Die Kraft des Ensembles - Swiss Historic Hotels
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Themenheft von Hochparterre, März 2018 Die Kraft des Ensembles Der Umbau des ‹ Hirschen › in Oberstammheim macht die Bau- und die Familiengeschichte des Gastbetriebs im Zürcher Weinland sichtbar. Architektur, Denkmalschutz und neue Nutzungen bedingen sich. 01_32_TH_Hirschen_Cover.indd 3 12.02.18 09:32
Wer in einem der drei historischen Zimmer im ‹ Hirschen › nächtigt, macht auch eine Reise in die Hochblüte des Zürcher Bürgertums. 02-03_TH_Hirschen_Inhalt_Edi.indd 2 12.02.18 09:33
Editorial Erhalten, pflegen, weiterentwickeln Die Europäische Union hat 2018 zum Jahr des Kulturerbes ausgerufen. Kulturerbe nehmen wir von klein auf oft un- bewusst etwa über Traditionen, Kunst, Gebäude, Land- Inhalt schaften, Musik, Essen oder Handwerk auf. Es muss al- lerdings aktiv erhalten, gepflegt und weiterentwickelt 4 Häuser liebhaben werden, denn oft wird es erst wahrgenommen, wenn es für Der Gasthof prägt das Ensemble, doch was tun mit den fünf weiteren immer verschwunden ist. Der Umbau des ‹ Hirschen ›-En- Gebäuden ? Bauherr und Architekt entschieden sich fürs Weiterbauen. sembles in Oberstammheim im Kanton Zürich, dem dieses Heft gewidmet ist, zeigt den beispielhaften Umgang mit ei- 10 Altes Geld und neuer Geist nem privaten Baukulturerbe. Die sechs denkmalgeschütz- Denkmalpflege und Ortsbildschutz können sich auch finanziell ten Gebäude, die das historische Ensemble bilden und die lohnen. Die unternehmerische Erneuerung eines Ensembles. nationale Bedeutung im Schweizer Ortsbildschutzinven- tar ISOS geniessen, wurden über mehr als 300 Jahre erhal- 14 « Es brauchte vor dem Umbau ten, gepflegt und nun in einen zeitgemässen Gastbetrieb ein Gesamtkonzept » weiterentwickelt. Das Haupthaus, ein prächtiger Riegel- Warum kann es sich lohnen, ein Haus unter Schutz zu stellen ? bau, wurde 1684 von Johannes Wehrli-Etzwiler erbaut. Nun Ein Gespräch mit vier Experten. haben seine Nachkommen das seit der Erstellung um fünf Bauten gewachsene Ensemble um- und ausgebaut. 18 Eine Haus- und Familiengeschichte Nicht Neubau war ihr Thema, sondern sanftes Weiter- Die Familie Wehrli hat Stammheim als Amtmänner, Richter, bauen. Das Resultat: Der Umbau und die Sanierung zei- Landschreiber, Vögte und Müller geprägt. gen beispielhaft das Zusammenspiel von Architektur und Denkmalpflege, orchestriert mit wirtschaftlichem Gespür 20 « Da, wos git » und auch Mut zur Lücke. Das vorliegende Themenheft be- Der Grundsatz, mit Produzenten aus der Nähe zusammenzuarbeiten, leuchtet das ‹ Hirschen ›-Ensemble aus unterschiedlichen bestimmt das Angebot von Wirt Mirco Schumacher. Perspektiven: Im Gespräch diskutieren Experten die Rolle historischer Ensembles im Hinterland des Kantons und 26 ‹ Hirschen › und Menschen betonen die Wichtigkeit eines Gesamtkonzepts vor Bau- Was den Gemeindepräsidenten, die Gastgeber, einen Stammgast beginn. Der Text ‹ Häuser liebhaben › erzählt entlang der und den Theaterleiter mit dem Gastbetrieb verbindet. drei grossen Prämissen der Bauherrschaft – kein fixes Raumprogramm, kein maximaler Ausbau, kein Neubau – die Geschichte des Umbaus nach. Der Text ‹ Altes Geld und neuer Geist › erklärt, wie und warum sich Denkmal- pflege und Ortsbildschutz auch finanziell lohnen können. Der historische Text zum Ensemble zeigt, wie nah Famili- en- und Baugeschichte zusammenkommen. Und schliess- lich erzählt der Text ‹ Da, wos git › vom ‹ Hirschen › als Haus, in dem Gastfreundschaft grossgeschrieben wird. Fotogra- fiert hat das Ensemble und seine Innen- und Aussenräume die Zürcher Fotografin Désirée Good. Roderick Hönig Impressum Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon 044 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag@hochparterre.ch, redaktion@hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor Köbi Gantenbein Verlagsleiterin Susanne von Arx Konzept und Redaktion Roderick Hönig Fotografie Désirée Good, www.desireegood.ch, und Marion Nitsch, www.nitsch.ch Art Direction Antje Reineck Layout Barbara Schrag Produktion Daniel Bernet, René Hornung Korrektorat Elisabeth Sele, Dominik Süess Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Somedia Production, Chur Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Familie Fritz Wehrli-Schindler Bestellen shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 10.— Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Inhalt 3 02-03_TH_Hirschen_Inhalt_Edi.indd 3 12.02.18 09:33
Das ‹ Hirschen ›-Ensemble aus der Luft. Foto: Raini Sicher Häuser liebhaben Der Gasthof ist die Perle des Ensembles, doch dazu gehören An einen Neubau haben sie keinen Gedanken verloren. fünf weitere Gebäude. Was tun mit ihnen ? Was nicht ? Vielleicht wäre er aus betrieblichen Gründen besser ge- Bauherr und Architekt entschieden sich fürs Weiterbauen. wesen, vielleicht hätte er weniger gekostet als alle Um- bauten zusammen. Aber warum neu, wenn genug Häuser Text: Es ist die Geschichte zweier Häuser-Liebhaber, die sich dastehen, mit denen man etwas anzufangen wusste ? Nicht Ivo Bösch gefunden haben. Max Dell’Ava hatte sich nach seinem einmal einen Anbau brauchte das Ensemble, trotz Ver- Architekturstudium 1990 fast nur mit Umbauten beschäf- doppelung des geheizten Volumens. tigt, seit 1997 in Partnerschaft mit Pierre-Yves Rünzi unter Erst nachdem der Architekt die Häuser genau unter- dem Namen d / a / x Atelier für Architektur. Und Bauherr sucht hatte, wurde es konkret. Die Ausbauten sind ein Fritz Wehrli, der in den 1980er-Jahren mit dem Architek Resultat aus Bedürfnissen des Gastbetriebs, finanziellen ten Pierre Zoelly die Mühle Tiefenbrunnen in Zürich um- Möglichkeiten, baulichen Vorgaben und der Liebhaberei gebaut hatte und aktives Mitglied bei Domus Antiqua Hel- des Besitzers. Wieso sonst einen neuen Pferdestall für vetica ist, der Vereinigung der Eigentümer historischer Gäste oder die ‹ Hirschenbühne › auf einem Heuboden ein- Wohnbauten, übergab seine Unternehmen den Söhnen richten ? Am Ende greift ein Rad ins andere. So ist etwa und fand damit Zeit, « reinen Tisch » zu machen, wie er der neue Kulturraum sowohl ‹ Hirschenbühne › als auch sagt, um das ‹ Hirschen ›-Ensemble in einem akzeptablen Bankettraum. Der neue Raum im ehemaligen Stall war zu Zustand der nächsten Generation zu übergeben. Wäh- Beginn der Planung fürs Frühstück gedacht, heute dient rend zweier Jahre trafen sich die zwei mindestens einmal er auch als Foyer und sogar als Seminarraum. Die Nutzun- pro Woche in Oberstammheim. Der Unterhalt, das gibt gen befruchten sich gegenseitig – ein unternehmerischer der Eigentümer gerne zu, war etwas « hinter der Zeit ». Er Trick, der zum baulichen Bestand passt. musste handeln. Einen Architekturwettbewerb