DIGITALISIERUNG DER INDUSTRIEARBEIT - Veränderungen der Arbeit und Handlungsfelder der IG Metall - Arbeit 2020
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Digitalisierung der Industriearbeit Impressum Verantwortlich: IG Metall Vorstand / 2. Vorsitzender Ressort Zukunft der Arbeit Wilhelm-Leuschner-Str. 79 60329 Frankfurt Redaktion: Silke Ernst Jochen Faber Constanze Kurz Irmhild Rogalla Christine Thomas Julian Wenz Yanira Wolf Konzeption und Gestaltung: made in (www.madein.io) Frankfurt am Main, September 2015 4
VORWORT Datenbrillen in der Montage, die Vernetzung von wicklung. Es gilt zu verhindern, dass sich Formen Maschinen, Roboter als Arbeitskollegen, Algo- arbeits- und sozialrechtlich ungeschützter Arbeit rithmen, die Bürotätigkeiten übernehmen – die und eine Art „digitales Tagelöhnertum“ (Stich- umfassende Digitalisierung der Industriearbeit wort: Crowdsourcing) etablieren. Die Aus- und hat viele Aspekte. Weiterbildung muss auf die Digitalisierung der Arbeitswelt ausgerichtet werden. Genauso wich- Wenn wir als IG Metall weiterhin für gute Arbeit tig ist es, den Zugang zu den Bildungsangeboten in den Fabriken und Büros sorgen wollen, dann weiter zu öffnen und zu erleichtern. Nur so wer- müssen wir Antworten auf folgende Fragen den die Beschäftigten bei der rasanten Verände- suchen: Welche Auswirkungen hat die Digita- rung ihrer Arbeit nicht unter die Räder kommen. lisierung auf Beschäftigung, auf Berufsbilder, Erforderlich ist auch eine Modernisierung des Tätigkeitsinhalte und Erwerbsformen? Was heißt Arbeitsschutzes, die sicherstellt, dass die Be- in Zukunft „informationelle Selbstbestimmung“, schäftigten nicht an der „elektronischen Leine“ welche Maßstäbe werden an Datenschutz und hängen, d.h. nicht immer und überall auf ihre Datensicherheit angelegt? Und: Wie wird in Be- Arbeitskraft zugegriffen werden kann. Höchst- trieben und Gesellschaft Macht ausbalanciert und grenzen bei der Arbeitszeit und der Schutz wie sieht die Zukunft der Mitbestimmung aus? vor psychischen Belastungen sind auch in der „Arbeitswelt 4.0“ ein Muss. Es gilt jetzt, ein Bild zu entwickeln, wie die Ar- beitswelt der Zukunft aus unserer Sicht ausse- Kurz: Wir brauchen eine neue und ganzheitliche hen soll und wie wir uns diesem nähern können. Humanisierung der Arbeitswelt! Wir haben Tarifverträge und gesetzliche Mitbe- Dazu wird die IG Metall einen wesentlichen Beitrag stimmungsrechte. Es gibt darüber hinaus Be- leisten. Diese Broschüre beschreibt den Stand der teiligungsansätze in den Unternehmen und Mit- Debatte und die wesentlichen Handlungsansätze. sprachewünsche der Beschäftigten. Darin ste- cken unserer Meinung nach enorme Chancen. Herzlichst Damit aus technischem Fortschritt auch ein Fortschritt für die Beschäftigten werden kann, müssen wir die Menschen ermutigen, sich bei der Gestaltung ihrer Arbeitswelt einzumischen. Jörg Hofmann (VB 02) Christiane Benner (VB 05) Auch dazu bietet die Digitalisierung neue Mög- lichkeiten, die wir nutzen sollten. Was wir dringend brauchen, ist eine arbeits- bildungs- und sozialpolitische Flankierung der technischen und arbeitsorganisatorischen Ent- Hans-Jürgen Urban (VB 07) 5
RASANT! Sieben Fragen zur Industriearbeit der Zukunft Welche Arbeitsplätze werden durch die Wie werden sich die Arbeitsabläufe, Nutzung digitaler Techniken bedroht beispielsweise die Beziehung zwischen und welche können neu entstehen? Mensch und Maschine, gestalten – bleiben für Menschen nur gering quali- fizierte Tätigkeiten übrig oder können sie mit höherer Qualifikation mehr Handlungsspielraum nutzen und Ver- antwortung übernehmen? Wie muss die betriebliche Mitbestim- Große Mengen personenbezogener mung und Beteiligung der Beschäftig- Daten werden erhoben, wie kann ein an- ten weiterentwickelt werden, um die gemessener Arbeitnehmerdatenschutz neu formierte Arbeitswelt positiv mit geschaffen werden? zu gestalten? 6
Wie können die Beschäftigen ihre Quali- Wenn Arbeitszeit und -ort immer fikationen stets auf dem aktuellen Stand flexibler sein können – bringt das mehr der Anforderungen halten? individuelle Entscheidungsfreiheit und Chancen zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben oder droht die Entgrenzung von Arbeit, steigender Leistungsdruck und mehr körperliche und psychische Belastung? Wird aus Belegschaften ein diffuser Mix von fest Beschäftigten und externen Kräften – bis hin zur Auslagerung klei- ner Arbeitsaufgaben an „digitale Tage- löhner“ („Crowdworking“)? 7
