AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung

Die Seite wird erstellt Hanno Vetter
 
WEITER LESEN
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
[AN-]SICHTEN
VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT

29.09.2017–06.01.2018
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
[AN-]SICHTEN
VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT

Mit Werken von:
Gregory Crewdson
Thomas Demand
Valie Export
Joan Fontcuberta
Anton Henning
David Hockney
Barbara Klemm
Rosemary Laing
Louise Lawler
Ville Lenkkeri
Barbara Probst
Michael Schäfer
Helen Sear
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
3

»Komplexität ist die Gesamtheit der Möglichkeiten,
die sich ereignen können.«
NIKLAS LUHMANN
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

FOTOGRAFIE UND
WIRKLICHKEIT
Unter dem Titel »[An-]sichten« zeigt die       Unsere ersten Gespräche über eine Ausstel-
DZ BANK Kunstsammlung alle zwei                lung fielen in die Zeit des Wahlkampfes in
­Jahre im Wechsel mit den Stipendiaten-        den USA. Die Art und Weise, wie diese
 ausstellungen f /12.2 Präsentationen, die     Präsidentschaftswahl ausgefochten wurde,
 von Persönlichkeiten aus unterschiedlichen    hat Thomas Rietschel tief beunruhigt.
 Disziplinen umgesetzt werden.                 Dem Kampfbegriff der »fake news«, den
                                               Donald Trump in die Welt sandte, wollte
Was uns daran reizt, ist der Blick aus einer   er die Frage gegenüberstellen, was Wirk-
anderen als der kunstwissenschaftlichen        lichkeit eigentlich ist, wie sie zustande
Perspektive, der Blick von Personen, die       kommt und wer sie definiert. Können wir
sich in ganz eigenen Kontexten bewegen.        wirklich einfach von der berühmten For-
Gleichzeitig sind wir alle Teilnehmer un-      mel Ludwig Wittgensteins ausgehen: »Die
serer Zeit und unserer Gesellschaft. Wir       Welt ist alles, was der Fall ist«? Fangen die
haben Zugriff auf dieselben Informatio-        Fragen nicht hier erst an? Stecken im Wort
nen und bewegen uns durch dieselbe             »Wirklichkeit« nicht auch das »Werk« und
­Umgebung. Dennoch nimmt jeder von             das »Wirken«, wie ja auch der ihm zugrun-
 uns eine andere Fassung dieser Wirklich-      de liegende lateinische Begriff ›actualitas‹
 keit wahr und entwickelt unterschiedliche     die Handlung (›actus‹) in sich aufbewahrt?
 Ansichten, die ihn beschäftigen und           Und was bedeutet dies, wenn dieses Han-
 ­prägen.                                      deln zudem medial gespiegelt wird? Wie
                                               gehen wir mit solchen Formen der Bericht-
In diesem Jahr ist es Thomas Rietschel,        erstattung um? Wann fängt eine einseitige
ehemaliger Präsident der Hochschule für        Darstellung der Wirklichkeit an, in die
Musik und Darstellende Kunst in Frank-         bewusste Falschmeldung umzuschlagen,
furt am Main, den wir dafür gewinnen           und was hat dies für Konsequenzen – auch
konnten, eine Ausstellung aus unserer          und besonders im Rahmen der Politik?
Sammlung zusammenzutragen.
                                               Diesen Überlegungen folgte eine sehr per-
Die DZ BANK verbindet eine lange Part-         sönliche Auswahl von fotografischen
nerschaft mit der HfMDK. Nichts lag            Kunstwerken, die wiederum jedes für sich
also näher, als Thomas Rietschel zu fragen,    die sehr persönliche Haltung einer Künst-
ob er sich eine Zusammenarbeit vorstellen      lerin oder eines Künstlers widerspiegeln.
kann.                                          Diese im Werk zum Ausdruck gelangten
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
5

Stasi-Zentrale gestürmt, 15. Januar 1990, Bundesarchiv Bild 183-1990-0116-014, Foto: Thomas Uhlemann

Haltungen wiederum stoßen auf die je                   lungsweise und ihrer Reproduzierbarkeit
subjektive Sichtweise des Betrachters. Das             begründet, die eine genuin individuelle
Ergebnis dieses »Polylogs« ist also gerade             Schöpfung auszuschließen scheinen. Das
das Gegenteil dessen, was Donald Trump                 gilt für alle Bereiche der Fotografie, von der
propagiert: eine sich aus Machtverhältnis-             sogenannten Presse- und Dokumentarfoto-
sen generierende Wirklichkeit. Die Diver-              grafie, die noch am ehesten den Anspruch
genz führt vielmehr zu einer Kontingenz                verfolgt, der Realität nahezukommen, über
und damit zu der Möglichkeit, die Kom-                 die journalistische Fotografie, die schon
plexität der Perspektiven und Meinungen                eine individuelle dramaturgische Abfolge
zu erkennen und zu respektieren, anstatt               impliziert, bis hin zu künstlerischen Um-
sie zu negieren und zur Lüge – und damit               gangsformen mit diesem Medium. Die
für unwirklich – zu erklären.                          Letzteren scheinen dabei die meiste Frei-
                                                       heit zu genießen.
Die Fotografie spielt in der Frage nach der
»Macht der Bilder« eine besondere Rolle.               Nach der Sichtung des Sammlungsbestan-
Denn seit ihren Anfängen galt die Foto-                des und der Suche nach den für ihn pas-
grafie (und gilt dies bis heute) als ein Me-           senden Bildern, entschied sich Thomas
dium, das die Realität scheinbar unver-                Rietschel, die Arbeit »Exposure #56, NYC,
fälscht abzubilden vermag. Die Ursache                 428 Broome Street, 06.05.08, 1:42 p. m.«
dafür liegt in ihrer technischen Herstel-              aus dem Jahr 2008 von Barbara Probst ins
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

Barbara Klemm, Kaufhof Frankfurt a.M., 1970, 61,3 × 51,3 cm

Zentrum zu stellen. Darin zeigt die Künst-              Eine weitere frühe Entscheidung fiel für
lerin eine Szene, die zur selben Zeit mithil-           die Arbeit »Büro« von Thomas Demand,
fe von zehn im Raum verteilten Kameras                  die sich auf eine Fotografie bezieht, die
aus zehn verschiedenen Perspektiven foto-               am 15. Februar 1990, also noch vor dem
grafiert wurde. Diese Vielansichtigkeit ein             offiziellen Ende der DDR, durch die
und derselben Szene vermittelt aber nun                 Tages­presse ging. Sie soll ein Büro der
keineswegs den Eindruck einer umfassen-                 Staats­sicherheit nach der Stürmung der
den Annäherung an die Wirklichkeit. Ganz                Bürger dokumentieren, in dem offen­
im Gegenteil gewinnt der Betrachter durch               sichtlich die Akten durchwühlt worden
die Verschiedenartigkeit der Richtungen,                waren. Ob es sich um Akten handelte,
die teils durch Anschnitte nur kleine Teile             welche die Stasi noch vernichten wollte,
des Sets sichtbar machen, den Eindruck,                 oder um Unter­lagen, die die Arbeitsweise
dass ihm entscheidende Bereiche fehlen,                 des damaligen Ministeriums für Staats­
um die Ganzheit des Geschehens erfassen                 sicherheit dokumentieren sollten, ist
zu können. Je mehr Perspektiven einem                   nicht zu er­kennen. In dem Nachbau, den
geboten werden, desto mehr entfernt sich                Demand erst 1995 von diesem Innenraum
der Beobachter von der einen Wirklichkeit.              an­­fer­tigte, handelt es sich zudem um
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
7