wollte er nicht durchführen. Lieber sollte der Architekt ein Gesel- Frei lassen war die zweite gute Tat lenstück fertigen. Die Familie Wehrli beauftragte ihn, eine Nicht jeder Raum, nicht jedes freie Volumen muss kleine, private Sommerküche in einem ehemaligen Stall- ausgebaut sein. Das ist ein Fehler, der häufig während anbau einzurichten. Dell’Ava legte sich so ins Zeug, dass der Renovation von historischen Häusern begangen wird. die Familie damit mehr als zufrieden war. Nun durfte sich In Oberstammheim liess man die Trotte Trotte sein. Um der Architekt dem ganzen Ensemble widmen. dieses Haus, so die erklärte Absicht von Fritz Wehrli, soll sich die nächste Generation kümmern. Gut so, denn man Räume sind, wie sie waren weiss nicht, was der ‹ Hirschen › in Zukunft noch benötigen Am Anfang gab es kein Raumprogramm – das war die wird. Nebenbei trägt der Originalzustand zur besonde- grosse Chance und die erste gute Tat. Denn zu viele his- ren Atmosphäre rundum bei: echte Patina statt zu Tode torische Gebäude wurden in den letzten Jahrzehnten zer- renovierte Fassaden. Auch die Scheune und der Stall sind stört, weil ungeeignete oder zu grosse Nutzungen darin nur teilweise ausgebaut, was aber nicht heisst, dass die Platz finden mussten. Bauherr Wehrli war dagegen bereit, unbeheizten Räume nicht als Lager genutzt werden. Es sich auf seine sechs Gebäude in Stammheim einzulassen. ist einfach aufgeräumter als früher. Alle gefundenen und Und plötzlich bekam er Freiheiten statt Sachzwänge. Es nicht mehr gebrauchten Bauteile, wie alte Türen, sind säu- war zwar klar, dass man den Gasthof irgendwie erweitern berlich sortiert. Auch wenn klar ist, dass ein Totalausbau wollte, doch war zum Beispiel die Anzahl der Gästezimmer der riesigen Scheune die finanziellen Möglichkeiten ge- nicht vorgegeben. Auch Architekt Dell’Ava entwarf eisern sprengt hätte, entschied sich Wehrli bewusst und aus lang- nach dem Grundsatz « nur, was die Häuser hergeben ». fristigen Überlegungen, nicht alles auszubauen. → 4 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Häuser liebhaben 04-09_TH_Hirschen_Renovation.indd 4 12.02.18 09:33
A E 1 B 1 C 1 F D 2 G 3 H 3 3 4 5 Situation A Haus Wyttenbach B Scheune C ‹ Hirschen › D Haus Graf E Trotte F Stall G ehemaliges Amtshaus 6 H Landschreiberei Renovation ‹ Hirschen ›- Ensemble, 2017 Steigstrasse 4, Oberstammheim ZH Bauherrschaft: Fritz Wehrli, Zürich Architektur / Bauleitung: d / a / x Atelier für Architektur, Zürich Auftragsart: Direktauftrag Bauingenieure: Kifa, Aadorf ; SJB Kempter Fitze, Situationsplan und Grundriss 1. Obergeschoss. Frauenfeld Elektroingenieure: Elektro Stammertal, Oberstammheim HLK und Sanitär: Novus Engineering, Frauenfeld 7 Bauphysik und Akustik: 1 BWS, Winterthur Beratung Baumeister 8 arbeiten: Walter Messmer, 1 Wilen bei Neunforn 9 Baukosten: Fr. 5 Mio. 10 11 1 neue Gästezimmer 2 Personalgarderobe 11 3 historische 11 Gästezimmer 12 se 11 15 4 Wehrlistube as 5 Bibliothek str 11 eig 13 16 6 Hirschenbühne St 7 Seminarraum 14 8 Küche 9 Wyttenbachstube 17 10 Wäscherei Ha up 11 Pferdeboxen tst ras 12 Heizung se 13 Pelletlager 14 Gaststube 15 Hirschenstube 16 Jägerstübli 17 Küche 18 18 Frühstücksraum, Foyer, Seminar- oder Bankettraum Nu ssb g om rwe me rw rne eg Ho Situationsplan und Grundriss Erdgeschoss. 0 5 10 m Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Häuser liebhaben 5 04-09_TH_Hirschen_Renovation.indd 5 12.02.18 09:33
Drei neue Hotelzimmer liegen im Obergeschoss des Hauses Wyttenbach. Das Flechtwerk im gemeinsamen Treppenhaus stammt aus der Bauzeit des Hauses ( 1557 ). 6 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Häuser liebhaben 04-09_TH_Hirschen_Renovation.indd 6 12.02.18 09:33
Vom Heuboden zur ‹ Hirschenbühne ›: Eine neue Glasfassade hinter der Riegelkonstruktion macht den Theater- und Bankettsaal winterfest, unbehandelte Grobspanplatten an Wand und Decke sorgen für gute Akustik. → Die dritte gute Tat war das Weiterbauen. Die Kontrast Die Strategie hat in den sechs Gebäuden zu unterschied- architektur der letzten Jahre ist passé. Die Architektin lichen Lösungen geführt. Es macht eben doch einen gros nen und Architekten von heute haben erkannt, dass man sen Unterschied, ob man im historischen Gasthaus Hir- nicht jedes neue Bauteil in einem historischen Haus so- schen eine neue Gastroküche einbauen und um jeden fort erkennen muss. Die an sich löbliche Absicht, das Alte Zentimeter kämpfen muss, oder ob man im baufälligen zu schützen, indem man das Neue davon absetzt und es Haus Wyttenbach – einem einfachen Bauernhaus – ein nicht billig imitiert, hat in der Vergangenheit leider auch Quasi-Hotel einrichtet, das alle Brandschutzvorschriften zu absurden Entwürfen geführt. Weiterbauen heisst aber erfüllt und gleichzeitig die aussergewöhnliche Flechtwerk- gleichzeitig nicht, das Neue zu verstecken. Es ist nur nicht wand zeigt. Oder ob man im Stall die Holzkonstruktion mehr so offensichtlich zu erkennen. Zugunsten eines ge- flicken muss oder ein Täfer demontiert, die Wand isoliert samtheitlichen Raumeindrucks ist Weiterbauen selbstver- und es wieder montiert, wie im Haus Wyttenbach. ständlicher geworden. Im ehemaligen Pferdestall traute man sich, eine Wand mit kleinen Backsteinen aufzumau- Pragmatisch und Verzicht auf die grosse Geste ern. Sie sieht auf den ersten Blick aus, als stamme sie aus Wer sich also auf die verschiedenen Häuser einlässt dem 19. Jahrhundert. Wer genau hinschaut, merkt aber, und an ihnen weiterbauen will, landet bei einer – im posi- dass sie neu gebaut ist. Architekt Dell’Ava suchte eher das tiven Sinn gemeinten – pragmatischen Architektur. Wir Ergänzende als das Gegensätzliche. sehen keine grosse architektonische Geste. Kein über- geordnetes Gestaltungskonzept behandelt den ausgebau- Ein stimmiger Flickenteppich ten Stall gleich wie die Scheune. Das ist kein Ort für Archi- Etwas anders war das Vorgehen bei Bauteilen, die es tekturtouristen. Umso interessanter ist es zu entdecken, vor den Umbauten nicht gab. Da suchte das Team – alle warum nun dieses oder jenes Bauteil so aussieht, wie es Entscheidungen seien zusammen mit der Bauherrschaft aussieht. Denn jedes hat eine eigene Geschichte. entwickelt und gefällt worden, beteuert der Architekt – Bleibt die Frage nach dem Ensemble. Gestalterisch nach einem neuen Zugang. Die komplette Verkleidung der haben das Haus Wyttenbach, die Scheune, der ‹ Hirschen ›, ‹ Hirschenbühne › besteht aus sichtbaren Grobspanplatten, die Trotte, das Haus Graf und der Stall wenig gemeinsam. industriellen Bauplatten. Ein konventioneller Schreiner- Sie stammen aus verschiedenen Zeiten, haben verschie- ausbau wäre vielleicht naheliegender gewesen. Doch sie dene Funktionen und sind auch verschieden oder gar nicht entschieden