Digitale Patient Der - Pharmig
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Perspektiven für Gesundheit und Forschung 1/2021 THOMAS HOFER IM INTERVIEW Wie steht US-Präsident Joe Biden zur Pharmaindustrie? Der digitale Patient Was nach Science-Fiction klingt, ist schon längst Realität. P.b.b. Verlagsort 1200 Wien MZ 08Z037707M KEIN AUS FÜR DIE MAUS Die Geschichte der Maus als Versuchstier.
EDI TO R I AL & P R E S ID E N T‘ S CO RNER Liebe Leserin, lieber Leser, „virtuell“ ist wohl eines der Wörter, die seit gut einem Jahr aus wohlbekanntem Grund häufiger als je zuvor verwendet wer- Philipp von Lattorff den. Die Definition des Wortes lesend, höre ich förmlich Mr. PHARMIG-Präsident Spock sprechen: Etwas Virtuelles ist entsprechend seiner Anla- ge als Möglichkeit – oder auch logisch – vorhanden. Etwas, das NEUE NORMALITÄT? virtuell ist, begreift in sich die Möglichkeit zu etwas. Ein Jahr Coronavirus-Pandemie, ein Jahr Das klingt abstrakt, lässt sich aber durchaus, wie wir in die- voller gesundheitlicher, wirtschaftlicher sem Heft darstellen, konkretisieren. Nämlich beispielsweise im und sozialer Herausforderungen. Doch Rahmen von Arzneimittelstudien, wo die virtuelle Abwicklung gab es auch maßgebliche Erfolge, wie die durchaus Vorteile zeitigt, aber auch gewisse Limitationen birgt. Zulassung von gleich mehreren Impf- stoffen gegen COVID-19. Dies ist in einer Eine Limitation ist der Datenschutz. Da tut man gut daran, beispiellosen globalen Zusammenarbeit aus in der digitalen Sandkiste möglichst alle Szenarien durchzu- Forschung, Entwicklung, Behörden und spielen, um die großen Würfe dann nicht aufgrund von Lecks Politik gelungen. und mangelnder Konnektivität von IT-Systemen zu gefährden. Das Europa des Jahres 2021 und darü- ber hinaus wird in seiner neuen Normalität Das muss aber, Stichwort ELGA oder E-Impfpass, nicht unbe- einen Fokus auf Resilienz und Wider- dingt 20 Jahre Zeit dauern. Da ist man längst dem Sandkas- standsfähigkeit legen (müssen). Ob die tenalter entwachsen, wenn man so lange nur an einer „Mög- EU-Pharmastrategie eine Möglichkeit zur lichkeit zu etwas“ experimentiert und nicht in die praktische Verbesserung ist? Bei aller Dynamik und bei Umsetzung geht. allem Mut, neue Wege zu gehen, ist hier auf ein sensibles Gleichgewicht zu achten, wenn Dank der intensiven Forschung in den vergangenen Jahren über Veränderungen der wirtschaftlichen konnte etwas anderes in enormer Geschwindigkeit umgesetzt und gesetzlichen Rahmenbedingungen für werden: Impfungen gegen COVID-19. So ist es gut, wenn die Pharmaindustrie nachgedacht wird. Es eine EU-Pharma-Strategie den Sektor weiter stärken möchte. geht darum, allen Menschen therapeutische Innovationen und bewährte Arzneimittel Aber auch da ist noch Sand im Getriebe und oftmals nicht klar, gleichermaßen zugänglich zu machen und worauf diese Strategie wirklich zielt, wie Sie in einem weiteren dabei den Pharma- und Forschungsstandort Artikel lesen werden. Europa weiter zu stärken, anstatt ihn durch Das Redaktionsteam und ich, wir freuen uns, zu rigide Bedingungen zu schwächen. wenn wir mit Ihnen im Rahmen dieser Ausgabe nicht Ist die Industrie stark, kann sie auch die Versorgung stärken und weiterentwickeln unbedingt (nur) Sandburgen bauen, sondern Ihnen helfen. Dazu gehört, dass therapeutische vielmehr konkret Orientierung geben und Ihnen einen Innovationen Anerkennung finden und Zugewinn an Wissen vermitteln dürfen. ihr umfassender Nutzen in Erstattungsfra- gen mitgedacht wird. Das und ein starker Patentschutz spornen die Unternehmen an, Haben Sie Freude am Lesen und am Leben, weiter zu forschen, zu entwickeln und im- Spaß bei der Arbeit und bleiben Sie gesund! mer mehr Krankheiten behandelbar – und am besten heilbar – zu machen. Das, was letztes Jahr zur Bekämpfung der Pandemie passiert ist, zeigt, wie leis- tungsfähig unsere Industrie ist. Dank ihres Innovationsgeistes und ihrer Kooperati- Peter Richter, BA MA MBA onsbereitschaft. Innerhalb der Branche und Fotos: Richard Tanzer (1), Carniel (1) Head of Communications & PR genauso mit unseren Stakeholdern. Das macht mich stolz. IMPRESSUM Medieninhaber: PHARMIG – Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs, A-1010 Wien, Operngasse 6, T +43 1 4060 290, pharmig.at, ZVR-Zahl: 319 425 359 Herausgeber: PHARMIG – Communications & PR Redaktion: Frank Butschbacher, Mag. (FH) Martina Dick, Peter Richter, BA MA MBA, Mag. Nicole Gerfertz-Schiefer Produktionsleitung: Lisa Joham & Mag. Daniela Purer Art Director: Nicole Fleck E-Mail: office@pharmig.at Produktion & Druck: WEKA Industrie Medien GmbH, Coverfoto: Adobe Stock Ihr Philipp von Lattorff 2 PharmigInfo
INHALT MENSCHEN & MÄRKTE 06 4 INTERVIEW Wirtschaftsethiker Markus Scholz über Digitalisierung und KI vereinfachen die Auswirkungen der COVID-19- Studienabläufe und Pandemie auf die Reputation der reduzieren ihren Pharmaindustrie. Aufwand. THEMA 6 VIRTUELLE SANDKISTE Studien per Smartphone und digitale PatientInnen: Ein Blick in die Zukunft der klinischen Forschung. POLITIK & WIRTSCHAFT 12 EU-PHARMA-STRATEGIE Über Chancen und Fallstricke: Der Weg zur Gesundheitsunion ist ein Arbeitspro- gramm mit vielen Herausforderungen. 14 US-PRÄSIDENTSCHAFTSWECHSEL USA-Experte Thomas Hofer beleuchtet, was die Präsidentschaft von Joe Biden für die pharmazeutische Industrie bedeutet. 15 IMPFSTOFFPRODUKTION Gut gerüstet in die Zukunft: Produktions- Strategien für kommende Pandemien. FORSCHUNG 16 CONCEPTION Medikamente in der Schwangerschaft? Antworten soll das Projekt ConcePTION liefern. 12 18 FAKTENCHECK Warum sind die kleinen Nagetiere Industrie- und Mitglieds- so wichtig für die Wissenschaft? staaten sind auf allen Ein Blick hinter die Kulissen. Ebenen gefordert. 19 PENIZILLIN Zuteilungsdiskussionen, wie aktuell bezüglich der COVID-19-Impfungen, sind nicht neu. INSIDE 20 ERFOLGSPROJEKT: FÄLSCHUNGSSICHER Mittels eines digitalen Sicherheitssystems werden erfolgreich Fälschungen rezept- pflichtiger Medikamente verhindert. 16 MEDIA 22 BUCHTIPP Wie sicher sind Anreize für „neuen Mut“ gibt das Medikamente in der gleichnamige Buch, herausgegeben Schwangerschaft? vom Zukunftsinstitut. RUBRIKEN Fotos: Adobe Stock 5 Kopf des Monats, 5 Zahl des Monats, 18 Faktencheck, 23 Mikroskop PharmigInfo 3
