Die rheumatische Wirbelsäule - Winking M www.kup.at/ - Krause und Pachernegg
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Die rheumatische Wirbelsäule Homepage: Winking M www.kup.at/ Journal für Neurologie JNeurolNeurochirPsychiatr Neurochirurgie und Psychiatrie Online-Datenbank mit Autoren- 2014; 15 (2), 82-88 und Stichwortsuche Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Die rheumatische Wirbelsäule Die rheumatische Wirbelsäule M. Winking Kurzfassung: Rheumatische Erkrankungen sind suchung der Patienten. Auch begrenzen beglei- kidneys can be affected by this disease. The meist chronisch verlaufende Störungen des Im- tende Polyneuropathien eine neurophysiologi- metatarsophalangeal and metacarpophalangeal munsystems, die mit Entzündungen unterschied- sche Bewertung. An der Wirbelsäule ist die The- joints are followed by the cervical spine as a pre- licher Körpergewebe einhergehen. Die Prävalenz rapie der Wahl die Stabilisierung betroffener ferred manifestation of this disease. Of the der rheumatoiden Arthritis in Deutschland ist Segmente, um durch Ruhigstellung Schmerzen whole spine the cervical spine is predominantly ziemlich konstant und liegt zwischen 0,5 und zu reduzieren und instabilitätsbedingte Risiken affected. 0,8 %. Sie manifestiert sich bevorzugt am Bewe- für Querschnittslähmungen zu vermeiden. Neck pain is the main symptom, which is gungsapparat. Auch innere Organe wie Herz und caused by the inflammatory destruction of the Nieren können bei einer rheumatischen Erkran- Schlüsselwörter: Rheumatoide Arthritis, Wir- joints or an accompanying instability. Accompa- kung befallen sein. Nach den metatarsophalan- belsäule, Halswirbelsäule, operative Behand- nying joint diseases of the extremities compli- gealen Gelenken und den metacarpophalangea- lung cate neurological examination. Additional poly- len Gelenken stellt die Halswirbelsäule (HWS) neuropathies handicap neurophysiological moni- die dritthäufigste Lokalisation der rheumatoiden toring. Stabilization surgery of the affected seg- Arthritis dar. An der Wirbelsäule manifestiert Abstract: The Rheumatic Spine. Rheumatic ments is the treatment of choice at the cervical sich die Erkrankung fast ausschließlich an der diseases are chronically progressive dysfunc- spine. By means of surgical immobilization pain HWS. tions of the immune system, followed by inflam- will be reduced and the risk for paraplegia due to Als vorwiegendes Symptom findet man den mation of different organs of the human body. instability can be avoided. J Neurol Neurochir Nackenschmerz. Ursache hierfür ist neben ent- The prevalence of rheumatoid arthritis in Ger- Psychiatr 2014; 15 (2): 82–8. zündlichen Gelenksveränderungen eine beglei- many comes constantly to 0.5–0.8 %. A pre- tende Instabilität. Erkrankungsfolgen an den Ex- ferred manifestation is the musculoskeletal sys- Key words: rheumatoid arthritis, spine, cervical tremitäten erschweren die neurologische Unter- tem. Even internal organs such as the heart or spine, surgical treatment Epidemiologie geschlussfolgert, dass 50–60 % des Auftretens der Erkran- kung eine genetische Ursache haben. Andere Ursachen sollen Der Begriff der rheumatischen Wirbelsäule umfasst eine Viel- hormonelle Einflüsse sein: So haben Frauen, die orale Kon- zahl von auslösenden Krankheitsbildern, die meist als Allge- trazeptiva einnehmen, ein vermindertes Risiko für die Ent- meinerkrankungen multiple Körperbereiche befallen können. wicklung einer rheumatoiden Arthritis bzw. einen späteren Sie betreffen bevorzugt die Bewegungsorgane und führen zu Ausbruch der Erkrankung [5]. In verschiedenen Studien wird einem progredienten Funktionsverlust. auf das deutlich erhöhte Erkrankungsrisiko durch Zigaretten- konsum hingewiesen. Ein Tabakkonsum über 20 Jahre von Man kann die rheumatischen Erkrankungen der Bewegungs- 1 Packung/Tag erhöht die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung organe in 2 große Gruppen unterteilen: um das 3-Fache [6]. 