AN- SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT 29.09.2017-06.01.2018 - DZ BANK Kunstsammlung
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[AN-]SICHTEN VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT Mit Werken von: Gregory Crewdson Thomas Demand Valie Export Joan Fontcuberta Anton Henning David Hockney Barbara Klemm Rosemary Laing Louise Lawler Ville Lenkkeri Barbara Probst Michael Schäfer Helen Sear
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit FOTOGRAFIE UND WIRKLICHKEIT Unter dem Titel »[An-]sichten« zeigt die Unsere ersten Gespräche über eine Ausstel- DZ BANK Kunstsammlung alle zwei lung fielen in die Zeit des Wahlkampfes in Jahre im Wechsel mit den Stipendiaten- den USA. Die Art und Weise, wie diese ausstellungen f /12.2 Präsentationen, die Präsidentschaftswahl ausgefochten wurde, von Persönlichkeiten aus unterschiedlichen hat Thomas Rietschel tief beunruhigt. Disziplinen umgesetzt werden. Dem Kampfbegriff der »fake news«, den Donald Trump in die Welt sandte, wollte Was uns daran reizt, ist der Blick aus einer er die Frage gegenüberstellen, was Wirk- anderen als der kunstwissenschaftlichen lichkeit eigentlich ist, wie sie zustande Perspektive, der Blick von Personen, die kommt und wer sie definiert. Können wir sich in ganz eigenen Kontexten bewegen. wirklich einfach von der berühmten For- Gleichzeitig sind wir alle Teilnehmer un- mel Ludwig Wittgensteins ausgehen: »Die serer Zeit und unserer Gesellschaft. Wir Welt ist alles, was der Fall ist«? Fangen die haben Zugriff auf dieselben Informatio- Fragen nicht hier erst an? Stecken im Wort nen und bewegen uns durch dieselbe »Wirklichkeit« nicht auch das »Werk« und Umgebung. Dennoch nimmt jeder von das »Wirken«, wie ja auch der ihm zugrun- uns eine andere Fassung dieser Wirklich- de liegende lateinische Begriff ›actualitas‹ keit wahr und entwickelt unterschiedliche die Handlung (›actus‹) in sich aufbewahrt? Ansichten, die ihn beschäftigen und Und was bedeutet dies, wenn dieses Han- prägen. deln zudem medial gespiegelt wird? Wie gehen wir mit solchen Formen der Bericht- In diesem Jahr ist es Thomas Rietschel, erstattung um? Wann fängt eine einseitige ehemaliger Präsident der Hochschule für Darstellung der Wirklichkeit an, in die Musik und Darstellende Kunst in Frank- bewusste Falschmeldung umzuschlagen, furt am Main, den wir dafür gewinnen und was hat dies für Konsequenzen – auch konnten, eine Ausstellung aus unserer und besonders im Rahmen der Politik? Sammlung zusammenzutragen. Diesen Überlegungen folgte eine sehr per- Die DZ BANK verbindet eine lange Part- sönliche Auswahl von fotografischen nerschaft mit der HfMDK. Nichts lag Kunstwerken, die wiederum jedes für sich also näher, als Thomas Rietschel zu fragen, die sehr persönliche Haltung einer Künst- ob er sich eine Zusammenarbeit vorstellen lerin oder eines Künstlers widerspiegeln. kann. Diese im Werk zum Ausdruck gelangten
5 Stasi-Zentrale gestürmt, 15. Januar 1990, Bundesarchiv Bild 183-1990-0116-014, Foto: Thomas Uhlemann Haltungen wiederum stoßen auf die je lungsweise und ihrer Reproduzierbarkeit subjektive Sichtweise des Betrachters. Das begründet, die eine genuin individuelle Ergebnis dieses »Polylogs« ist also gerade Schöpfung auszuschließen scheinen. Das das Gegenteil dessen, was Donald Trump gilt für alle Bereiche der Fotografie, von der propagiert: eine sich aus Machtverhältnis- sogenannten Presse- und Dokumentarfoto- sen generierende Wirklichkeit. Die Diver- grafie, die noch am ehesten den Anspruch genz führt vielmehr zu einer Kontingenz verfolgt, der Realität nahezukommen, über und damit zu der Möglichkeit, die Kom- die journalistische Fotografie, die schon plexität der Perspektiven und Meinungen eine individuelle dramaturgische Abfolge zu erkennen und zu respektieren, anstatt impliziert, bis hin zu künstlerischen Um- sie zu negieren und zur Lüge – und damit gangsformen mit diesem Medium. Die für unwirklich – zu erklären. Letzteren scheinen dabei die meiste Frei- heit zu genießen. Die Fotografie spielt in der Frage nach der »Macht der Bilder« eine besondere Rolle. Nach der Sichtung des Sammlungsbestan- Denn seit ihren Anfängen galt die Foto- des und der Suche nach den für ihn pas- grafie (und gilt dies bis heute) als ein Me- senden Bildern, entschied sich Thomas dium, das die Realität scheinbar unver- Rietschel, die Arbeit »Exposure #56, NYC, fälscht abzubilden vermag. Die Ursache 428 Broome Street, 06.05.08, 1:42 p. m.« dafür liegt in ihrer technischen Herstel- aus dem Jahr 2008 von Barbara Probst ins
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit Barbara Klemm, Kaufhof Frankfurt a.M., 1970, 61,3 × 51,3 cm Zentrum zu stellen. Darin zeigt die Künst- Eine weitere frühe Entscheidung fiel für lerin eine Szene, die zur selben Zeit mithil- die Arbeit »Büro« von Thomas Demand, fe von zehn im Raum verteilten Kameras die sich auf eine Fotografie bezieht, die aus zehn verschiedenen Perspektiven foto- am 15. Februar 1990, also noch vor dem grafiert wurde. Diese Vielansichtigkeit ein offiziellen Ende der DDR, durch die und derselben Szene vermittelt aber nun Tagespresse ging. Sie soll ein Büro der keineswegs den Eindruck einer umfassen- Staatssicherheit nach der Stürmung der den Annäherung an die Wirklichkeit. Ganz Bürger dokumentieren, in dem offen im Gegenteil gewinnt der Betrachter durch sichtlich die Akten durchwühlt worden die Verschiedenartigkeit der Richtungen, waren. Ob es sich um Akten handelte, die teils durch Anschnitte nur kleine Teile welche die Stasi noch vernichten wollte, des Sets sichtbar machen, den Eindruck, oder um Unterlagen, die die Arbeitsweise dass ihm entscheidende Bereiche fehlen, des damaligen Ministeriums für Staats um die Ganzheit des Geschehens erfassen sicherheit dokumentieren sollten, ist zu können. Je mehr Perspektiven einem nicht zu erkennen. In dem Nachbau, den geboten werden, desto mehr entfernt sich Demand erst 1995 von diesem Innenraum der Beobachter von der einen Wirklichkeit. anfertigte, handelt es sich zudem um