MENSCH EN & M Ä R K TE „Es braucht Multi- Stakeholder-Dialoge!“ Die COVID-19-Pandemie bietet der Pharmaindustrie die Chance, ihre Reputation zu verbessern. Gleichzeitig schwebe sie aber wie ein Damoklesschwert über ihr, warnt der Wirtschaftsethiker FH-Prof. Dr. Markus Scholz. Text: Nicole Gerfertz-Schiefer Welche Auswirkungen kann die aktuelle Gesundheit ist ein Menschenrecht – und Pandemie-Situation auf die Reputation zwar für alle. Wie kann sich die Pharma- der Pharmaindustrie haben? branche hierzu klarer positionieren? Markus Scholz: Seit Jahrzehnten haftet der Scholz: Indem die Unternehmen dieses Branche das Image als „Profit-Maximierer Thema von sich aus aufgreifen und ohne Rücksicht“ an, denn in der Öffent- zeigen, dass sie involviert sind. Bisher lichkeit bleiben eher die negativen Dinge gibt es global keine guten Koordinati- hängen, wie zum Beispiel Vorwürfe wegen onsmechanismen. Die Pharmaindustrie Intransparenz und Korruption. Durch die unterstützt zwar die WHO und ähnliche Foto: feel image – Felicitas Matern rasche Entwicklung von Impfstoffen haben Organisationen in monetärer Hinsicht, die Unternehmen in den letzten Monaten wichtig wäre aber auch eine stärkere ak- Großes geleistet, was viele auch durchaus tive Teilhabe, zum Beispiel durch einen anerkennen. Doch nun sind wir bereits im öffentlichen Dialog mit Personen aus der zweiten Stadium, in dem folgende Fragen Zivilgesellschaft und der Wissenschaft auftauchen: Was kosten die Impfstoffe? wie Wirtschaftsethikerinnen und -ethi- Wer bekommt sie (zuerst)? Wie transpa- kern. Diese Gespräche aktiv zu suchen rent ist das Verfahren? Jetzt ist höchste und zu führen ist nicht die alleinige Auf- Achtsamkeit erforderlich, denn wenn diese gabe der Headquarter, sondern das kann Phase nicht gut läuft, es beispielsweise zu und sollte ebenfalls auf regionaler Ebene Intransparenz und Vorteilsnahme kommt, passieren, auch in Österreich! verspielt die Branche ihre Bonuspunkte, die sie durch die zügige Impfstoffentwick- Was raten Sie der Branche also? lung gewonnen hat. Im schlimmsten Fall Scholz: Wichtig ist das Bewusstsein, fragen sich die Menschen dann, wofür wir dass ein „fauler Apfel“ negative Aus- eine privatwirtschaftliche Pharmaindustrie wirkungen auf alle in der Industrie brauchen, wenn diese im Ernstfall doch hat. Daher ist ein starker Selbstschutz nur auf ihre Profite schaut. Somit hängen erforderlich, beispielsweise durch eine die Impfstoffe sozusagen wie ein Damo- verstärkte Selbstverpflichtung zu An- klesschwert über der Branche. tikorruption und Transparenz. Darüber hinaus wäre der bereits angesproche- Was können die Unternehmen tun, damit ne aktive Austausch mit Stakehol- FH-Prof. Dr. Markus Scholz ist Gründer es zu einer Imageverbesserung kommt? dern sehr wichtig. Zu oft finden nur und Leiter des Institute for Business Ethics and Sustainable Strategy (IBES), Inhaber der Scholz: Aktuell besteht die Chance, dass Gespräche zwischen Unternehmen Stiftungsprofessur für Corporate Governance die Pharmaindustrie als Retter wahrge- und Politik bzw. Investoren statt. Wir & Business Ethics und leitet das Josef Ressel nommen wird. Daher ist es von großer brauchen aber zusätzlich transparente Zentrum für Collective Action und Respon- Bedeutung, gerade jetzt verstärkt die Multi-Stakeholder-Dialoge, in denen sible Partnerships (JR-Zentrum CARe) an der positiven Seiten zu präsentieren: Schritt auch die Positionen der Zivilgesell- FHWien der WKW. Er ist außerdem Senior eins war, dass sehr schnell Impfstoffe schaft und der Wissenschaft – auch Visiting Researcher am INSEAD. entwickelt wurden. Der nächste Schritt über die Grenzen der Naturwissen- wäre, die Transparenz zu erhöhen, Produk- schaften hinweg – gehört werden. tionskapazitäten so gut es geht zu poolen Die COVID-19-Pandemie bringt die und den vielzitierten Slogan „Patients Pharmaindustrie zurück in den Fokus first“ vermehrt in die Tat umzusetzen. Dies der Öffentlichkeit. In dieser Situation könnte zu einer nachhaltigen Imagekor- kann viel richtig und genauso viel rektur führen. falsch gemacht werden. 4 PharmigInfo
KOPF DES MONATS HOFFNUNG FÜR ERBLINDETE D as Leben ist laut, bunt und manchmal auch eine Mischung aus beidem. Unsere Umgebung Foto: IOB.ch nehmen wir mit unseren Sinnesorganen wahr – doch was, wenn wir Farben nicht mehr sehen können, weil es unser Auge nicht kann oder es nie konnte? Das Augenlicht zu verlieren ist für Erblindete oft schlimmer, als es nie gehabt zu haben. Prof. Dr. Botond Roska widmet sich in seiner wissenschaft- lichen Arbeit genau diesem Thema, nämlich Blindheit heilbar zu machen, und ist dieser Vorstellung ein großes Stück näher- gekommen. Der gebürtige Ungar studierte nach seinem Schul- abschluss zunächst Cello an der Musikakademie Budapest, ehe er zum Medizinstudium wechselte und parallel Mathematik absolvierte. Er promovierte als Neurobiologe in Berkeley, USA Prof. Dr. Botond Roska: Der ungarische und forschte dann als Harvard Fellow auf den Gebieten der Mediziner erhält den mit 1.000.000 Euro Genetik und der Virologie in Harvard weiter. Im vergangenen dotierten Körber-Preis für die Europäische Jahr wurde der Wissenschaftler und Gründungsdirektor des Wissenschaft. Instituts für Molekulare und Klinische Ophthalmologie in Basel (IOB) mit dem Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft einen Zelltyp im Auge so umzuprogrammieren, dass dieser 2020 ausgezeichnet. Die Auszeichnung ist mit einer Million wieder die Funktion von defekten Lichtrezeptor-Zellen über- Euro Preisgeld einer der höchstdotierten Wissenschaftspreise nehmen kann. Gelungen ist Dr. Botond Roska und seinem der Welt – und das zu Recht. Team dies durch das Einfügen eines Gens einer Grünalge Seine Forschung zur menschlichen Netzhaut sorgt welt- (Chlamydomonas reinhardtii) in spezielle Netzhautzellen von weit für Aufsehen und lässt Erblindete Hoffnung schöpfen. Versuchsmäusen. Das Algengen bildet ein Protein namens „Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, dass blinde Rhodopsin, welches Lichtsignale auffängt und an lichtemp- Menschen ihre Sehkraft zurückgewinnen“, so der ungarische findliche Rezeptor-Zellen in der Netzhaut weitergibt. Das Spitzenwissenschaftler, der in seiner Forschung Nanotech- Ergebnis: Erblindete Mäuse reagieren auf Lichteinfall. nologie mit Mathematik und Neurowissenschaften kombi- Der nächste Schritt ist die Übertragung in menschliche niert und dadurch die Augenheilkunde revolutionierte. Die Zellen in einer Zellkultur. „Die Anwendung beim Menschen meisten Sehstörungen gehen auf erbliche oder altersbedingte liegt aber noch 5 bis 10 Jahre in der Zukunft“, so der Wissen- Defekte in der Netzhaut (Retina) zurück. Er hat es geschafft, schaftler. ZAHL DES MONATS 1.500 Studien laufen aktuell weltweit zu Wirkstoffen rund um SARS-CoV-2 und COVID-19. Neben viel- versprechenden neuen Ideen sind auch weiterentwi- ckelte, bewährte Therapien derzeit im Einsatz gegen Krankheitsverläufe unterschiedlicher Schwere. Dazu gehören antivirale Medikamente (zum Teil schon zu- gelassene Medikamente gegen andere Erkrankungen, also Innovationen auf Basis bekannter Wirkstoffe), Immunmodulatoren (zur Regulation der überschie- ßenden Reaktion des körpereigenen Immunsystems), Antikörper (zum Beispiel aus dem Blutserum von Menschen, die die Infektion bereits überstanden ha- ben) und monoklonale Antikörper, die in einer frühen Phase der Infektion zu einer Verringerung der Virus- last beitragen können. PharmigInfo 5