sich für einen neuen Weg. Oder es finden renoviert. Auch der Aussenraum versucht erst gar nicht, sich gemalte Dreiecksmuster auf dem neu gegossenen Ze- alles zu verbinden: hier ein einfacher Kiesplatz als Park- mentbelag im ehemaligen Stall. Sie sind ein Beispiel einer platz vor der Scheune, dort ein Bauerngarten ; vorne so kostengünstigen Veredelung einfacher Materialien, wie etwas wie ein Dorfplatz, hinten die Stimmung eines Obst- wir sie heute im ganzen Ensemble finden. Einfach heisst gartens. Auf den ersten Blick ist auch nicht zu erkennen, nicht immer billig. Der Architekt mag Massivholz, und die was zusammengehört, muss es aber auch nicht. Betrieb- Eichentüren und -fenster lassen einen staunen. Und die lich bilden die Häuser ein Ensemble. Im Zentrum steht der Fenster ! Wir haben es mit zwei selbst erklärten Fensterfa- Gast, und alle Häuser tragen dazu bei, dass er sich wohl natikern zu tun, die keinen Aufwand gescheut haben. fühlt. Es herrscht dörfliche Atmosphäre. ● Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Häuser liebhaben 7 04-09_TH_Hirschen_Renovation.indd 7 12.02.18 09:33
Nur die neuen Fenster deuten den Ausbau an: Hinter der Ziegel-Stirnfassade des Stalls aus dem Jahr 1760 liegt ein neuer Foyer- und Frühstücksraum im Erdgeschoss, der ehemalige Heuboden darüber ist Bankettsaal und Bühne geworden. 8 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Häuser liebhaben 04-09_TH_Hirschen_Renovation.indd 8 12.02.18 09:33
Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Häuser liebhaben 9 04-09_TH_Hirschen_Renovation.indd 9 12.02.18 09:33
4 1 2 6 3 5 1 Haus Wyttenbach 2 Scheune ( 1685 ) 3 Trotte mit Schmitte 4 ‹ Hirschen › ( 1684 ) 5 Haus Graf ( 1777 ) 6 Stall ( 1760 ) ( 1557 ) – Einbau Wäscherei ( 1686 ) – Fassadenrenovation –T eilrenovation Holzfassade – Ausbau des Heubodens – Gesamtrenovation – Einbau Personalgarderobe –F assadenreparatur – neue Gastroküche im zum Bankettsaal – Einbau von Gästezimmern – Lager Untergeschoss und zur ‹ Hirschenbühne › mit einem Seminar- – zentrale Pelletheizung – Tageslager – Einbau hindernisfreier und Aufenthaltsraum, – Pferdestall für Gäste Toiletten im Erdgeschoss Stube, Küche – Kiesparkplatz – Foyer und Bankett- / – Ausbau und Gestaltung Frühstücksraum im Bauerngarten Erdgeschoss Altes Geld und neuer Geist Denkmalpflege und Ortsbildschutz können sich auch genutzten Areal. Vor einigen Jahren übergab er seinen finanziell lohnen. Die unternehmerische Erneuerung Söhnen die Geschäfte und behielt nur das ‹ Hirschen ›- des Ensembles in Oberstammheim zeigt, wie es geht. Ensemble, das er seit den 1970er-Jahren nebenbei führte. Am achteckigen Barockbrunnen an der Strassenkreu Text: Reben und Wiesen bedecken den Fuss des Stammerbergs zung vor dem ‹ Hirschen › kommt er zur Sache: « Beim in Palle Petersen im Zürcher Weinland. Vorgelagert, auf dem kleinen Hügel tegralen Ortsbildschutz hat die Schweiz in den letzten rücken ‹ Chilebückli ›, liegt die karolingische Galluskappel Jahrzehnten viel gesündigt », sagt Wehrli, « dabei ist dieser le und blickt auf die fruchtbare Ebene des Stammertals mindestens so wichtig wie der Denkmalschutz einzelner und den historischen Kern Oberstammheims. Wegen gut Objekte. » Hier spricht ein Bürgerlicher alter Schule. Aus erhaltener bäuerlicher Bausubstanz und qualitätsvollen Überzeugung positionierte er den ‹ Hirschen › schon länger Fachwerkbauten attestiert das Schweizer Ortsbildschutz als historischen Gasthof. 2014 prämierte der internatio inventar ISOS dem Dorf nationale Bedeutung. nale Rat für Denkmäler und historische Stätten, ICOMOS, « Das Weinland ist intakt », schwärmt ‹ Hirschen ›-Pa den Gasthof als ‹ Historisches Hotel des Jahres ›. « Schlag tron Fritz Wehrli und erzählt von Kindheitserinnerungen in artig stieg der Umsatz um 25 Prozent », sagt Wehrli und ‹ Stamme ›, vom Spielen und Reiten in der Umgebung, von spricht über Denkmalschutz als Alleinstellungsmerkmal. Familienstolz. Über zehn Generationen prägten die Wehr Man müsse angesichts der dreimal günstigeren Hotelzim lis den Ort als Vögte und Landschreiber. In den 1680er- mer im nahen Süddeutschland etwas Besonderes bieten. Jahren bauten sie das Kernensemble mit dem ‹ Hirschen ›, der Scheune und der Trotte. Achtzig Jahre später kam Reif für den Grossumbau eine weitere Scheune und 1777 das Haus Graf als letzter Ungeachtet der Auszeichnung gab es betriebliche Pro Baustein dazu. Zwei wichtige Änderungen für das heuti bleme: Während der ‹ Hirschen › selbst stets gehegt wur ge Ensemble geschahen zwischen 1786 und 1941, als der de, waren die Nebenbauten teils vernachlässigt. Sechs ‹ Hirschen › nicht im Familienbesitz war: Die Residenz wur Hotelzimmer waren betriebswirtschaftlich zu wenig. Aus de zum Gasthof und das Haus Wyttenbach, ein einfaches serdem kamen sich Restaurantbetrieb und grössere Ge Bauernhaus aus dem 16. Jahrhundert, kam hinzu. sellschaften in die Quere, etwa wenn Hochzeitspaare aus der Galluskirche zum Essen kamen. Die Zeit war reif für Historisches Hotel einen Grossumbau. Wehrli ist Unternehmer durch und durch. Erfolgreich « Architekturhistorisch zählt der ‹ Hirschen › zu den Per führte er ein Mühlen- und Backwarenunternehmen und len des Stammertals », sagt Roland Böhmer von der kanto transformierte vor über dreissig Jahren die Mühle Tie nalen Denkmalpflege, « ein prachtvolles Beispiel des regio- fenbrunnen am Zürcher Stadtrand zu einem durchmischt nalen Barocks und einer der schönsten Riegelbauten → 10 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Altes Geld und neuer Geist 10-13_TH_Hirschen_Denkmalpflege.indd 10 12.02.18 09:34
Historisches Zimmer im Haupthaus mit Himmelbett: 2014 zeichnete der internationale Rat für Denk- mäler und historische Stätten den ‹ Hirschen › als ‹ historisches Hotel des Jahres › aus. Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Altes Geld und neuer Geist 11 10-13_TH_Hirschen_Denkmalpflege.indd 11 12.02.18 09:34
Wer im ‹ Hirschen › übernachtet, kann auch ein neues Zimmer mit zeitgenössischem Mobiliar wählen: im Haus Wyttenbach. 12 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Altes Geld und neuer Geist 10-13_TH_Hirschen_Denkmalpflege.indd 12 12.02.18 09:34