7 nbeschriebene Blätter. Es geht also nicht u unsere Wahrnehmung der Vorkommnisse um das, was real vorgefunden wurde, son- von über drei Dekaden maßgeblich geprägt. dern um das Bild selbst, das ins kollektive Gedächtnis einging und mit dem jeder Be Dabei sind der Begriff der Dokumentar trachter etwas anderes verbindet: Sei es die fotografie und ihr Gebrauch grundsätzlich Angst vor E ntdeckung, Zorn angesichts zu hinterfragen. Wie der Fotograf, Künst- der Bespitzelungen oder die Freude über ler, Autor und Ausstellungsmacher Rein- das Ende einer Regierung, deren Ziel es hard Matz erläutert, wurde der Begriff gewesen war, ihren Bürgerinnen und Bür- »dokumentarisch« (documentary) in den gern eine kollektive Wahrnehmung der 1920er Jahren in Amerika geprägt und Realität aufzuzwingen. kennzeichnete zunächst eine u. a. mit den Namen Walker Evans, Dorothea Lange, Dazu traten nach und nach weitere Arbei- Russel Lee, Arthur Rothstein und Ben ten von Künstlerinnen und Künstlern, die Shahn verknüpfte künstlerische Bewe- auf ganz unterschiedliche Weise den dis- gung, die sich der Aufgabe verpflichtet paraten Umgang im Erzeugen einer Foto sah, mittels der Fotografie »die relativ grafie widerspiegeln und den Betrachter wohlhabenden Städter mit der Armut der immer wieder dazu auffordern, seinen Landbevölkerung zu konfrontieren und eigenen Standpunkt zu überprüfen und so etwas wie ein ›amerikanisches Gemein- zu hinterfragen. schaftsbewusstsein‹ herzustellen«. Diese Fotografien weisen sämtlich höchst indi- Barbara Klemm war von 1970 bis 2005 viduelle Stile auf. In der deutschen Über- Redaktionsfotografin der »Frankfurter setzung wird der Begriff der Dokumentar- Allgemeinen Zeitung« und hat die Redak- fotografie dagegen für alle Bereiche teure in dieser Zeit auf zahllose Reisen herangezogen, in denen das, »was der Fall begleitet. Sie steht für eine Fotografie, die ist«, authentisch dokumentiert werden soll. die Ereignisse der Zeit in Bilder zu fassen Dies hat dazu geführt, dass der Fotografie versucht. Sie selbst betont immer wieder, ganz allgemein eine Abbildungsfunktion dass sie keine Künstlerin sei. Ihr Blick zugesprochen wurde. und die Auswahl ihrer Motive sowie ihre Bildkompositionen zeugen jedoch von Die Bedeutung der Fotografie, so Reinhard einer sehr bestimmten persönlichen Spra- Matz weiter, erschöpft sich jedoch »niemals che. In Klemms Arbeiten wird unmissver- in ihren analogischen Momenten zur vor- ständlich deutlich, dass ein Autor selbst gegebenen Wirklichkeit«; in dem Maße, da, wo er sich der Dokumentation der wie Fotografie als eine künstlerische Praxis Wirklichkeit verpflichtet fühlt, eine gro- betrieben und verstanden werde, stehe sie ße individuelle Bildsprache entwickeln sogar »quer zu dokumentarischen Ansprü- kann. Mit ihren Bildern hat sie zugleich chen, genauer, das, was eine Fotografie zu
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit einem ästhetischen Produkt erst macht, ist auf: einerseits in der Veränderung eines nichts anderes als gerade das differentielle Motivs und andererseits in der Vera rbei Verhältnis zu vorgegebener Wirklichkeit, tung des Materials. Indem sie das Motiv das Maß ihrer Besonderung, Verdichtung, der Frau, die eine Treppe herabsteigt, in Konstruktion und Bedeutungskonstitu seiner Verarbeitung seit E adweard tion, die Konsistenz der Formulierung Muybridges »Woman Walking Down dessen, was eine Fotografie immer nur Stairs« von 1887 über Marcel Duchamps sein kann: Eine spezifische Sichtweise der »Nu descendant un escalier no. 2« aus dem Wirklichkeit.« Jahr 1912 und Gerhard Richters »Ema (Akt auf einer Treppe)« von 1966 bis hin Um ein Bindeglied für die vermeintlich zu ihren eigenen Bildern durchkonjugiert, dokumentarische und die künstlerische bietet sie eine Vielzahl an subjektiven Fotografie zu finden, schlugen wir einen Wirklichkeiten an, die der Betrachter Neuankauf für die Ausstellung »[An-]sich- durchlaufen kann. Gleichzeitig stellt sie ten« vor. Michael Schäfer ist ein Künstler, die Malerei und die Fotografie im Blick der sich der Verarbeitung von Bildern wid- auf mögliche Verarbeitungsformen auf met, die wir aus den Medien – sei es der dieselbe Stufe. Im Grunde zeigt sie in Zeitung, dem Fernsehen oder dem Inter- dieser sehr gedrängten Arbeit die Ent net – zu kennen scheinen. Er stellt sie nach wicklung zur Abstraktion in der Kunst oder kombiniert sie mit eigenen Aufnah- auf. Denn während Muybridge sich noch men und hinterfragt auf diese Weise ihren mit den realen Bewegungsabläufen des Wahrheitsgehalt. Zudem überschneidet er Menschen (und der Tiere) beschäftigt hat, die zumeist aus Kriegsregionen stammen- wird das Motiv in seiner weiteren Ver den Bilder mit subjektiven Alltagssituatio- wendung abstrahiert und dient am Ende nen, was sowohl das Dokument als auch lediglich als kultureller Querverweis die Inszenierung in völlig neue Zusam- innerhalb einer Ausstellungsszenerie. menhänge stellt. Die Bilder des Schreckens gewinnen eine neue Intensität. Bei der Massimo Cacciari, Philosoph und bis 2010 Vorstellung, dass der Schritt von unserer Bürgermeister von Venedig, unterstreicht ›heilen‹ Welt zur Katastrophe im Grunde den Grad der Abstraktion, welcher der winzig ist, fühlen wir uns plötzlich auf Fotografie grundsätzlich innewohnt. »Das eigentümliche Weise bedroht, so dass die ›Fotografische‹ ist keine Duplikation der Bedingtheit der Ruhe im einen und der Realität, sondern die Verkörperung der Unruhe im anderen plötzlich offenkundig gänzlichen Unmöglichkeit ihrer Duplikati- zu werden scheint. on.« Was an der Fotografie »am meisten be unruhigt, ist ihre absolute Abstraktion, ist, Louise Lawler greift die Infragestellung der dass sie auf keinen Fall Duplikat dessen ist, Wirklichkeit auf unterschiedlichen Ebenen was ist, sondern eine neue Realität vorlegt.«
9 angefertigt? Indem er die reale Vase mit den Blumen neben dem Gemälde ablich- tet, werden beide auf dieselbe fotografische Ebene gehoben. Die spezifische Zeitlich- keit der fotografischen Aufnahme wird hier ebenso thematisiert wie die Wahrneh- mung der Wirklichkeit, die der subjekti- ven Umsetzung des Motivs in dreifacher Hinsicht zugrunde liegt: als greifbare Blu- menvase auf dem Tisch, als das Gemälde einer Vase mit gelben Rosen und als die Fotografie als Produkt dieser Verarbei- tung. Louise Lawler, Add To It (E), 2003, 21 × 21 cm Alle Bilder dieser Ausstellung stellen unse- re Wahrnehmung gleich in mehrfacher In jeder weiteren Verarbeitung der Frau, Hinsicht infrage, indem sie Irritationen die die Treppe herabsteigt, kommt eine der Wirklichkeitsabbildung konstruieren, andere, neue Wirklichkeit zum Ausdruck. die uns zweifeln lassen. Was ist richtig? Was ist falsch? Diese Form der Fragestel- Vielleicht ließe sich das Bild von Lawler lung scheint nicht mehr angemessen zu gar als eine Überordnung der Fotografie sein. Vielmehr werden wir in unserer über die Malerei lesen, insofern die Künst- Wahrnehmung auf eine