DIE FINANZIALISIERTE WOHNUNGSWIRTSCHAFT IST SOZIALISIERUNGSREIF - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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STANDPUNKTE 5 / 2021

                          KNUT UNGER

                          DIE FINANZIALISIERTE
                          ­WOHNUNGSWIRTSCHAFT
                           IST ­SOZIALISIERUNGSREIF
                          Das Hin und Her um die Übernahme der Deutsche Wohnen SE durch die Vonovia SE1 zeigt einmal mehr, wie sehr die
                          Wohnverhältnisse der Spekulation und den Strukturen der Finanzmärkte unterworfen sind. Mitten in der größten Krise des
                          bezahlbaren Wohnens seit der Nachkriegszeit hängt die Zukunft Hunderttausender Mietwohnungen von den von Aktions-
                          fonds gesetzten Regeln und den spekulativen Kalkülen von Hedgefonds-Manager*innen ab.2 Nicht nur in Berlin kann man
                          sich da fragen: Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit reif für die demokratische Alternative, die Vergesellschaftung des Woh-
                          nungswesens? Was gibt das Grundgesetz dazu her? In welchem Verhältnis steht diese Perspektive der Vergesellschaftung
                          zu Forderungen nach stärkerer Regulierung der Mieten und der Wohnungsbewirtschaftung?

                          FINANZIALISIERUNG ODER SOZIALISIERUNG                             in den Wohnungsneubau eingestiegen und bietet sich als
                          DES WOHNUNGSWESENS                                                Empfängerin öffentlicher Wohnungsbausubventionen an.11
                          Der (vorerst gescheiterte) Fusionsversuch der beiden größ-        Noch perspektivenreicher für das dauerhafte Renditewachs-
                          ten deutschen Wohnungskonzerne kann als Anzeichen des             tum ist der Einstieg in die öffentlich geförderte CO2 -reduzie-
                          Eintritts in eine dritte Phase der Finanzialisierung der unter-   rende Bewirtschaftung ganzer Wohngebiete, samt regene-
                          nehmerischen Wohnungswirtschaft verstanden werden.                rativen Energien und Mobilität.12 All das ist mit einer dreisten
                          Nach der neoliberalen Deregulierung kam es in den Nuller-         Selbstverklärung zur «Innovationsplattform» einer sozialen
                          jahren zum Ausverkauf der ehemals gemeinnützigen Woh-             und klimagerechten Wohnungswirtschaft verbunden.13
                          nungswirtschaft an Private Equity Fonds. Um 2012 wurden              Bei börsennotierten Wohnungskonzernen vom Typ der Vo-
                          deren Wohnungsplattform gewinnbringend an die Börse ge-           novia handelt es sich weder um «ethische Kapitalanlagen»
                          bracht.3 Jetzt werden einzelne Wohnungskonzerne so groß           noch um pure Spekulationsblasen, sondern um systema-
ROSA LUXEMBURG STIFTUNG

                          und mächtig, dass der Staat nicht umhinkann, mit ihnen zu         tisch durchstrukturierte Vehikel der Finanzindustrie zur lang-
                          kooperieren.4                                                     fristigen Abschöpfung von Einkommen mittels Miete. Je
                             Auch ohne Übernahme der Deutsche Wohnen: Es gab                höher die Mieteinnahmen und je niedriger die Kosten der Be-
                          noch nie ein börsennotiertes Wohnungsunternehmen, bei             wirtschaftung, desto höher die Dividenden. Je überzeugen-
                          dem so viel Kapital in einer einzigen operativen Plattform ge-    der die Aussichten erscheinen, dieses Dividendenwachstum
                          bündelt war wie bei der Vonovia.5 Sie besitzt etwa 30 Pro-        auch auf Dauer sichern zu können, desto erfolgreicher ge-
                          zent der etwa 1,2 Millionen Wohnungen, die in Deutschland         lingt die Platzierung der Aktien und Anleihen bei den institu­
                          für die Zirkulation von Finanzkapital in Form von Mietwoh-        tionellen Investoren. Vonovia & Co. sind auf Dauer zu Wachs-
                          nungen direkt zur Verfügung stehen.6 Die Deutsche Wohnen          tum und Intensivierung der Mietenextraktion gezwungen,
                          ist bei Weitem nicht das einzige Unternehmen auf der Ein-         und das geht nicht ohne eine unterstützende Regulation des
                          kaufsliste von Vonovia-Chef Rolf Buch. Nach Übernahmen            Staates. Die Avantgarde der kapitalmarktorientierten Woh-
                          in Österreich und Schweden7 und nach der Schaffung von            nungswirtschaft, die vor gut zehn Jahren noch jede gesell-
                          Brückenköpfen in Frankreich8 und den Niederlanden9 führ-          schaftliche Verantwortung für die Wohnungsversorgung
                          te der Konzern in diesem Jahr Gespräche mit der irischen          von sich wies, bietet sich nun mit viel Tamtam als unverzicht-
                          Regierung über den Einstieg in den dort geplanten sozialen        barer Partner für die Lösung der Wohnungs- und Klimakrise
                          Wohnungsbau.10 Wie in Deutschland könnte dieser mit öf-           an. Es handelt sich um ein Fallbeispiel für die Durchsetzung
                          fentlichen Darlehen gefördert werden, die auch hier nur zu        dessen, was Joseph Vogl als «kapitalistische Regulation»
                          zeitweisen Sozialbindungen führen. Die Vonovia ist auch           durch «das Finanzregime» bezeichnet hat.14
Es ist vor allem die Dynamik und Kontrolle über immer           vielschichtigen und auch mehrdeutigen Prozess. Sozialisie-
mehr Lebensbereiche, öffentliche Funktionen und Zu-               rungsreife der Wohnungswirtschaft kann bedeuten, dass die
kunftsoptionen durch die Wohnungsfinanzindustrie, die uns         Überführung bestimmter Segmente des Immobilieneigen-
vor Augen führt, dass eine grundlegende Umkehr nötig ist.         tums in Gemeineigentum geeignet und gesellschaftlich er-
Egal ob man die soziale Wohnungsfrage, den Klimawandel,           wünscht erscheint. Sozialisierungsreife kann man aber auch
die Gefahren für die Demokratie oder schlicht die Empörung        generell als Handlungsbedarf verstehen, die bestehende Re-
über die systematischen Täuschungen durch die Vonovia in          gulation der Wohnungswirtschaft neu auszurichten.