Denkmalschutz Ortsbildschutz Heimatschutz Die Bundesinstitutionen nehmen unter an- Das Inventar der schützenswerten Orts Der Schweizerische Heimatschutz ist der derem Stellung zu wichtigen Fragen des bilder der Schweiz ( ISOS ) entstand 1973. zivilgesellschaftliche Partner der Denkmalschutzes und führen eigene In- Seither hat das Bundesamt für Kultur Denkmalpflege. Er besteht seit 1905 als ventare, die zu Beiträgen aus Bundes knapp 6000 Gemeinden analysiert und Dachorganisation von 25 kantonalen töpfen berechtigen. Grundsätzlich aber gut 1200 davon als national bedeutend Sektionen. Als privater Verein ist er in ei- ist Denkmalpflege Sache der Kantone. eingestuft. Darunter auch Ober- und Unter- nigen Kantonen via Verbandsbeschwer Die kantonalen Fachstellen haben sehr stammheim. Die systematischen, vor derecht befugt, gegen Bauvorhaben Ein- unterschiedliche Gesetzesgrundlagen, allem natur- und siedlungsstrukturellen sprache zu erheben. Während er sich Ressourcen und Inventare. Sind Bauwerke Analysen waren lange bloss für die früher vor allem für Denkmäler einsetzte – geschützt, verpflichtet dies die Eigen Bundesbehörden verbindlich. Seit dem etwa Kirchen, Schlösser, Befestigungs tümer zum Erhalt und beim Umbau zum Bundesgerichtsentscheid zu Rüti ZH anlagen und Repräsentationsbauten –, hat sorgfältigen Umgang mit der Bausub im Jahr 2009 wird seine Bedeutung für er sich seit der Professionalisierung und stanz. Als Ausgleich erhalten sie einen Planungs- und Bauprozesse hitzig Verankerung der kantonalen Denkmalpfle- Beitrag an die Kosten für den Erhalt debattiert. Zusammenfassend lässt sich gefachstellen zu einem Anwalt der Bau- bedeutender Bauteile, nicht aber an An- sagen: Das ISOS ist eine qualitative kultur gewandelt. passungen an neue Nutzungen. Der Analyse und eine Art Schutzvermutung. gleiche Mechanismus gilt auch auf Ebene Das Inventar verlangt Redlichkeit im der Gemeinden. Umgang mit dem Bestand und beim Bau- en in seiner Umgebung siehe ‹ Identität pflegen ›, Themenheft von Hochparterre, August 2017. → des Kantons ». Böhmer zeigt auf die mit Rauten- und samt 38 angefragten Stiftungen zahlten nur wenige di Kreuzmustern betonten Fensterbrüstungen und den 1730 rekt, die meisten via die ‹ Hirschen ›-Stiftung. Dazu ka ergänzten Rokokoerker mit kleinteilig-malerischem Fach men mehr als 150 Gönner und die Pflicht, dass sich alle werk und Zwiebeldach. Doch ihn interessiert nicht nur die Beteiligten – Architekt, Fachplaner, Berater, Unternehmer, Substanz, sondern die Geschichte dahinter. Die gewalti Handwerker – mit mindestens je einem Prozent ihrer Auf ge Scheune, « ein Wahnsinnsbau » mit ursprünglich vier tragssumme beteiligen müssen. So kamen 17 Prozent der Stallteilen und zwei Tennen, war bis vor wenigen Jahren Gesamtkosten von Privaten zusammen. Die öffentliche marode und beinahe einsturzgefährdet. Doch ohne sie Hand steuerte insgesamt 20 Prozent bei. Nebst Beiträgen kann man sich das Leben der Patrizier im 17. Jahrhundert an den Denkmalschutz stellte der Kanton Zürich auch hier kaum vorstellen. noch Gelder aus der Programmvereinbarung mit dem Bun Als Fritz Wehrli um 2013 die kantonale Denkmalpfle desamt für Kultur zur Verfügung, das für Massnahmen des ge bat, das ganze Ensemble unter Schutz stellen zu lassen, Ortsbildschutzes vorgesehen ist. rannte er offene Türen ein. « Manche Besitzer historischer Der geschickteste Schachzug war die Gründung des Bauten sehen die Denkmalpflege als Verhinderer und unabhängigen Vereins ‹ Hirschenbühne Stammheim ›. Den Eingriff ins Privateigentum », schüttelt Wehrli den Kopf, neuen Bankettsaal in der Scheune auch kulturell zu nut « ich habe sie vielmehr als Partner und Berater erlebt. » zen, steigert erstens die Auslastung. Zweitens liessen sich Tatsächlich: Ist ein Gebäude geschützt, kann man nicht dadurch weitere Kreise potenzieller Unterstützer anspre mehr beliebig damit umgehen. Man ist zum respektvollen chen, nämlich jene, die sich nicht für Kulturgutschutz ein Umgang verpflichtet, im Gegenzug beteiligt sich die Denk setzen, sondern für lebendige Kultur. Dank der ‹ Hirschen malpflege am Substanzerhalt mit bis zu dreissig Prozent. bühne › unterstützten verschiedene Kulturstiftungen und Das betrifft vor allem die Gebäudestatik und die Fassa der Lotteriefonds den Umbau. Das Beste daran: Viele Gäs den, aber auch Öfen, Türrahmen, Bodenbeläge und der te nehmen den Theaterteller vor der Vorstellung und das gleichen. In besonderen Fällen – etwa bei der mit Flecht Weinglas danach. So geht ‹ cross selling ›. werk ausgefachten Riegelwand im Haus Wyttenbach – sind noch höhere Beiträge möglich. Doch alle betrieblichen Vom Wehrli zum Fritz Eingriffe – etwa die neue Gastroküche im ‹ Hirschen ›, Ein « Kulturgutschutz und Kulturförderung müssen kein bau und Ausstattung von Hotelzimmern und -bädern oder Mäzenatentum sein, sie können sich unternehmerisch die neue Treppe im Haus Wyttenbach – werden nicht mit lohnen », bilanziert der Bauherr. Freilich: Trotz breiter Un finanziert. Im Gegenteil: Sie sind Zugeständnisse der terstützung blieben rund 63 Prozent der Baukosten beim Denkmalpflege, die damit eine neue Nutzung ermöglicht. Bauherrn. Und was ist mit den laufenden Kosten ? « Ein sol Und Nutzung ist bekanntlich der beste Denkmalpfleger. cher Betrieb kann nie rentabel sein », sagt er, « allerdings ist unsere Wohnung im zweiten Obergeschoss ein schö Geschickte Finanzierung ner Realersatz. » Noch schöner sei aber, was das Projekt Die Baukosten betrugen fünf Millionen Franken. Mög im Dorf bewirkt habe. 91 Prozent des Auftragsvolumens lich war der Umbau nur dank geschickter Finanzierung: gingen an regionale Handwerksbetriebe, und die meisten Weil sich viele Stiftungen im Bereich Denkmalpflege, Kul Gäste der ‹ Hirschenbühne › kommen aus dem Ort und der turgut und Ortsbilder nicht an privaten Vorhaben betei Nachbarschaft. « Mit dem Umbau des ‹ Hirschen › bin ich ligen dürfen, gründete Wehrli die ‹ Stiftung Hirschen-En endlich hier angekommen, daheim und als Gastgeber », semble › als Finanzierungsstiftung unter dem Dach der sagt Wehrli, « und vor allem bin ich nun nicht mehr der steuerbefreiten ‹ Fondation des Fondateurs ›. Von insge Wehrli, der Patrizier aus Zürich, sondern der Fritz. » ● Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Altes Geld und neuer Geist 13 10-13_TH_Hirschen_Denkmalpflege.indd 13 12.02.18 09:34