1. Entzündliche Gelenkerkrankungen – chronische Polyarthri- tiden Die Zahl der schweren rheumatischen Veränderungen scheint 2. Entzündliche Erkrankungen der Wirbelsäule – Spondyl- in den vergangenen Jahren abzunehmen. Wahrscheinlich ist arthritiden dies auf die intensive und insbesondere frühe Therapie der Erkrankung zurückzuführen. So werden die ersten 3–6 Mona- Die ganz überwiegende Zahl der Wirbelsäulenbeteiligungen te der Erkrankung als wichtiges therapeutisches Fenster gese- findet man bei der rheumatoiden Arthritis. Diese hat in der er- hen, innerhalb dessen der immunologische Prozess gestoppt wachsenen Bevölkerung in Deutschland eine Häufigkeit von oder positiv beeinflusst werden kann [7]. Eine frühe Diagnose 0,5–0,8 % [1]. Mit Ausnahme weniger Regionen gibt es welt- und Therapiebeginn sind eklatant wichtig für den Verlauf. weit nur kleine Unterschiede in der Krankheitshäufung. Das Somit bestehen Forderungen, dass eine Person eine rheuma- mittlere Alter der Erkrankung liegt um das 60. Lebensjahr. tologische Diagnostik erhalten sollte, wenn sie > 6 Wochen Männer (20–30 Neuerkrankungen/Jahr) erkranken später und Schwellungen in > 2 Gelenken zeigt und eine traumatische seltener als Frauen (40–60 Neuerkrankungen/Jahr) [2, 3]. Ursache ausgeschlossen ist [8]. Viele Daten unterstützen eine genetische Ursache für das Erkrankungsrisiko. Das hauptsächliche Risiko der rheumatoi- Pathophysiologie den Arthritis wird in Verbindung mit dem Vorliegen des HLA- DRB-1-Allels gesehen. Untersuchungen an monozygoten Die Synovialzellen der Patienten exprimieren ein Antigen, Zwillingen zeigen, dass sie ein 4-fach höheres Risiko für die welches zur Ausschüttung eines Immunglobulins führt, das Erkrankung haben als dizygote Zwillinge [4]. Hieraus wird gegen autologe Immunglobuline gerichtet ist. Dieses führt zu einer komplexen Immunantwort mit Aktivierung der Komple- mentkaskade und Infiltration polymorphkerniger Leukozy- Eingelangt am 7. August 2013; angenommen am 30. August 2013; Pre-Publishing ten. Proliferierende Fibroblasten und Entzündungszellen bil- Online am 10. Oktober 2013 Aus dem Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie am Klinikum Osnabrück, Deutschland den ein Granulationsgewebe (Pannus) in der Synovia. Der Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Michael Winking, Zentrum für Wirbel- Pannus bildet proteolytische Enzyme, die das benachbarte säulenchirurgie am Klinikum Osnabrück, D-49076 Osnabrück, Am Finkenhügel 3; Knorpelgewebe, Bänder, Sehnen und Knochen zerstören. De- E-Mail: info@zw-o.de ren Folge sind Instabilität und Fehlstellungen an der Wirbel- 82 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2014; 15 (2) For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Die rheumatische Wirbelsäule Abbildung 1: Sagittales Compu- tertomogramm mit Darstellung ei- Abbildung 2: Sagittales T2-MRT mit Vertikalluxation des Dens. Sagittales T1-MRT ner atlanto-axialen Instabilität und mit Vertikalluxation des Dens. signifikanter