den Mittelpunkt stellt: Dieser Konzern und mit ihm der ganze
von ihm angeführte wohnungswirtschaftliche Sektor muss            DAS BERLINER SIGNAL
dringend unter gesellschaftliche Kontrolle gebracht werden.       Die Berliner Initiative «Deutsche Wohnen & Co. enteignen»
Anders gesagt: Die finanzialisierte Wohnungswirtschaft ist        hat die vergesellschaftende Enteignung der Wohnungen
sozialisierungsreif.                                              großer Eigentümer zu einer basisbewegenden und realpoli-
                                                                  tischen Option auf Landesebene gemacht. Bei einem Erfolg
SOZIALISIERUNGSREIFE?                                             dieser Initiative könnte zumindest in Berlin ein Teil der Fol-
Als es nach der Novemberrevolution 1918 zu starken gesell-        gen der Deregulierungen und Privatisierungen vergangener
schaftlichen Bewegungen für die «sofortige Sozialisierung»        Jahrzehnte rückgängig gemacht werden. In Berlin könnte ei-
der Großindustrie, insbesondere des Bergbaus, kam, wurde          ne starke gemeinwirtschaftliche Basis für ein leistungsfähi-
von Vertretern der Mehrheitssozialdemokratie gern mit vul­        ges und soziales Wohnungswesen geschaffen werden, das
gär­marxistischen Formeln bestritten, dass die Entwicklung        den Finanzmärkten relativ entzogen wäre.
der Produktivkräfte für einen derartigen Schritt «reif» sei. 15      Sollte es bei der Abstimmung am 26. September 2021 zu
In der radikalen Linken wurde diese Rhetorik umgekehrt,           einem Votum für die Vergesellschaftung kommen, wird die
die Sozialisierung wurde zur Voraussetzung der Produktivi-        eigentliche Auseinandersetzung aber erst beginnen. Die Ver-
tätssteigerung erklärt. In der «Sozialisierungs-Kommission        gesellschaftungsidee muss sich gegen den seit Jahrzehnten
über die Neuregelung des Wohnungswesens»16 ging es, wie           in den Köpfen, Parteien, Behörden und Gesetzen verankerten
schon der Name sagt, um ein breites Spektrum all dessen,          neoliberalen Mainstream durchsetzen. Teile der Regierung
was man auch als Regulation der Vermietung und Förderung          setzen lieber auf Deals mit den Konzernen als auf deren Ab-
des Wohnungsbaus bezeichnen könnte, allerdings immer              schaffung. Hauseigentümerverbände, die globale Finanzlob-
unter Einschluss der Option einer gemeinwirtschaftlichen          by und die neoliberalen Parteien laufen in den Medien Sturm.
Organisationsform. Später in der Weimarer Republik entwi-         Sie werden alles versuchen, das Vorhaben vor den Verfas-
ckelte sich eine differenziertere Diskussion dazu, welche Be-     sungsgerichten zu Fall zu bringen, so, wie es ihnen beim Ber-
triebe für eine Vergesellschaftung geeignet seien und wie sie     liner Mietendeckel schon gelungen ist. Sie werden im Be-
jeweils organisiert werden sollte. Der bekannte Wohnungs-         darfsfall sicherlich auch noch das europäische Beihilferecht,
reformer Klaus Novy meinte in den utopiekritisch werdenden        die Kapitalverkehrsfreiheit, den internationalen Investitions-
1970er Jahren, sinnvoller als von «Sozialisierungsreife» sei      schutz und überhaupt den drohenden Niedergang Deutsch-
es von «Bedingungen», «Voraussetzungen» oder «Ansatz-             lands als Finanzstandort ins Feld führen. Und sie werden Ent-
punkten» der Sozialisierung zu sprechen.17 Dabei geht aller-      schädigungen einfordern, die für sie noch lukrativer sind als
dings die Dimension des gesellschaftlichen Bedürfnisses           die Fortsetzung der jetzigen Geschäfte.
und Begehrens nach sozialisierender Umgestaltung ebenso              Um den eröffneten, voraussichtlich langen Kampf um das
verloren wie die Tatsache, dass die Entwicklung des Kapita-       Wohnungswesen durchzuhalten, braucht es auf jeden Fall
lismus zwar nicht mit teleologischer Notwendigkeit auf seine      auch außerhalb Berlins Kampagnen und Konzepte, und zu-
sozialisierende Aufhebung hinausläuft, sehr wohl aber der         nächst vor allem: einen viel breiteren Diskurs über die Zie-
Akkumulationsprozess des Kapitals die Frage nach seiner so-       le und Strategie der Vergesellschaftung des Wohnungswe-
zialisierenden Aneignung auf immer wieder neuem Niveau            sens in Deutschland und darüber hinaus. Diese Diskussion
aufwirft.                                                         darf sich nicht von Vornherein auf einen bestimmten Sek-
   Aktualisieren wir den Begriff Sozialisierungsreife und wen-    tor der Wohnungswirtschaft beschränken. Wenn alle Woh-
den ihn auf die heutige Wohnungsfrage an, so lassen sich die      nungen finanzmarktorientierter Großvermieter in Deutsch-
folgenden Argumente identifizieren: 1. Die Vergesellschaf-        land vergesellschaftet würden, würde das immerhin gut
tung der unternehmerischen Wohnungswirtschaft könnte              fünf Prozent des Mietwohnungsbestandes ausmachen. In
die Abschöpfung von Mieten für private Renditen beenden.          einigen Städten und Regionen – Berlin, Dresden, Kiel, das
2. Die Mieten könnten reduziert oder für den gemeinwirt-          Ruhgebiet usw. – auch wesentlich mehr. Für eine reale Ver-
schaftlichen Neubau verwendet werden. 3. Die bei den Groß-        gesellschaftung fehlen aber die Rahmenbedingungen wie
vermietern angehäuften knappen Güter Wohnung, Boden               geeignete Auffangträger, in dieser Größe erprobte nicht-ren-
und Baukapazität würden für die gesellschaftliche Bedarfsde-      diteorientierte Steuerungsmodelle, an Gemeinwohlzielen
ckung umverteilt bzw. umorganisiert. 4. An die Stelle weiterer    orientierte Manager*innen, in vielen Städten auch die enga-
Machtansammlung und Markbeherrschung bei den rendi-               gierten Zivilgesellschaften und nicht zuletzt ein Bewertungs-
teorientierten Konzernen würde eine demokratische Verfas-         und Entschädigungsgesetz, das nicht darauf hinausläuft,
sung der Wohnungsgemeinwirtschaft treten. 5. Das frust-           dass die Anleger*innen von Vonovia & Co. am Ende zu den
rierende Konzernkommando über den Wohnalltag könnte               Gewinner*innen werden und die Mieter*innen jahrzehnte-
durch Mitbestimmung und Selbstorganisation überwunden             lang die Schulden der Übernahme abbezahlen.