­ nbeschriebene Blätter. Es geht also nicht
u                                               unsere Wahrnehmung der Vorkommnisse
um das, was real vorgefunden wurde, son-        von über drei Dekaden maßgeblich geprägt.
dern um das Bild selbst, das ins kollektive
Gedächtnis einging und mit dem jeder Be­        Dabei sind der Begriff der Dokumentar­
trachter etwas anderes verbindet: Sei es die    fotografie und ihr Gebrauch grundsätzlich
Angst vor E­ ntdeckung, Zorn angesichts         zu hinterfragen. Wie der Fotograf, Künst-
der Bespitzelungen oder die Freude über         ler, Autor und Ausstellungsmacher Rein-
das Ende einer Regierung, deren Ziel es         hard Matz erläutert, wurde der Begriff
gewesen war, ihren Bürger­innen und Bür-        »dokumentarisch« (documentary) in den
gern eine kollektive Wahrnehmung der            1920er Jahren in Amerika geprägt und
Realität aufzuzwingen.                          kennzeichnete zunächst eine u. a. mit den
                                                Namen Walker Evans, Dorothea Lange,
Dazu traten nach und nach weitere Arbei-        Russel Lee, Arthur Rothstein und Ben
ten von Künstlerinnen und Künstlern, die        Shahn verknüpfte künstlerische Bewe-
auf ganz unterschiedliche Weise den dis-        gung, die sich der Aufgabe verpflichtet
paraten Umgang im Erzeugen einer Foto­          sah, mittels der Fotografie »die relativ
grafie widerspiegeln und den Betrachter         wohlhabenden Städter mit der Armut der
immer wieder dazu auffordern, seinen            Landbevölkerung zu konfrontieren und
­eigenen Standpunkt zu überprüfen und           so etwas wie ein ›amerikanisches Gemein-
 zu hinterfragen.                               schaftsbewusstsein‹ herzustellen«. Diese
                                                Fotografien weisen sämtlich höchst indi-
Barbara Klemm war von 1970 bis 2005             viduelle Stile auf. In der deutschen Über-
Redaktionsfotografin der »Frankfurter           setzung wird der Begriff der Dokumentar-
Allgemeinen Zeitung« und hat die Redak-         fotografie dagegen für alle Bereiche
teure in dieser Zeit auf zahllose Reisen        herangezogen, in denen das, »was der Fall
begleitet. Sie steht für eine Fotografie, die   ist«, authentisch dokumentiert werden soll.
die Ereignisse der Zeit in Bilder zu fassen     Dies hat dazu geführt, dass der Fotografie
versucht. Sie selbst betont immer wieder,       ganz allgemein eine Abbildungsfunktion
dass sie keine Künstlerin sei. Ihr Blick        zugesprochen wurde.
und die Auswahl ihrer Motive sowie ihre
Bildkompositionen zeugen jedoch von             Die Bedeutung der Fotografie, so Reinhard
einer sehr bestimmten persönlichen Spra-        Matz weiter, erschöpft sich jedoch »niemals
che. In Klemms Arbeiten wird unmissver-         in ihren analogischen Momenten zur vor-
ständlich deutlich, dass ein Autor selbst       gegebenen Wirklichkeit«; in dem Maße,
da, wo er sich der Dokumentation der            wie Fotografie als eine künstlerische Praxis
Wirklichkeit verpflichtet fühlt, eine gro-      betrieben und verstanden werde, stehe sie
ße individuelle Bildsprache entwickeln          sogar »quer zu dokumentarischen Ansprü-
kann. Mit ihren Bildern hat sie zugleich        chen, genauer, das, was eine Fotografie zu
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

einem ästhetischen Produkt erst macht, ist        auf: einerseits in der Veränderung eines
nichts anderes als gerade das differentielle      Motivs und andererseits in der Ver­a r­bei­
Verhältnis zu vorgegebener Wirklichkeit,        tung des Materials. Indem sie das Motiv
das Maß ihrer Besonderung, Verdichtung,         der Frau, die eine Treppe herabsteigt, in
Konstruktion und Bedeutungskonstitu­            seiner Verarbeitung seit ­E adweard
tion, die Konsistenz der Formulierung           ­Muybridges »Woman Walking Down
dessen, was eine Fotografie immer nur            Stairs« von 1887 über Marcel Duchamps
sein kann: Eine spezifische Sichtweise der       »Nu descendant un escalier no. 2« aus dem
Wirklichkeit.«                                   Jahr 1912 und Gerhard Richters »Ema
                                                 (Akt auf einer Treppe)« von 1966 bis hin
Um ein Bindeglied für die vermeintlich           zu ihren eigenen Bildern durchkonjugiert,
dokumentarische und die künstlerische            bietet sie eine Vielzahl an subjektiven
Fotografie zu finden, schlugen wir einen         Wirklichkeiten an, die der Betrachter
Neuankauf für die Ausstellung »[An-]sich-        durchlaufen kann. Gleichzeitig stellt sie
ten« vor. Michael Schäfer ist ein Künstler,      die Malerei und die Fotografie im Blick
der sich der Verarbeitung von Bildern wid-       auf mögliche Verarbeitungsformen auf
met, die wir aus den Medien – sei es der         dieselbe Stufe. Im Grunde zeigt sie in
Zeitung, dem Fernsehen oder dem Inter-           ­dieser sehr gedrängten Arbeit die Ent­
net – zu kennen scheinen. Er stellt sie nach    wicklung zur Abstraktion in der Kunst
oder kombiniert sie mit eigenen Aufnah-         auf. Denn während Muybridge sich noch
men und hinterfragt auf diese Weise ihren       mit den realen Bewegungsabläufen des
Wahrheitsgehalt. Zudem überschneidet er         Menschen (und der Tiere) beschäftigt hat,
die zumeist aus Kriegsregionen stammen-         wird das Motiv in seiner weiteren Ver­
den Bilder mit subjektiven Alltagssituatio-       wendung ­abstrahiert und dient am Ende
nen, was sowohl das Dokument als auch             lediglich als kultureller Querverweis
die Inszenierung in völlig neue Zusam-         ­innerhalb ­einer Ausstellungsszenerie.
menhänge stellt. Die Bilder des Schreckens
gewinnen eine neue Intensität. Bei der         Massimo Cacciari, Philosoph und bis 2010
Vorstellung, dass der Schritt von unserer      Bürgermeister von Venedig, unterstreicht
›heilen‹ Welt zur Katastrophe im Grunde        den Grad der Abstraktion, welcher der
winzig ist, fühlen wir uns plötzlich auf       Fotografie grundsätzlich innewohnt. »Das
eigentümliche Weise bedroht, so dass die       ›Fotografische‹ ist keine Duplikation der
Bedingtheit der Ruhe im einen und der          Realität, sondern die Verkörperung der
Unruhe im anderen plötzlich offenkundig        gänzlichen Unmöglichkeit ihrer Duplikati-
zu werden scheint.                             on.« Was an der Fotografie »am meisten be­
                                               unruhigt, ist ihre absolute Abstraktion, ist,
Louise Lawler greift die Infragestellung der   dass sie auf keinen Fall Duplikat dessen ist,
Wirklichkeit auf unterschiedlichen Ebenen      was ist, sondern eine neue Realität vorlegt.«
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
9

                                                 angefertigt? Indem er die reale Vase mit
                                                 den Blumen neben dem Gemälde ablich-
                                                 tet, werden beide auf dieselbe fotografische
                                                 Ebene gehoben. Die spezifische Zeitlich-
                                                 keit der fotografischen Aufnahme wird
                                                 hier ebenso thematisiert wie die Wahrneh-
                                                 mung der Wirklichkeit, die der subjekti-
                                                 ven Umsetzung des Motivs in dreifacher
                                                 Hinsicht zugrunde liegt: als greifbare Blu-
                                                 menvase auf dem Tisch, als das Gemälde
                                                 einer Vase mit gelben Rosen und als die
                                                 Fotografie als Produkt dieser Verarbei-
                                                 tung.
Louise Lawler, Add To It (E), 2003, 21 × 21 cm
                                                 Alle Bilder dieser Ausstellung stellen unse-
                                                 re Wahrnehmung gleich in mehrfacher
In jeder weiteren Verarbeitung der Frau,         Hinsicht infrage, indem sie Irritationen
die die Treppe herabsteigt, kommt eine           der Wirklichkeitsabbildung konstruieren,
andere, neue Wirklichkeit zum Ausdruck.          die uns zweifeln lassen. Was ist richtig?
                                                 Was ist falsch? Diese Form der Fragestel-
Vielleicht ließe sich das Bild von Lawler        lung scheint nicht mehr angemessen zu
gar als eine Überordnung der Fotografie          sein. Vielmehr werden wir in unserer
über die Malerei lesen, insofern die Künst-      Wahrnehmung auf eine Vergewisserung
lerin bei Muybridge als einem Pionier der        unserer selbst zurückgeworfen: Wo stehen
Fototechnik beginnt und bei ihrer eigenen        wir? Wie nehmen wir wahr? Aus dieser
Aufnahme endet. Zeitlich gesehen wäre            unmittelbaren Betroffenheit und im Dia-
die Malerei so nur ein Moment in der             log mit den Bildern oder mit anderen Be-
künstlerischen Entwicklung eines Motivs.         suchern gilt es, die subjektive Wirklich-
                                                 keitswahrnehmung immer wieder neu zu
Ähnlich wie Louise Lawler stellt auch            überprüfen und zu verändern.
­David Hockney Malerei und Fotografie
 einander gegenüber. Eine Vase mit Blumen        »Roland Barthes hat […] dieses Betroffen-
 neben einem Gemälde, welches exakt das-         sein durch ein ungewolltes Beiwerk im
 selbe Motiv wiedergibt. Was war vorher          Foto als den Beweis angesehen, dass die
 da? Das Huhn oder das Ei? Ist das Still­        Fotografie in ihrem eigensten Wesen eben
 leben auf dem Tisch eine Nachbildung des        doch nichts anderes als pure Analogie der
 Gemäldes oder hat Hockney die Malerei           kontingenten Wirklichkeit sei.« (Andreas
 nach dem Vorbild der Vase auf dem Tisch         Haus)
AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