Einengung des Zervi- kalkanals in Höhe von HWK 1/2. säule [9]. Nur etwa 1 % der Erkrankten zeigt eine Wirbelsäu- lenbeteiligung unterhalb der Halswirbelsäule. Abhängig von der Erkrankungsdauer können Veränderungen an der Hals- wirbelsäule bei bis zu 80 % der Rheumapatienten beobachtet werden. Diese finden sich bei ca. 70 % in den oberen Ab- schnitten der HWS [10]. An der HWS unterscheidet man 3 Pathologien: – Atlanto-axiale Subluxation – Vertikale Subluxation – Subaxiale Subluxation Atlanto-axiale Subluxation Die atlanto-axiale Subluxation als häufigste klinische Mani- festation der rheumatoiden Arthritis ist Folge einer erosiven Synovitis in den atlanto-axialen, atlanto-odontoidalen Gelen- ken und der Bursa zwischen Dens und Ligamentum transver- sum. Abbildung 3: Seitliche Röntgenverlaufskontrolle einer subaxialen Subluxation nach 2-jährigem Verlauf. Zunehmendes Treppenstufenphänomen der Segmente HW 3/4 und 4/5. Zustand nach transartikulärer Verschraubung von HWK 1/2 4 Jahre zuvor. Da die Mobilität im atlanto-axialen Segment primär durch die Gelenkkapseln und Bänder kontrolliert wird (Ausnahme: Ex- tension), bewirkt in diesem hochmobilen Bereich der Hals- Pons heranreichen kann. Gleichzeitig folgt eine Ventralverla- wirbelsäule die Zerstörung der zugurtenden Strukturen eine gerung des dorsalen Atlasbogens zum Foramen magnum hin. Instabilität. Diese nimmt schrittweise zu und kann im Verlauf Diese kranio-zervikale Stenose mit Kompression der kauda- zu einer Kompression der kaudalen Anteile der Medulla ob- len Medulla ist häufig vergesellschaftet mit neurologischen longata im oberen Zervikalkanal führen (Abb. 1). Die zusätz- Störungen [12] (Abb. 2). liche Pannusbildung am Dens führt zu einer weiteren bewe- gungsunabhängigen Kompression des Halsmarks. Im Be- Subaxiale Subluxation sonderen sind Patienten bei der Flexion der Halswirbelsäule Die subaxiale Subluxation betrifft meistens die Segmente HW gefährdet, da als Folge einer Zerstörung des Ligamentum 2/3 und HW 3/4 und findet sich bei bis zu 30 % der Patienten. transversum die dorsale Bewegungssperre für den Dens fehlt Ursache für diese Veränderungen ist die Destruktion der Wir- (Abb. 1). Patienten mit einer subaxialen Subluxation haben belgelenke, Bandscheiben und interspinösen Bänder. Osteo- hierdurch eine 8-fach höhere Mortalität [11]. phyten werden im Gegensatz zur degenerativen Veränderung kaum beobachtet [13]. Fortschreitende Gewebezerstörung Vertikale Subluxation führt zu Luxationen, die im Verlauf charakteristische treppen- Die vertikale Subluxation entsteht durch das Aufwärtsdrän- stufenartige Versätze der Wirbelkörper zeigen (Abb. 3). Das gen des Dens und ist Folge einer Erosion und Zerstörung der Vollbild kann in einer hochgradigen kyphotischen Deformie- atlanto-okzipitalen und atlanto-axialen Gelenke. Der Kollaps rung der HWS enden (Abb. 4). Allgemein ist der Schmerz der atlanto-okzipitalen Gelenke führt zu einer Vertikalverla- auch bei diesen Veränderungen das Leitsymptom. In fortge- gerung des Dens, der durch das Foramen magnum bis an die schrittenen Stadien kann sich durch die Kompression des J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2014; 15 (2) 83