werden. 6. Dabei müsste auf den mit der Betriebsgröße ver-           Die vergesellschaftende Enteignung kann also als isolier-
bundenen Effizienzgewinn nicht verzichtet werden.                 te Maßnahme kaum funktionieren. Neben konkreten Vorstö-
   Reale Vergesellschaftung ist nie als ein einmaliger Akt vor-   ßen wie in Berlin brauchen wir eine bundesweite Program-
stellbar. In der Praxis geht es immer um einen langwierigen,      matik, in der unterschiedliche Instrumente und Experimente       2
mit ihren diversen Handlungsebenen, Akteuren, Zeithorizon-       Hier kommt die Vergesellschaftung eines Wohnungswirt-
    ten und Realisierungschancen zu einem vielstimmigen Pro-         schaftsbereiches im Sinne von Artikel 15 GG ins Spiel. Da
    zess zusammenfließen können.                                     auch diese zu Eingriffen in das Eigentumsrecht führt, bedarf
                                                                     sie der Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit.
    DIE VERFASSUNG DES WOHNENS                                          Die Eigentumsgarantie ist ein elementares Grundrecht. Sie
    NEU ­V ERHANDELN                                                 ist aber weder statisch noch unbestimmt oder grenzenlos.
    In Artikel 15 Grundgesetz (GG) heißt es, dass Grund und          Das Eigentum existiert nach Artikel 14 GG nur im Rahmen
    Boden, Naturschätze und Produktionsmittel «zum Zwecke            seiner gesetzlich regulierten Inhalts- und Schrankenbestim-
    der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Aus-        mungen, und diese sind einem historischen Wandel unter-
    maß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder ei-         worfen. Artikel 15 GG fügt diesen Bestimmungen im Falle
    ne andere Form der Gemeinwirtschaft überführt werden»            von Immobilien die Möglichkeit eines Wechsels der Eigen-
    können. Der Artikel war 1949 nach intensiven Verhandlun-         tums- oder Wirtschaftsform hinzu. Dieser Wechsel ist aber
    gen im Kraft getreten.18 Bei der Vergesellschaftung im Sin-      nur dann verhältnismäßig, wenn sie besser als regulatori-
    ne von Artikel 15 GG handelt es sich um einen Zweck, der         sche Maßnahmen mit geringerer Eingriffstiefe dazu geeig-
    sowohl durch die Überführung von Privateigentum in Ge-           net sind, das Recht auf eine angemessene Wohnung durch-
    meineigentum (enteignende Vergesellschaftung) als auch           zusetzen. Und zudem muss es zu einem Interessenausgleich
    durch eine Transformation in andere Formen der Gemein-           kommen, für den im Falle der enteignenden Vergesellschaf-
    wirtschaft, die nicht unbedingt eine Enteignung vorausset-       tung ausdrücklich eine Entschädigung vorgeschrieben ist.
    zen, erreicht werden kann. Anders als die Enteignung nach        Diese kann jedoch, anders als bei der Enteignung nach Arti-
    Artikel 14 GG muss die Vergesellschaftung nicht aus einer        kel 14 GG, unterhalb der Verkehrswerte liegen.22
    spezifischen Notwendigkeit in einem spezifischen Allge-             Die Forderung nach Wohnungsvergesellschaftung, ins-
    meininteresse erfolgen. Es handelt sich um eine Option des       besondere in ihrer enteignenden Variante, würde ohne Er-
    Gesetzgebers im Rahmen des hinsichtlich der Wirtschafts-         wägung möglicher Änderungen der Inhalts- und Schranken-
    verfassung grundsätzlich «neutralen» Grundgesetzes.19 Da         bestimmung des Eigentums zu einer Fehlbewertung ihrer
    die Ausübung dieser Option jedoch zu Einschränkungen             Zulässigkeit führen. Im Rahmen einer Sozialisierungsstrate-
    von Grundrechten führen kann, insbesondere des Eigen-            gie müssen alle das Wohnen betreffenden Rechtsverhältnis-
    tumsrechts, muss sie gleichwohl legitim, geeignet und ver-       se auf ihre Gemeinwohlwirkung überprüft werden.
    hältnismäßig sein.
       Zur Legitimation der Wohnungsvergesellschaftung kann          DIALEKTIK DER MIETWOHNUNG
    man sich auf das Menschrecht auf eine angemessene Woh-           Die verfassungsrechtlichen Festschreibungen der Sozial-
    nung berufen. Der deutsche Staat ist aufgrund des völker-        pflichtigkeit des Eigentums und der Vergesellschaftungsop-
    rechtsverbindlichen Internationalen Pakts über wirtschaft-       tion erfolgten historisch in Reaktion auf die Krisen- und Kata-
    liche, soziale und kulturelle Rechte20 dazu verpflichtet, sich   strophenerfahrungen des entfalteten Industriekapitalismus
    darum zu kümmern, dass jeder Mensch über eine für ihn be-        des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieser basiert bekanntlich
    zahlbare, sichere, zugängliche und gesunde Wohnung ver-          auf Warenproduktion und dem Privateigentum an Produk-
    fügt. Das Grundgesetz erwähnt zwar nicht ausdrücklich ein        tionsmitteln und Land. Die Wohnung ist unter diesen Be-
    Recht auf Wohnung, aber die garantierten Grundrechte müs-        dingungen ebenso eine Ware wie andere Güter, auch wenn
    sen angesichts der Wohnungskrise konsequenter im Lichte          sie Besonderheiten aufweist. Dazu gehören ihre Immobi-
    des Menschenrechts interpretiert werden. Dem kommt ent-          lität, ihre hohen Erstellungskosten, ihre Langlebigkeit, die
    gegen, dass das Bundesverfassungsgericht das Besitzrecht         eingeschränkte Reproduzierbarkeit und ihre Beleihbarkeit,
    an der Mietwohnung dem Recht auf Eigentum gleichgestellt         alles Eigenschaften, die sie für die Nutzung als Wertspei-
    hat.21 Im Falle der Mietwohnung muss es demnach zu einem         cher akkumulierten Kapitals besonders tauglich machen.