Vielleicht ist es genau diese Kontingenz,       Es bleibt also jedem Betrachter überlassen,
die es uns erlaubt, die Fotografie als Abbil-   seine eigene Sichtweise vor den Bildern
dung der Wirklichkeit zu begreifen. Denn        gleich mehrfach zu wechseln. Die Künstle-
wenn wir glauben, etwas sei genau so und        rinnen und Künstler nehmen uns dabei an
nicht anders gewesen, müssen wir uns nicht      die Hand und weisen uns den Weg in die
mit der Vielzahl an Wahrnehmungsmög-            Wirklichkeit der Mehransichtigkeit.
lichkeiten auseinandersetzen. Wir tun so,
als gäbe es einen Konsens und blenden die       Dr. Christina Leber,
Wirklichkeit anderer Perspektiven aus –         Leiterin der DZ BANK Kunstsammlung
genau so, wie Donald Trump dies tut.

Der Kunsthistoriker Herbert Molderings
geht sogar so weit, zu behaupten, dass wir
heute Fotografien als Beweise für Realität
heranziehen, um uns der Komplexität des
Lebens zu verweigern. Ein Bild soll die
vereinfachte Realität transportieren – und
daher möchten wir einfach gerne an dieses
Bild glauben.

Das Riskante dabei ist, dass bei aller Kon-
tingenz die politischen und gesellschaft­
lichen Entscheidungen einer Einigung be-
dürfen. Für die Grundlage dieser Einigung
ist im Grunde nur eines von Bedeutung:
Dass Menschen in ihrer Wahrnehmung
der Wirklichkeit nicht in die Irre geführt
werden. Und das bedeutet, auch andere
Sichtweisen und Argumente wirken und
wirksam sein zu lassen, statt sie einfach als
»fake news« abzutun. Es geht um eine
Grundeinigung im Hinblick auf eine Viel-
seitigkeit der Perspektiven, die man an das
Leben, an die Politik, an die persönliche
Situation anlegen kann, eine Grundeini-
gung, die auch Irrtümer zulässt und Fehler
korrigierbar macht.
11

David Hockney, »Roses for Mother« December 4th 1995, 1995, 117 × 136,5 cm,
DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum
Louis Jacques Mandé Daguerre, Triptychon »Boulevard du Temple«, Faksimiles im orig. Passepartout u. Rahmen,
Inv.-Nr. R 6312.1-8, Foto Nr. D72709 © Bayerisches Nationalmuseum München, Foto: Bastian Krack
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

VOM UMGANG MIT DER
WIRKLICHKEIT
Ich habe spontan und mit Freuden »ja«          selber auf Entdeckung gehen kann. Also:
gesagt, als ich vor eineinhalb Jahren das      Kein Best-of des Kurators (welche Anma-
Angebot erhielt, eine Ausstellung gestalten    ßung wäre das), sondern ich möchte einen
zu dürfen, aber als ich dann vor der Fülle     roten Faden aufspannen zwischen Gefal-
und Diversität der Fotografien in der          len und Sinn, zwischen verwirrender
DZ BANK Kunstsammlung stand, stellte           künstlerischer Offenheit und langweiliger
sich Ernüchterung ein. Die Vielfalt der        pädagogischer Stringenz. Wenn es gelin-
Möglichkeiten, die sich mir eröffneten,        gen sollte, dem Besucher der Ausstellung
löste eher Beklemmung als Begeisterung         mehr Fragen zu stellen als Antworten zu
aus. Dazu kommt, dass ich Laie auf dem         geben, ohne den roten Faden reißen zu
Gebiet der Fotografie bin und dies meine       lassen, dann habe ich erreicht, was ich
erste Ausstellung ist, die ich kuratiere.      wollte.

Ich musste also meinen Weg finden, wie         In die Zeit der Vorbereitung dieser Ausstel-
man über 7.500 Fotografien auf 40 redu-        lung fiel die Wahl von Donald Trump.
ziert und diese dann auch noch sinnvoll        Und mit ihm kam ein Politiker in einer der
aufhängt. Ohne den erfahrenen Rat von          ältesten Demokratien der Neuzeit an die
Frau Dr. Leber und ohne die engagierte         Macht, der einen Grundpfeiler der Demo-
Unterstützung durch ihr Team wäre mir          kratie ohne Scheu und Skrupel in Frage
das nicht möglich gewesen. Dafür bin ich       stellt. Die Politik von Trump orientiert sich
sehr dankbar.                                  nicht mehr an der Wirklichkeit, sondern er
                                               bastelt sich (auch mittels »alternative facts«)
Mir war schnell klar: Eine Ausstellung nur     seine eigene Wirklichkeit, um das durch-
mit den – meiner Ansicht nach – interes-       setzen zu können, was er für richtig hält.
santesten Bildern zu gestalten, wäre mir zu
wenig. Deshalb habe ich mir ein Thema          Natürlich war Politik schon immer ein
gewählt, das mir wichtig ist und das mich      Ringen darum, was denn nun die Fakten
aktuell sehr beschäftigt. Bei der Auswahl      sind, mit denen man sein Handeln be-
und Hängung war ich bemüht, eine Syste-        gründet, und natürlich kennen auch wir in
matik und innere Bezüge herzustellen, ohne     Deutschland das Zurechtbiegen der Wahr-
das Ganze zu einer Schulstunde werden zu       heit. Die Geschichte der BILD-Zeitung ist
lassen, und ich hoffe, dass es mir ge­lungen   auch eine Geschichte von »alternative
ist, dem Besucher Raum zu geben, damit er      facts«, die von Politikern stets mit Freuden
15