Die rheumatische Wirbelsäule Abbildung 5: Seitliche Funktionsaufnahmen einer atlanto-axialen Instabilität. Die Hilfslinien zeigen die Veränderung des atlanto-dentalen Intervalls in Flexions- und Extensionsstellung. Als Klassifikationssystem für die klinische Schwere der Halswirbelsäulenbeteiligung hat sich die Einteilung nach Ranawat durchgesetzt [16]: Grad 1: Keine neurologischen Ausfälle Grad 2: Schwäche, Missempfindungen, Hyperreflexie Abbildung 4: Sagittales T2-MRT einer rheumatisch bedingten kyphotischen Fehl- Grad 3a: Lähmungen, gehfähig, Pyramidenbahnzeichen stellung der subaxialen HWS. Grad 3b: Tetraparetisch, nicht gehfähig Halsmarks eine Myelopathie entwickeln. Ihre Inzidenz liegt Bildgebung bei 3 % [14]. Aufgrund der Häufigkeit einer Wirbelsäulenbeteiligung und Symptome ihrer Progredienz im Verlauf sollte die Halswirbelsäule beim Screening von Rheumapatienten mit untersucht werden. Als Ein neurologisches Defizit ist bei der rheumatoiden Arthritis diagnostische Methoden bieten sich Röntgenaufnahmen der wegen der z. T. erheblichen Gelenkszerstörungen und beglei- HWS an. In > 80 % der Patienten lassen sich bereits bei Stan- tenden Polyneuropathien oft nur schwer oder gar nicht nach- dard-Röntgenaufnahmen der HWS pathologische Verände- weisbar. Bisweilen können Reflexauffälligkeiten Hinweise auf rungen nachweisen [17]. Diese sollten jedoch immer ergänzt eine Myelopathie geben. Schwäche oder Muskelatrophien ha- werden um Funktionsaufnahmen in Flexion und Extension, ben häufiger ihre Ursache in den peripheren Folgen der Erkran- da nur in 34 % der Untersuchungen das vollständige Ausmaß kung als in einer Myelon- oder Nervenwurzelkompression. einer Instabilität dargestellt wird [18] (Abb. 5). Weichteilver- änderungen, Pannus oder eventuelle Rückenmarkskompres- Rheumatische Veränderungen an der Halswirbelsäule können sionen sind am besten abzubilden durch ein MRT. Als ergän- auch eine mechanische Beeinträchtigung der A. vertebralis zende Maßnahme, insbesondere bei geplanten chirurgischen erzeugen, die zu einer vertebrobasilären Insuffizienz führt. Eingriffen, kann die Computertomographie zusätzliche Infor- Die Kompression der A. vertebralis kann sowohl an den Fora- mationen über die knöcherne Situation an der HWS geben. mina transversalia als auch am atlanto-axialen bzw. atlanto- okzipitalen Gelenkkomplex entstehen. Die Arterie kann hierbei Die einfachste und am häufigsten eingesetzte Methode zur abknicken oder gezerrt werden. Auffällig werden diese Pati- Beurteilung einer Instabilität im atlanto-axialen Gelenk ist die enten durch Schwindel, Tinnitus, Gleichgewichtsstörungen, Bestimmung des atlanto-dentalen Intervalls (ADI) mit Ver- Doppelbilder, Hinterkopfschmerz, Dysphasie, Verschwom- messung des Abstandes zwischen dorsalem Atlasring und mensehen, Rindenblindheit, Nystagmus, Verwirrtheit oder ventralem Dens an Röntgenaufnahmen bei Flexions- und Dysarthrie [15]. Extensionsstellung (Abb. 5). Abstände von 3 mm in Flexion werden bei Erwachsenen als Normalwerte angesehen [19]. Vorwiegend beklagen Rheumapatienten mit HWS-Beteili- Bis zu 5 mm muss von einer Insuffizienz des Ligamentum gung jedoch Schmerzen. Dieses Symptom ist nicht pathogno- transversum ausgegangen werden. Oberhalb von 5 mm be- monisch für die zervikale Manifestation der Erkrankung; steht eine zusätzliche Insuffizienz der Ligamenta alaria [20]. auch die rheumatische Schulter kann ähnliche Beschwerden Wird ein ADI von ≥ 10 mm gemessen, ist von einer Ruptur des hervorrufen. Dennoch sollten Nackenschmerzen immer An- Ligamentum transversum auszugehen [21]. lass zu radiologischer Diagnostik geben. Da der ADI nicht mit neurologischen Ausfällen korreliert, Instabilitätsbedingte Kompressionen im atlanto-axialen Ge- wird alternativ die Messung des Abstands zwischen