    Interessenausgleich zwischen zwei Rechtssubjekten kom-           In der Mietwohnung liegt zudem unmittelbar «Leihkapital
    men, die beide mit dem Freiheitsrecht auf Eigentum ausge-        in Warenform»23 vor. Die Nutzung der Mietwohnung als Fi-
    stattet sind.                                                    nanzanlage ist also keine ihr übergestülpte Entartung, sie ist
       Artikel 14 Abs. 2 GG verpflichtet die Rechtssubjekte zu       in ihrem spezifischen Warencharakter angelegt, auch wenn
    einem Gebrauch des Eigentums, der zugleich dem Allge-            sich diese Eigenschaft unter den gegenwärtigen Bedingun-
    meinwohl dient. Diese Sozialpflichtigkeit rechtfertigt seit      gen des globalen Finanzmarktkapitalismus besonders stark
    Langem Eingriffe in das Immobilieneigentum, zum Beispiel         entfaltet.
    durch das Planungs- und Mietrecht. Der aktuelle Entwick-            Ökonomie und Geschichte der Mietwohnverhältnisse sind
    lungstand dieser Eingriffe versagt aber offensichtlich bei der   geprägt von dem Widerspruch zwischen dem Charakter der
    Lösung der bestehenden Wohnungskrise. Um das Recht auf           Wohnung als einem lebensnotwendigen Gut einerseits und
    Wohnung und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums durch-         ihrem Charakter als global handelbare Finanzanlage anderer-
    zusetzen, sind heute ergänzend zum Zivilrecht öffentlich-        seits. Dieser widersprüchliche Charakter der Ware Wohnung
    rechtliche Regulationen für gemeinwohlverträgliche Miet­         schließt einen «naturwüchsigen» Ausgleich zwischen An-
    oberwerte, Grundätze der Wohnungsbewirtschaftung und             gebot und Bedarf aus. Produktion, Verteilung und Finanzie-
    der Wohnungsüberlassung erforderlich.                            rung der Ware Mietwohnung sind stets reguliert. Schon dass
       Insoweit diese Regulationen nicht ausreichen, kommen in       Grundstücke und die darauf errichteten Gebäude gehandelt,
    Einzelfällen als letztes Mittel auch Enteignungen gemäß Arti-    beliehen und verliehen werden, beruht auf der rechtlich ko-
    kel 14 GG in Betracht. Eine bundesweite gesetzliche Grund-       dierten Grundeigentumsfiktion der bürgerlichen Gesell-
    lage dafür gibt es aber nicht. Und insofern die Wohnungs-        schaft.24 In diesen Code muss immer wieder regulativ einge-
    krise Ausdruck eines grundsätzlichen «Marktversagens» ist,       griffen werden, um die Reproduktion von Gesellschaft und
3   wäre eine spezifische Enteignung auch nicht zielführend.         Kapital zu sichern.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstand      die Erfüllung der Rechte zukünftiger Generationen auf ein
Wohnungspolitik aus Notstandseingriffen in die Privatauto-      gutes Wohnen unmöglich macht.
nomie. In zahlreichen Ländern kam es zu zunächst tempo-           Es geht heute nicht mehr lediglich darum, Fehlentwicklun-
rär angelegten Mietenstoppmaßnahmen, deren baldige Ab-          gen des liberalistisch gefassten Grundeigentums unter Beru-
schaffung dann an der unveränderten Wohnungsnot und             fung auf die Sozialpflichtigkeit gelegentlich einzuschränken
starken Protesten scheiterte.25 Das knappe Gut Wohnung          oder durch öffentliche Förderung auszugleichen. Es geht
musste durch eine öffentliche Zwangsbewirtschaftung zu-         auch nicht nur darum, in einem Teilsegment des Wohnungs-
geteilt werden, da trotz der Bemühungen um den gemein-          marktes die Grundeigentümer auszutauschen. Es geht dar-
nützigen Wohnungsbau keine Bedarfsdeckung erreicht              um, die Inhaltsbestimmungen des Eigentums an Wohnim-
werden konnte. Diese Wohnungsnotstandspolitik wurde im          mobilien neu zu bestimmen, und zwar in Übereinstimmung
Zuge des Wirtschaftswachstums nach dem Krieg in die Pha-        mit dem Menschenrecht auf Wohnung und den Rechten der
se fordistisch regulierter Massenproduktion übergeleitet.       Erde. Da, wo privatnütziger Finanzmarkt war, soll gemein-
Durch starke Eigenheimförderung und die Einbindung des          nütziges Wohnungswesen werden.
Wohnungsbaus in die durch Staat und Banken koordinierten
industriellen Wachstumsschübe sollte die Wohnungsfrage          SOZIALISIERENDE REGULATION
in absehbarer Zeit den staatlich gepushten «Marktkräften»       Die erforderliche Politik «sozialisierender Regulation» be-
überlassen werden. Öffentlich-rechtliche Mietpreisbindun-       trifft das ganze Feld des Wohnungswesens und der sozia-
gen und Wohnungsbewirtschaftungen wurden stückwei-              len Raum­entwicklung: Bodennutzung, Preisbestimmungen,
se abgeschafft und durch das marktorientierte Vergleichs-       Verteilung und Bewirtschaftung. Sozialisierend und nicht
mietensystem sowie das zivile Mietrecht ersetzt. Ab den         nur übergreifend ist sie zu nennen, weil jeder ernstgemein-
1980er Jahren erfolgte dann der neoliberale Abbau der for-      te Versuch, Symptome der Systemkrise zu bekämpfen, den
distischen Wohnungsregulation, vor allem der Wohnungs-          Bedarf nach weitergehenden Marktregulationen nach sich
gemeinnützigkeit (1990) und der Zuständigkeit des Bundes        zieht. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Idee eines «Mieten-
für die Wohnungsbauförderung (Föderalismusreformen).            deckels».