aufgegriffen wurden, wenn sie das eigene      Deshalb ist die Frage von Bedeutung: Wie
Weltbild bestätigten.                         erkennen wir die Wirklichkeit? Was ist
                                              Wirklichkeit?
Aber mit Trump haben wir eine neue Situ-
ation: Er verlässt den Konsens, dass man      Diese Frage begleitet die Entwicklung der
im demokratischen Prozess um die »Wahr-       Fotografie seit ihrer Erfindung. Als Anfang
heit« ringt, nach der richtigen Lösung        des 19. Jahrhunderts die ersten Fotografien
sucht, und zwar mittels Argumenten, die       entstanden, war die Öffentlichkeit begeistert
auf überprüfbaren und möglichst objek­        über die naturgetreue Abbildung der sicht-
tiven Fakten beruhen. Trump und seiner        baren Welt. Man war überzeugt davon,
Mannschaft scheint es egal, ob es Fakten      dass man mit ihr ein geeignetes Mittel ge-
gibt: Was nicht die eigene Position bestä-    funden hatte, die Wirklichkeit so zu zei-
tigt, das sind »fake news«. Die anstrengen-   gen, wie sie ist. Am Beginn dieser Ausstel-
de Suche nach der Erkenntnis der Wirk-        lung sehen Sie eine Aufnahme von Louis
lichkeit hält er für überflüssig.             Daguerre aus dem Jahre 1839: »Boulevard
                                              du Temple«, Paris (mit Schuh­putzer). Ge-
Und diese Suche ist anstrengend – die Phi-    stochen scharf erkennen wir die Häuser,
losophie beschäftigt sich seit den alten      die Straße, die Bäume in allen Details.
Griechen damit. In unserem Jahrhundert        Aber: Obwohl es Mittagszeit ist, bleibt die
ist sie keinesfalls einfacher geworden. Wir   Straße menschenleer. Lediglich zwei Perso-
werden überschwemmt von einer nicht           nen kann man im Vordergrund leicht ver-
mehr bewältigbaren Flut an Informatio-        wischt erkennen: einen einsamen Herren
nen, und je mehr wir wissen, umso hoff-       und einen, der ihm die Schuhe putzt. Es
nungsloser erscheint der Versuch, die Welt    war die lange Belichtungszeit, die dazu
verstehen zu können. Auch die Komplexi-       führte, dass alles, was sich be­wegte, auf
tät nimmt zu und macht es immer schwie-       dieser Daguerreotypie nicht abgebildet und
riger, objektive von interessengeleiteten     dadurch unsichtbar wurde. So zeigt uns
Erkenntnissen zu unterscheiden.               schon eine der ersten Foto­grafien, dass
                                              diese ihr großes Versprechen nicht einhal-
Aber es gibt keine Alternative: Wenn wir      ten kann. Ein wesentlicher Teil der Wirk-
unser Leben aktiv gestalten wollen, dann      lichkeit, nämlich alles Lebendige, fehlt auf
müssen wir uns zu dieser Wirklichkeit ver­    Daguerres Foto­grafie. Damit sind wir beim
halten, und gerade Politiker sind hier be­    Kernthema dieser Ausstellung: Fotografie
sonders gefordert. Erwarten wir doch, dass    und Wirklichkeit.
sie unsere Welt in die richtige Richtung
lenken, und das können sie nur, wenn sie      Seit ihren Anfängen wird die Fotografie
ihre Entscheidungen auf der Grundlage         von dem Glauben ihrer Betrachter getragen,
möglichst gesicherter Erkenntnisse treffen.   dass sie beweist, dass etwas so und so war,
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

dass sie die Welt zeigt, wie sie ist. Dieser   und warum? Wie kann belegt werden, dass
Glaube ist Grundlage des Fotojournalismus      das stimmt, was auf dem Foto zu sehen ist?
und deshalb machen wir Urlaubs­fotos: um       Das war auch beim Skandal um Abu
zu dokumentieren, wie es war. Wir alle         ­Ghraib und bei dem zitierten Foto mit
kennen die Fotos der Leichenberge aus dem       dem toten Flüchtlingskind so. Ohne zu-
befreiten Konzentrationslager Buchenwald,      sätzliche Beweise wären diese Fotos wir-
der gedemütigten Gefangenen aus Abu            kungslos gewesen. Das Vertrauen darin,
Ghraib, das Foto des toten Flüchtlings­        dass uns Fotografien die Welt zeigen, wie
jungen am Strand der Ägäis. Fotos, die         sie ist, ist sehr brüchig geworden.
wirkungsvoll waren, weil sie Konsequen-
zen hatten, weil die Politik auf sie reagie-   Künstlern war dieses Problem schon im-
ren musste, denn plötzlich wurden Aspek-       mer bewusst, wenn sie die Fotografie als
te der Wirklichkeit öffentlich, die vorher     Technik benutzten. Es gibt keinen großen
den Menschen nicht bewusst waren bzw.          Fotografen, keine bedeutende Fotografie-
die sie nicht hatten sehen wollen. Die         künstlerin, die sich in ihrem Werk nicht
Wirksamkeit dieser Bilder beruhte darauf,      mit dieser Frage auseinandergesetzt hätten.
dass man darauf vertraute, dass diese Fotos    Sie alle suchen eine Wahrheit hinter der
die Wirklichkeit zeigten, wie sie ist.         Oberfläche des Abgebildeten.

Dieses Vertrauen ist heutzutage jedoch zu­     Ich habe also in der Sammlung für die
nehmend am Schwinden. Zu oft hat man           Ausstellung nach Fotografien gesucht, die
uns betrogen. Schon Stalin ließ Trotzki        auf unterschiedliche Weise die Spannung
von allen Bildern wegretuschieren, auf         thematisieren, die zwischen der Wirklich-
denen dieser gemeinsam mit Lenin zu            keit und dem, was sie als Wirklichkeit dar-
sehen war, und vor einigen Jahren zeig-        stellen, besteht. Alle beschäftigen sich mit
te uns der damalige US-amerikanische           der Reflexion der Wirklichkeit, und sie
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld          tun das auf höchst unterschiedliche Art
vom CIA gefälschte Beweisfotos, um             und Weise. Die Auswahl der Fotografien
damit den Irakkrieg zu rechtfertigten.         ist dabei ganz subjektiv, jedoch habe ich
Das waren wirkliche »fake news«.               mich bis auf eine Ausnahme nur für Foto-
                                               grafien entschieden, bei denen die fotogra-
Deshalb fragen wir uns heute, wenn wir         fische Technik ganz traditionell benutzt
in den Medien mit brisanten Fotografien        wurde: Die Fotografen machen mit ihrer
konfrontiert werden: Wer hat sie gemacht?      Kamera ein Foto, das wird dann aufs Papier
Welche Interessen vertreten der Fotograf       gebracht und ausgestellt.
oder die Fotografin? Auf welcher Seite
stehen sie? Was wollen sie möglicherweise      Natürlich ist das Thema viel zu groß für
erreichen? Wer veröffentlicht die Bilder       eine so kleine Ausstellung, und so kann
17

ich nur einzelne, wenige Aspekte aufgrei-    Thomas Rietschel studierte
fen, zu denen mich die Fotografien der       Germanistik und Empirische
Sammlung angeregt haben. Während also        Kulturwissenschaften in Tübin-
meine Auswahl nur [An-]sichten auf ein       gen und Wien. 1992 bis 2002
großes Thema bieten kann, vermitteln die     arbeitete er als Generalsekre-
ausgewählten Fotografien verschiedene        tär der Jeunesses Musicales
[An-]sichten auf den fotografischen Um-      Deutschland und 2002 / 03 als
gang mit der Wirklichkeit.                   Generalsekretär des Deutschen
                                             Musikrates. Von 2004 bis 2016
Die ausgestellten Künstlerinnen und          war er Präsident der Hochschu-
Künstler können uns dabei einige Lektio-     le für Musik und Darstellende
nen erteilen, die uns in unserem Bemühen     Kunst in Frankfurt am Main.
stärken, die Welt nicht den Trumps und       2016 gründete er mit Freunden
ihren Gefährten im Geiste zu überlassen.     die TAKEPART Kultur­beratung.
Die ernsthafte Auseinandersetzung mit der    Er ist Vater von drei K
                                                                   ­ indern
Wirklichkeit ist ohne Alternative. Sehen     und lebt in Frankfurt am Main.
sie deshalb den Besuch dieser Ausstellung
als kleine Übung im vielfältigen Umgang
mit der Wirklichkeit. Es kann sehr viel
Spaß machen, mit (erfundenen) Wirklich-
keiten zu spielen wie Joan Fontcuberta,
Helen Sear, Gregory Crewdson und Ville
Lenkkeri. Lösen Sie die Rätsel von Rose-
mary Laing und Anton Henning, lassen sie
sich das Hirn verknoten von Valie Export,
Louise Lawler und Thomas Demand oder
gehen Sie auf die Suche nach Wahrhaftig-
keit bei Barbara Klemm, Michael Schäfer
und Barbara Probst. Und manchmal kann
ein Bild vom Bild der Wirklichkeit einfach
nur schön sein – wie bei David Hockney.