Dens- lenk können über die Irritation der C2-Nervenwurzel zusätz- hinterrand und dem Vorderrand der Lamina von C1 empfoh- lich einseitige Gesichts- oder auch Ohrenschmerzen erzeu- len (AOI). Hierdurch wird der verbleibende Restraum für das gen. Ist der Okzipitalnerv als ein Ast der C2-Nervenwurzel Rückenmark bewertet. Ein AOI < 14 mm korreliert signifikant betroffen, entstehen Hinterkopfschmerzen. mit der Schwere neurologischer Ausfälle [9]. Eine verbindli- 84 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2014; 15 (2)
Die rheumatische Wirbelsäule che Bewertung durch diese Messmethode ist ebenfalls be- grenzt, da komprimierendes Pannusgewebe nicht berücksich- tigt wird. Entwickelt sich im Verlauf einer atlanto-axialen Subluxation zusätzlich eine vertikale Subluxation, kann sich die Schwere der atlanto-axialen Instabilität reduzieren. Ursache hierfür ist eine Pseudostabilisierung der atlanto-axialen Portion durch ihre Aufwärtsverlagerung [22]. Therapie Patienten mit schwereren neurologischen Defiziten haben eine schlechtere Erholungschance durch die Therapie und Abbildung 6: Röntgenaufnahmen nach transartikulärer Verschraubung von HWK 1 und 2 mit zusätzlicher Beckenkammspaninterposition, die mit einer Titan-Kabel- eine höhere Morbidität. Bedingt durch die Instabilität am cerclage gesichert wurde. kranio-zervikalen Übergang liegt die Rate eines plötzlichen Todes bei 10 %. Die Hälfte der Patienten mit Instabilitäten an der Halswirbelsäule bleibt jedoch asymptomatisch [23]. Des- halb sollte die Behandlung der Patienten 3 Ziele verfolgen: 1. Verhindern eines irreversiblen neurologischen Defizits 2. Verhindern des plötzlichen Todes durch unerkannte medul- läre Kompression 3. Verhindern von Operationen bei asymptomatischen Patien- ten ohne Risiko für neurologische Störungen Konservative Behandlung Die konservative Behandlung sollte früh beginnen und ein intensives medikamentöses Regime verfolgen. Die HWS-Be- teiligung steht in direktem Zusammenhang mit der Krank- Abbildung 7: Röntgenaufnahmen im anterior-posterioren und seitlichen Strahlen- heitsaktivität. Durch die veränderten Konzepte, den frühen gang nach dorsaler Verschraubung von HWK 1 mit 2 durch Schrauben-Stab-System Therapiebeginn, aber auch moderne Therapeutika ist es mög- und Beckenkammspaninterposition mit Titan-Kabelcerclage gesichert. lich geworden, die Zahl der chirurgisch behandlungsbedürfti- gen, schweren zervikalen Veränderungen zu reduzieren [8, Atlanto-axiale Instabilität 24]. Im Besonderen sind hiervon Patienten mit einer atlanto-axia- len Instabilität betroffen. Wegen des 8-fach höheren Risikos Eine externe Schienung durch Zervikalstützen beeinflusst die für einen plötzlichen Tod wird in diesen Fällen die Indikation Subluxation nicht, bedeutet aber eine zusätzliche Einschrän- zu einer Stabilisierung gesehen, wenn es zu einer raschen kung dieser vielfach erheblich behinderten Patienten [25, 26]. Zunahme der Instabilität kommt oder der ADI ≥ 6 mm ist. Als Sie sollte nur über eine vorübergehende Immobilisation der chirurgische Maßnahmen stehen zur Verfügung: Schmerzlinderung dienen. Auch vertragen die Patienten rigi- 1. Die transartikuläre Verschraubung zwischen Atlas und Axis de Orthesen wegen Hautveränderungen (z. B. durch Kortikoi- [27] (Abb. 6). Hierbei wird jeweils rechts bzw. links eine de) vielfach nicht. Schraube über den Isthmus von HWK 2 durch das Gelenk HWK 1/2 in die Massa lateralis von HWK 1 eingebracht. Chirurgische Behandlung Durch diese Maßnahme