Das «Wohnungswesen», das zuvor als ein spezifischer staat-         Unter den Bedingungen einer von der Produktion weit-
licher Aufgabenbereich galt, wurde damit fast vollständig in    gehend entkoppelten Immobilienpreisentwicklung ist nicht
Eigentumsförderung und finanzkapitalistische «Wohnungs-         mehr vorstellbar, dass die Bezahlbarkeit dauerhaft allein
wirtschaft» aufgelöst.                                          durch ein an die Marktpreisentwicklungen gekoppeltes
   Nach der Jahrtausendwende wurden große Teile der ehe-        Vergleichsmietensystem («Mietspiegel») gesichert werden
mals gemeinnützigen unternehmerischen Wohnungswirt-             kann. Die Alternative zu dieser Situation ist die dauerhafte
schaft an Private Equity Fonds verkauft. Diesen gelang es       Festsetzung von lokalen Miethöchstwerten oder anderen
Anfang der 2010er Jahre, ihre Wohnungsunternehmen an            Formen drastischer Mietpreiskontrollen, die die Mietrenditen
die Börse zu bringen. Seitdem erfolgt ein umfassender Kon-      zwangsläufig beschränken. Soweit dies gelingt, folgt daraus
zentrations- und Intensivierungsprozess bei der Abschöp-        eine geringere Investitionsneigung des Kapitals in Neubau
fung der Mieten für die Finanzanleger. Heute handelt es sich    und die Erneuerung des Wohnungsbestandes. Dem ersten
bei der Wohnungsfrage um den auf erweiterter Stufenleiter       Problem müsste mit der Schaffung geförderter gemeinnützi-
der finanzkapitalistischen Akkumulation entfalteten systemi-    ger Wohnungsbauträger, dem zweiten mit Instandhaltungs-
schen Widerspruch der Wohnung zwischen Bedarfsgut und           verpflichtungen entgegengewirkt werden.
Finanzanlage. Dieser Widerspruch lässt sich nicht durch eine       Der Gesetzgeber müsste regeln, dass ein Teil der Miete
flexible kapitalistische Regulation im Sinne einer vorüberge-   verbindlich in die Instandhaltung fließt oder dafür konkurs-
henden und räumlich begrenzten Beschränkung des Eigen-          sicher zurückbehalten werden muss. Damit aber würde sich
tumsmissbrauchs («Mietenstopp») oder einer Stimulation          die Frage stellen, wer die Einhaltung dieser Regelung effi­
industrieller Massenproduktion («Bauen, bauen, bauen»)          zient kontrolliert. Eine Lösung wäre die Einrichtung flächen-
überwinden. Die Mietenpolitik der heutigen dritten Genera­      deckender elektronischer Wohnungsregister, in denen die
tion kommt um die Frage nach einer Neubestimmung von            Verfügungsberechtigten ihre Instandhaltungsabrechnun-
Inhalt und Schranken des Grundeigentums, nach einer so-         gen regelmäßig veröffentlichen. Diese Wohnungsregister
zialisierenden Regulation der Wohnungswirtschaft nicht he-      könnten auch die entscheidende Instanz zur Regulierung der
rum.                                                            Kurzzeitvermietung, zur Kontrolle von Zweckentfremdungen
                                                                und Leerstand und zur Feststellung von Überschreitungen
MENSCHENRECHT AUF WOHNUNG UND                                   von Miethöchstwerten darstellen. Sie könnten eine Grundla-
DIE RECHTE DER ERDE                                             ge für die öffentliche Wohnungsvermittlung und den Ausbau
Kämpfe um die Rechte auf Wohnung und Stadt werden zu            kommunaler Belegungsrechte sein. Auf diese Weise könnte
Treibern erweiterter Regulationsanforderungen an das Im-        die gesamte Mietwohnungsbewirtschaftung öffentlich regu-
mobilienkapital. Die Erfüllung dieser Rechte muss jedoch in-    liert und von den Mieterschaften mitbestimmt werden, oh-
nerhalb der Belastungsgrenzen der Erde erfolgen. Eine Lö-       ne dass eine Enteignung der Grundeigentümer erforderlich
sung der Wohnungskrisen durch ein bloßes Bauen, bauen,          wäre. Die Frage ist nur, wie viele der bisherigen Finanzinves-
bauen» verbietet sich schon deshalb. Die Beschränkung der       toren dann noch Interesse an diesem Geschäftsfeld hätten.
natürlichen Ressourcen radikalisiert die soziale Wohnungs-
frage als Verteilungsfrage. Das Bundesverfassungsgericht        DIE NEUE WOHNUNGSGEMEINWIRTSCHAFT
hat in seinem Urteil zum Klimaschutz den Verfassungsrang        Wenn die private Investitionsneigung infolge wirksamer
der intergenerationellen Gerechtigkeit hervorgehoben.26 Die     Regulation abnimmt, wächst der Bedarf an nicht-rendite­
bedeutet auch: Der Staat muss sich darum kümmern, dass          orientierten Akteuren. Zugleich wird aber auch die Überfüh-
der Verbrauch natürlicher Ressourcen für das Wohnen nicht       rung der Wohnungen in gemeinnützige oder gemeinwirt-              4
schaftliche Trägerschaft kostengünstiger. Durch den Ausbau       Grundstock für eine gemeinwirtschaftliches Wohnungs-
    kommunaler Vorkaufsrechte, eine Reform der Immobilien-           wesen mit weit über einer Million Wohnungen gelegt wer-
    bewertung sowie durch eine gerechte Besteuerung von Im-          den. Konzerne wie Vonovia, Deutsche Wohnen und LEG
    mobilientransaktionen und durch Steuererleichterungen bei        benötigen nicht einmal die Hälfte der Mieteinnahmen zur
    Verkauf an Gemeinnützige könnte dieser Trend gestützt wer-       Deckung der laufenden Kosten. Weit über ein Drittel der
    den. Die dazu erforderliche bundesweite Auffangstruktur          Mieteinnahmen fließt an die Anleger*innen.28 Durch die Ver-
    existiert zurzeit allerdings nicht. Sie müsste erst geschaffen   gesellschaftung könnten die Mieten gesenkt werden. Dem
    werden. Zwei Möglichkeiten kommen dabei infrage: die ge-         gemeinwirtschaftlichen Wohnungswesen könnten dauer-
    winnbeschränkte gemeinnützige Wohnungswirtschaft oder            haft Einnahmen zufließen, die für den sozialen Neubau ein-
    die renditefreie Wohnungsgemeinwirtschaft.                       gesetzt werden könnten. Die Überführung so vieler Immo-
       Gemeinnützig nennt man traditionell Organisationen, die       bilien in gemeinwirtschaftliche Trägerstrukturen würde mit
    überwiegend einem anerkannten, gesellschaftlich nütz-            einem Schlag große Kapazitäten für die Durchsetzung von
    lichen Zweck dienen, sich und ihr Vermögen dauerhaft an          Klimaneutralität im Wohnungsbestand schaffen.