« Es brauchte vor dem Umbau ein Gesamtkonzept » Welche Rolle spielen geschützte Ortsbilder und Bauten in Gäbe es viele solche Bauherren, wären wir wohl überfor- der Raumplanung ? Und wieso kann es sich lohnen, ein Haus dert. Der ‹ Hirschen › ist aber kein Einzelfall: Immer mehr unter Schutz zu stellen? Vier Experten im Gespräch. Hausbesitzer kommen aus eigenem Antrieb und früh zu uns und suchen den Dialog mit der Denkmalpflege. Interview: Fritz Wehrli, wieso haben Sie das Ensemble Ging es beim Dialog zwischen Denkmalpflege Roderick Hönig unter Schutz stellen lassen ? und Bauherrschaft mehr um inhaltliche oder mehr Fritz Wehrli: Im ‹ Hirschen › ist die Geschichte meiner Fa- um formelle Fragen ? milie gespeichert und ausserdem bin ich verliebt in die Beat Eberschweiler: Zum ‹ Was › herrschte Konsens. Bauherr, Häuser. Die freiwillige Unterschutzstellung soll helfen, Architekt und Denkmalpfleger waren fast immer einer die Häuser so zu bewahren, wie sie sind – für die nächste Meinung. Klar, kam es zu Reibungen, aber nicht zu Kon- Generation, für meine beiden Söhne mit ihren Familien. flikten. Beim ‹ Wie › hätte es für Fritz Wehrli wohl lieber Wilhelm Natrup: Viele empfinden eine Inventarisierung oder noch etwas schneller gehen können. eine Unterschutzstellung als Eingriff ins Eigentum. Tat- Oft heisst es, die Denkmalpflege beschränke das sächlich beschränkt ein solcher Verwaltungsakt das Ei- Eigentum und verkompliziere das Bauen. gentum. Aber die Eigentümer bekommen im Gegenzug ja Geniesst sie zu Unrecht einen schlechten Ruf ? auch professionelle Beratung und finanzielle Unterstüt- Beat Eberschweiler: Ja, weil er auf Gerüchten basiert. Im di- zung. Ein Besitzer muss die zusätzliche Last seines kanto- rekten Kontakt kommt es nur in einem von hundert Fällen nalen Schutzobjektes nicht allein tragen. zu Konflikten, wo ich als Leiter der Denkmalpflege des Wie wichtig waren die Denkmalpflegebeiträge Kantons Zürich moderierend eingreifen muss. Auflagen für Ihren Entscheid ? gibt es ja nicht nur bei Schutzobjekten. Wer heute einen Fritz Wehrli: Die finanzielle Beteiligung und auch die pro- Neubau erstellt, muss nicht weniger Auflagen erfüllen, als fessionelle Betreuung durch die Denkmalpflege waren wenn er ein denkmalgeschütztes Objekt umbaut. eine Bedingung für meinen Entscheid. Ich musste früh Die Denkmalpflege zahlt bis zu dreissig Prozent Gewissheit über die Höhe der Beiträge haben, denn der an den Substanzerhalt eines Schutzobjektes. Umbau fand bei laufendem Gastbetrieb statt. Die öffent- Zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben ? liche Hand steuerte insgesamt 20 Prozent der Baukosten Fritz Wehrli: Das ist genug zum Leben, aber nicht üppig. bei. Die grosse Herausforderung war die Finanzierung Beim ‹ Hirschen › machen die Beiträge der Denkmalpflege, der Lücke zwischen meinen Eigenmitteln und den Beiträ- übers Gesamtprojekt gerechnet, 16 Prozent aus. Einen wei- gen der Denkmalpflege. Denn Stiftungen, die sich für die teren Beitrag an den Unterhalt der sechs Häuser leistet Denkmalpflege engagieren, geben oft keine Beiträge an der Gastbetrieb. Es bleibt ein Defizit, das meine Familie Private. Trotzdem ist es gelungen, rund ein Drittel der Kos- trägt. Diese Summe verstehe ich vor allem als Verpflich- ten durch Private und durch die Denkmalpflege zu finan- tung gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch als eine Art zieren – der ‹ Hirschen › ist ein Public-Private-Partnership- Eigenmietwert unserer Wohnung im ‹ Hirschen ›. Aber klar Projekt, wie es im Buch steht. ist: Auch meine beiden Söhne werden jährliche Rückstel- Wünschen Sie sich, Beat Eberschweiler, lungen machen müssen, um das Haus in Schuss zu halten. mehr solche ‹ Botschafter › der Denkmalpflege ? Der Mehrwert des ‹ Hirschen › liegt nicht in einer Rendite, Beat Eberschweiler: ( lacht ) Ja und nein. Ja, weil Fritz Wehrli sondern im Gastbetrieb in einem historischen Ensemble. schon vor dem Bauprojekt mit uns Kontakt aufgenommen Beat Eberschweiler: Die dreissig Prozent für kantonale und hat. Nein, weil er ein besonders hartnäckiger Bauherr in die zwanzig Prozent für regionale Objekte, die aus dem dem Sinne war, dass er ein unglaubliches Tempo anschlug. Lotteriefonds fliessen, sind für die meisten Fälle eine rea- 14 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — « Es brauchte vor dem Umbau ein Gesamtkonzept » 14-17_TH_Hirschen_Gespraech.indd 14 12.02.18 09:35
listische Grösse. Trotzdem begrüssen wir private Initiati- ven, etwa die des Vereins Domus Antiqua Helvetica, der sich für Steuererleichterungen für Eigentümer einsetzt, die ihre Häuser gut in Schuss halten. Allerdings sind die Beiträge für den Unterhalt eines reich ausgestatteten Bür- gerhauses, bei dem etwa die Stuckaturen erneuert werden müssen, oft zu klein. Doch es gibt einen gewissen Ermes- sensspielraum: In begründeten Einzelfällen gibt es auch höhere Beiträge. Wilhelm Natrup: Das Problem liegt vielmehr bei der Einstu- fung in kantonale, regionale oder kommunale Schutzob- jekte. Denn in der Regel gibt es für die kommunalen von der Gemeinde keine finanzielle Unterstützung. Sie ma- Wilhelm Natrup, Direktor des Amts für Raumplanung des Kantons chen aber den grössten Teil der Objekte aus. Zürich: « Den ‹ Hirschen › nicht nur als Objekt, sondern auch als Ensemble Fritz Wehrli: Tatsächlich sind im Kern von Stammheim fast verstehen. » Fotos: Marion Nitsch alle Gebäude inventarisiert, beitragsberechtigt ist aller dings nur ein Fünftel der Häuser. Die Folge ist, dass Ei- gentümer ihre Häuser nicht unterhalten oder verkaufen. Wenn wir nicht seit 45 Jahren, seit ich den ‹ Hirschen › ver- walte, jedes Jahr ins Haus investiert hätten, wäre das aktu- elle Projekt wohl an den Kosten gescheitert. Max Dell’Ava: Finanzielle Beiträge an solche Projekte er- leichtern uns Architekten den Einbezug von denkmalpfle- gerisch qualifizierten Handwerkern. Diese ermöglichen in beträchtlichem Masse den Weiterbestand wertvoller Bausubstanz und sind so ein unverzichtbares Glied in der Kette des Kulturerbe-Erhalts. Ein grosser Teil der aktu- ellen Investitionen in den ‹ Hirschen › fliesst allerdings in nicht beitragsberechtigte Arbeiten: Haustechnik, Isolation, Brandschutz sind grosse Posten, an die die Denkmalpfle- ge keine Beiträge bezahlt. Schauen wir kurz auf die anderen fünf Häuser: Wäre ein Ersatzneubau, Beat Eberschweiler, oberster Denkmalpfleger des Kantons Zürich: etwa des Hauses Graf, nicht günstiger « Kritische, offene, transparente und konstruktive Zusammenarbeit und effizienter gewesen als der Umbau ? zwischen Behörden, Bauherr und Architekt. » Max Dell’Ava: Sicher ist nicht einfach grundsätzlich gut, was alt ist. Bauen im Bestand erfordert Sorgfalt in einer mehr- schichtigen Analyse und deren Beurteilung, was Mehrauf- wand ist. Wenn man allerdings Neubau und Umbau gegen- einander aufrechnet, darf die räumliche, architektonische oder auch die Materialqualität der historischen Gebäude nicht vergessen gehen. Denn sie gehen verloren, wenn man neu baut. Ein Neubau muss den Verlust des Altbaus mindestens aufwiegen. Oder anders herum: Ein Hausbe- sitzer sollte sich der Seele seines Baudenkmals bewusst sein, bevor er die Entscheidung für einen Neubau trifft. Beat Eberschweiler: Grundsätzlich sollten Bauherren und Architekten bei Schutzobjekten zuerst im Bestehenden denken und planen. Wenn sich beim Umbau eines Schutz objekts zeigt, dass etwa nur der Abbruch wichtiger älterer Teile oder einer früheren Erweiterung den Erhalt des ge- Fritz Wehrli, Bauherr: « Unternehmerisches Nutzungskonzept samten Objekts für die nächsten Generationen möglich vor denkmalpflegerischer Umsetzung. » macht und neue Qualitäten schafft, dann ist auch die Denkmalpflege sehr daran interessiert, gemeinsam eine gute Lösung zu finden. Fritz Wehrli: Für mich war klar, dass wir nicht neu bauen. Weil wir nicht durften, aber auch, weil der Wind in der Gas- tronomie in den letzten Jahren gedreht hat. 2014 wurde der ‹ Hirschen › zum ‹ Historischen Hotel des Jahres › gekürt. Der Preis hat dem Gasthaus einen beachtlichen Umsatz- schub gebracht und mich gleichzeitig in meiner Haltung bestärkt, dass das Historische seinen Wert hat und zum Umsatz beiträgt. Welchen Einfluss hat die Nutzung bei der Sanierung eines Schutzobjektes ? Fritz Wehrli: Einen grossen. Es brauchte vor dem Umbau in erster Linie ein wirtschaftliches Gesamtkonzept. Die Theaterbühne ist das beste Beispiel dafür: Sie fördert → Max Dell’Ava, Architekt: « Zum Team gehören auch die Unternehmer. » Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — « Es brauchte vor dem Umbau ein Gesamtkonzept » 15 14-17_TH_Hirschen_Gespraech.indd 15 12.02.18 09:35