Synthetische PatientInnen Die Arzneimittelforschung wird immer digitaler. Studien finden per Smartphone statt und digitale Daten- sätze ersetzen echte PatientInnen. Über die üppigsten Datenbestände verfügen die USA. Österreichs Forschende wären schon froh, wenn sie bald eine digitale Sandkiste bekämen. Text: Frank Butschbacher D ie ProbandInnen bekommen ein iPhone, das Me- dikament sprühen sie selbst auf – medizinisches Fachpersonal oder gar ein Krankenhaus brauchen sie nicht zu besuchen. Die Phase-II-Studie findet vollkommen virtuell statt, dabei entspricht sie hohen Evidenzstandards: sie ist randomisiert und mit einer Placebo-Gruppe kontrolliert. Das klingt nach klinischer Scien- ce-Fiction, ist aber schon wieder drei Jahre her. In Zukunft werden immer mehr Arzneimittel-Studien virtuell stattfinden. Die TeilnehmerInnen sind weiterhin real, genau wie die getesteten Medikamente. Virtuell werden die Abläufe. PatientInnen müssen nicht mehr in hochspeziali- sierte Krankenhäuser, die Studienzentren, fahren. Einfachere Untersuchungen können sie beispielsweise bei ihren Hau- särztInnen oder einem Labor vor Ort durchführen lassen. In manchen Studien kommen die KrankenpflegerInnen zu den Erkrankten, um ihnen Blut abzunehmen. Studienmedikation bringt der Paketdienst. Foto: Adobe Stock In COVID-Zeiten liegen die Vorteile auf der Hand, wenn PatientInnen seltener zu Untersuchungen ins Krankenhaus müssen. Für virtuelle, dezentralisierte Studien lassen sich aber auch leichter ProbandInnen finden. Wer weiter zuhau- se leben kann und eine lange Fahrt ins Krankenhaus nicht PharmigInfo 7
T H EMA auf sich nehmen will oder kann, ist schneller bereit, an einer Studie teilzunehmen. Unternehmen wie Science 37 haben sich ALGORITHMUS FÜR darauf spezialisiert, die digitalen Plattformen zu entwickeln, mit denen die Kommunikation mit den PatientInnen und die ALTBEKANNTES Erfassung ihrer Daten im großen Stil abgewickelt werden können. Weil schon die Suche und Rekrutierung weniger Über vier Jahre sammelte Foto: Pharmig Academy mühsam ist und später Datenerfassung und alle administrati- ven Vorgänge vereinfacht werden, soll sich die Studiendauer der Biochemiker Klaus um „bis zu zwei Jahren“ verkürzen. Kratochwill Erkenntnisse für seine Datenbank. Große Versprechungen W Aber Science 37 ist keine Technologiebude, die mit Visionen hausieren geht und erst noch eine praktische Anwendung für enn alles gut geht, können wir direkt aus hochambitionierte Lösungen sucht. Das Unternehmen wurde dem Computer in eine Phase-II-Studie schon 2014 von kalifornischen Universitäts-ÄrztInnen gegrün- gehen“, sagt Klaus Kratochwill. Der Bioche- det. Geld gab es zunächst vom Sanofi Venture Fund, die Tech- miker ist Mitgründer und wissenschaftlicher nologie stand jedoch allen Pharmafirmen offen. Inzwischen Hauptberater bei Delta 4. Das Unternehmen hat Science 37 virtuelle Studien unter anderem für Sanofi, sucht neue Wirkstoffe – rein digital, jedenfalls fast. Genentech oder Novartis durchgeführt. Erst im Vorjahr haben „Man kann das im Prinzip von zwei Seiten her angehen“, er- Novartis, Amgen und Finanzinvestoren 40 Millionen Dollar klärt Kratochwill. Entweder füttern die digitalen ForscherInnen in die Expansion des Projekts gesteckt. Auch wenn Ursprung einen Computer mit allen Informationen über ein vorhandenes und Schwerpunkt eindeutig in den USA liegen – in der Slowa- Wirkstoff-Molekül und lassen dann den Rechner alle theoretisch kei hat das Unternehmen ein erstes europäisches Kompetenz- denkbaren Möglichkeiten durchrechnen, wie der Wirkstoff an zentrum eröffnet. einem „Target“, einem für eine Krankheit relevanten Protein, Aber welche Art Studien können wirklich telemedizi- interagieren könnte. Oder der Computer bekommt alle Informa- nisch durchgeführt werden? Tests mit neuen Wirkstoffklas- tionen über ein bekanntes Target, man drückt – bildlich gespro- sen, deren Sicherheitsprofil erst noch definiert werden muss, chen – auf Enter, und der Rechner macht digitale Vorschläge kommen dafür nicht in Frage. Bei der eingangs genannten für Moleküle, die mit dem Target reagieren könnten. Soweit die total-virtuellen Studie wurde ein Aknemittel der Biotechfirma Theorie. Die Zahlen der jeweils möglichen Kombinationen sind AOBiome getestet. Andere Phase-I- und Phase-II-Studien mit buchstäblich astronomisch: Sie übersteigen die Zahl der Sterne dem Präparat hatten davor bereits stattgefunden. Dermato- im Universum. Das überfordert auch den stärksten Hochleis- logische Anwendungen sind für eine ärztliche Fernüberwa- tungsrechner. chung besonders gut geeignet. Derzeit rekrutiert Science 37 Man muss daher die Suche drastisch eingrenzen. Delta 4 unter anderem für eine Lupus-Studie, auch das ist eine Haut- macht das, indem sie nur dort suchen, wo ihre Datenbank mit erkrankung. Die PatientInnen werden direkt auf der Website besonders dichten Informationen über bestimmte Krankheiten angesprochen und können sich dort registrieren. gefüllt ist. Über die Jahre hat Delta 4 alle verfügbaren Daten gesammelt: aus der medizinischen Literatur, Patentanmeldun- Besser für PatientInnen, gen, klinischen Studien oder Genom-Datenbanken. Da ständig neue Erkenntnisse dazukommen, muss ein Computer helfen, besser für die Daten die Datenbank à jour zu halten. Der Algorithmus, der die Daten Nicht nur dermatologische Studien können in den Cyberspace strukturiert und wiederauffindbar macht, muss ebenfalls ständig verlagert werden. Wo immer sich Fragestellungen z. B. mit verfeinert werden. tragbaren Sensoren und einer Handy-Applikation beantworten Große Pharmaunternehmen und auf digitale Arzneimittel- lassen, können Studienabläufe für die TeilnehmerInnen verein- entwicklung spezialisierte Biotech-Unternehmen arbeiten ähn- facht und für den Sponsor (den Studien-Initiator) beschleunigt lich: Die einen verfügen über Spezialwissen in „ihren“ Indikatio- werden. Das spart Zeit und