    diesen Zweck binden, ihre wirtschaftlichen Überschüsse             Wie die Initiative «Deutsche Wohnen & Co. enteignen»
    bis auf einen begrenzten Anteil nur für diesen Zweck ein-        aufgezeigt hat, ist die Entschädigung für die Vergesellschaf-
    setzen und bei überprüfbarer Einhaltung dieser Vorschrif-        tung schon auf Landesebene mithilfe von Anleihen gut finan-
    ten steuerliche und andere öffentliche Vergünstigungen           zierbar. Niedrige Mieten können allerdings nur dann durch-
    erhalten. So war es bei der alten Wohnungsgemeinnützig-          gesetzt werden, wenn die Entschädigungssumme sehr weit
    keit und so sollte es – ergänzt um Bestimmungen zur inter-       unter den aktuellen Verkehrswerten bleibt. Und auch dann
    nen Demokratie und Transparenz – eigentlich auch bei der         noch werden die Wohnungen auf viele Jahre hinaus mit
    «neuen Wohnungsgemeinnützigkeit» sein, einer Zielvorstel-        Schulden für den Rückerwerb von Wohnungen belastet sein,
    lung, die vor etwa zehn Jahren von Mieterorganisationen          deren Erstellungskosten die Mieter*innen schon längst ab-
    und Wohnungsreformer*innen wieder aufgebracht wurde.             gezahlt haben.
    Inzwischen fordert auch eine Reihe von Gewerkschaften,             Bei einer Vergesellschaftung auf Bundesebene gäbe es
    Wohlfahrtsverbänden und Parteien eine «neue Wohnungs-            größere Spielräume. Es könnte für alle Formen der Verge-
    gemeinnützigkeit». Nur was darunter verstanden wird, ist         sellschaftung (auch z. B. über die Wahrnehmung von Vor-
    mitunter nebulös geworden.                                       kaufsrechten durch die Kommunen) eine eigene Bewer-
       So setzten zum Beispiel die Grünen schon seit Jahren          tungsgrundlage geschaffen werden, die sich an sozialen
    den Begriff ein, um eine Art aufgestockte soziale Objekt-        Zielwerten orientiert und berücksichtigt, dass die Höhe von
    förderung zu beschreiben. Einem Gesetzentwurf aus dem            Aktienkursen nicht unter den grundgesetzlichen Eigentums-
    Jahr 2020 zufolge soll die Wohnungsgemeinnützigkeit auf          schutz fällt. Bei heutigen Leitzinsen und nach den ohnehin
    «angespannte Wohnungsmärkte» beschränkt werden. 27               geforderten Veränderungen der Schuldenbremse kann die
    Damit wird der Grungedanke, flächendeckend ein Woh-              Entschädigung dann günstig aus Staatsanleihen finanziert
    nungssegment zu schaffen, in dem die Akteure ohne Pro-           werden. So ließe sich auf einen Schlag eine leistungsfähi-
    fitorientierung wirtschaften, untergraben. Sollte es zu einer    ge Wohnungsgemeinwirtschaft mit Hunderttausenden von
    solchen «Wohnungsgemeinnützigkeit light» kommen, wer-            Wohnungen bei einem geringen Verschuldungsgrad schaf-
    den sicherlich auch Vonovia & Co. bald mit «gemeinnützi-         fen.
    gem Wohnungsbau» aufwarten, um ihre Sozialbilanz zu ver-           Eine entschlossene sozialisierende Regulation des gesam-
    bessern und in den Genuss zusätzlicher Fördermittel und          ten Wohnungswesens und die Vergesellschaftung großen
    Grundstücke zu kommen. Die praktische Wirksamkeit des            Immobilienbesitzes würde nicht nur die Voraussetzungen
    Wohnungsgemeinnützigkeitskonzepts ist allerdings schon           dafür verbessern, jedem Menschen ein sicheres Zuhause zu
    deshalb begrenzt, weil es kaum kommunale und genossen-           geben und unsere Städte klimagerecht umzubauen. Sie wür-
    schaftliche Wohnungsunternehmen gibt, die freiwillig dau-        de auch das Eigentum derjenigen schützen, die es auf eine
    erhafte Sozial­bindungen eingehen wollen.                        Weise gebrauchen, die in Übereinstimmung mit Artikel 14
       Es gibt andererseits auch Genossenschaften und vor al-        GG zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dient. Dieser Ge-
    lem Miethäusersyndikate, die schon jetzt auch im strengen        danke kann vielleicht ein Ausgangspukt dafür sein, die Idee
    Sinne gemeinnützige Regeln einhalten, ohne dafür geför-          der vergesellschaftenden Regulation des Wohnungswe-
    dert zu werden. Um der begrifflichen Schärfe willen sollten      sens nicht nur bei einer Minderheit zu verbreiten, sondern
    wir diese Akteure gemeinwirtschaftlich nennen. In einem          als gegenhegemoniales Projekt auszubauen. Zu einer nach-
    «Wohnungsvergesellschaftungsgesetz» könnten sie ge-              haltigen Vergesellschaftungsstrategie wird es aber wohl erst
    stärkt werden, ohne ihre Autonomie aufzuheben. Das Gesetz        kommen, wenn die Bewohner*innen den Widerstand gegen
    könnte auch Regelungen dafür schaffen, die kommunale             die finanzregulierte Wohnungswirtschaft in ihren Alltag inte-
    Wohnungswirtschaft in die renditefreie Wohnungsgemein-           grieren und sich für ihre Interessen und die praktische Wie-
    wirtschaft zu überführen.                                        deraneignung des Raums organisieren.