wird das Gelenk HWK 1/2 blo- Da Instabilität das primäre Problem der rheumatischen Wir- ckiert, was die Rotation und die pathologische Beweglich- belsäule ist, verfolgt die chirurgische Behandlung in erster keit bei der Flexion aufhebt. Biomechanisch handelt es sich Linie eine Stabilisierung der betroffenen Abschnitte. Vielfach um eine sehr effektive Methode. Ergänzend wird ein Kno- kann durch die begleitende Wiederherstellung des Wirbel- chenspan zwischen die Wirbelbögen von HWK 1 und 2 mit säulenprofils auch eine Dekompression neuraler Strukturen einem Metallkabel (Titan) fixiert, um eine dauerhafte Fusion erreicht werden. Persistiert die Kompression dennoch, müs- zu erreichen und ein Implantatversagen zu verhindern. sen diese Bereiche zusätzlich entlastet werden. 2. Die Pedikelverschraubung von HWK 1/2 über ein Schrau- ben-Stab-System [28, 29] (Abb. 7). Es werden Schrauben Indikationen für eine chirurgische Behandlung sind: per- in die Pedikel von HWK 2 eingebracht. Diese werden über sistierender Schmerz, neurologische Störungen oder Myelon- einen Stab mit den in der Massa lateralis von HWK1 veränderungen im MRT. fixierten Schrauben verbunden. Um einen Korrekturver- lust oder ein Implantatversagen zur vermeiden, muss auch In Fällen von Instabilität wird die Indikation dann schwieri- in diesen Fällen ein Knochentransplantat die Fusion zwi- ger, wenn keine oder nur geringe Schmerzen bzw. neurologi- schen beiden Wirbeln erreichen. Hierzu kann das Trans- sche Störungen vorliegen. Die Operation dient in solchen Fäl- plantat entweder zwischen die Wirbelbögen (wie bei der len der Prophylaxe, um einer plötzlichen Kompromittierung obigen Technik) fixiert werden oder beidseits in die Ge- des Myelons vorzubeugen. lenkspalte von HWK1/2 eingebracht werden. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2014; 15 (2) 85
Die rheumatische Wirbelsäule Abbildung 9: Seitliche Röntgen- aufnahmen nach ventraler Spondyl- Abbildung 8: Röntgenaufnahmen nach okzipito-zervikaler Stabilisierung durch ein ektomie und kombinierter ventro- Schrauben-Stab-System und Beckenkammspaninterposition mit Titan-Kabelcerclage dorsaler Stabilisierung durch distra- gesichert. hierbaren Titankorb mit dorsalem Schrauben-Stab-System. Stabilisierungen, die ohne eine der beiden Verschraubungs- wendig. Als Folge der Grundkrankheit und der reduzierten methoden nur durch Draht- oder Kabelzerklagen eine Fixie- Knochenqualität ist die Schraubenfixierung von ventral häu- rung erreichen wollen, werden heutzutage vermieden. Ihr fig nur unzureichend. Deshalb sollte in diesen Fällen eine Nachteil besteht in der nicht unerheblichen Gefahr von kombinierte ventro-dorsale Stabilisierung angestrebt werden Implantatversagen durch eine unzureichende Reduktion von [33] (Abb. 9). Rotations- und Extensionsbewegungen der Segmente. Risiken und Komplikationen der operati- Vertikale Subluxation Ziel der chirurgischen Behandlung der vertikalen Sub- ven Therapie luxation ist eine Reduktion der Myelonkompression. In vie- Die operative Versorgung der atlanto-axialen Subluxation len Fällen kann durch eine Extension der Dens aus dem Fo- ist herausfordernd wegen der anatomischen Verhältnisse in ramen magnum entfernt werden. Bei Patienten mit einer zu- HWK 1 und 2. Komplikationen, die auf die Schraubenpositio- sätzlichen dorsalen Enge durch die HWK-1-Lamina kann nierung zurückzuführen sind, liegen bei ca. 6 % [34]. Im Be- eine Laminektomie zur Dekompression der Medulla bei- sonderen kann bei einem