Geld. Mit virtuellen Studiendesigns nen, haben Daten über Molekülbanken, mit denen sie seit Jahren können aber auch Betroffene rekrutiert werden, für die eine arbeiten, oder versuchen, mit anderen Zugängen die astronomi- „brick and mortar“-Studie gar nicht in Frage gekommen wäre. schen Kombinationsmöglichkeiten beherrschbarer zu machen. Wenn die Studienpopulation diverser wird, sind auch die Da- Kratochwill schränkt die Computer der Delta 4 auch da- ten näher dran an der späteren Behandlungswirklichkeit, und durch drastisch ein, dass er sie nur mit Wirkstoffen rechnen die Aussagekraft der Studie steigt. lässt, die schon einmal als Medikament zugelassen oder zumin- Digitale Methoden machen die klinische Forschung auch dest klinisch erprobt wurden („drug repositioning“). Von denen dann effizienter, wenn die PatientInnen in einem Studienzen- ist meist bestens bekannt, wie sie sich im Körper von PatientIn- trum behandelt werden. So können BioinformatikerInnen aus nen verhalten und wie sie vertragen werden. Viele Jahre aufwen- den Daten von ersten Untersuchungen Modelle für weitere diger Laborarbeit und erster klinischer Untersuchungen können Studien entwerfen. Um Wirkstoffdosen oder die richtige Be- auf ein Minimum reduziert oder ganz übersprungen werden. handlungsdauer präzise zu bestimmen, leisten sie im digita- Ob ein Molekül ein Kandidat für ein neues Anwendungsgebiet len Labor schon Vorarbeiten. Auf dieser Basis können sie dann sein kann, entscheidet natürlich nicht der Computer allein: Erst Empfehlungen geben, wie die nächste klinische Studie designt wenn ExpertInnen in der angestrebten Indikation die digitalen werden sollte, und etwa die Zahl der für eine valide Aussage Vorschläge auf Plausibilität geprüft haben, kann die Entwicklung benötigten ProbandInnen präziser vorhersagen. Die Studie weitergehen. (FB) 8 PharmigInfo
wird dann zwar traditionell durchgeführt, die virtuellen PatientInnen in der Wirkstoff- und in der Kontrollgruppe sta- Modelle tragen aber dazu bei, dass nicht zu wenig Menschen tistisch möglichst exakt entsprechen. Für 1.000 mit dem neuen eingeschlossen werden (dann sind die Studienergebnisse Medikament Behandelte müssen also 1.000 andere in die unter Umständen nicht aussagekräftig genug), aber auch nicht Studie eingeschlossen werden, die ihnen in Bezug auf Alter, mehr als nötig. Die Studie wird effizienter, die Erfolgswahr- Gesundheitszustand, Stadium der Erkrankung oder geneti- scheinlichkeit steigt, weniger PatientInnen werden belastet. schen Befund entsprechen. Das medizinische Personal muss also 1.000 Erkrankte in Digitale PatientInnen – heute schon real die Studie aufnehmen, ihre Behandlung dokumentieren und deren Daten auswerten, die das Testmedikament überhaupt Ein ganz radikaler Ansatz wäre es, überhaupt die Studienteil- nicht erhalten. Das verdoppelt nicht nur den Aufwand für die nehmerInnen zu digitalisieren. Interaktionen zwischen Protei- Studie und kostet wertvolle Zeit. Viele PatientInnen sehen nen lassen sich schon digital darstellen („in silico“), oder auch darin einen klaren Nachteil. An sich würden sie gerne an der das Zusammenspiel zwischen Genen und Proteinen oder Studie teilnehmen, weil es die Aussicht bietet, mit einem neu- ganze Stoffwechselkaskaden in Zellen. Mit Menschen geht das en Krebsmedikament behandelt zu werden. Aber sie wollen natürlich (noch) nicht. Digitalisiert werden sie trotzdem schon nicht in der Kontrollgruppe landen. heute. Indem nämlich PatientInnen gar nicht für die konkrete Ein „synthetischer“ Kontrollarm umgeht das Problem: Studie behandelt werden: Daten von früheren Behandlungen Wirklich in die Studie aufgenommen werden nur Proband- werden so in die Studie eingebaut, als wären diese Erkrankten Innen, die das Prüfmedikament tatsächlich erhalten. Deren eigens dafür rekrutiert worden. So macht das beispielsweise Krankheitsverlauf und die verlängerte Überlebensdauer das amerikanische Unternehmen Flatiron Health. Der Ansatz wird mit PatientInnen verglichen, die – unabhängig von der ist so erfolgversprechend, dass Roche den digitalen PatientIn- nenprovider 2018 übernommen hat. „Bitte nicht in die Kontrollgruppe“ Flatiron nimmt Daten etwa aus der Behandlung von tausen- den von Krebserkrankten und stellt dann nach präzisen Vor- gaben eine „synthetische“ Kontrollgruppe für eine klinische Studie zusammen. Die Kontrollgruppe bilden jene, die nach dem aktuellen Stand der Medizin behandelt werden und mit denen die Wirkung eines neuen Medikaments verglichen wird. Für einen aussagekräftigen Vergleich müssen sich die WARNUNG VOR DER DATENSINTFLUT E r ist Mathematiker und sieht die Sache ganz Die Vorstellung, dass schlaue Computerprogramme schon von nüchtern: „Digitalisierung ist die neue Religion“, selbst auf relevante Zusammenhänge stoßen würden, wenn warnt Gerd Antes immer wieder vor falschen man sie nur lange genug in gewaltigen Datenbergen wühlen Erwartungen an Big Data und künstliche lasse, ist für Antes nur ein „Heilsversprechen“. Bei ForscherIn- Intelligenz. Antes war ein früher Fürsprecher nen in Klinik und Industrie rennt er mit seiner Aufforderung der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, arbeitete als zur Skepsis offene Scheunentore ein. In klinischen Studien Biostatistiker an Universitätskliniken und in der Pharmain- etwa ist es verpönt, im Nachhinein Erkenntnisse aus den Daten dustrie und war bis 2018 Direktor des Deutschen Cochra- herauszufiltern. Hinweise für weitere Forschung lassen sich so ne Zentrums. „Wenn wir den Heuhaufen immer größer durchaus finden. Aber bei Zulassungsbehörden blitzt man mit machen“, sagte er etwa bei einem Colloquium der Gesund- nachträglichen Analysen regelmäßig ab. Sie akzeptieren nur heit Österreich (GÖG), „dann bekommen wir in erster Linie Daten, für die die Studie von vornherein konzipiert war. mehr Heu.“ Ob auch die Nadeln, sprich brauchbare Daten, Hypothesen sind das eine, empirische Nachweise das gefunden würden, stehe noch lange nicht fest. andere. Für Antes sind prospektive, randomisierte und kon- Zusammenhänge werden fast zwangsläufig gefunden, trollierte klinische Studien nach wie vor der Goldstandard wenn man nur lange genug in großen Datenmengen her- medizinischer Evidenz. Er ist nicht grundsätzlich gegen Daten- umstöbert. Über Nonsens-Zusammenhänge wurde sogar schürfen mit künstlicher Intelligenz. Aber zu glauben, dass die ein ganzes Buch gefüllt. So könne man eine klare Korrela- „Datensintflut“ alle Probleme der medizinischen Forschung lö- tion zwischen den Forschungsausgaben der USA und der sen werde, ist für Antes „wissenschaftlich der größte Schwach- Zahl der Suizide durch Erhängen belegen, berichtet Antes. sinn“. (FB) PharmigInfo 9