    SOZIALISIERUNG DER WOHNUNGSKONZERNE                              Knut Unger ist Sprecher des MieterInnenvereins Witten
    Im Vergleich dazu wäre die Enteignung und Vergesellschaf-        (Mitglied im Deutschen Mieterbund NRW) und
    tung der Immobilien von privaten Großkonzernen gemäß             von MieterAKTIONärIn – Plattform kritischer
    Artikel 15 GG ein D-Zug. Auf direktem Wege könnte ein            Immobilienaktionär*innen.

5
1 SE ist eine Rechtsform für Aktiengesellschaften, die es ihnen ermöglicht, ihre Geschäfts-   Siehe auch Macho, Andreas/Finkenzeller, Karin: Die Sorgen des Imperators. Der Woh-
tätigkeit in verschiedenen europäischen Ländern mit einem einheitlichen Regelwerk zu          nungskonzern Vonovia expandiert in ganz Europa, in: Wirtschaftswoche, 24.8.2020, unter:
betreiben. 2 Der Vonovia-Vorstandvorsitzende Rolf Buch machte nach dem Scheitern der          www.wiwo.de/my/unternehmen/dienstleister/vonovia-die-sorgen-des-impera-
Übernahme zwei Faktoren dafür verantwortlich, dass bis zum Stichtag am 21. Juli 2021          tors/26110710.html. 10 Kapila, Lois: Should Private Finance Play Any Part in the Roll Out
die erforderliche Quote von 50 Prozent der Aktien nicht erreicht wurde: Etwa 20 Prozent       of Cost-Rental Homes in Ireland?, in: Dublin Inquirer, 30.6.2021, unter: dublininquirer.
der Aktien der Deutsche Wohnen werden von passiven Indexfonds gehalten (darunter              com/2021/06/30/should-private-finance-play-any-part-in-the-roll-out-of-cost-rental-ho-
BlackRock), die aufgrund ihres Geschäftsmodells keine Übernahmeangebote annehmen              mes-in-ireland. 11 Die Anfänge waren äußerst bescheiden und bestanden vor allem aus
können. Und außerdem haben Hedge-Fonds auf ein Scheitern des Übernahme-Coups                  Aufstockungen bestehender Gebäude. Nach der Übernahme mehrerer Developer nimmt
spekuliert. Die Fusion ist demnach nicht an zweifelhaften wohnungs- und finanzwirtschaft-     das Baugeschäft des Konzerns aber an Fahrt auf. Im Jahr 2020 wurden in Deutschland,
lichen Perspektiven der neuen Vermietungsgiganten gescheitert, sondern an Eigengesetz-        Österreich und Schweden 646 Einheiten für den Verkauf und insgesamt 1.442 eigene
lichkeiten der Anlegersphäre. Siehe hierzu auch Herz, Carsten/Leitel, Kerstin: Fusion zwi-    Wohneinheiten fertiggestellt. In der Pipeline sollen über 10.000 Wohnungen sein (Quelle:
schen Vonovia und Deutscher Wohnen vor dem Aus – Was das für Mieter und Anleger               Vonovia Geschäftsbericht 2020). Es handelt auch weiterhin oft um «Nachverdichtungen«
bedeutet, in: Handelsblatt, 25.7.2021, unter: www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/       auf bereits vorhandenen Grundstücken. Aber auch an größeren Neubaumaßnahmen ist
immobilien-fusion-zwischen-vonovia-und-deutscher-wohnen-vor-dem-aus-was-das-fuer-             Vonovia beteiligt. Häufig sind die neuen Wohnungen gehobene Eigentumsobjekte und
mieter-und-anleger-bedeutet/27443488.html. 3 Siehe Unger, Knut: Der große Ausverkauf.         teurer als der Bestand. Schon aufgrund kommunaler Auflagen muss die Vonovia aber auch
Die Finanzialisierung der ehemals gemeinnützigen Wohnungswirtschaft in Deutschland,           öffentlich geförderte Wohnungen errichten. Sie ermöglichen Umzüge älterer Mieter*innen
in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 95, 2013, S. 24–35; ders.: Mieterhöhungsma-        in kleine Wohnungen und damit erhöhte Mieteinnahmen aus den freigezogenen neuen
schinen: Zur Finanzialisierung und Industrialisierung der unternehmerischen Wohnungs-         Einheiten. 12 MieterAKTIONärIn: Klimawechsel bei der Vonovia?, 4.3.2021, unter: mie-
wirtschaft, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 191, 2018, S. 205–225.   teraktionärin.de/bilanzpressekonferenz-klimawechsel-bei-der-vonovia/. 13 Siehe Vonovia
Zur Finanzialisierung und dem Aufstieg der Wohnungs AGs in Deutschland siehe auch:            SE: Geschäftsbericht 2020, unter: reports.vonovia.de/2020/geschaeftsbericht/. 14 Vogl,
Metzger, Philipp P.: Die Finanzialisierung der deutschen Ökonomie am Beispiel des Woh-        Joseph: Kapital und Ressentiment, München 2021. Mehr als 100 Jahre zuvor nannte Ru-
nungsmarktes, Münster 2020. 4 Exemplarisch für diese Tendenz war die Begleitung der           dolf Hilferding (Das Finanzkapital, Frankfurt a. M. 1968) eine ähnliche Tendenz «organisier-
Fusionsanbahnung durch den regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller. Sie-         ten Kapitalismus», was Lenin in «Monopolkapitalismus» übersetzte (Der Imperialismus als
he Gerhardt, Sebastian: Ein wohlkalkulierter Coup, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin,           höchstes Stadium des Kapitalismus, Lenin: Werke, Bd. 22, Berlin 1960). Wie wir an dem
26.5.2021, unter: www.rosalux.de/news/id/44371/ein-wohlkalkulierter-coup?cHash=83a            Scheitern der Fusion der beiden Wohnungskonzerne sehen, haben die heutigen Konzen-
5053f775af62b200ca93e9ed2936c; Unger, Knut: Die Fusion (der Täuscher). Vonovias «Zu-          trationsprozesse in der deutschen Vermietungswirtschaft die Konkurrenz auf den Finanz-
kunfts- und Sozialpakt Wohnen» im Faktencheck, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin,               anlagemärkten aber noch lange nicht außer Kraft gesetzt, und dafür, dass die Vonovia nach
1.6.2021, unter: www.rosalux.de/news/id/44404/die-fusion-der-taeuscher. 5 Zum Ende            anderen Wohnungsmärkten ausgreift, ist heute auch keine imperialistische Kolonisierung
des ersten Quartals 2021 betrug die Marktkapitalisierung der Vonovia 33 Milliarden Euro.      erforderlich. 15 Das passende Marx-Zitat lautet: «Eine Gesellschaftsformation geht nie
Der Unternehmenswert (Net Asset Value) betrug 36 Milliarden Euro. Der «Verkehrswert»          unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhe-
(Fair Value) der Immobilien belief sich auf 60 Milliarden Euro. Die Vonovia besaß 415.000     re Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedin-
Wohnungen. Quelle: Quartalsberichte der Vonovia SE, unter: investoren.vonovia.de. 6 Der       gungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.» (Marx,