atypischen Verlauf die A. vertebralis tragen. Um das Ergebnis dauerhaft zu fixieren, wird eine durch die Schrauben verletzt werden. Vor dem Eingriff wird okzipito-zervikale Fusion notwendig. Diese erfolgt übli- deshalb eine differenzierte Operationsplanung mit einem cherweise durch ein Schrauben-Stab-Konstrukt [30], eben- Dünnschicht-CT empfohlen [35]. Eine höhere Sicherheit falls verbunden mit Apposition von autologem Knochen kann durch eine intraoperative 3-D-Navigation erreicht wer- (Abb. 8). Diese Stabilisierung hebt die physiologische Be- den, die dem Operateur die speziellen Aspekte dieser Region weglichkeit der kranio-zervikalen Segmente vollständig auf räumlich darstellt und operative Komplikationen verringert und bedeutet eine erhebliche und irreversible Einschrän- [36]. kung in der Mobilität des Kopfes. Es ist deshalb auf eine akzeptable Positionierung des Kopfes zu achten. Diese soll- Bedingt durch die Grunderkrankung findet man nach operati- te präoperativ gemeinsam mit dem Patienten in stehender ver Versorgung eine erhöhte Rate von Pseudarthrosen [37]. In Position durch ein Röntgenbild festgelegt werden. Dieses bis zu 50 % entstehen feste Pseudarthrosen, die eine ausrei- Profil sollte bei der Operation während der Lagerung des chende Immobilisierung der Segmente und Schmerzlinde- Patienten übernommen werden [31]. rung erreichen. Deren Folge kann langfristig aber ein Implan- tatversagen sein [38]. Ursache hierfür ist meist die krankheits- Subaxiale Subluxation bedingte Osteopenie, die begleitende Osteoporose oder die Die subaxiale Subluxation ohne kyphotische Deformierung langzeitige Kortikoidtherapie. Auch technische Fehler mit der HWS sollte von dorsal stabilisiert werden. Auch diese Fehlplatzierung der Schrauben bzw. einem fehlenden oder Prozedur erfolgt mithilfe eines Schrauben-Stab-Systems. unzureichenden Knochenkontakt sind Faktoren für das Auf- Sind die Massae laterales erhalten, kann eine Fixierung über treten von Pseudarthrosen. Massa-lateralis-Schrauben erfolgen. Ihr Vorteil liegt in der Platzierung der Schrauben in den Wirbelbereichen mit einem Pannusgewebe im Bereich des Dens axis bildet sich in den geringen spongiösen Anteil. Dies bedeutet eine höhere Aus- meisten Fällen durch die operative Stabilisierung zurück, reißfestigkeit der Schrauben. Als Alternative können Pedikel- selbst in den Fällen mit einer aktiven Erkrankungsphase oder schrauben eingebracht werden. Biomechanisch sind sie über- einem Progress [39]. Eine Regression des Pannusgewebes legen, ihre Platzierung ist jedoch wegen der anatomischen konnte auch in Fällen nachgewiesen werden, bei denen eine Gegebenheiten der HWS herausfordernder [32]. Vertikalluxation des Dens zu einer Pseudostabilisierung der subaxialen Subluxation führte [22]. Eine Verlaufsbeobach- Liegt eine fixierte kyphotische Fehlstellung der HWS vor, tung nach operativer Stabilisierung ist deshalb gerechtfertigt. wird eine zusätzliche ventrale Dekompression, meist verbun- Persistiert die Kompression z. B. des Halsmarks nach atlanto- den mit einer Spondylektomie und Plattenosteosynthese not- axialer Stabilisierung, muss eine Resektion des Dens axis und 86 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2014; 15 (2)