Vergewisserung lerin bei Muybridge als einem Pionier der unserer selbst zurückgeworfen: Wo stehen Fototechnik beginnt und bei ihrer eigenen wir? Wie nehmen wir wahr? Aus dieser Aufnahme endet. Zeitlich gesehen wäre unmittelbaren Betroffenheit und im Dia- die Malerei so nur ein Moment in der log mit den Bildern oder mit anderen Be- künstlerischen Entwicklung eines Motivs. suchern gilt es, die subjektive Wirklich- keitswahrnehmung immer wieder neu zu Ähnlich wie Louise Lawler stellt auch überprüfen und zu verändern. David Hockney Malerei und Fotografie einander gegenüber. Eine Vase mit Blumen »Roland Barthes hat […] dieses Betroffen- neben einem Gemälde, welches exakt das- sein durch ein ungewolltes Beiwerk im selbe Motiv wiedergibt. Was war vorher Foto als den Beweis angesehen, dass die da? Das Huhn oder das Ei? Ist das Still Fotografie in ihrem eigensten Wesen eben leben auf dem Tisch eine Nachbildung des doch nichts anderes als pure Analogie der Gemäldes oder hat Hockney die Malerei kontingenten Wirklichkeit sei.« (Andreas nach dem Vorbild der Vase auf dem Tisch Haus)
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit Vielleicht ist es genau diese Kontingenz, Es bleibt also jedem Betrachter überlassen, die es uns erlaubt, die Fotografie als Abbil- seine eigene Sichtweise vor den Bildern dung der Wirklichkeit zu begreifen. Denn gleich mehrfach zu wechseln. Die Künstle- wenn wir glauben, etwas sei genau so und rinnen und Künstler nehmen uns dabei an nicht anders gewesen, müssen wir uns nicht die Hand und weisen uns den Weg in die mit der Vielzahl an Wahrnehmungsmög- Wirklichkeit der Mehransichtigkeit. lichkeiten auseinandersetzen. Wir tun so, als gäbe es einen Konsens und blenden die Dr. Christina Leber, Wirklichkeit anderer Perspektiven aus – Leiterin der DZ BANK Kunstsammlung genau so, wie Donald Trump dies tut. Der Kunsthistoriker Herbert Molderings geht sogar so weit, zu behaupten, dass wir heute Fotografien als Beweise für Realität heranziehen, um uns der Komplexität des Lebens zu verweigern. Ein Bild soll die vereinfachte Realität transportieren – und daher möchten wir einfach gerne an dieses Bild glauben. Das Riskante dabei ist, dass bei aller Kon- tingenz die politischen und gesellschaft lichen Entscheidungen einer Einigung be- dürfen. Für die Grundlage dieser Einigung ist im Grunde nur eines von Bedeutung: Dass Menschen in ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht in die Irre geführt werden. Und das bedeutet, auch andere Sichtweisen und Argumente wirken und wirksam sein zu lassen, statt sie einfach als »fake news« abzutun. Es geht um eine Grundeinigung im Hinblick auf eine Viel- seitigkeit der Perspektiven, die man an das Leben, an die Politik, an die persönliche Situation anlegen kann, eine Grundeini- gung, die auch Irrtümer zulässt und Fehler korrigierbar macht.
11 David Hockney, »Roses for Mother« December 4th 1995, 1995, 117 × 136,5 cm, DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum
Louis Jacques Mandé Daguerre, Triptychon »Boulevard du Temple«, Faksimiles im orig. Passepartout u. Rahmen, Inv.-Nr. R 6312.1-8, Foto Nr. D72709 © Bayerisches Nationalmuseum München, Foto: Bastian Krack
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit VOM UMGANG MIT DER WIRKLICHKEIT Ich habe spontan und mit Freuden »ja« selber auf Entdeckung gehen kann. Also: gesagt, als ich vor eineinhalb Jahren das Kein Best-of des Kurators (welche Anma- Angebot erhielt, eine Ausstellung gestalten ßung wäre das), sondern ich möchte einen zu dürfen, aber als ich dann vor der Fülle roten Faden aufspannen zwischen Gefal- und Diversität der Fotografien in der len und Sinn, zwischen verwirrender DZ BANK Kunstsammlung stand, stellte künstlerischer Offenheit und langweiliger sich Ernüchterung ein. Die Vielfalt der pädagogischer Stringenz. Wenn es gelin- Möglichkeiten, die sich mir eröffneten, gen sollte, dem Besucher der Ausstellung löste eher Beklemmung als Begeisterung mehr Fragen zu stellen als Antworten zu aus. Dazu kommt, dass ich Laie auf dem geben, ohne den roten Faden reißen zu Gebiet der Fotografie bin und dies meine lassen, dann habe ich erreicht, was ich erste Ausstellung ist, die ich kuratiere. wollte. Ich musste also meinen Weg finden, wie In die Zeit der Vorbereitung dieser Ausstel- man über 7.500 Fotografien auf 40 redu- lung fiel die Wahl von Donald Trump. ziert und diese dann auch noch sinnvoll Und mit ihm kam ein Politiker in einer der aufhängt. Ohne den erfahrenen Rat von ältesten Demokratien der Neuzeit an die Frau Dr. Leber und ohne die engagierte Macht, der einen Grundpfeiler der Demo- Unterstützung durch ihr Team wäre mir kratie ohne Scheu und Skrupel in Frage das nicht möglich gewesen. Dafür bin ich stellt. Die Politik von Trump orientiert sich sehr dankbar. nicht mehr an der Wirklichkeit, sondern er bastelt sich (auch mittels »alternative facts«) Mir war schnell klar: Eine Ausstellung nur seine eigene Wirklichkeit, um das durch- mit den – meiner Ansicht nach – interes- setzen zu können, was er für richtig hält. santesten Bildern zu gestalten, wäre mir zu wenig. Deshalb habe ich mir ein Thema Natürlich war Politik schon immer ein gewählt, das mir wichtig ist und das mich Ringen darum, was denn nun die Fakten aktuell sehr beschäftigt. Bei der Auswahl sind, mit denen man sein Handeln be- und Hängung war ich bemüht, eine Syste- gründet, und natürlich kennen auch wir in matik und innere Bezüge herzustellen, ohne Deutschland das Zurechtbiegen der Wahr- das Ganze zu einer Schulstunde werden zu heit. Die Geschichte der BILD-Zeitung ist lassen, und ich hoffe, dass es mir gelungen auch eine Geschichte von »alternative ist, dem Besucher Raum zu geben, damit er facts«, die von Politikern stets mit Freuden