→ die Ausstrahlung des Gastbetriebs, macht den ‹ Hir- Vor 32 Jahren haben Sie die Mühle schen › zum kulturellen Zentrum des Stammertals. Dabei Tiefenbrunnen in Zürich in ein Kultur- und war auch die Denkmalpflege gefordert: Sie musste Ver- Gewerbezentrum umgenutzt, nun das ständnis für diese Nutzung entwickeln und dann auch ‹ Hirschen ›-Ensemble. Einmal eine städtische, bauliche Konzessionen eingehen. Klar ist: Wäre es nicht das andere Mal eine ländliche Brache. möglich gewesen, den Gastbetrieb auszubauen, wäre das Was verbindet die beiden Projekte ? Haus für mich und meine Familie mittelfristig nicht mehr Fritz Wehrli: Das gesamtheitlich gedachte und geplante tragbar gewesen. Der Gastbetrieb gibt dem Ensemble Projekt sowie die skeptische Haltung meines Umfelds. eine sehr wichtige Zukunft. Viele haben mir damals deutlich abgeraten, in die Mühle Max Dell’Ava: Der Architekt spielt eine wichtige Rolle als Tiefenbrunnen auch noch ein Theater, ein Museum und Vermittler der Baukultur. Er hat noch vor den ersten Pla- ein Restaurant einzuplanen. Das sei der Untergang des nungsleistungen die Aufgabe, Eigentümer auf die Qualitä- Projekts, sagten sie. Heute kann ich sagen, dass der Nut- ten seines Hauses aufmerksam zu machen. Was ist schon zungsmix die Mühle nicht nur attraktiv macht, sondern da, was könnte ergänzt werden ? Wer sich diese Fragen auch markenbildend wirkt. Deshalb gibt es jetzt auch im rechtzeitig stellt, kommt gar nicht erst auf die Idee, in ein ‹ Hirschen › eine Bühne, und sie ist seit ihrer Öffnung fast historisches Haus Lofts einzubauen, nur weil diese heute immer ausgebucht. gefragt sind. Man muss auch nicht alle Reserven sofort Die städtischen Industriebrachen sind ausbauen, das nimmt den Druck von einer potenziellen mehr oder weniger überbaut oder Übernutzung eines Gebäudes. mindestens verplant. Steigt der Druck Welche Rolle spielt das Stammertal und jetzt auf ländliche Brachen ? das ‹ Hirschen ›-Ensemble für Beat Eberschweiler: Die historischen Industrieliegenschaf- die Raumplanung des Kantons Zürich ? ten, etwa im Zürcher Oberland, sind schon lange ein The- Wilhelm Natrup: Das Stammertal hat innerhalb des Weinlan- ma bei uns. Noch ist allerdings dort der Druck nicht so des eine hohe eigene Identität. Die Ortsbilder der Gemein- hoch wie in der Stadt. Ein nächstes grosses Thema wird den Ober- und Unterstammheim sowie Waltalingen, die die künftige Umnutzung von Kirchen und kirchlichen Lie- 2017 eine Fusion beschlossen haben, sind herausragende genschaften sein. Beispiele der Baukultur. Gemeinden, die über besonde- Wilhelm Natrup: Auf dem Land gibt es viele historische In- re Ortsbilder verfügen, unterstützen wir mit Mitteln aus dustriebauten, die ausserhalb der Dorfkerne stehen. Diese dem Ortsbildschutz. Wichtig ist die Vielfalt – der Kanton Ausgangslage stellt raumplanerische Fragen, auf die wir besteht ja nicht nur aus Zürich und Winterthur. Die Orts- noch keine guten Antworten haben. Denn meist kommt bilder im Weinland unterscheiden sich sehr von anderen nur Wohnen als neue Nutzung infrage. Dazu kommt, dass Regionen, etwa von denjenigen des Oberlandes. Diese Dif- Eigentümer eines Industriegebäudes, das kein Schutzob- ferenz und Vielfalt ist eine Qualität, die es zu pflegen und jekt ist, oft viel Volumen, aber wenig Mittel haben. zu erhalten gilt. Das Amt für Raumentwicklung, das ARE, Nochmals zurück zum ‹ Hirschen ›: hat aber über die Kernzonen hinaus keine Eingriffsmög- Wo ist der denkmalpflegerische Umgang lichkeiten. Es gibt keinen Gesetzesauftrag für eine, sagen mit diesem Ensemble vorbildlich? wir mal, umfassende städtebauliche Ortsbildentwicklung. Fritz Wehrli: Im unternehmerischen Nutzungskonzept, das Wir können nur beraten. Ich wünschte mir deshalb, dass vor der denkmalpflegerischen Umsetzung stand. Zwei- die Gemeinden dieselbe Verantwortung und Sorgfalt bei tens: In der Abstimmung mit meinen Nachkommen. Wenn Erweiterungen an den Tag legen, mit denen sie ihre Orts- ich den ‹ Hirschen › im Alleingang nach nur meinen eige- bilder pflegen. Auch Ortserweiterungen sollten kompakt nen Vorstellungen saniert hätte, würde er vielleicht für bleiben. An sie müssen ebenso hohe Gestaltungsanforde- die nächste Generation mehr Last als Lust. rungen gestellt werden wie in den bestehenden Ortsteilen. Beat Eberschweiler: In der kritischen, offenen, transparen- Braucht die Schweiz mehr ten und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Behör- städtebauliche Denkmalpflege ? den, Bauherr und Architekt. Beide Seiten waren ergeb- Beat Eberschweiler: Die Abteilung Denkmalpflege war vor nisoffen. Das Resultat zeigt deshalb viele Gewinner: Die elf Jahren noch dem Hochbauamt angegliedert. Heute Sanierung bringt dem Unternehmer, dem Dorf, der Denk- sind wir Teil des ARE, und ich sage mit Überzeugung, dass malpflege und dem Haus etwas. wir an der richtigen Stelle sind, denn im Amt für Raument- Wilhelm Natrup: Wegweisend ist, dass Fritz Wehrli den ‹ Hir- wicklung werden die Weichen für die räumliche Entwick- schen › nicht nur als Objekt, sondern auch als Ensemble lung des Kantons gestellt. Die Denkmalpflege ist also von verstanden hat. Anfang an dabei und muss nicht – wie früher – von einem Max Dell’Ava: Im Team, das wir schon frühzeitig gebildet anderen Amt aus Stellung zu bestimmten Prozessen und haben. Zum Team gehören für mich auch die Unterneh- Entscheidungen nehmen. mer. Wir haben uns sehr viel Zeit genommen, die einzel- Eine komplizierte Verwaltungsstruktur sorgt dafür, nen Firmen auszuwählen. Denn wir waren auf hochwertige dass ein Besitzer eines Schutzobjektes Handwerksarbeit angewiesen. Selbstverständlich musste mit vielen verschiedenen Stellen zu tun hat, der Preis stimmen, doch nicht der Günstigste bekam den wenn er sein Gebäude umbauen will. Auftrag. Und weil rund 90 Prozent der