Thomas Rietschel
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

Gregory Crewdson, Untitled, aus der Serie: Twilight, 1998, 132 × 162,5 cm

GREGORY CREWDSON
*1962, Brooklyn, New York, USA

Die großformatigen Fotoarbeiten des ame-                  werden in einem mehrmonatigen Pla-
rikanischen Künstlers Gregory Crewdson,                   nungsprozess ein Storyboard, also kon­
der heute Fotografie an der Yale University               zeptionelle, schriftliche und zeichnerische
School of Art lehrt, werden oft als unheim­               Versionen der Szenen, und Beleuchtungs-
lich, mysteriös und fantastisch beschrieben.              pläne angefertigt. Anschließend tritt
In seinen aufwendigen Inszenierungen ist                  Crewdson mit den Gemeinden in Kon-
kein Detail zufällig, keine Pose und Geste                takt, die als Schauplätze ausgewählt wur-
unbeabsichtigt. Die Serien »Dream House«,                 den. Die Aufnahme entsteht schließlich an
»Beneath the Roses« und »Twilight« (aus                   einem Tag vor Ort; nicht selten nehmen
der die gezeigten Bilder stammen) sind in                 die Bewohner selbst als Darsteller teil.
Zusammenarbeit mit einem Team ent­                        Crewdson fotografiert jeweils in einem
standen, in dem einige Mitarbeiter einen                  Zeitfenster von etwa zwanzig Minuten –
filmischen Hintergrund haben. Zunächst                    in jenem Zeitraum, in dem sich der Tag
19

seinem Ende zuneigt und die Nacht lang-         Crewdson, dessen Vater als Psychoanaly­
sam aufzieht.                                   tiker tätig war, betont immer wieder, dass
                                                seine Bilder von einer Psychologie beein-
Kompositorisch ist in den drei genannten        flusst sind, die auf Sigmund Freuds Auf-
Serien das Zwielicht – poetisch auch als        satz »Das Unheimliche« (1919) zurückgeht.
»Blaue Stunde« bezeichnet – bestimmend          Das Unheimliche, so Freud, ist das Heim-
und wird zum Leitmotiv für eine unbe-           liche-Heimische, das eine Verdrängung
stimmte Bildwirklichkeit. Ganz als würde        erfahren hat (es soll, wie auch die Toten,
ein Film pausieren, bieten die stehenden        im Verborgenen bleiben) und das nun
Momente dem Betrachter keine Antwor-           ­wiedergekehrt ist.
ten, sondern werfen Fragen auf. Was der
Künstler als »in-between moments« be-          Bildrhetorisch arbeitet Crewdson mit dem
zeichnet, äußert sich wirkungsästhetisch       Paradoxon des sichtbaren Nichtsichtbaren.
als narratives Spannungsmoment.                Aufgrund der (wie bei Barbara Probst)
                                               ­ausgesparten Perspektiven ergeben sich
So sehen wir in der Dämmerung in der            narrative Leerstellen, die wie ein fehlendes
Einfahrt eines Hauses einen Mann stehen,        Puzzlestück fungieren. Diese bildlichen
der von einem von oben einfallenden Licht-      Unbestimmtheiten gleichen verborgenen
kegel erfasst wird. Die Lichtquelle bleibt      Quellen, die sich aus der Erfahrungswelt
uns als Betrachtern verborgen. Auf einem        des Betrachters – aus seinen Erinnerungen
anderen Bild wird eine Dorfgemeinschaft         und Vorstellungen – speisen und in das
durch ein außergewöhnliches Ereignis aus        Bild zurückkehren.
ihrem schläfrig-idyllischen Zustand geris-
sen. Am »Tatort«, einem abgesperrten Wie-      Ob es sich beispielsweise bei der außer-
senbereich, liegt im Vordergrund eine tote     bildlichen Lichtquelle um das Licht eines
Kuh. Daneben steht ein Polizeiwagen, in        Polizeihubschraubers handelt oder mögli-
der Diagonale nach links oben befinden         cherweise um das eines außerirdischen
sich ein Feuerwehrauto und ein Kranken-        Ufos, ist Ansichtssache des Betrachters.
wagen. Hilfskräfte sind weitläufig im Ge-      Crewdson bezieht so dessen jeweiligen
lände verteilt. Sie scheinen etwas zu suchen   Standpunkt ein und macht ihn zu einem
– was, bleibt offen. Ein Polizeibeamter,       Teil der Szenerie – vielleicht sogar zur Ur-
der in seinem schwarzen Anzug dem gän-         sache und Quelle des Lichts. Der Künstler
gigen Filmstereotyp eines FBI-Agenten          entwirft Traumwelten und Räume, die in
­entspricht, blickt, wie auch der Mann auf     ihrer Lesart zwischen Realität und Fiktion
 dem ersten Motiv, nach oben, als würde er     changieren, je nachdem, welches Verständ-
 im Himmel nach einer Antwort suchen,          nis der Betrachter von seiner persönlichen
 nach einer Erklärung, die außerhalb der       Bildwelt mitbringt.
 sichtbaren Bildwelt liegt.                    jz
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

THOMAS DEMAND
*1964, München, Deutschland

Die Fotografien von Thomas Demand              den Zwischenschritt des Modells kommt
kommen uns nicht selten bekannt vor.           es jedoch zu einer Verschiebung: Spuren
Gleichzeitig strahlen sie etwas Rätselhaftes   konkreter Materialität wie Flecken, Staub
aus. Auf keinem seiner Werke sind Men-         oder schriftliche Notate auf den herum­
schen zu sehen, doch immer ist die Ge-         liegenden Blättern existieren auf seinen
schichte eines Handelns oder einer Tat         Werken nicht. Die Bilder sind auf merk-
erkennbar, die sich an diesen Orten zuge-      würdige Weise gesäubert.
tragen haben muss – was auch seine Bilder
(wie die Crewdsons) zu »Tatorten« werden       Wir verknüpfen Orte unserer gemeinsa-
lässt.                                         men Erinnerung mit all den Geschichten,
                                               die zu ihnen erzählt wurden, die das Bild
Dass uns seine Fotografien bekannt vor-        von Demand aber ausspart. In der Regel
kommen, ist nicht ohne Grund. Demand           waren wir bei solchen Geschehnissen selbst
nutzt Motive, die sich durch die Verviel­      nicht dabei, sondern haben sie durch die
fältigung in den Medien ins kollektive         Medien rezipiert, wie zum Beispiel durch
Gedächtnis eingegraben haben, und zwar         die Pressebilder von Barbara Klemm, von
häufig in das deutsche Bildgedächtnis, da      denen ebenfalls einige in der Ausstellung
sich der 1964 in München geborene              zu sehen sind. Die Wirklichkeit und
Künstler im Besonderen mit Ereignissen         Wahrheit des Bildes sowie des in ihm do-
der deutschen Geschichte auseinander-          kumentierten Geschehens können wir uns
setzt.                                         nur durch die Schlüssigkeit und Plausibi­
                                               lität der Erzählung und die Integrität des
Beim näheren Hinschauen bemerkt man,           Erzählers bzw. des Mediums erschließen.
dass seine Kunstwerke trotz der Vertraut-
heit große Leerstellen aufweisen. Drei­        Im vorliegenden Fall lautet der Titel des
dimensionale Räume werden durch Film           Werkes schlicht »Büro«. Es bezieht sich auf
und Fotografie auf eine zweidimensionale       ein Ereignis, das sich am 15. Januar 1990
Fläche gebannt. Demand nimmt nun diese         in Berlin zugetragen hat. An diesem Tag
zweidimensionalen Bilder und baut sie aus      stürmten Bürger der implodierenden DDR
Papier als dreidimensionale Räume nach,        das Hauptquartier der Staatssicherheit in
so dass ein neuer realer Raum entsteht.        der Normannenstraße. Nach dem Fall der
Diesen fotografiert er ab, so dass auch wir    Mauer, jedoch noch vor der Wiedervereini­
im Ausstellungsraum wieder eine zwei­          gung riskierten hier Menschen ihr Leben,
dimensionale Fläche vor uns haben. Durch       indem sie sich gegen das Gesetz auflehnten,
21

Thomas Demand, Büro, 1995 / 2007, 186 × 242 cm, DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum

um die Vernichtung von Beweismaterial               steht und nur in den seltensten Fällen,
durch die sich auflösende Staatssicherheit          wie bei der deutschen Wiedervereinigung,
zu verhindern. Dies führte dazu, dass zahl-         ohne Blutvergießen ausgeht.
reiche Akten gesichert werden konnten               kk
und heute im wiedervereinten Deutsch-
land in der Stasiunterlagen-Behörde ein-
sehbar sind. Was wir auf Demands Werk
sehen, ist jedoch der Moment eines unge-
ordneten Machtwissens, der Moment des
Chaos, der am Übergang von einer Dikta-
tur zu einer anderen Regierungsform ent-
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