15 aufgegriffen wurden, wenn sie das eigene Deshalb ist die Frage von Bedeutung: Wie Weltbild bestätigten. erkennen wir die Wirklichkeit? Was ist Wirklichkeit? Aber mit Trump haben wir eine neue Situ- ation: Er verlässt den Konsens, dass man Diese Frage begleitet die Entwicklung der im demokratischen Prozess um die »Wahr- Fotografie seit ihrer Erfindung. Als Anfang heit« ringt, nach der richtigen Lösung des 19. Jahrhunderts die ersten Fotografien sucht, und zwar mittels Argumenten, die entstanden, war die Öffentlichkeit begeistert auf überprüfbaren und möglichst objek über die naturgetreue Abbildung der sicht- tiven Fakten beruhen. Trump und seiner baren Welt. Man war überzeugt davon, Mannschaft scheint es egal, ob es Fakten dass man mit ihr ein geeignetes Mittel ge- gibt: Was nicht die eigene Position bestä- funden hatte, die Wirklichkeit so zu zei- tigt, das sind »fake news«. Die anstrengen- gen, wie sie ist. Am Beginn dieser Ausstel- de Suche nach der Erkenntnis der Wirk- lung sehen Sie eine Aufnahme von Louis lichkeit hält er für überflüssig. Daguerre aus dem Jahre 1839: »Boulevard du Temple«, Paris (mit Schuhputzer). Ge- Und diese Suche ist anstrengend – die Phi- stochen scharf erkennen wir die Häuser, losophie beschäftigt sich seit den alten die Straße, die Bäume in allen Details. Griechen damit. In unserem Jahrhundert Aber: Obwohl es Mittagszeit ist, bleibt die ist sie keinesfalls einfacher geworden. Wir Straße menschenleer. Lediglich zwei Perso- werden überschwemmt von einer nicht nen kann man im Vordergrund leicht ver- mehr bewältigbaren Flut an Informatio- wischt erkennen: einen einsamen Herren nen, und je mehr wir wissen, umso hoff- und einen, der ihm die Schuhe putzt. Es nungsloser erscheint der Versuch, die Welt war die lange Belichtungszeit, die dazu verstehen zu können. Auch die Komplexi- führte, dass alles, was sich bewegte, auf tät nimmt zu und macht es immer schwie- dieser Daguerreotypie nicht abgebildet und riger, objektive von interessengeleiteten dadurch unsichtbar wurde. So zeigt uns Erkenntnissen zu unterscheiden. schon eine der ersten Fotografien, dass diese ihr großes Versprechen nicht einhal- Aber es gibt keine Alternative: Wenn wir ten kann. Ein wesentlicher Teil der Wirk- unser Leben aktiv gestalten wollen, dann lichkeit, nämlich alles Lebendige, fehlt auf müssen wir uns zu dieser Wirklichkeit ver Daguerres Fotografie. Damit sind wir beim halten, und gerade Politiker sind hier be Kernthema dieser Ausstellung: Fotografie sonders gefordert. Erwarten wir doch, dass und Wirklichkeit. sie unsere Welt in die richtige Richtung lenken, und das können sie nur, wenn sie Seit ihren Anfängen wird die Fotografie ihre Entscheidungen auf der Grundlage von dem Glauben ihrer Betrachter getragen, möglichst gesicherter Erkenntnisse treffen. dass sie beweist, dass etwas so und so war,
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit dass sie die Welt zeigt, wie sie ist. Dieser und warum? Wie kann belegt werden, dass Glaube ist Grundlage des Fotojournalismus das stimmt, was auf dem Foto zu sehen ist? und deshalb machen wir Urlaubsfotos: um Das war auch beim Skandal um Abu zu dokumentieren, wie es war. Wir alle Ghraib und bei dem zitierten Foto mit kennen die Fotos der Leichenberge aus dem dem toten Flüchtlingskind so. Ohne zu- befreiten Konzentrationslager Buchenwald, sätzliche Beweise wären diese Fotos wir- der gedemütigten Gefangenen aus Abu kungslos gewesen. Das Vertrauen darin, Ghraib, das Foto des toten Flüchtlings dass uns Fotografien die Welt zeigen, wie jungen am Strand der Ägäis. Fotos, die sie ist, ist sehr brüchig geworden. wirkungsvoll waren, weil sie Konsequen- zen hatten, weil die Politik auf sie reagie- Künstlern war dieses Problem schon im- ren musste, denn plötzlich wurden Aspek- mer bewusst, wenn sie die Fotografie als te der Wirklichkeit öffentlich, die vorher Technik benutzten. Es gibt keinen großen den Menschen nicht bewusst waren bzw. Fotografen, keine bedeutende Fotografie- die sie nicht hatten sehen wollen. Die künstlerin, die sich in ihrem Werk nicht Wirksamkeit dieser Bilder beruhte darauf, mit dieser Frage auseinandergesetzt hätten. dass man darauf vertraute, dass diese Fotos Sie alle suchen eine Wahrheit hinter der die Wirklichkeit zeigten, wie sie ist. Oberfläche des Abgebildeten. Dieses Vertrauen ist heutzutage jedoch zu Ich habe also in der Sammlung für die nehmend am Schwinden. Zu oft hat man Ausstellung nach Fotografien gesucht, die uns betrogen. Schon Stalin ließ Trotzki auf unterschiedliche Weise die Spannung von allen Bildern wegretuschieren, auf thematisieren, die zwischen der Wirklich- denen dieser gemeinsam mit Lenin zu keit und dem, was sie als Wirklichkeit dar- sehen war, und vor einigen Jahren zeig- stellen, besteht. Alle beschäftigen sich mit te uns der damalige US-amerikanische der Reflexion der Wirklichkeit, und sie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld tun das auf höchst unterschiedliche Art vom CIA gefälschte Beweisfotos, um und Weise. Die Auswahl der Fotografien damit den Irakkrieg zu rechtfertigten. ist dabei ganz subjektiv, jedoch habe ich Das waren wirkliche »fake news«. mich bis auf eine Ausnahme nur für Foto- grafien entschieden, bei denen die fotogra- Deshalb fragen wir uns heute, wenn wir fische Technik ganz traditionell benutzt in den Medien mit brisanten Fotografien wurde: Die Fotografen machen mit ihrer konfrontiert werden: Wer hat sie gemacht? Kamera ein Foto, das wird dann aufs Papier Welche Interessen vertreten der Fotograf gebracht und ausgestellt. oder die Fotografin? Auf welcher Seite stehen sie? Was wollen sie möglicherweise Natürlich ist das Thema viel zu groß für erreichen? Wer veröffentlicht die Bilder eine so kleine Ausstellung, und so kann
17 ich nur einzelne, wenige Aspekte aufgrei- Thomas Rietschel studierte fen, zu denen mich die Fotografien der Germanistik und Empirische Sammlung angeregt haben. Während also Kulturwissenschaften in Tübin- meine Auswahl nur [An-]sichten auf ein gen und Wien. 1992 bis 2002 großes Thema bieten kann, vermitteln die arbeitete er als Generalsekre- ausgewählten Fotografien verschiedene tär der Jeunesses Musicales [An-]sichten auf den fotografischen Um- Deutschland und 2002 / 03 als gang mit der Wirklichkeit. Generalsekretär des Deutschen Musikrates. Von 2004 bis 2016 Die ausgestellten Künstlerinnen und war er Präsident der Hochschu- Künstler können uns dabei einige Lektio- le für Musik und Darstellende nen erteilen, die uns in unserem Bemühen Kunst in Frankfurt am Main. stärken, die Welt nicht den Trumps und 2016 gründete er mit Freunden ihren Gefährten im Geiste zu überlassen. die TAKEPART Kulturberatung. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Er ist Vater von drei K indern Wirklichkeit ist ohne Alternative. Sehen und lebt in Frankfurt am Main. sie deshalb den Besuch dieser Ausstellung als kleine Übung im vielfältigen Umgang mit der Wirklichkeit. Es kann sehr viel Spaß machen, mit (erfundenen) Wirklich- keiten zu spielen wie Joan Fontcuberta, Helen Sear, Gregory Crewdson und Ville Lenkkeri. Lösen Sie die Rätsel von Rose- mary Laing und Anton Henning, lassen sie sich das Hirn verknoten von Valie Export, Louise Lawler und Thomas Demand oder gehen Sie auf die Suche nach Wahrhaftig- keit bei Barbara Klemm, Michael Schäfer und Barbara Probst. Und manchmal kann ein Bild vom Bild der Wirklichkeit einfach nur schön sein – wie bei David Hockney. Thomas Rietschel