Die rheumatische Wirbelsäule tät bedeuten. Deshalb sollte kritisch überdacht werden, wel- che Ausmaße die versteifenden Konstrukte haben sollten. In vielen Fällen ist weniger, im Sinne einer kürzeren Stabilisie- rungsstrecke, für den Patienten mehr. Relevanz für die Praxis Die rheumatoide Arthritis/chronische Polyarthritis zählt zu a b den häufigen chronisch-entzündlichen Erkrankungen des Abbildung 10: (a) Sagittales T2-MRT nach okzipito-zervikaler Stabilisierung und Menschen. Ihre Genese ist bis heute nicht geklärt. Man transoraler Densresektion. Im Myelon erkennbare strukturelle Schädigung durch geht von einer multifaktoriellen Ursache aus, bei welcher die ursprüngliche Kompression. (b) Intraoperative 3-D-Darstellung des kranio-zervi- kalen Überganges nach transoraler Densresektion. neben genetischen Faktoren auch immunologische, hor- monelle und Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Auch bei diesem Krankheitsbild hat das Rauchen einen negativen des Pannusgewebes über einen transoralen Zugang erfolgen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko. Durch die moderne (Abb. 10). Pharmakotherapie konnte die Zahl schwerer Verläufe in den vergangenen Jahren gesenkt werden. Ausschlagge- Outcome/Verlauf bend für positive Verläufe ist im Besonderen der möglichst frühzeitige Beginn der Therapie. Hierdurch konnte auch Nach einer operativen Stabilisierung wird das Schmerzbild die Anzahl von ausdehnten Destruktionen am kranio-zer- der Patienten durch die interne Ruhigstellung der betroffenen vikalen Übergang reduziert werden, welche eine wirbel- Segmente meist schnell gebessert. Eine Immobilisierung im säulenchirurgische Stabilisierung erforderlich machen. Bett sollte vermieden werden. Vielfach werden Rheumamittel Treten Nackenschmerzen bei Patienten mit einer rheuma- wegen Gefahren von Wundheilungsstörungen etc. vor einer toiden Arthritis/chronischen Polyarthritis auf, sollten ne- Operation abgesetzt. Eine eindeutige Stellungnahme, wann ben einer MRT-Diagnostik auch Röntgen-Aufnahmen der Patienten ihre Rheumamittel, z. B. TNF-α-Hemmer etc., wie- Halswirbelsäule in Funktionsstellung angefertigt werden. der einnehmen dürfen und ob erhöhte Risiken wegen Wund- Im Falle einer Kompromittierung des Rückenmarkes oder heilungsstörungen oder Pseudarthrosen bestehen, existiert einer Instabilität sollte ein mit diesem Krankheitsbild ver- nicht [40]. Diese Fragen sollten eng mit den betreuenden trauter Wirbelsäulenchirurg über die Notwendigkeit einer Rheumatologen abgesprochen werden. operativen Behandlung entscheiden. Die chirurgische The- rapie hat zum Ziel, das betroffene Bewegungssegment zu Eine atlanto-axiale Stabilisierung reduziert das Risiko für das stabilisieren. Trotz einer meist unmittelbaren Besserung Auftreten einer vertikalen Subluxation. Gleichzeitig erhöht der Krankheitssymptome durch die Operation sollte bei die okzipito-zervikale, aber auch die atlanto-axiale Stabilisie- diesen Patienten, die vielfach durch multiple Gelenk- rung das Risiko für das Auftreten einer subaxialen Subluxa- fusionen behindert sind, bei den OP-Vorbereitungen abge- tion. Da diese Verläufe schleichend sind, sollten alle Patienten wogen werden zwischen dem Nutzen durch die Stabilisie- mit derartigen Stabilisierungen regelmäßige (1-jährige) Lang- rung und den Folgen einer postoperativen Bewegungs- zeitverlaufskontrollen erhalten. einschränkung. Jede Stabilisierung von Segmenten an der HWS führt zu einer Reduktion von Mobilität [41]. Dies wirkt sich im Besonderen Interessenkonflikt an der oberen Halswirbelsäule aus und kann trotz Schmerz- linderung eine beträchtliche Einschränkung der Lebensquali- Der Autor verneint einen Interessenkonflikt. 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