Valie Export, Ontologischer Sprung / Arm, 1974, 70,5 × 100 cm

VALIE EXPORT
*1940, Linz, Österreich

»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Fra-               erfahrung: Eine Fotografie gibt den Aus-
ge.« Der berühmte Satz, den Shakespeare                   blick auf eine Dünenlandschaft wieder. Sie
Hamlet in den Mund legt, lässt sich über                  liegt – wiederum fotografisch festgehalten
die Schlüsselbegriffe Existenz und Wirk-                  und damit eine zweite Raumebene und
lichkeit nicht nur mit einer Disziplin der                Zeitstufe markierend – auf einer planen
Philosophie, nämlich der Ontologie als der                Oberfläche. Linksseitig ragt ein linker
Lehre vom Sein, verbinden, sondern steht                  Arm in das Bild hinein, der auf der erste-
gleichermaßen im Diskurszentrum über                      ren Fotografie aufruht. Dieses in Schwarz-
das Wesen der Fotografie.                                 Weiß gehaltene Bild wird nun ein weiteres
                                                          Mal zum Bildobjekt, jetzt als auf einem
In ihrer Arbeit »Ontologischer Sprung/                    rötlichen, mit ornamentalen Mustern
Arm« (1974) befragt Valie Export das                      ­versehenen Teppich liegende Fotografie.
­Medium im Blick auf eine Wirklichkeits-                   Auf der farbigen Ablichtung ist nun ein
23

rechter Arm zu sehen, der von rechts in         Gottes) sinnbildlich als Ausdruck und
das Bild ragt und dessen Hand die zuvor         ausführende Handlungsorgane verstanden
abgebildete linke Hand – sozusagen als ihr      werden, die am Bilden von Erfahrungen
Alter Ego – berührt. Dreifach ineinander        und Erinnerungen und damit an Identität
geschichtet wird das Bild zum Bild vom          beteiligt sind.
Bild; die Vorstellung eines geschlossenen
Raum-Zeit-Gefüges löst sich auf und lässt       So schreibt Valie Export einmal:
die Bildidentität flüssig werden.
Export versteht ihre Arbeiten als »Mediale      »ineinander geronnene Zeit
Anagramme«: Als würden Seiten von               meine hände sind meine identität, mein
­Notizbüchern in einen anderen Kontext          gesicht, und die zeit ist die zeit die mich
 ge­bracht, generieren die Bilder neue Bedeu­   macht ist die zeit für mich in der zeit in
 tungen. Ihr vielseitiges Œuvre sowie die       der ich es mache ist die zeit mein gesicht es
 Kombination mit den sogenannten neuen          geschieht in der zeit verliere ich die zeit,
 Medien (Fotografie, Film und Video),           ich finde sie in meinen händen wieder.
 durch die sie zu teils chimärenartigen Aus-    (märz 1973).«
 drucksformen findet, zeugen von ihrem          jz
 Interesse an der De- und Rekonstruktion
 von Denkräumen. Stets lotet sie jenen
 ­Irritationsmoment der Wahrnehmung aus,
  der sich in einer Grenzsituation, an den
  »Schnitten«, so Export, durch eine Unord-
  nung einstellt.

Mehr als dass es auf die Konstruktion und
seinen Entstehungsprozess verweist, be­
sitzt das Bild aufgrund der Spannung, die
durch die Gleichzeitigkeit und -räumlich-
keit hervorgerufen wird, eine surrealis­
tische und poetische Qualität. Der Außen-
raum erfährt die Konnotation des Innen
– hier liegt die Dünenlandschaft wie eine
Erinnerung in der Ferne und ist doch zu-
gleich ganz nah. Die Hände – mit Exports
Worten »Ausdrucksorgane« – könnten
(wenn auch nur fragmentarisch, wie auf
mittelalterlichen Darstellungen die Hand
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

JOAN FONTCUBERTA
*1955, Barcelona, Spanien

In der Serie »Herbarium« des katalanischen      und werfen ihn unversehens in einen Re-
Künstlers Joan Fontcuberta sind blumen-         flexionsvorgang über Bildwahrheiten.
artige Gebilde zu sehen, die sich optisch       Denn ebenso doppeldeutig wie paradox
an die einem botanischen Dokumenta­             trifft hier die künstlich erzeugte »Natur«
tionsinteresse dienenden Pflanzenfotogra-       auf die Erwartung des Betrachters, in der
fien von Karl Blossfeldt aus den 1920er         Fotografie reale Gegebenheiten wiederzu-
Jahren anlehnen. Erwecken sie zunächst          erkennen. Die behauptete Natur der Foto-
einen pflanzenkundlichen Anschein, er-          grafie, die Wirklichkeit 1:1 wiederzuge-
weisen sich Fontcubertas Arbeiten jedoch        ben, erweist sich in Fontcubertas Arbeiten
bei näherer Betrachtung als Konstruktio-        als Schein.
nen. In frankensteinscher Attitüde hat der
Künstler lebensunfähige Wesen geschaf-          »Ceci n’est pas une fleur« könnte daher der
fen, die er aus vorgefundenen organischen       imaginäre Untertitel lauten. Es ist ein Mo-
wie anorganischen Materialien zusammen-         dell, eine Repräsentation, die Vorstellung
gesetzt hat: Pflanzen- und Tierteile wie        einer Blume – eben nur ein Bild. Ging es
Dornen, Krebsschere, Vogelkopf oder             René Magritte in seinem berühmten Ge-
Knochen kreuzen sich mit zivilisatorischen      mälde »La trahison des images« (»Der
Überbleibseln (u. a. Kabeln, Plastikelemen-     ­Verrat der Bilder«) darum, jene Kluft zwi-
ten, Textilien).                                schen dem Objekt, dessen wörtlicher Be-
                                                zeichnung und seiner Repräsentation zu
Um sich Gewissheit zu verschaffen, ist          erkunden, indem er unter die Darstellung
man versucht, sich an der Bildbeschriftung      einer Pfeife die Worte »Ceci n’est pas une
zu orientieren. »Brahypoda Frustrata« bei-      pipe« schrieb, untersucht Fontcuberta auf
spielsweise ist der Titel einer Distel, deren   ähnliche Weise das verräterische Moment
Stil mit umgedrehten Rosendornen ge-            der Fotografie, das er den »Judaskuss« zwi-
spickt ist. Aber auch hier führt uns der        schen Fotografie und Wahrheit nennt.
Künstler in die Irre. Es sind lateinische
Begriffe, die aus der Botanik zu stammen        Thematisiert Magritte in seinem Gemälde
scheinen und als neologistische Verfrem-        die krisenhafte Beziehung von Vor-Bild,
dungen Fragen aufwerfen.                        Schriftbild (akustisch: Lautbild) und
                                                Nach-Bild, eröffnet Fontcuberta mit iko-
Die in seinen Objekten sichtbar angelegten      nischer und zugleich ikonoklastischer Ges-
Störungen und Fehler rufen eine Wahr-           te einen Dialog zwischen fotografischer
nehmungsirritation im Betrachter hervor         Bildrealität und Bildfiktion. Mit anderen
25

Joan Fontcuberta, Typhatata Ppulcra, aus der Serie: Herbarium, 1982, 50 × 43 cm

Worten: Er errichtet ein Bild und lichtet es             ebenso wie Frankensteins Monster un-
ab, um sodann die Glaubwürdigkeit, durch                 schuldig ist und für sein Aussehen keine
welche die Fotografie als Beweismittel zur               Verantwortung trägt. Das Prekäre am
Wahrheitsfindung gleichsam heiliggespro-                 ­Fotografischen ist – wie der Judaskuss –
chen wurde, augenzwinkernd zu zerstören.                  lediglich der absichtsvolle Eingriff in den
In seinen Fotoarbeiten entledigt sich                     Verlauf des Geschehens.
­Fontcuberta des verstaubten, der Fotogra-                »The photography does not lie, but photo-
 fie auferlegten Dokumentarcharakters und                 graphers certainly do«, merkt der Künstler
 inszeniert stattdessen die Inszenierung.                 an und bezieht sich dabei auf die fotografi-
                                                          sche und durch subjektive Entscheidungen
Die Fotografie selbst aber bleibt, was sie                getroffene Bildherstellung.
ist: ein optisches Verfahren, ein chemi-                  jz
scher Prozess und schließlich ein Bild, das
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