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit Gregory Crewdson, Untitled, aus der Serie: Twilight, 1998, 132 × 162,5 cm GREGORY CREWDSON *1962, Brooklyn, New York, USA Die großformatigen Fotoarbeiten des ame- werden in einem mehrmonatigen Pla- rikanischen Künstlers Gregory Crewdson, nungsprozess ein Storyboard, also kon der heute Fotografie an der Yale University zeptionelle, schriftliche und zeichnerische School of Art lehrt, werden oft als unheim Versionen der Szenen, und Beleuchtungs- lich, mysteriös und fantastisch beschrieben. pläne angefertigt. Anschließend tritt In seinen aufwendigen Inszenierungen ist Crewdson mit den Gemeinden in Kon- kein Detail zufällig, keine Pose und Geste takt, die als Schauplätze ausgewählt wur- unbeabsichtigt. Die Serien »Dream House«, den. Die Aufnahme entsteht schließlich an »Beneath the Roses« und »Twilight« (aus einem Tag vor Ort; nicht selten nehmen der die gezeigten Bilder stammen) sind in die Bewohner selbst als Darsteller teil. Zusammenarbeit mit einem Team ent Crewdson fotografiert jeweils in einem standen, in dem einige Mitarbeiter einen Zeitfenster von etwa zwanzig Minuten – filmischen Hintergrund haben. Zunächst in jenem Zeitraum, in dem sich der Tag
19 seinem Ende zuneigt und die Nacht lang- Crewdson, dessen Vater als Psychoanaly sam aufzieht. tiker tätig war, betont immer wieder, dass seine Bilder von einer Psychologie beein- Kompositorisch ist in den drei genannten flusst sind, die auf Sigmund Freuds Auf- Serien das Zwielicht – poetisch auch als satz »Das Unheimliche« (1919) zurückgeht. »Blaue Stunde« bezeichnet – bestimmend Das Unheimliche, so Freud, ist das Heim- und wird zum Leitmotiv für eine unbe- liche-Heimische, das eine Verdrängung stimmte Bildwirklichkeit. Ganz als würde erfahren hat (es soll, wie auch die Toten, ein Film pausieren, bieten die stehenden im Verborgenen bleiben) und das nun Momente dem Betrachter keine Antwor- wiedergekehrt ist. ten, sondern werfen Fragen auf. Was der Künstler als »in-between moments« be- Bildrhetorisch arbeitet Crewdson mit dem zeichnet, äußert sich wirkungsästhetisch Paradoxon des sichtbaren Nichtsichtbaren. als narratives Spannungsmoment. Aufgrund der (wie bei Barbara Probst) ausgesparten Perspektiven ergeben sich So sehen wir in der Dämmerung in der narrative Leerstellen, die wie ein fehlendes Einfahrt eines Hauses einen Mann stehen, Puzzlestück fungieren. Diese bildlichen der von einem von oben einfallenden Licht- Unbestimmtheiten gleichen verborgenen kegel erfasst wird. Die Lichtquelle bleibt Quellen, die sich aus der Erfahrungswelt uns als Betrachtern verborgen. Auf einem des Betrachters – aus seinen Erinnerungen anderen Bild wird eine Dorfgemeinschaft und Vorstellungen – speisen und in das durch ein außergewöhnliches Ereignis aus Bild zurückkehren. ihrem schläfrig-idyllischen Zustand geris- sen. Am »Tatort«, einem abgesperrten Wie- Ob es sich beispielsweise bei der außer- senbereich, liegt im Vordergrund eine tote bildlichen Lichtquelle um das Licht eines Kuh. Daneben steht ein Polizeiwagen, in Polizeihubschraubers handelt oder mögli- der Diagonale nach links oben befinden cherweise um das eines außerirdischen sich ein Feuerwehrauto und ein Kranken- Ufos, ist Ansichtssache des Betrachters. wagen. Hilfskräfte sind weitläufig im Ge- Crewdson bezieht so dessen jeweiligen lände verteilt. Sie scheinen etwas zu suchen Standpunkt ein und macht ihn zu einem – was, bleibt offen. Ein Polizeibeamter, Teil der Szenerie – vielleicht sogar zur Ur- der in seinem schwarzen Anzug dem gän- sache und Quelle des Lichts. Der Künstler gigen Filmstereotyp eines FBI-Agenten entwirft Traumwelten und Räume, die in entspricht, blickt, wie auch der Mann auf ihrer Lesart zwischen Realität und Fiktion dem ersten Motiv, nach oben, als würde er changieren, je nachdem, welches Verständ- im Himmel nach einer Antwort suchen, nis der Betrachter von seiner persönlichen nach einer Erklärung, die außerhalb der Bildwelt mitbringt. sichtbaren Bildwelt liegt. jz
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit THOMAS DEMAND *1964, München, Deutschland Die Fotografien von Thomas Demand den Zwischenschritt des Modells kommt kommen uns nicht selten bekannt vor. es jedoch zu einer Verschiebung: Spuren Gleichzeitig strahlen sie etwas Rätselhaftes konkreter Materialität wie Flecken, Staub aus. Auf keinem seiner Werke sind Men- oder schriftliche Notate auf den herum schen zu sehen, doch immer ist die Ge- liegenden Blättern existieren auf seinen schichte eines Handelns oder einer Tat Werken nicht. Die Bilder sind auf merk- erkennbar, die sich an diesen Orten zuge- würdige Weise gesäubert. tragen haben muss – was auch seine Bilder (wie die Crewdsons) zu »Tatorten« werden Wir verknüpfen Orte unserer gemeinsa- lässt. men Erinnerung mit all den Geschichten, die zu ihnen erzählt wurden, die das Bild Dass uns seine Fotografien bekannt vor- von Demand aber ausspart. In der Regel kommen, ist nicht ohne Grund. Demand waren wir bei solchen Geschehnissen selbst nutzt Motive, die sich durch die Verviel nicht dabei, sondern haben sie durch die fältigung in den Medien ins kollektive Medien rezipiert, wie zum Beispiel durch Gedächtnis eingegraben haben, und zwar die Pressebilder von Barbara Klemm, von häufig in das deutsche Bildgedächtnis, da denen ebenfalls einige in der Ausstellung sich der 1964 in München geborene zu sehen sind. Die Wirklichkeit und Künstler im Besonderen mit Ereignissen Wahrheit des Bildes sowie des in ihm do- der deutschen Geschichte auseinander- kumentierten Geschehens können wir uns setzt. nur durch die Schlüssigkeit und Plausibi lität der Erzählung und die Integrität des Beim näheren Hinschauen bemerkt man, Erzählers bzw. des Mediums erschließen. dass seine Kunstwerke trotz der Vertraut- heit große Leerstellen aufweisen. Drei Im vorliegenden Fall lautet der Titel des dimensionale Räume werden durch Film Werkes schlicht »Büro«. Es bezieht sich auf und Fotografie auf eine zweidimensionale ein Ereignis, das sich am 15. Januar 1990 Fläche gebannt. Demand nimmt nun diese in Berlin zugetragen hat. An diesem Tag zweidimensionalen Bilder und baut sie aus stürmten Bürger der implodierenden DDR Papier als dreidimensionale Räume nach, das Hauptquartier der Staatssicherheit in so dass ein neuer realer Raum entsteht. der Normannenstraße. Nach dem Fall der Diesen fotografiert er ab, so dass auch wir Mauer, jedoch noch vor der Wiedervereini im Ausstellungsraum wieder eine zwei gung riskierten hier Menschen ihr Leben, dimensionale Fläche vor uns haben. Durch indem sie sich gegen das Gesetz auflehnten,