T H EMA Studie – bereits behandelt worden sind. Unternehmen wie Flatiron greifen dazu auf die Datenbestände von Krankenhäu- sern zurück, durchforsten sie mit ihren darauf spezialisierten Algorithmen und stellen dann eine statistisch genau passende Kontrollgruppe zusammen. Der Vorteil ist klar: Mit vergleich- barem Aufwand können mehr PatientInnen mit dem Testprä- parat behandelt werden, die Studie basiert am Ende auf einer wesentlich größeren und diverseren Studienpopulation, die Ergebnisse sind aussagekräftiger. Auch hier liegen die Vorteile der Digitalisierung nicht in einer fernen Zukunft, sondern sind längst Realität. Bristol Myers Squibb hat schon 2018 eine (auch) mit synthetischen Foto: Adobe Stock PatientInnendaten von Flatiron gestützte Studie erfolgreich bei der FDA eingereicht. „Diese synthetischen Daten haben uns zwei bis drei Jahre Zeitersparnis gebracht“, sagte damals Marisa Co, die bei dem Unternehmen zuständig für For- schungsauswertung ist. Mit Flatiron-Daten arbeitet auch die Roche-Bioinformati- kerin Anna Bauer-Mehren in Deutschland. Flatiron greift auf Krankendaten in den USA zurück. Kooperationen gibt es mit 800 Krankenhäusern. In Deutschland können Forschende in Unternehmen noch nicht auf vergleichbare Datenbestände Foto: Martin Croce/WWTF „Auch andere ALGORITHMISCHER Disziplinen wie Wirtschafts- und QUERDENKER Der Bioinformatiker Lars Greiffenberg hat für Sozialwissenschaften seine forschenden KollegInnen bei AbbVie ein nutzen immer mehr „Spotify für die Wissenschaft“ entwickelt. E Daten aus der prallen s war einmal vor langer Zeit, da hatte man seine Wirklichkeit.“ Musik noch auf CDs gespeichert. Ein gutes Gedächt- nis und etwas Geduld reichten völlig aus, um unter Michael Strassnig, 100 oder 200 Jewel Cases das gesuchte Album zu Wiener Wissenschafts-, Forschungs- identifizieren. Aussichtslos wird dieses Suchsystem, und Technologie-Fonds wenn hunderttausende Songs in der Cloud verfügbar werden. Da helfen nur noch Algorithmen. Dienstleister wie Spotify haben die künstliche Intelligenz längst in Wohnzimmern und auf Smart- phones einziehen lassen. Ordnung ins Chaos bringen wollen nicht nur MusikliebhaberInnen. WissenschaftlerInnen haben ein ähnliches Problem. Täglich erscheinen 8.000 Publikationen zurückgreifen. Vieles wird durch Datenschutzbedenken blo- allein zu pharmazeutischen Themen. ckiert. In Deutschland, findet Roche-Forscherin Bauer-Meh- Der Bioinformatiker Lars Greiffenberg hat daher für seine ren, „wird einfach zu wenig experimentiert“. Mit kleinen forschenden KollegInnen bei AbbVie ein „Spotify für die Wissen- Pilotprojekten könnte in der Praxis geklärt werden, wie sich schaft“ entwickelt. „Heute kann man kaum noch zehn Prozent Daten am besten anonymisieren lassen. „Ich will bei der Ar- der relevanten Primärliteratur lesen“, sagt Greiffenberg. Er ist beit mit den Daten ja nie wissen, wer die Einzelperson ist.“ Leiter für digitale Forschung von AbbVie im deutschen Lud- Der Datenschutz muss für vieles herhalten. Das einzige wigshafen. „Die Algorithmen, die hinter diesem System stehen, Hindernis für mehr Datenforschung kann er aber nicht sein. decken nahezu 100 Prozent der Literatur ab.“ Pharmaforsche- Die deutschen Universitätskliniken arbeiten derzeit an einem rInnen erhalten nicht nur quantitative Hilfestellung. PubLab, so 150 Millionen teuren Projekt (SMART), um ihre Datenbestän- heißt das Suchsystem, „liest“ auch fachfremde Literatur. „Wer im de erst einmal unter sich zugänglich zu machen. Ob und unter Bereich Onkologie forscht, tauscht sich eher selten detailliert mit welchen Voraussetzungen dann auch ein privatwirtschaft- KollegInnen aus der Neurologie aus“, meint Greiffenberg. Wenn liches europäisches „Daten-Bügeleisen“ wie Flatiron oder etwa auf genetischer oder molekularer Ebene Querverbindungen gar ein US-Unternehmen je mit solchen PatientInnendaten bestehen, weist PubLab die Forschenden auch auf solche Publi- forschen dürfte, steht auf einem ganz anderen Blatt. kationen hin. (FB) 10 PharmigInfo
„Die wenigsten machen sich Gedanken darüber, wie ich Foto: Bundesverband Gesundheits-IT überhaupt an Daten komme, mit denen KI-Lösungen gefüttert werden können.“ Andreas Kassner, stellvertretender Vorstand des deutschen Bundesverbands Gesundheits-IT Keine Intelligenz ohne Daten? Unternehmen, die Behandlungsdaten aus hunderten Kliniken Daten produziert und Einsichten ermöglicht, mit denen sich aggregieren, kuratieren und damit die Forschung und insbe- unmittelbar der Einsatz knapper Ressourcen und damit die sondere die Entwicklung neuer Medikamente beschleunigen, Versorgung der Bevölkerung besser steuern lässt. Durch die sind in Europa noch nicht zu sehen. Digitale Werkzeuge wer- zentrale Auswertung der elektronischen PatientInnenakten den sehr wohl entwickelt. „Aber die wenigsten machen sich seiner knapp neun Millionen EinwohnerInnen liefert Israel Gedanken darüber, wie ich überhaupt an Daten komme, mit außerdem Erkenntnisse über die Effektivität von Impfstoffen, denen KI-Lösungen gefüttert werden können“, klagt Andreas die selbst große klinische Studien mit einigen zehntausend Kassner, stellvertretender Vorstand des deutschen Bundesver- TeilnehmerInnen nicht liefern können. bands Gesundheits-IT (BVITG). So weit ist Österreich noch nicht. Sicher, die Corona-Kri- „Eigene“ Daten zu nutzen, statt sie aus den USA zuzu- se hat digitale Schwächen erneut sichtbar gemacht. Israel kaufen, hat nichts mit digitalem Nationalismus zu tun. Es oder auch Dänemark werden immer wieder als leuchtende geht auch nicht allein um Arzneimittelentwicklung oder e-Vorbilder genannt. Dabei sollte nicht übersehen werden, medizinische Fragestellungen. Auch andere Disziplinen wie dass etwa Deutschland bei der elektronischen PatientIn- etwa die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nutzen immer nenakte gerade die ersten Gehversuche unternimmt und mehr Daten aus der prallen Wirklichkeit, je umfassender, nur schrittweise die gesetzlichen Voraussetzungen für die desto besser. Das lasse sich auch an der stetig steigenden Zahl Nutzung von Versorgungsdaten schafft. Hierzulande wurde entsprechender wissenschaftlicher Publikationen ablesen, sagt an ELGA viel herumkritisiert, aber das System steht und Michael Strassnig vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- wächst. Die Briten haben ein staatliches und wesentlich und Technologie-Fonds (WWTF), einer privaten Forschungs- übersichtlicheres Gesundheitswesen, trotzdem endete dort förderorganisationen der Hauptstadt. So wie in Krankenhäu- der erste Anlauf für eine umfassende elektronische Patien- sern gewaltige Datenmassen über reale Behandlungsverläufe tInnenakte vor einigen Jahren in einem milliardenschweren liegen, produzieren auch andere öffentliche Institutionen IT-Desaster. kontinuierlich riesige Datenmengen. In Österreich existieren über 200 solcher „Register“ in öffentlicher Hand. Zugänglich Digitale Sandkiste sind sie bestenfalls in Ausnahmefällen, auf Basis langwieriger, für ForscherInnen prohibitiver Vereinbarungen. „Wir müs- In Österreich wurde der elektronische Impfpass, der auf sen diese Daten für die Forschung zugänglich machen“, sagt der ELGA-Plattform läuft, im Herbst in einer Pandemie-ge- Strassnig. Dann könnte man wissenschaftliche Fragen beant- triebenen Hauruck-Aktion auf Corona-Schutzimpfungen worten, die heute noch gar nicht gestellt werden. ausgerichtet und seither in ersten Bundesländern bereits Um diese Register zugänglich zu machen, hat sich hochgefahren. Keine kleine Leistung in einer föderal zer- Strassnig mit ForscherInnen etwa aus Life Sciences und den klüfteten Gesundheitslandschaft mit einer gewachsenen Sozial- und WirtschaftswissenschaftlerInnen in der Plattform Software-Vielfalt in den Arztpraxen und impfenden ÄrztIn- Registerforschung organisiert. Grundsätzlich ist das möglich, nen, die etwa in Behörden oder beim Bundesheer gar keine ein entsprechendes Gesetz wurde 2018 verabschiedet. In der ELGA-konnektierende Hardware kannten. Praxis steht der Forschungsschalter weiterhin auf „Off“ – kein Auch erste Forschungsregister scheinen sich langsam zu einziges Fachministerium hat bisher die nötige Verordnung öffnen: Bei der Statistik Austria soll ein „Austrian Micro Data erlassen und seine Daten-Register freigegeben. Center“ entstehen. So eine „digitale Sandkiste“ ist getrennt vom eigentlichen Register. ForscherInnen können darin unter Land oder Studie strengen Datenschutzauflagen arbeiten. Je realer die Daten, so die Erwartung, desto relevanter die Forschungsergebnisse, Israel demonstriert gerade beim Kampf gegen das Corona- beispielsweise für die Politik. Noch steht das Daten-Center virus, dass ein modernes, digitalisiertes Gesundheitswesen nur im Regierungsübereinkommen. PharmigInfo 11
POLI T I K & W I RTSC H A F T Fuß am Gas, Hand an der Bremse So viel Lob für die Leistungsfähigkeit der Pharmaindustrie gibt’s nicht alle Tage: Die europäische „Pharma-Strategie“, die EU- Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides Ende 2020 vorgestellt hat, soll alles noch viel besser machen. Die Kommission hat sich ein Foto: Adobe Stock ambitioniertes Arbeitsprogramm verordnet. Die Industrie wird auf allen Ebenen gefor- dert. Aber auch die Mitgliedsstaaten können sich auf schwierige Diskussionen einstellen. B leiben wir zunächst beim Lob. Die Kommission Resistenzen überwinden erklärt in ihrer Pharma-Strategie, dass Europa mit seiner Zulassungsbehörde, EMA, den na- Diesen Zielen wird kaum jemand widersprechen. Zwischen tionalen Behörden und der Industrie über ein den Überschriften enthält die Strategie allerdings Passagen, „starkes Ökosystem“ verfüge. Seit 2002 sei die aus denen sich nicht immer eindeutig erkennen lässt, in wel- Lebenserwartung neugeborener EU-BürgerInnen um 3,3 Jahre che Richtung sich die europäische Pharmapolitik entwickeln gestiegen und dazu hätten neue Medikamente, Impfstoffe und soll. So kritisiert die Strategie, dass sich die Forschungsin- Behandlungsmethoden wesentlich beigetragen. Die Strategie vestitionen der Arzneimittelhersteller „nicht unbedingt“ auf nennt als Beispiele Medikamente zur Behandlung chronischer den größten medizinischen Bedarf konzentrieren würden. Krankheiten wie von Hepatitis C, aber auch neue Impfstoffe Das erfordere eine „Priorisierung“. Forschungsplanung und personalisierte Krebstherapien. in Brüssel? Ganz im Gegenteil: Die Kommission nennt als Die Arzneimittelhersteller würden von allen Branchen den Beispiel für nicht gedeckten Bedarf das Problem antimikro- größten Beitrag zur Forschung in Europa leisten, 2019 waren bieller Resistenzen. das 37 Milliarden Euro, heißt es im Kommissionspapier. Und weiter: „Der Sektor bietet 800.000 direkte Arbeitsplätze und Innovationsbremse lösen weist einen Handelsüberschuss von 109,4 Milliarden Euro auf.“ Auf dieser Grundlage baut die EU-Pharma-Strategie aus- Immer häufiger sind Antibiotika wirkungslos, weil Krank- drücklich auf. Sie verfolgt vier große Ziele: heitserreger resistent geworden sind. Das ist ein enormes - Der gesamte Arzneimittelsektor soll nachhaltig werden, medizinisches Problem. Schon heute sterben deshalb in ökonomisch, aber auch ökologisch – und damit den Green Europa möglicherweise bis zu 33.000 Menschen pro Jahr. Die Deal der EU unterstützen. Strategie erkennt an, dass die marktwirtschaftliche Logik als - Bei der Versorgung mit Medikamenten will die EU krisen- Innovationsbremse wirkt: Wie kann man von Unternehmen fester werden. erwarten, dass sie Unsummen in die Entwicklung neuer, - Auf der internationalen Bühne will die EU mit „starker wirksamerer Antibiotika investieren, wenn gleichzeitig klar Stimme“ mitreden, als Handelsmacht, aber bei Harmoni- ist, dass diese Mittel genau wegen der Gefahr weiterer Resis- sierung und Weiterentwicklung von Normen und ande- tenzen nur äußerst sparsam eingesetzt werden können? Es ren Regularien. brauche „neue unternehmerische Konzepte“, heißt es daher - Und vor allen Dingen will die Kommission sicherstellen, in der Strategie. Noch heuer will die EU innovative Konzepte dass PatientInnen Zugang zu leistbaren Medikamenten vorlegen, wie durch Forschungsförderung, aber auch durch haben. neue Beschaffungsmodelle im Gesundheitswesen wirksame 12 PharmigInfo
