noch dazu ob seiner Inklusivität alle Probleme von Systemen kollektiver Sicherheit, den Völkerbund und die VN vor Augen, in sich trägt? Und warum sollte man die NATO auflösen, nur weil der Kontrahent, der Warschauer Pakt, in sich zerfällt, wo sich doch beide Bündnisse normativ und strukturell fundamental unterschieden und die NATO inzwischen selbst von vielen im Osten Europas als Garant künftigen Friedens gesehen wurde? Die Frage der künftigen europäischen Friedensordnung wurde in den Zwei-plus-Vier- Verhandlungen vorentschieden. Es ging hier nur vordergründig lediglich um Deutschland; faktisch ging um die Zukunft europäischer Sicherheit insgesamt. Beim Gipfeltreffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl im Juli 1990 im Kaukasus stimmte Gorbatschow in einer revolutionären Kehrtwendung der NATO-Mitgliedschaft ganz Deutschlands ohne dauerhafte Einschränkungen zu.57 Sicherlich, er hielt damit konsequent an der Freiheit der Wahl fest. Dies traf sich mit dem von der Bundesregierung kategorisch reklamierten Selbstbestimmungsrecht, das die freie Bündniswahl einschloss. Doch waren seine Äußerungen auf der Pressekonferenz des Kaukasus-Gipfels vielsagend: Er spielte die sicherheitspolitischen Konzessionen herunter, sprach davon, er habe „Realpolitik“ gemacht, und gab zu: „Ich glaube, wenn jemand bei dieser Haltung nach Widersprüchen suchen sollte, so würde der welche finden. Aber die Politik ist die Kunst des Möglichen.“ 58 Gorbatschow ergriff damit die Flucht nach vorne. Sein Handlungsspielraum schränkte sich in den Monaten zuvor immer weiter ein. Die Wiedervereinigung schritt unaufhaltsam voran. Der Beitrittstermin stand fest, ebenso die ersten gesamtdeutschen Wahlen. Die Westmächte hatten ihre Reihen geschlossen und konfrontierten die Sowjetunion mit der Möglichkeit 55 Vgl. Infas, Deutschland-Politogramm der Woche, Nr. 29, 1990. 56 Er nannte die NATO ein „Überbleibsel des Kalten Krieges“. Die Forderung nach einer gesamtdeutschen NATO- Mitgliedschaft sei ein „Irrtum“. Sie sei ohnehin illusorisch angesichts des absehbaren sowjetischen Vetos; Oskar Lafontaine in der Mittelbadischen Zeitung vom 1.3. und in der Welt am Sonntag vom 18.3.1989. 57 Ablauf und Ergebnisse des Gipfels sind ausführlich analysiert in Biermann (Anm. 4), 676-705. 58 Zentrales Sowjetisches Fernsehen am 16.7.1990. 20
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