21 Thomas Demand, Büro, 1995 / 2007, 186 × 242 cm, DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum um die Vernichtung von Beweismaterial steht und nur in den seltensten Fällen, durch die sich auflösende Staatssicherheit wie bei der deutschen Wiedervereinigung, zu verhindern. Dies führte dazu, dass zahl- ohne Blutvergießen ausgeht. reiche Akten gesichert werden konnten kk und heute im wiedervereinten Deutsch- land in der Stasiunterlagen-Behörde ein- sehbar sind. Was wir auf Demands Werk sehen, ist jedoch der Moment eines unge- ordneten Machtwissens, der Moment des Chaos, der am Übergang von einer Dikta- tur zu einer anderen Regierungsform ent-
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit Valie Export, Ontologischer Sprung / Arm, 1974, 70,5 × 100 cm VALIE EXPORT *1940, Linz, Österreich »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Fra- erfahrung: Eine Fotografie gibt den Aus- ge.« Der berühmte Satz, den Shakespeare blick auf eine Dünenlandschaft wieder. Sie Hamlet in den Mund legt, lässt sich über liegt – wiederum fotografisch festgehalten die Schlüsselbegriffe Existenz und Wirk- und damit eine zweite Raumebene und lichkeit nicht nur mit einer Disziplin der Zeitstufe markierend – auf einer planen Philosophie, nämlich der Ontologie als der Oberfläche. Linksseitig ragt ein linker Lehre vom Sein, verbinden, sondern steht Arm in das Bild hinein, der auf der erste- gleichermaßen im Diskurszentrum über ren Fotografie aufruht. Dieses in Schwarz- das Wesen der Fotografie. Weiß gehaltene Bild wird nun ein weiteres Mal zum Bildobjekt, jetzt als auf einem In ihrer Arbeit »Ontologischer Sprung/ rötlichen, mit ornamentalen Mustern Arm« (1974) befragt Valie Export das versehenen Teppich liegende Fotografie. Medium im Blick auf eine Wirklichkeits- Auf der farbigen Ablichtung ist nun ein
23 rechter Arm zu sehen, der von rechts in Gottes) sinnbildlich als Ausdruck und das Bild ragt und dessen Hand die zuvor ausführende Handlungsorgane verstanden abgebildete linke Hand – sozusagen als ihr werden, die am Bilden von Erfahrungen Alter Ego – berührt. Dreifach ineinander und Erinnerungen und damit an Identität geschichtet wird das Bild zum Bild vom beteiligt sind. Bild; die Vorstellung eines geschlossenen Raum-Zeit-Gefüges löst sich auf und lässt So schreibt Valie Export einmal: die Bildidentität flüssig werden. Export versteht ihre Arbeiten als »Mediale »ineinander geronnene Zeit Anagramme«: Als würden Seiten von meine hände sind meine identität, mein Notizbüchern in einen anderen Kontext gesicht, und die zeit ist die zeit die mich gebracht, generieren die Bilder neue Bedeu macht ist die zeit für mich in der zeit in tungen. Ihr vielseitiges Œuvre sowie die der ich es mache ist die zeit mein gesicht es Kombination mit den sogenannten neuen geschieht in der zeit verliere ich die zeit, Medien (Fotografie, Film und Video), ich finde sie in meinen händen wieder. durch die sie zu teils chimärenartigen Aus- (märz 1973).« drucksformen findet, zeugen von ihrem jz Interesse an der De- und Rekonstruktion von Denkräumen. Stets lotet sie jenen Irritationsmoment der Wahrnehmung aus, der sich in einer Grenzsituation, an den »Schnitten«, so Export, durch eine Unord- nung einstellt. Mehr als dass es auf die Konstruktion und seinen Entstehungsprozess verweist, be sitzt das Bild aufgrund der Spannung, die durch die Gleichzeitigkeit und -räumlich- keit hervorgerufen wird, eine surrealis tische und poetische Qualität. Der Außen- raum erfährt die Konnotation des Innen – hier liegt die Dünenlandschaft wie eine Erinnerung in der Ferne und ist doch zu- gleich ganz nah. Die Hände – mit Exports Worten »Ausdrucksorgane« – könnten (wenn auch nur fragmentarisch, wie auf mittelalterlichen Darstellungen die Hand
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit JOAN FONTCUBERTA *1955, Barcelona, Spanien In der Serie »Herbarium« des katalanischen und werfen ihn unversehens in einen Re- Künstlers Joan Fontcuberta sind blumen- flexionsvorgang über Bildwahrheiten. artige Gebilde zu sehen, die sich optisch Denn ebenso doppeldeutig wie paradox an die einem botanischen Dokumenta trifft hier die künstlich erzeugte »Natur« tionsinteresse dienenden Pflanzenfotogra- auf die Erwartung des Betrachters, in der fien von Karl Blossfeldt aus den 1920er Fotografie reale Gegebenheiten wiederzu- Jahren anlehnen. Erwecken sie zunächst erkennen. Die behauptete Natur der Foto- einen pflanzenkundlichen Anschein, er- grafie, die Wirklichkeit 1:1 wiederzuge- weisen sich Fontcubertas Arbeiten jedoch ben, erweist sich in Fontcubertas Arbeiten bei näherer Betrachtung als Konstruktio- als Schein. nen. In frankensteinscher Attitüde hat der Künstler lebensunfähige Wesen geschaf- »Ceci n’est pas une fleur« könnte daher der fen, die er aus vorgefundenen organischen imaginäre Untertitel lauten. Es ist ein Mo- wie anorganischen Materialien zusammen- dell, eine Repräsentation, die Vorstellung gesetzt hat: Pflanzen- und Tierteile wie einer Blume – eben nur ein Bild. Ging es Dornen, Krebsschere, Vogelkopf oder René Magritte in seinem berühmten Ge- Knochen kreuzen sich mit zivilisatorischen mälde »La trahison des images« (»Der Überbleibseln (u. a. Kabeln, Plastikelemen- Verrat der Bilder«) darum, jene Kluft zwi- ten, Textilien). schen dem Objekt, dessen wörtlicher Be- zeichnung und seiner Repräsentation zu Um sich Gewissheit zu verschaffen, ist erkunden, indem er unter die Darstellung man versucht, sich an der Bildbeschriftung einer Pfeife die Worte »Ceci n’est pas une zu orientieren. »Brahypoda Frustrata« bei- pipe« schrieb, untersucht Fontcuberta auf spielsweise ist der Titel einer Distel, deren ähnliche Weise das verräterische Moment Stil mit umgedrehten Rosendornen ge- der Fotografie, das er den »Judaskuss« zwi- spickt ist. Aber auch hier führt uns der schen Fotografie und Wahrheit nennt. Künstler in die Irre. Es sind lateinische Begriffe, die aus der Botanik zu stammen Thematisiert Magritte in seinem Gemälde scheinen und als neologistische Verfrem- die krisenhafte Beziehung von Vor-Bild, dungen Fragen aufwerfen. Schriftbild (akustisch: Lautbild) und Nach-Bild, eröffnet Fontcuberta mit iko- Die in seinen Objekten sichtbar angelegten nischer und zugleich ikonoklastischer Ges- Störungen und Fehler rufen eine Wahr- te einen Dialog zwischen fotografischer nehmungsirritation im Betrachter hervor Bildrealität und Bildfiktion. Mit anderen