werb fördern und den Zugang der EU-BürgerInnen zu Medikamenten verbessern. Dazu sollten öffentliche Käufer „intelligente, innovative Vergabeverfahren entwickeln“. Innovationsbegeistert Für die Pharmaindustrie wolle die Kommission ein „stabiles und flexibles Regulierungsumfeld“ schaffen. Das soll modernsten Technologien zum Durchbruch verhelfen. Von „adaptiven und komplexen klinischen Prüfungen“ ist ebenso die Rede wie von insilico-Verfah- ren zur Wirkstoffsuche und virtuellen Studienkonzepten. Die Kommission will den Weg freimachen für neue Kon- zepte der Datengenerierung, für Big-Data-Analysen und die Einbeziehung von Daten aus dem klinischen Alltag („real world data“) in die klinische Entwicklung. Die Genomfor- schung soll gefördert und die Ergebnisse der Forschung – grenzüberschreitend – zur Verfügung gestellt werden. Anreize für die Entwicklung neuer Antibiotika geschaffen Neue Technologien wie etwa die Gentherapie versprechen werden können. neue Therapiemöglichkeiten. Und innovative Medikamente, die auf einen Schlag eine Krankheit besiegen, statt sie über Verödete Märkte Jahrzehnte nur einzudämmen, verlangen auch innovative Erstattungsmodelle. Auch an anderer Stelle zeigt die Strategie, dass die Versor- Auf der einen Seite also der eiserne Wille zur Förderung gung der Bevölkerung leidet, wenn der Markt nicht funktio- des pharmakologischen Fortschritts. Auf der anderen Seite niert. Wo Arzneimittel per Ausschreibung beschafft werden, enthält die Pharma-Strategie auch eine Reihe von Fragen, kann der Wettbewerb zum Erliegen kommen – etwa dann, Absichten und Vorschlägen, die den Fortschritt durchaus aus- wenn nach „Winner takes it all“-Verfahren ausgeschrieben bremsen können: So sollten die Anreize für Innovationen etwa wird. Dann erhält ein Anbieter den Zuschlag, die anderen im Bereich des geistigen Eigentums überprüft werden. Die In- haken den betreffenden Markt für die nächste Zeit ab – auch dustrie solle außerdem erklären, wie genau ihre Forschungs- in ihrer Produktionsplanung. Hat dann der Ausschreibungs- investitionen zusammenkommen würden. Die Innovationen, gewinner ein Lieferproblem, gibt es keine Wettbewerber, die die Strategie an anderer Stelle so wortreich lobt, könnten die einspringen könnten. Die EU-Strategie will den Wettbe- doch so teuer gar nicht sein, liest man Subtext aus anderen Strategie-Passagen heraus. Verhärtungen aufbrechen Foto: European Union, 2020 Die Kommission kündigt auch an, dass sie gewillt sei, „ver- härtete Strukturen aufzubrechen“. Sie wolle die verschiede- nen nationalen Behörden, die für Zulassung, Technologie- bewertung (HTA), Preisfestsetzung und Kostenerstattung zuständig sind, an einen Tisch bringen und zu mehr Zusam- menarbeit bewegen. Dort, im nationalen Dickicht, gibt es gröbere Probleme mit dem Zugang zu Medikamenten. Der europäische Pharma- verband EFPIA hat in einer Studie die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern untersuchen lassen. Damit PatientInnen Zugang zu einem Medikament haben, genügt nicht die Zulassung auf EU-Ebene durch die EMA. Erst wenn national über die Erstattung entschieden ist, steht es den PatientInnen wirklich zur Verfügung. In Deutschland dauert das im Schnitt 127 Tage, in Polen 823. In den letzten 25 Jahren habe Europa kontinuierlich bei Stella Kyriakides, (EU-Kommisarin für Gesundheit), der Arzneimittelforschung gegenüber den USA an Boden will mit den Akteuren der Wertschöpfungskette der verloren, so Nathalie Moll, EFPIA-Generalsekretärin. Ob der Arzneimittelherstellung und den jeweiligen Behörden Standort künftig wieder stärker wird, liegt auch daran, wie in einen „strukturierten Dialog“ eintreten. die Pharma-Strategie umgesetzt wird. (FB) PharmigInfo 13
POLI T I K & W I RTSC H A F T Die USA haben gewählt … Joe Biden hat die Nachfolge von Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika angetreten. Der Politik- berater und USA-Experte Dr. Thomas Hofer beleuchtet, was dieser Präsidentschaftswechsel für die pharmazeutische Industrie bedeutet. Text: Nicole Gerfertz-Schiefer D ie Auswirkungen des Präsidentschaftswech- dass Biden auch in der eigenen Partei stark unter Druck steht, sels auf die Pharmaindustrie müsse man sich zudem muss er Brücken zu den moderaten Republikanern zunächst auf der Metaebene anschauen, so bauen – und die Krise der Pandemie ist noch lange nicht vor- Hofer, nämlich hinsichtlich des grundsätzlichen bei…“, betont Hofer. Vertrauens und Zutrauens in die Wissenschaft: „Man muss klar sagen, dass es in der Ära von Donald Trump Stärkere Preiskontrolle keinen großen Sprung vorwärts gegeben hat, eher im Gegen- teil: Verschwörungstheorien haben an Bedeutung gewonnen, bei Medikamenten was auch die Impfskepsis angekurbelt hat. Mit Joe Biden Ein weiteres aktuelles Pharmathema haben sich die Werte sofort wieder nach oben bewegt“, be- sind die hohen Medikamentenprei- richtet Hofer. Dies habe bereits während des Wahlkampfes die se in den USA, die von der Bevöl- Haltung der Pharmaindustrie gegenüber Trump beeinflusst: kerung als Problem angesehen „Normalerweise geht der überwiegende Anteil des Phar- werden. Bestrebungen, die Preise ma-Fundraisings im Wahlkampf an die Republikaner. Das hat zu senken, wurden nicht nur von sich 2020 gedreht: Rund 80 % gingen an die Demokraten. Dies Trump vorangetrieben, sondern Foto: H&P wurde sicher zu einem Teil durch den Wissenschaftsskeptizis- sind ein parteiübergreifender mus von Trump ausgelöst. Zudem hat Trump die Pandemie Ansatz. „Maßnahmen zur stärkeren oft heruntergespielt – auch das war für die pharmazeutische Preiskontrolle werden wohl auch unter Industrie natürlich eine Haltung, mit der sie nicht konform Joe Biden umgesetzt werden. ging“, erklärt Hofer. Auch das Thema Phar- maimporte – Trump hat Biden: kein „Pharma-Fresser“ hier günstigere Impor- te, beispielsweise über Generell sei Biden kein „Pharma-Fresser“, sondern deutlich Kanada, vorange- industriefreundlicher als so manch andere KandidatInnen trieben – wird unter der Demokraten; eine höhere Unternehmenssteuer werde Biden weiter aktuell aber auch unter Biden kommen, so Hofer. Doch Biden agiere bleiben. Welche ge- generell wissenschaftsfokussiert und faktenbasiert, nicht so nauen Maßnahmen emotional wie Trump: „Das ist von Vorteil für die pharmazeu- zur staatlichen Be- tische Industrie. Vor allem die onkologische Forschung wird schränkung der von Biden sicher vorangetrieben werden. Auch Initiativen Medikamenten- zur Veränderung des Gesundheitswesens wird es geben, aber preise kommen wie weit Biden damit kommt, bleibt abzuwarten. Der WHO, werden, bleibt zu der Trump auf Distanz gegangen ist, wird Biden wieder abzuwarten“, näher rücken. Einer seiner ersten Akte im Oval Office war ja, fasst Hofer den Austritt aus der WHO wieder abzublasen“, schildert der zusammen. USA-Experte. Generell werde Biden Trumps Ansatz „America First“ sicher abmildern und auch bei Gesundheitsthemen einen Thomas Hofer, Politik- multilateralen Ansatz verfolgen. „Doch man muss bedenken, berater und USA-Experte 14 PharmigInfo