Anton Henning, Room with a View, 1995, 102,1 × 142,2 cm

ANTON HENNING
*1964, Berlin, Deutschland

Die drei Werke von Anton Henning in der               oder Rohren oder anderen vermeintlich
DZ BANK Kunstsammlung setzen sich                     unpassenden Orten.
mit dem Zusammenspiel von Fotografie
und Malerei und dem Bild im Bild aus­                 Anton Henning beschäftigt sich neben der
einander, wie dies auf je eigene Weise auch           Fotografie und Malerei auch mit Skulptur,
die Arbeiten von David Hockney, Louise                Film und Möbeldesign, außerdem gestaltet
Lawler oder Valie Export tun.                         er gesamte Interieurs. Von daher rührt
                                                      auch sein Interesse für die Frage, welche
Auf den Fotografien Hennings sehen wir                Rolle Kunst in einem Raum spielt oder
menschenleere Räume, die mit verschiede-              spielen kann. In seiner Fotografie mit dem
nen seiner Gemälde ausgestattet sind. Sie             Titel »Himmelstillleben« aus dem Jahr
werden jedoch nicht so präsentiert, wie               1998 ist der Himmel das Hauptmotiv.
man es von Bildern in einem Raum er­                  Jedoch fotografiert Henning nicht den
wartet (als an der Wand hängende ›eigene              Himmel direkt, sondern eine Reihe von
Aussage‹), sondern lehnen an Ablagen                  Gemälden, die am Boden seines Ateliers
27

zum Teil an- und übereinanderlehnend an       eines Feuerlöschers – oder ist es eine Gas-
die Wand gestapelt sind und verschiedene      flasche? – in eines der Bilder mündet. Der
Wetterphänomene, Wolkenformationen            Künstler spiegelt somit nicht nur die vor-
und die Farben des Himmels zu unter-          handenen Dinge durch die Fotografie,
schiedlichen Tageszeiten wiedergeben.         sondern innerhalb des fotografischen Ab-
Auf seiner Fotografie scheinen die kleinen    bildes noch einmal durch seine Malerei.
Wolkenbilder ihrer Zweckbestimmung zu         Das real Vorhandene – die vermeintliche
harren, irgendwann an der Wand zu hän-        Wirklichkeit – wird somit gleich doppelt
gen, während das »Himmelstillleben« diese     dargestellt und tritt zugleich durch zwei
Funktion im Ausstellungsraum bereits          unterschiedliche Medien in Zwiesprache.
übernommen hat.
                                                Einerseits ermöglicht das Abbild es, die
Die beiden unter den Titel »Room with a         Konzentration auf Dinge zu lenken, die
View« gefassten Werke aus dem Jahr 1995         sonst möglicherweise übersehen werden.
zeigen die Räumlichkeiten einer Groß-           Durch die aktuelle ubiquitäre Verfügbar-
bzw. Spülküche, die fast klinisch aufge-        keit von Kameras führt die Macht des
räumt wirken, jedoch Spuren, ja Blickfän-       ­Bildes andererseits dazu, dass dem Abbild
ge ihrer nicht genutzten oder gar fehlenden      manchmal mehr Aufmerksamkeit zu-
Funktionalität aufweisen. So ist ein Fens-       kommt als der Realität. Das Bild kann in
ter entweder gar nicht zu erkennen oder          unseren Köpfen bedeutender werden als
doch so hoch eingebaut, dass man auf eine        das Original. Ein Beispiel dafür wäre die
Leiter steigen müsste, um einen Ausblick         Enttäuschung, die manche Besucher
zu erhalten. Der an den bekannten, 1985          ­empfinden, wenn sie im Louvre vor der
verfilmten Roman von E. M. Forster erin-          ›echten‹ Mona Lisa stehen. Durch die Viel-
nernde Titel »Zimmer mit Aussicht« führt          zahl der Reproduktionen hat dieses Öl­
so zumindest bildlich genommen erst ein-          gemälde in ihrer Vorstellung eine viel größe-
mal ins Leere. Bezieht sich Henning mit        re Dimension erhalten. Auch ­L eonardo
seinem Titel vielleicht auf seine eigenen      da ­Vincis »Mona Lisa (La Gioconda)« ist
Gemälde, die in den fensterlosen Räumen        ­weitergedacht natürlich ein Abbild – das
eine Perspektive nach außen eröffnen?           Abbild einer realen Person. Hier jedoch
                                                bestimmt die fotografische Reproduktion
Henning lenkt durch seine in die Foto­          des malerischen Abbildes unsere Wahr­
grafie aufgehobenen Gemälde das Auge          nehmung stärker als das Original. Ganz
nicht selten auf alltägliche Utensilien wie   ähnlich scheint es sich bei den medial
die Schlaufe eines Schlauchs an der Spül-     ­vermittelten und ineinander verschränkten
anlage, die gekachelte Wand oder eine          Anblicken und Aussichten (›views‹) in
Steckdose. Die Leinwände sind so in den        Hennings Großküche zu verhalten.
Raum integriert, dass sogar der Schlauch       kk
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

David Hockney, »Roses for Mother« December 4th 1995, 1995, 117 × 136,5 cm,
DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum

DAVID HOCKNEY
*1937, Bradford, UK

Die Fotografie »›Roses for Mother‹ Decem­              anstelle realer Blumen das doppelte Ab-
ber 4th 1995« von David Hockney gibt ein              bild von Rosen nach England? Hockney
verdoppeltes Stillleben wieder: eine Vase             ist vor allem für seine in Kalifornien ent-
mit gelben Rosen, die – wie der Titel ver-            standenen Ölgemälde von Swimmingpools
muten lässt – am 4. Dezember 1995 foto-               bekannt. Sein künstlerisches Interesse
grafiert wurden und Hockneys Mutter                   richtet sich zugleich auf die Funktion und
zugedacht waren. Der Geburtstag seiner                Ausdruckskraft technischer Medien.
Mutter Laura fällt auf den 10. Dezember,              ­Bereits in den 1960er und 1970er Jahren
1995 wurde sie 95 Jahre alt. Oder ver­                 hat er mit Polaroids gearbeitet; heute
weilte der Künstler einfach gerade in Los              zeichnet er Bilder auf dem Tablet oder
Angeles und schickte seiner Mutter auf                 iPad oder sendet ganze Ausstellungen
dem mehrere Tage dauernden Postweg                     per Fax.
29

Aber warum wählte Hockney gelbe Rosen?          viel er von etwas sieht, bleibt auf die Frage
Symbolisch werden gelbe Rosen mit Un-           verwiesen, welchen Standpunkt er wählt
treue, Eifersucht und Zweifel zusammen-         und in welches Licht er eine Sache rückt.
gebracht, aber auch mit Versöhnung und          Jede Sache ist (auch) Ansichtssache.
Dankbarkeit. Die Schnittblume, die zu           kk
besonderen Anlässen verschenkt wird, gilt
zugleich als Inbegriff des Schönen und
Zeichen des Reichtums. Dazu kommt die
mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurück-
reichende malerische Tradition des Still­
lebens oder der »nature morte«, deren leblose
Gegenstände als Memento mori zu deuten
sind. Die Symbolik von Hockneys Arbeit
kann also auf die unterschiedlichste Weise
gelesen werden.

Hockney präsentiert auf seiner Fotografie
ein Bild im Bild. Neben der realen Vase
mit den gelben Rosen befindet sich im
Größenverhältnis 1:1 eine an die Wand
gepinnte, auf zwei Blättern ausgeführte
und auf den ersten Blick identische Male-
rei jener gefüllten Vase auf dem Tisch.
Vergleicht man Bild und ›Original‹ jedoch
genauer, stellt man fest, dass sie in vielen
Aspekten voneinander abweichen. So fehlt
beispielsweise die Musterung der Tisch­
decke auf der Malerei, dafür ist hier der
Hintergrund von blauen Punkten übersät.
Und sind es eigentlich sieben oder acht
Rosen? Durch den Lichteinfall kann man
die fotografierten Rosen im oberen Teil
nicht mehr genau erkennen, jedoch mehr
Stiele zählen als Blüten.