Unternehmen aus Das ist für einen Bauherren nicht gerade attraktiv. der Region kamen, konnten sie eine Beziehung zum Ob- Wilhelm Natrup: Ich gebe zu: Die Verwaltungsorganisation jekt aufbauen. ist für Aussenstehende kaum zu durchblicken, hat aber Und was kommt jetzt ? Konsequenzen für den Eigentümer. Wir haben uns des- Was macht der emsige Fritz Wehrli, halb so organisiert, dass Fritz Wehrli nur einen Ansprech- nachdem die Sanierung abgeschlossen partner im Amt hatte. Der musste dann die unterschied- ist und er seine Unternehmungen lichen Fragen an die verschiedenen Stellen weiterleiten. an seine Söhne weitergegeben hat ? Diese projektspezifische Organisation auf unserer Seite Fritz Wehrli: Ich werde mit dem ältesten meiner drei Enkel konnten wir dank der frühen Kontaktaufnahme des Bau- ein Kinderbuch für die beiden kleineren Enkel zeichnen. herrn gut einrichten. Darin geht es natürlich um den ‹ Hirschen ›. ● 16 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — « Es brauchte vor dem Umbau ein Gesamtkonzept » 14-17_TH_Hirschen_Gespraech.indd 16 12.02.18 09:35
Das Haus Wyttenbach mit den neuen Gästezimmern ist der älteste Bau des Ensembles. In der Scheune ( rechts ) ist Platz für eine Wäscherei und Personalgarderoben. Ferien im Baudenkmal: Im Haus Wyttenbach liegen im Erdgeschoss eine Ferienwohnung mit Küche, Stube und Schlafzimmer, daneben der Seminarraum, darüber vier weitere neue Gästezimmer. Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — « Es brauchte vor dem Umbau ein Gesamtkonzept » 17 14-17_TH_Hirschen_Gespraech.indd 17 12.02.18 09:35
1945 erschien eine Pro-Patria-Marke zum ‹ Hirschen ›. Spätestens damit wurde das Haus zum nationalen Kulturgut. Eine Haus- und Familiengeschichte Der imposante Riegelbau von 1684 erzählt die Geschichte Generation sanktgallischer Amtmann in Stammheim. Die der Familie Wehrli. Sie haben Stammheim als Amtmänner, Familie besetzte diesen Posten von 1599 bis ins 19. Jahr Richter, Landschreiber, Vögte und Müller geprägt. hundert. In erster Linie musste dieser bäuerliche Abga ben und den Zehnt einziehen, sachgemäss lagern und Text: Als « Bautyp zwischen Herrensitz und Bauernhaus » nimmt dann verkaufen oder an die Abtei liefern. Dafür bezog er Peter Niederhäuser der ‹ Hirschen › in der ländlichen Baukultur eine Sonder eine anteilmässige Entschädigung, bewohnte das Amts stellung ein, schreibt der Kunsthistoriker Richard Zürcher haus gegenüber dem heutigen ‹ Hirschen › am Hornerweg in seinem Buch über die künstlerische Kultur im Kan und erhielt Ländereien zur Selbstversorgung. Die Wehr ton Zürich. Die exponierte Lage am Dorfrand von Ober lis hatten zwar das Bürgerrecht von Zürich, lebten aber stammheim – gegenüber der nicht weniger markanten weitgehend auf dem Land und sicherten sich dort – auch ehemaligen Landschreiberei – betont den herrschaftli dank ihrem quasi erblichen Amt – Autorität, Einfluss und chen Charakter eines Gebäudes, das spätestens seit dem Einkünfte. Hans Wehrlis Bruder, Hans Georg, übernahm Erscheinen der Pro-Patria-Marke von 1945 zum nationalen wenig später das Amt eines Landschreibers und konnte Kulturgut zählt. Unmittelbar vor Erscheinen der Marke ge in die Landschreiberei schräg gegenüber dem ‹ Hirschen › langte der ‹ Hirschen › nach zahlreichen Besitzerwechseln einziehen. Ein weiterer Bruder, Hans Peter, war Talmüller, wieder in die Hände der Erbauerfamilie zurück. Anfang was die ungewöhnliche regionale Stellung der Familie um 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, erwarben der Fabrikant das Jahr 1700 unterstreicht. Hans Wehrli-Brunner, der Müller Heinrich Wehrli-Nägeli und der Bankier Carl Wehrli-Thielen den geschichtsträch Der ‹ Hirschen › als Wehrli-Ensemble tigen Bau, um ihn vor Verfall und Misswirtschaft zu schüt Hans Wehrli wurde nach dem frühen Tod seines Va zen. Gleichzeitig erhofften sie sich vom Kauf einen stär ters 1666 zum Amtmann gewählt. Ein Vertrag verlangte keren Zusammenhalt innerhalb der Familie. Die familiäre vom damals 23-Jährigen eine genaue und gewissenhafte Identität und das nationale Baudenkmal gehen beim ‹ Hir Amtst ätigkeit, Sparsamkeit, Zurückhaltung bei der Bewir schen › Hand in Hand, wie ein Rückblick in die Familien tung von Gästen und eine ordentliche Buchführung, ein geschichte der Wehrli zeigt. Hinweis auf die nicht immer ganz einfache Stellung des Amtmannes. Er war dem Fürstabt von St. Gallen verpflich Heimliche Dorfkönige tet, sollte aber auch Zürich loyal sein. Er musste mit den « Anno 1684 durch H. Iohanis Werli erbouwen und abgabepflichtigen Bauern den richtigen Umgangston fin F. Mareia Magtolena Ezwilerin » – die grammatikalisch et den und sah sich vor Ort den Wünschen des Obervogtes was eigenartige Inschrift am nördlichen Eckständer des von Steinegg verpflichtet, wie auch jenen der dörflichen Gebäudes erinnert an Baujahr und Erbauer des ‹ Hirschen ›. Gemeinden. Amtmann Wehrli bekleidete zudem hohe Bereits 1685 wurde er um die Scheune, 1686 um die Trotte militärische Funktionen und war gleichzeitig Dorfrichter. mit Schmitte erweitert. Ursprünglich aus dem thurgau 1682 lebten in seinem Haushalt nicht weniger als sie ischen Nussbaumen stammend, liessen sich die Wehrlis ben Dienstleute – ein Hinweis auf seine ausgedehnten in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Zürich nieder und Tätigkeiten. 1695 übergab Hans Wehrli sein sanktgalli machten bald politische Karriere. Ab 1629 verwalteten Va sches Amt dem ältesten Sohn Johannes und zog sich in ter und Sohn die Obervogtei Steinegg, zu der auch Stamm den ‹ Hirschen › zurück. heim gehörte. Schon vorher heiratete Hans Peter Wehrli Wollte er mit dem Bau des repräsentativen Riegelhau Verena Kucher aus Stammheim und wurde Amtmann der ses ein neues, eigenständiges Standbein aufbauen oder Fürstabtei St. Gallen. Sein Nachkomme, der Bauherr des suchte er eine geregelte, etappierte Amtsübergabe an den ‹ Hirschen ›, Hans Wehrli ( 1643 – 1718 ), war bereits in vierter Sohn und machte diesem so die Wohnung im Amtshaus 18 Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Eine Haus- und Familiengeschichte 18-19_TH_Hirschen_Geschichte.indd 18 12.02.18 09:40