25 Joan Fontcuberta, Typhatata Ppulcra, aus der Serie: Herbarium, 1982, 50 × 43 cm Worten: Er errichtet ein Bild und lichtet es ebenso wie Frankensteins Monster un- ab, um sodann die Glaubwürdigkeit, durch schuldig ist und für sein Aussehen keine welche die Fotografie als Beweismittel zur Verantwortung trägt. Das Prekäre am Wahrheitsfindung gleichsam heiliggespro- Fotografischen ist – wie der Judaskuss – chen wurde, augenzwinkernd zu zerstören. lediglich der absichtsvolle Eingriff in den In seinen Fotoarbeiten entledigt sich Verlauf des Geschehens. Fontcuberta des verstaubten, der Fotogra- »The photography does not lie, but photo- fie auferlegten Dokumentarcharakters und graphers certainly do«, merkt der Künstler inszeniert stattdessen die Inszenierung. an und bezieht sich dabei auf die fotografi- sche und durch subjektive Entscheidungen Die Fotografie selbst aber bleibt, was sie getroffene Bildherstellung. ist: ein optisches Verfahren, ein chemi- jz scher Prozess und schließlich ein Bild, das
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit Anton Henning, Room with a View, 1995, 102,1 × 142,2 cm ANTON HENNING *1964, Berlin, Deutschland Die drei Werke von Anton Henning in der oder Rohren oder anderen vermeintlich DZ BANK Kunstsammlung setzen sich unpassenden Orten. mit dem Zusammenspiel von Fotografie und Malerei und dem Bild im Bild aus Anton Henning beschäftigt sich neben der einander, wie dies auf je eigene Weise auch Fotografie und Malerei auch mit Skulptur, die Arbeiten von David Hockney, Louise Film und Möbeldesign, außerdem gestaltet Lawler oder Valie Export tun. er gesamte Interieurs. Von daher rührt auch sein Interesse für die Frage, welche Auf den Fotografien Hennings sehen wir Rolle Kunst in einem Raum spielt oder menschenleere Räume, die mit verschiede- spielen kann. In seiner Fotografie mit dem nen seiner Gemälde ausgestattet sind. Sie Titel »Himmelstillleben« aus dem Jahr werden jedoch nicht so präsentiert, wie 1998 ist der Himmel das Hauptmotiv. man es von Bildern in einem Raum er Jedoch fotografiert Henning nicht den wartet (als an der Wand hängende ›eigene Himmel direkt, sondern eine Reihe von Aussage‹), sondern lehnen an Ablagen Gemälden, die am Boden seines Ateliers
27 zum Teil an- und übereinanderlehnend an eines Feuerlöschers – oder ist es eine Gas- die Wand gestapelt sind und verschiedene flasche? – in eines der Bilder mündet. Der Wetterphänomene, Wolkenformationen Künstler spiegelt somit nicht nur die vor- und die Farben des Himmels zu unter- handenen Dinge durch die Fotografie, schiedlichen Tageszeiten wiedergeben. sondern innerhalb des fotografischen Ab- Auf seiner Fotografie scheinen die kleinen bildes noch einmal durch seine Malerei. Wolkenbilder ihrer Zweckbestimmung zu Das real Vorhandene – die vermeintliche harren, irgendwann an der Wand zu hän- Wirklichkeit – wird somit gleich doppelt gen, während das »Himmelstillleben« diese dargestellt und tritt zugleich durch zwei Funktion im Ausstellungsraum bereits unterschiedliche Medien in Zwiesprache. übernommen hat. Einerseits ermöglicht das Abbild es, die Die beiden unter den Titel »Room with a Konzentration auf Dinge zu lenken, die View« gefassten Werke aus dem Jahr 1995 sonst möglicherweise übersehen werden. zeigen die Räumlichkeiten einer Groß- Durch die aktuelle ubiquitäre Verfügbar- bzw. Spülküche, die fast klinisch aufge- keit von Kameras führt die Macht des räumt wirken, jedoch Spuren, ja Blickfän- Bildes andererseits dazu, dass dem Abbild ge ihrer nicht genutzten oder gar fehlenden manchmal mehr Aufmerksamkeit zu- Funktionalität aufweisen. So ist ein Fens- kommt als der Realität. Das Bild kann in ter entweder gar nicht zu erkennen oder unseren Köpfen bedeutender werden als doch so hoch eingebaut, dass man auf eine das Original. Ein Beispiel dafür wäre die Leiter steigen müsste, um einen Ausblick Enttäuschung, die manche Besucher zu erhalten. Der an den bekannten, 1985 empfinden, wenn sie im Louvre vor der verfilmten Roman von E. M. Forster erin- ›echten‹ Mona Lisa stehen. Durch die Viel- nernde Titel »Zimmer mit Aussicht« führt zahl der Reproduktionen hat dieses Öl so zumindest bildlich genommen erst ein- gemälde in ihrer Vorstellung eine viel größe- mal ins Leere. Bezieht sich Henning mit re Dimension erhalten. Auch L eonardo seinem Titel vielleicht auf seine eigenen da Vincis »Mona Lisa (La Gioconda)« ist Gemälde, die in den fensterlosen Räumen weitergedacht natürlich ein Abbild – das eine Perspektive nach außen eröffnen? Abbild einer realen Person. Hier jedoch bestimmt die fotografische Reproduktion Henning lenkt durch seine in die Foto des malerischen Abbildes unsere Wahr grafie aufgehobenen Gemälde das Auge nehmung stärker als das Original. Ganz nicht selten auf alltägliche Utensilien wie ähnlich scheint es sich bei den medial die Schlaufe eines Schlauchs an der Spül- vermittelten und ineinander verschränkten anlage, die gekachelte Wand oder eine Anblicken und Aussichten (›views‹) in Steckdose. Die Leinwände sind so in den Hennings Großküche zu verhalten. Raum integriert, dass sogar der Schlauch kk
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit David Hockney, »Roses for Mother« December 4th 1995, 1995, 117 × 136,5 cm, DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum DAVID HOCKNEY *1937, Bradford, UK Die Fotografie »›Roses for Mother‹ Decem anstelle realer Blumen das doppelte Ab- ber 4th 1995« von David Hockney gibt ein bild von Rosen nach England? Hockney verdoppeltes Stillleben wieder: eine Vase ist vor allem für seine in Kalifornien ent- mit gelben Rosen, die – wie der Titel ver- standenen Ölgemälde von Swimmingpools muten lässt – am 4. Dezember 1995 foto- bekannt. Sein künstlerisches Interesse grafiert wurden und Hockneys Mutter richtet sich zugleich auf die Funktion und zugedacht waren. Der Geburtstag seiner Ausdruckskraft technischer Medien. Mutter Laura fällt auf den 10. Dezember, Bereits in den 1960er und 1970er Jahren 1995 wurde sie 95 Jahre alt. Oder ver hat er mit Polaroids gearbeitet; heute weilte der Künstler einfach gerade in Los zeichnet er Bilder auf dem Tablet oder Angeles und schickte seiner Mutter auf iPad oder sendet ganze Ausstellungen dem mehrere Tage dauernden Postweg per Fax.