Gesamtbestand der deutschen Wohnungen börsennotierter Unternehmen beträgt nach                Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, Berlin 1952, S. 9) 16 Verhandlungen
meiner Übersicht etwa 950.000 Wohnungen. Zusammen mit den Beständen von Fonds                 der Sozialisierungs-Kommission über die Neuregelung des Wohnungswesens, Berlin
sind es nach meiner Schätzung mindestens 1,2 Millionen Wohnungen, die sich direkt im          1921. 17 Novy, Klaus: Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion der Wirtschaftsreform
Eigentum von Kaptalanlagevehikeln befinden. Selberverständlich nehmen Finanzmarktak-          in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M./New York 1978. 18 Brückner, Martin Lars: So-
teure darüber hinaus über Kredite, den Grundstückshandel, das Development, die Ratin-         zialisierung in Deutschland, München 2013. 19 Hömig, Dieter: Grundgesetz für die Bun-
gagenturen und Technologien Einfluss auf die Wohnungsmärkte. 7 Die Vonovia besitzt            derepublik Deutschland, Baden-Baden 2013, Artikel 15, Rn.1. 20 Artikel 11.1 des Interna-
in Österreich durch Übernahmen von Conwert SE (2017) und BUWOG AG (2018) knapp                tional Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (1966) unter: ohchr.org/EN/
22.000 Mietwohnungen. Mit der BUWOG AG hatte sie zugleich einen größeren Developer            ProfessionalInterest/Pages/CESCR.aspx; General comment No. 4: The right to adequate
erworben. In Schweden kaufte die Vonovia im Jahr 2018 das börsennotierte Wohnungs-            housing (1991), unter: tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/treatybodyexternal/Download.
unternehmen Victoria Park und im Jahr 2019 Hembla von dem Vermögensverwalter Black-           aspx?symbolno=INT/CESCR/GEC/4759&Lang=en. 21 BVerfGE 89, 1: «Der Eigentums-
stone. Mit über 38.000 Wohnungen in Schweden gilt Vonovia als Marktführer der privaten        schutz des Mieters unterscheidet sich in seiner Struktur nicht von demjenigen des Vermie-
Wohnungswirtschaft. Sie ist in wichtigen Gremien vertreten, die auch Einfluss auf die         ters und Eigentümers.» 22 Hömig: Grundgesetz, Art. 15, Rn. 6. 23 Brede, Helmut/Ko-
Wohnungspolitik haben. 8 In Frankreich ist die Vonovia SE im Jahr 2017 eine Partner-          haupt, Bernhard/Kujath, Hans-Joachim: Ökonomische und politische Determinanten der
schaft mit dem Großvermieter SNI eingegangen, die vor allem dem «Wissensaustausch»            Wohnungsversorgung, Frankfurt a. M. 1975. 24 Siehe u. a. Pistor, Katharina: Der Code
dienen soll, aber sicher auch der Erkundung von Möglichkeiten eines Markteintritts dient.     des Kapitals, Berlin 2020. 25 Dies war schon in den 1920er Jahren ein globales Phänomen.
Vonovia hofft auf eine Liberalisierung des Investitionszugangs zu dem riesigen öffentlichen   Siehe Fogelson, Robert M.: The Great Rent Wars, New York 1917–1929, New Haven 2013;
Wohnungsbestand in Frankreich. Siehe Vonovia: Nach Corona bessere Chancen für Frank-          Grant, Andrew: Revolution in the Street: Women, Workers, and Urban Protest in Veracruz,
reich-Einstieg, in: Die Welt, 16.6.2020, unter: www.welt.de/regionales/nrw/artic-             1870–1927, Lanham 2001. 26 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021,
le209664763/Vonovia-Nach-Corona-bessere-Chancen-fuer-Frankreich-Einstieg.ht-                  1 BvR 2656/18: «Die Schonung künftiger Freiheit verlangt auch, den Übergang zu Kli-
ml. 9 Im Jahr 2020 ist Vonovia mit 2,6 Prozent in den niederländischen Vesteda                maneutralität rechtzeitig einzuleiten.» 27 Bundestagsdrucksache 19/17307, 20.2.2020,
Residential Fund eingestiegen. Auch hier geht es der Vonovia um die Schaffung einer Aus-      unter: dserver.bundestag.de/btd/19/173/1917307.pdf. 28 MieterAKTIONärIn: Vonovia &
gangsposition für die Wahrnehmung von Aufkaufgelegenheiten. Siehe Vonovia SE: Vono-           LEG: Von jedem Euro Miete sollen 37–41 Cent als Dividende an die Aktionäre ausgeschüt-
via steigt bei niederländischer Vesteda ein, Pressemitteilung vom 26.6.2020, unter: presse.   tet werden, 10.3.2020, unter: mieteraktionärin.de/vonovia-leg-von-jedem-euro-miete-sol-
vonovia.de/de-de/aktuelles/200626-vonovia-erwirbt-anteil-an-niederlaendischer-vesteda.        len-37-41-cent-als-dividende-an-die-aktionaere-ausgeschuettet-werden/.

                                                                                              IMPRESSUM
                                                                                              STANDPUNKTE 5/2021 erscheint online
                                                                                              und wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
                                                                                              V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein
                                                                                              Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de
                                                                                              ISSN 1867-3171
                                                                                              Redaktionsschluss: Juli 2021
                                                                                              Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
                                                                                              Satz/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation

                                                                                              Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit
                                                                                              der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie wird kostenlos abgegeben
                                                                                              und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
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