frei ? Oder hing dieser freiwillige Rücktritt auch mit neuen Nachdem Rittmeister Hans Georg Wehrli 1785 gestorben politischen Möglichkeiten zusammen ? Ab 1700 erweiter war, verkaufte sein Sohn Hans Konrad, der in der schwie ten nämlich die Wehrlis ihren Einfluss mit einem neuen rigen Übergangszeit zwischen Ancien Régime und Restau Amt: Der ebenfalls im ‹ Hirschen › lebende jüngere Sohn ration das sanktgallische Amt Stammheim verwaltete, das von Hans Wehrli, Hans Peter, wurde 1716 zum Untervogt Haus am 24. August 1786 um stolze 5200 Gulden an Gast gewählt – das höchste Amt, das Bewohnern der Zürcher wirt Hans Martin Schenk aus Uhwiesen. Landschaft zugänglich war. Als Untervogt stand er zwi schen dem Dorf und der Obrigkeit ; er vertrat gleichzeitig Ein Gasthaus zwischen Tradition und Zukunft die Interessen der ländlichen Bevölkerung gegen oben 1789 erscheint der ‹ Hirschen › erstmals im Grundbuch, und war die rechte Hand des zürcherischen Obervogts auf als Schenk ein Darlehen aufnahm und dabei das Haus als Schloss Steinegg. Sein älterer Bruder Johannes erneuerte Unterpfand einsetzte. Neben der « Behausung samt Tafer 1713 das Amtshaus am Hornerweg ; dessen gleichnamiger nengerechtigkeit, der ‹ Hirschen › genannt », gehörten zum Sohn und Nachfolger baute dann 1741 das angrenzende Komplex die Trotte und die Scheune sowie der Stall, ein Haus ‹ zum Irggel ›, das mit seinem ungewöhnlichen Erker Baum- und ein Krautgarten, 9 Vierling Ackerland, 6 Vier städtische Wohnkultur atmet. Das von auffallend herr ling Wiesen, 3½ Vierling Reben sowie 10 Vierling Holz – schaftlichen Häusern geprägte Umfeld des ‹ Hirschen › mit ein Vierling umfasste als der vierte Teil einer Juchart etwa dem ebenso repräsentativen Brunnen entwickelte sich zu 800 Quadratmeter. einem eigentlichen Wehrli-Quartier . Eine solche Konzent Aus dem repräsentativen Wehrli-Haus war ein Gasthof ration dürfte sich in keinem anderen Zürcher Dorf finden. geworden. Als obrigkeitlich geregeltes und kontrolliertes Monopolgewerbe nahmen Tavernen im Alltag einen be Ämterkumulation und Macht sonderen Platz ein. Hier erhielten Reisende warme Ver 1729 wohnten in Stammheim praktisch Haus an Haus pflegung und Unterkunft, hier fanden Amts- und Gerichts sechs Wehrlis, im ‹ Hirschen ›, in der Kanzlei und am Hor verhandlungen statt, hier wurden Verträge bei einem nerweg. Bis ins 18. Jahrhundert wurden zeitweilig auch die Glas Wein abgeschlossen, Feste gefeiert und traf sich die Inhaber der Dorfmühlen von der gleichen Familie betrie männliche Bevölkerung zum Schlummertrunk. 1805 gab ben. Zusammen mit dem für Landbewohner höchst exklu es in Oberstammheim neben den beiden Tavernen des siven Bürgerrecht in Zürich gibt diese Ämterkumulation ‹ Hirschen › und ‹ Ochsen › noch zwei Weinschenken. einen deutlichen Hinweis auf die Kehrseiten solcher Ver Die Einführung der Brandassekuranz 1817 erlaubt ei bandelungen. Wie keine andere Oberstammheimer Fa nen genaueren Blick auf die Häuser. Unter dem Wirtshaus milie übten die Wehrlis dörfliche Macht und Willkür aus. befanden sich zwei Keller, im angebauten Haus Graf lagen Johannes Wehrli etwa spendete den Armen 1718 Geld, sein ein Saal, Stuben, die Küche, verschiedene Räume, dane Sohn hingegen verweigerte als neuer Amtmann 1751 die ben ein Wasch- und Brennhaus mit einer Metzgerei. Ein Austeilung von Fasnachtsbrot an die Dorfkinder, worauf weiterer Bau war die Trotte, ein anderer die Gast- und Säu die Gemeinde ihm das Wasser zum Brunnen abstellen merstallungen sowie Heustock und Schweinestall. Zum wollte. Auf diesen Streit dürfte der Reim zurückgehen, den Komplex gehörten aber auch eine Doppelscheune, ein Pfarrer Alfred Farner in seiner Stammheimer Geschich Wagenschopf sowie ein Garten mit einem Springbrunnen, te wiedergab: « De Amtme mit em tüere Brunne / Hätt de der vom Abwasser des Dorfbrunnens vor der Landschrei Chinde s’Brot vergunne / Het er de Chinde s’Brot nid ver berei gespiesen wurde. Da ein Teil der Gebäude, so die gunne / so het er au kan tüere Brunne ! » Trotte und die Zehntscheune, von unterschiedlichen Per Der ‹ Hirschen › selbst war Zentrum eines Gutsbetriebs, sonen genutzt wurde, brauchte es komplizierte, bis weit über dessen Grössenordnung nicht viel bekannt ist. Ab ins 20. Jahrhundert gültige Regelungen für das Wegrecht 1760 wurde der Komplex noch einmal erweitert: Es ka und die Zugänglichkeit. men der Stall, 1777 das Haus Graf zum ‹ Hirschen ›. Der Die Besitzergeschichte des ‹ Hirschen › blieb danach Sohn des Erbauers, Untervogt Hans Peter Wehrli, und wechselhaft, bis Anfang 1943 die Familie Wehrli das ‹ Hir vor allem dessen Sohn Untervogt und Rittmeister Hans schen ›-Ensemble samt Inventar erwarb: 4 Wirtstische, 4 Ti Georg interessierten sich für die Landwirtschaft und sche mit Einsatzplatten, 22 Kirschbaumsessel, 1 grosser leiteten im Zeitalter der Aufklärung landwirtschaftliche antiker Tisch, 6 antike Sessel, 12 Buchensessel, 7 Bieder Reformen ein. 1730 baute Hans Peter den Riegelbau zur meister-Polstersessel und 1 Polsterkanapee, 1 Küchen heutigen herrschaftlichen Gestalt um, indem er den drei büffet, 1 elektrischer Kochherd, 2 Küchentische, 1 Kühl geschossigen Erker anfügte ; sein Sohn liess vermutlich schrank, 1 Küchenkasten, 1 Heizungskessel, 1 Waschkessel die Türen im Obergeschoss reich bemalen . Das Wap sowie 1 Auswindmaschine. pen von Hans Peter findet sich denn auch nicht zufällig Der Kauf erfolgte aus ideellen Motiven, war aber auch in der Erkerstube. Stolz verwies er dabei mit der adligen der Erinnerung an Ruedi ( Hans Rudolf ) Wehrli geschuldet, Helmzier auf den besonderen Rang und mit dem Allianz den jüngsten Sohn des Müllers Heinrich Wehrli-Nägeli, wappen auf eine standesgemässe Ehe. 1699 hatte er die der im Alter von 15 Jahren bei einem Unfall ums Leben ge Schaffhauserin Anna Katharina Stockar geheiratet – erst kommen war. Kurz vor seinem Tod hatte Ruedi ein Gedicht mals verband sich ein Wehrli mit einer nichtzürcheri- geschrieben, das mit dem Aufruf endete: « Auf, Wehrli, auf, schen Patrizierfamilie. führ den Hirsch zurück zu seiner Quelle. » Der halb bäu Diese ungewöhnliche Machtstellung erodierte in der erlich, halb herrschaftliche ‹ Hirschen › blieb eng mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die amtlichen Funkti Familie verknüpft, auch wenn sich diese in der Zwischen onen wurden immer komplexer, die Zahl der Nachkommen zeit längst in Zürich etabliert hatte. Die Wehrlis setzten immer grösser, einzelne Vertreter der Familie profitier einen Gastwirt ein, der mit mehr oder weniger grossem ten von ihrem Bürgerrecht und bauten sich in Zürich eine Erfolg den Geist des Hauses kulinarisch umzusetzen neue Existenz als Müller, Gastwirte oder Unternehmer suchte. Nach dem Tod der drei Käufer verzettelten sich auf. So erwarb Johannes Wehrli 1772 eine der Mühlen am die Erbanteile innerhalb der Familie aber immer stärker, Zürcher Mühlensteg ; der Betrieb wurde dann 1913 nach bis dann Fritz Wehrli-Schindler 1996 alle Familienantei Tiefenbrunnen verlegt. Der ‹ Hirschen › in Oberstammheim le übernahm und seither mit seiner Familie ‹ das histori büsste als traditionsreicher Wohnsitz an Bedeutung ein. sches Ensemble mit Zukunft › weiterführt. ● Themenheft von Hochparterre, März 2018 — Die Kraft des Ensembles — Eine Haus- und Familiengeschichte 19 18-19_TH_Hirschen_Geschichte.indd 19 12.02.18 09:40
Sie können auch lesen