29 Aber warum wählte Hockney gelbe Rosen? viel er von etwas sieht, bleibt auf die Frage Symbolisch werden gelbe Rosen mit Un- verwiesen, welchen Standpunkt er wählt treue, Eifersucht und Zweifel zusammen- und in welches Licht er eine Sache rückt. gebracht, aber auch mit Versöhnung und Jede Sache ist (auch) Ansichtssache. Dankbarkeit. Die Schnittblume, die zu kk besonderen Anlässen verschenkt wird, gilt zugleich als Inbegriff des Schönen und Zeichen des Reichtums. Dazu kommt die mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurück- reichende malerische Tradition des Still lebens oder der »nature morte«, deren leblose Gegenstände als Memento mori zu deuten sind. Die Symbolik von Hockneys Arbeit kann also auf die unterschiedlichste Weise gelesen werden. Hockney präsentiert auf seiner Fotografie ein Bild im Bild. Neben der realen Vase mit den gelben Rosen befindet sich im Größenverhältnis 1:1 eine an die Wand gepinnte, auf zwei Blättern ausgeführte und auf den ersten Blick identische Male- rei jener gefüllten Vase auf dem Tisch. Vergleicht man Bild und ›Original‹ jedoch genauer, stellt man fest, dass sie in vielen Aspekten voneinander abweichen. So fehlt beispielsweise die Musterung der Tisch decke auf der Malerei, dafür ist hier der Hintergrund von blauen Punkten übersät. Und sind es eigentlich sieben oder acht Rosen? Durch den Lichteinfall kann man die fotografierten Rosen im oberen Teil nicht mehr genau erkennen, jedoch mehr Stiele zählen als Blüten. So zeigt auch Hockneys Werk etwas von der Komplexität der Wirklichkeit auf: Wie der Betrachter etwas sieht und sogar wie
[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit BARBARA KLEMM *1939, Münster, Deutschland Fast alle fotografischen Arbeiten in dieser Nebensächliche, das, was den Puls einer Ausstellung wurden durch die Künstlerin Zeit und eines Ortes ausmacht, einzufan- oder den Künstler inszeniert oder beschäf- gen. Ihr diesbezügliches Vorgehen ist oft tigen sich vordergründig mit der absichts- beschrieben worden: Sie agiert unauffällig vollen Täuschung des Betrachters. Die und beweglich, mit nur zwei kleinen Ka- Werke von Barbara Klemm fallen aus die- meras ausgestattet, so dass sie nicht als sem Schema heraus. Barbara Klemm ar- Pressefotografin in Erscheinung tritt. Sie beitete von 1970 bis 2005 als Redaktions- benutzt kein künstliches Licht, sondern fotografin für die »Frankfurter Allgemeine das, was die Situation vor Ort hergibt. Sie Zeitung«, vorrangig für die Bereiche Feuil- ist der analogen und der Schwarz-Weiß- leton und Politik. Ihre Fotos sollten in Fotografie treu geblieben, auch als die einer überregionalen Tageszeitung das Farbfotografie und das digitale Herstel- Zeitgeschehen abbilden. Gute Pressefoto- lungsverfahren zum Standard wurden. Die grafien sind der Versuch, durch eine Ab- Besonderheit ihrer Arbeiten wird daran bildung eine größtmögliche Annäherung offenkundig, dass es ihr gelingt, unter der an die Realität zu gewährleisten. Kann eine Vielzahl ebenfalls vor Ort agierender Kol- Fotografie jedoch überhaupt die Wirklich- leginnen und Kollegen den Standpunkt, keit abbilden? Was an dieser ›Wirklichkeit‹ situativen Ausschnitt und Zeitpunkt zu lässt sich durch das Objektiv der Kamera wählen, der ein Bild entstehen lässt, das im strengen Sinne erfassen? Und was be- als Schlüsselmoment des Geschehens zu deutet es, wenn sich eine Fotografie stell- einer Ikone der Zeitgeschichte wird. vertretend für ein ganzes Ereignis in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft Ihre Fähigkeit, das mit ihrer Kamera ein- einprägt? Diese Frage stellt auch das eben- zufangen, was die alten Griechen den falls in dieser Ausstellung vertretene Werk ›kairos‹ nannten, den ›rechten Zeitpunkt‹, von Thomas Demand, das sich mit Presse- mag damit zusammenhängen, dass fotografie auseinandersetzt. Klemm sich sowohl über die politischen als auch die örtlichen Gegebenheiten so Betrachtet man das Œuvre von Barbara gründlich informiert, dass ihr Blick nie Klemm, gewinnt man das Gefühl, dass einfach von außen zusammenfasst, son- sie bei jedem wichtigen politischen Ereig- dern der Komplexität der Wirklichkeit nis in Deutschland, das in ihre Zeit als entspringt. Zudem besitzt sie ein künst Pressefotografin fiel, dabei war und es ihr lerisch geschultes Auge, das sie ihre Bilder darüber hinaus gelingt, das vermeintlich nicht nur inhaltlich, sondern auch unter
31 Barbara Klemm, Abwahl des Parteivorsitzenden der SPD Rudolf Scharping, Mannheim, 1995, 53 × 63 cm formalästhetischen Gesichtspunkten wäh- Auch wenn sie nicht aktiv in das Gesche- len lässt. Dies führt dazu, dass ihre Werke hen eingreifen, stehen doch hinter jeder nicht nur im Pressearchiv zu finden sind, Pressefotografie eine Autorin oder ein sondern auch in zahlreichen Museen und Autor. Barbara Klemm selbst sagt, sie Ausstellungen als Kunstwerke präsentiert spiele gerne Regisseurin. Ihre Aufgabe werden. Durch den »goldenen Schnitt« bestehe jedoch nicht darin, Anweisungen oder Kompositionen, wie wir sie aus Wer- zu geben – sie bestehe vielmehr im War- ken der Kunstgeschichte kennen, kommt ten darauf, bis sich alles in den günstigen Barbara Klemm unseren Sehgewohnheiten Augenblick fügt. für bestimmte Situationen näher und unter kk malt somit die Aussage des Motivs.
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[AN-]SICHTEN. Vom Umgang mit der Wirklichkeit ROSEMARY LAING *1959, Brisbane, Australien Die australische Künstlerin Rosemary Laing punktes im Morton National Park in New studierte zunächst Malerei, bevor sie sich South Wales (Australien) verlegt und ihn der Fotografie zuwandte. Pittoresk wirkt im Anschluss an die entstandene Fotografie auch die Landschaft, welche die Künstle- wieder entfernt. rin uns in ihrer 2001 entstandenen Arbeit »Red Piazza« aus der Serie »groundspeed« Wie die Fotografie von Valie Export ver- präsentiert. Neben einigen älteren, bereits fügt auch die Arbeit von Laing über eine von Moos bewachsenen Baumstämmen poetische und surreale Qualität. Auch hier erkennt man jüngere Baumtriebe, deren überlagern sich Außenraum und Innen- Blätter ein kräftiges Grün aufweisen. Ver- raum als zwei differente und metaphorisch einzelt liegt ebenfalls von Moos überzo aufgeladene Raumbilder. Während Export genes Gestein auf dem Boden und eine die Landschaft jedoch mittels einer ab konvexe, sich im Bildhintergrund leicht fotografierten Fotografie quasi auf den wölbende Felsformation umschließt schein Teppich holt und eine zeitliche Beziehung bar den Ort. Kongruent zu der Bildgrenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart verhindert das Gestein einen weiteren knüpft, verfährt Laing umgekehrt: Das Ausblick in die Landschaft. In farblichem Interieur überzieht und prägt die Natur. Kontrast zu den insgesamt erdigen Farb tönen und dem satten Grün steht der rote Laing verfremdet ihre Bilder nicht am Untergrund, auf dem sich filigrane gelbe Computer, sondern verändert den Schau- Blütenmuster abzeichnen. Es sieht ganz so platz in der Wirklichkeit, der dadurch zu aus, als würde Laing dem Betrachter ein einem anderen Ort, zu einem Gegenort lauschiges Plätzchen in der Natur zeigen, wird. Solche Gegenorte nennt der Philo- das zum Verweilen einlädt … soph Michel Foucault »Heterotopien«. Das Wort leitet sich von griechisch ›heteros‹ Bei dem rötlichen Untergrund handelt es (anders, verschiedenartig, uneinheitlich) sich um einen Feltex-Teppich, dessen Mus- und ›topos‹ (Ort) ab. Diesen »anderen ter »Bold Axminster Red Piazza« aus dem Orten« ist wesenseigen, dass sie Raumord- Jahre 1972 stammt. Gemeinsam mit ihrem nungen und somit Identitäten besitzen, Team hat die Künstlerin die Auslegware die sich für gewöhnlich gegenseitig aus- sorgfältig um jeden Baum und jeden Stein schließen. So erklären spielende Kinder in der Nähe des George Boyd Aussichts- beispielsweise das Bett zum Meer oder Vorherige Seite: Rosemary Laing, groundspeed (Red Piazza) #05, 2001, 92,8 × 136,8 cm (Detail)
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