So zeigt auch Hockneys Werk etwas von
der Komplexität der Wirklichkeit auf: Wie
der Betrachter etwas sieht und sogar wie
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

BARBARA KLEMM
*1939, Münster, Deutschland

Fast alle fotografischen Arbeiten in dieser   Nebensächliche, das, was den Puls einer
Ausstellung wurden durch die Künstlerin       Zeit und eines Ortes ausmacht, einzufan-
oder den Künstler inszeniert oder beschäf-    gen. Ihr diesbezügliches Vorgehen ist oft
tigen sich vordergründig mit der absichts-    beschrieben worden: Sie agiert unauffällig
vollen Täuschung des Betrachters. Die         und beweglich, mit nur zwei kleinen Ka-
Werke von Barbara Klemm fallen aus die-       meras ausgestattet, so dass sie nicht als
sem Schema heraus. Barbara Klemm ar-          Pressefotografin in Erscheinung tritt. Sie
beitete von 1970 bis 2005 als Redaktions-     benutzt kein künstliches Licht, sondern
fotografin für die »Frankfurter Allgemeine    das, was die Situation vor Ort hergibt. Sie
Zeitung«, vorrangig für die Bereiche Feuil-   ist der analogen und der Schwarz-Weiß-
leton und Politik. Ihre Fotos sollten in      Fotografie treu geblieben, auch als die
einer überregionalen Tageszeitung das         Farbfotografie und das digitale Herstel-
Zeitgeschehen abbilden. Gute Pressefoto-      lungsverfahren zum Standard wurden. Die
grafien sind der Versuch, durch eine Ab-      Besonderheit ihrer Arbeiten wird daran
bildung eine größtmögliche Annäherung         offenkundig, dass es ihr gelingt, unter der
an die Realität zu gewährleisten. Kann eine   Vielzahl ebenfalls vor Ort agierender Kol-
Fotografie jedoch überhaupt die Wirklich-     leginnen und Kollegen den Standpunkt,
keit abbilden? Was an dieser ›Wirklichkeit‹   situativen Ausschnitt und Zeitpunkt zu
lässt sich durch das Objektiv der Kamera      wählen, der ein Bild entstehen lässt, das
im strengen Sinne erfassen? Und was be-       als Schlüsselmoment des Geschehens zu
deutet es, wenn sich eine Fotografie stell-   einer Ikone der Zeitgeschichte wird.
vertretend für ein ganzes Ereignis in das
kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft      Ihre Fähigkeit, das mit ihrer Kamera ein-
einprägt? Diese Frage stellt auch das eben-   zufangen, was die alten Griechen den
falls in dieser Ausstellung vertretene Werk   ­›kairos‹ nannten, den ›rechten Zeitpunkt‹,
von Thomas Demand, das sich mit Presse-        mag damit zusammenhängen, dass
fotografie auseinandersetzt.                   Klemm sich sowohl über die politischen
                                               als auch die örtlichen Gegebenheiten so
Betrachtet man das Œuvre von Barbara           gründlich informiert, dass ihr Blick nie
Klemm, gewinnt man das Gefühl, dass            einfach von außen zusammenfasst, son-
sie bei jedem wichtigen politischen Ereig-     dern der Komplexität der Wirklichkeit
nis in Deutschland, das in ihre Zeit als       entspringt. Zudem besitzt sie ein künst­
Pressefotografin fiel, dabei war und es ihr    lerisch geschultes Auge, das sie ihre Bilder
darüber hinaus gelingt, das vermeintlich       nicht nur inhaltlich, sondern auch unter
31

Barbara Klemm, Abwahl des Parteivorsitzenden der SPD Rudolf Scharping, Mannheim, 1995, 53 × 63 cm

formalästhetischen Gesichtspunkten wäh-               Auch wenn sie nicht aktiv in das Gesche-
len lässt. Dies führt dazu, dass ihre Werke           hen eingreifen, stehen doch hinter jeder
nicht nur im Pressearchiv zu finden sind,             Pressefotografie eine Autorin oder ein
sondern auch in zahlreichen Museen und                Autor. Barbara Klemm selbst sagt, sie
Ausstellungen als Kunstwerke präsentiert              spiele gerne Regisseurin. Ihre Aufgabe
werden. Durch den »goldenen Schnitt«                  bestehe jedoch nicht darin, Anweisungen
oder Kompositionen, wie wir sie aus Wer-              zu geben – sie bestehe vielmehr im War-
ken der Kunstgeschichte kennen, kommt                 ten darauf, bis sich alles in den günstigen
Barbara Klemm unseren Sehgewohnheiten                 Augenblick fügt.
für bestimmte Situationen näher und unter­            kk
malt somit die Aussage des Motivs.
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit
33
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit

ROSEMARY LAING
*1959, Brisbane, Australien

Die australische Künstlerin Rosemary Laing               punktes im Morton National Park in New
studierte zunächst Malerei, bevor sie sich               South Wales (Australien) verlegt und ihn
der Fotografie zuwandte. Pittoresk wirkt                 im Anschluss an die entstandene Foto­grafie
auch die Landschaft, welche die Künstle-                 wieder entfernt.
rin uns in ihrer 2001 entstandenen Arbeit
»Red Piazza« aus der Serie »groundspeed«                 Wie die Fotografie von Valie Export ver-
präsentiert. Neben einigen älteren, bereits              fügt auch die Arbeit von Laing über eine
von Moos bewachsenen Baum­stämmen                        poetische und surreale Qualität. Auch hier
erkennt man jüngere Baumtriebe, deren                    überlagern sich Außenraum und Innen-
Blätter ein kräftiges Grün aufweisen. Ver-               raum als zwei differente und metaphorisch
einzelt liegt ebenfalls von Moos überzo­                 aufgeladene Raumbilder. Während Export
genes Gestein auf dem Boden und eine                     die Landschaft jedoch mittels einer ab­
konvexe, sich im Bildhintergrund leicht                  fotografierten Fotografie quasi auf den
wölbende Felsformation umschließt schein­                Teppich holt und eine zeitliche Beziehung
bar den Ort. Kongruent zu der Bildgrenze                 zwischen Vergangenheit und Gegenwart
verhindert das Gestein einen weiteren                    knüpft, verfährt Laing umgekehrt: Das
Ausblick in die Landschaft. In farblichem                Interieur überzieht und prägt die Natur.
Kontrast zu den insgesamt erdigen Farb­
tönen und dem satten Grün steht der rote                 Laing verfremdet ihre Bilder nicht am
Untergrund, auf dem sich filigrane gelbe                 Computer, sondern verändert den Schau-
Blütenmuster abzeichnen. Es sieht ganz so                platz in der Wirklichkeit, der dadurch zu
aus, als würde Laing dem Betrachter ein                  einem anderen Ort, zu einem Gegenort
lauschiges Plätzchen in der Natur zeigen,                wird. Solche Gegenorte nennt der Philo-
das zum Verweilen einlädt …                              soph Michel Foucault »Heterotopien«. Das
                                                         Wort leitet sich von griechisch ›heteros‹
Bei dem rötlichen Untergrund handelt es                  (anders, verschiedenartig, uneinheitlich)
sich um einen Feltex-Teppich, dessen Mus-                und ›topos‹ (Ort) ab. Diesen »anderen
ter »Bold Axminster Red Piazza« aus dem                  ­Orten« ist wesenseigen, dass sie Raumord-
Jahre 1972 stammt. Gemeinsam mit ihrem                    nungen und somit Identitäten besitzen,
Team hat die Künstlerin die Auslegware                    die sich für gewöhnlich gegenseitig aus-
sorgfältig um jeden Baum und jeden Stein                  schließen. So erklären spielende Kinder
in der Nähe des George Boyd Aussichts-                    beispielsweise das Bett zum Meer oder

Vorherige Seite: Rosemary Laing, groundspeed (Red Piazza) #05, 2001, 92,8 × 136,8 cm (Detail)
Sie können auch lesen