Impfstoffproduktion: Foto: Cszaky (k)ein EU- Sorgenkind Mag. Alexander Herzog, Foto: Maupi Bis die EU, auch in Hinblick auf Impfstoffe, zu einer Generalsekretär der PHARMIG „Gesundheitsunion“ wird, ist es noch ein langer Weg. Die aktuellen Absichtserklärungen der Kommission zeigen aber in die richtige Richtung. Nun müssen Mag. Renée Gallo-Daniel, Präsidentin des österreichi- Taten folgen. Text: Nicole Gerfertz-Schiefer schen Verbandes der Impf- stoffhersteller (ÖVIH) G rundsätzlich werden in der EU jährlich 1,7 Milli- Produktionsstätten. Dies hält auch Renée Gallo-Daniel, Präsi- arden Impfstoffdosen hergestellt, das entspricht dentin des österreichischen Verbandes der Impfstoffhersteller, 76 % des weltweiten Bedarfs an den diversen für sinnvoll, gibt aber dabei zu bedenken: „Derzeit inaktive Impfstoffen. Von zu wenig Impfstoffproduktion Produktionsstätten umzurüsten ist ein guter Ansatz, dauert in der EU kann also eigentlich keine Rede sein. allerdings ein paar Monate, da jeder Impfstoff eine eigene Dennoch stehen aktuell bei den COVID-19-Impfstoffen in der Technologie benötigt. Bestehende Impfstoffwerke für die Pro- EU nicht die Mengen zur Verfügung, die sich viele wünschen. duktion von COVID-19 zu verwenden, würde zu Engpässen Das sorgt für Unmut und es ist von Exportverbot, Aussetzung bei anderen Arzneimitteln führen, das kann nicht der richtige des Patentschutzes und Ähnlichem die Rede. Von der EU selbst Weg sein“, erklärt sie. Bei neuen Fabriken sollte die Frage kommen aber auch andere Töne. So hat EU-Kommissar Thierry diskutiert werden, was damit geschieht, wenn die Pandemie Breton Anfang Februar 2021 verkündet, Impfstoffhersteller vorbei ist. Der Vorschlag, sozusagen „Notfallproduktions- beim Ausbau bestehender Produktionsstandorte sowie bei stätten“ für die Produktion dringend benötigter Arzneimittel freiwilligen Kooperationen mit anderen Pharmaunternehmen in Pandemie-Zeiten zu errichten, ist vorerst noch kritisch zu unterstützen zu wollen. Für letztere gibt es bereits zahlreiche betrachten, denn es ist unklar, was genau in Pandemie-Zei- Beispiele, wie Unternehmen einander bei der COVID-19-Impf- ten oder in den von PolitikerInnen sogenannten „normalen stoffproduktion unter die Arme greifen. Zeiten“ an „nicht dringend benötigten Gütern“ überhaupt hergestellt werden muss bzw. soll… Patentschutz ist Beschleuniger Überblick über Produktions- Der Aussetzung von Patenten erteilt Breton eine Absage, denn es gehe „nicht um das Thema geistiges Eigentum, sondern kapazitäten schaffen darum, Produktionsstätten zu haben“. Das sieht auch PHAR- Für die Zukunft braucht die EU auf jeden Fall „Pandemic MIG-Generalsekretär Alexander Herzog so: „Gerade der Preparedness Pläne“, damit man beim nächsten Mal besser Patentschutz hat es ermöglicht, dass wir uns in kürzester Zeit vorbereitet ist. „Das beginnt damit, dass alle Staaten, aber auch mit Impfungen vor COVID-19 schützen können. Weil nämlich die EU gemeinsam mit der WHO sehr aufmerksam epidemio- die Forschung auf bereits vorhandenem Wissen aufbauen logische Entwicklungen beobachten müssen“, so Gallo-Daniel. konnte. Diesen Vorsprung hätte es ohne Patentschutz nicht Neben solchen zu schaffenden Strukturen, um potenzielle gegeben.“ Gefahren frühzeitig zu erkennen, benötigen die Länder und Die Möglichkeit, Innovationen zu schützen, ist ein zentra- die gesamte EU in Zukunft einen Überblick über vorhandene ler Antrieb in der Arzneimittelforschung. Maßnahmen wie die und verfügbare Entwicklungs- und Produktionskapazitäten. Gründung eines europäischen Netzwerks für klinische Tests, So könnte man sicherstellen, dass auch benötigte Hilfsmit- die beschleunigte Zulassung von adaptierten Impfstoffen, ver- tel wie z. B. Spritzen rechtzeitig vorrätig sind. Zudem sind kürzte Genehmigungsverfahren für neue oder umgewandelte regelmäßige Bedarfsanalysen – welcher Impfstoff in welchem Impfstofffabriken und Hilfen zur raschen Produktionsauswei- Ausmaß in der EU produziert wird – wichtig. Dadurch würde tung, wie sie Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäi- man dem Ziel der EU-Pharma-Strategie, Europa zu einer schen Kommission, mit dem „Hera Incubator“-Programm in Gesundheitsunion zu machen, einen Schritt näherkommen. Aussicht gestellt hat, sind ein zielführender Weg, um aktuell „Und ganz dringend braucht es einen Dialog auf Augenhöhe die Impfstoffproduktion zu steigern. Dazu gehören auch die mit allen Beteiligten, in dem die Pharmaindustrie nicht als angekündigten zusätzlichen Investitionen für die Moderni- Kostentreiber, sondern als wertvoller Partner gesehen wird“, sierung bzw. Umrüstung bestehender und den Bau neuer so Alexander Herzog. PharmigInfo 15
FOR SC H UNG Medikamenten- sicherheit in der Schwangerschaft Pro Jahr werden in der EU rund 5 Millionen Frauen schwanger. Rund 85.000 Kinder werden jährlich in Österreich geboren. Nach neun Monaten Schwangerschaft folgt bei den meisten frischgebackenen Mamas eine Stillzeit über mehrere Monate. Eine lange Zeit, in der die Einnahme von Medikamenten viele Fragen aufwirft. Das europäische Forschungsprojekt „ConcePTION“ will Antworten liefern. Text: Nicole Gerfertz-Schiefer S chwangere und stillende Frauen sind aus Sicher- heitsgründen im Normalfall von der Teilnahme an klinischen Studien ausgeschlossen. Laut ConcePTION verfügen daher nur 5 % aller Medikamente über ausreichende Sicherheitsinformationen bezüglich ihrer Verwendung in Schwangerschaft und Stillzeit. Gleich- zeitig benötigen etwa neun von zehn Schwangeren zumindest einmal ein verschreibungspflichtiges Medikament. Diese Situ- ation macht es den betroffenen Frauen und auch der ÄrztIn- nenschaft schwer, fundierte Entscheidungen über den Einsatz von Medikamenten zu treffen. Ängste, Unsicherheiten und in manchen Fällen auch das Nicht-Einnehmen von eigentlich notwendigen Arzneimitteln sind die Folge. Frauen unterrepräsentiert in klinischer Forschung Dabei ist die Situation rund um die Arzneimittelsicherheit nicht nur für schwangere, sondern allgemein für alle Frau- en ein wenig anders als für Männer. Denn das weibliche Geschlecht ist generell in der klinischen Forschung unter- repräsentiert, war sogar jahrzehntelang gänzlich davon ausgeschlossen. Dass Frauen an klinischen Studien nicht teilnehmen durften, wurde mit dem Schutz der ungebore- nen Kinder begründet. Denn auch wenn vor dem Beginn Foto: Adobe Stock einer Studie keine Schwangerschaft bestand, könnte diese währenddessen eintreten. Das wollte man nicht riskieren. Erst Ende der 1980er realisierte die Wissenschaft, dass es bei Erkrankungen und auch bei der Wirkung von Medikamen- ten geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, denen unter 16 PharmigInfo
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