Digitalisierung der Industriearbeit FÜR HUMANE ARBEIT IN DER DIGITALISIERTEN INDUSTRIE Die digitale Welt ist keine Science-Fiction, wir Werkstücke und Menschen über das Internet per- leben bereits in ihr: Wir lesen auf digitalen Ge- manent miteinander, Rohlinge manövrieren sich räten, bestellen Kleidung online, vergleichen eigenständig durch die Produktion, Menschen Produkte und Preise im Internet, sind mit unseren und Roboter arbeiten direkt zusammen, Maschi- Smartphones ständig miteinander in Verbin- nen rüsten sich selbstständig um. Unternehmen dung. Unser Standardnachschlagewerk ist nicht sind mit ihren Kunden wie mit ihren Lieferanten mehr der gute alte Brockhaus, sondern Google. vernetzt, betreiben eine gemeinsame Lieferkette, Politische Diskussionen finden immer häufiger teilen sich IT-Infrastrukturen und bieten indivi- nicht auf Versammlungen in Gemeindesälen und dualisierte Dienstleistungen. Die Frage ist, wer in Bürgerhäusern statt. Sondern im Internet. Kurz der digitalisierten Fabrik Tempo und Takt vor- gesagt: Wir alle sind längst digitale Konsumenten, gibt: Der Mensch? Oder die Maschinen? Bislang digitale Bürger. Fortschreitende Digitalisierung ist das noch nicht ausgemacht. Klar ist aber: Die aber verändert nicht nur unseren Alltag, unsere Beschäftigten sehen sich einer schnellen Umwäl- Freizeit, die Art, wie wir kommunizieren und kon- zung ihres Arbeitsalltags gegenüber. sumieren. Sie verändert auch die Arbeitswelt und damit die Bedingungen, unter denen wir arbeiten. Klar ist auch: Die IG Metall engagiert sich kraftvoll Nach der Erfindung der Dampfmaschine, nach an der betrieblichen und politischen Gestaltung der Entwicklung des Fließbandes und der Einfüh- von „Industrie 4.0“ - denn: rung des Computers stehen wir heute am Beginn einer neuen Phase industrieller Entwicklung: In Gute Arbeit braucht es auch in der zunehmend der „Industrie 4.0“ kommunizieren Maschinen, digitalisierten Arbeitswelt. 8
INDUSTRIELLE REVOLUTIONEN Systeme, Vernetzung Cyber-physische Wachstum, Komplexität Automatisierung, IT Fließband Produktionsmaschinen 1785 1845 1900 1950 1990 2015 1. 2. 3. 4. Industrielle Industrielle Industrielle Industrielle Revolution Revolution Revolution Revolution 9
Digitalisierung der Industriearbeit RADIKAL! Die Industrie arbeitet immer digitaler – Die Wertschöpfungsketten verändern sich „Industrie 4.0“ umfasst technisch gesehen eine Wann und in welchem Umfang sich ein Unter- Kombination neuer Entwicklungen in der Mik- nehmen der Entwicklung anschließt, kann eine roelektronik, der Sensorik, der Robotik und der entscheidende Frage für sein Überleben sein. Datenverarbeitung. Komplexe vernetzte Systeme Neugründungen, Firmen mit hoher Innovations- mit eigener Steuerung und interaktiven Bedien- kultur und Branchen mit direktem Bezug zur möglichkeiten gehören dazu. Riesige Datenmen- Digitalisierung (IT-Sektor, Online-Handel und gen können in Echtzeit an verschiedenen Orten andere mehr) tun sich hier naturgemäß leichter. verarbeitet und gespeichert werden - „big data“ Digitalisierung wird damit zur Voraussetzung ist hierfür das Stichwort. Der Zugriff auf diese für den Erhalt und den Ausbau der Wettbe- Daten ist durch mobile Geräte und flexible Daten- werbsfähigkeit. Unternehmen, die sich an der netze nicht mehr an einen bestimmten Ort gebun- Vernetzung entlang der gesamten Lieferkette den. In der Entwicklung können Simulationssys- nicht beteiligen oder diese zu spät realisieren, teme innerhalb kürzester Zeit Ergebnisse liefern. könnten in Zukunft zunehmend von der wirt- In den Unternehmen besteht ein durchgehender schaftlichen Entwicklung abgehängt werden. Datenfluss von der Entwicklung über die Produk- tion bis zu Logistik und Service. Dadurch gelingt es, Abläufe um ein Vielfaches individueller und Es braucht: schneller zu steuern, als das in der Vergangenheit möglich war. Umfassende Digitalisierung macht • Eine gute Infrastruktur, also beispielsweise allerdings nicht bloß eine unternehmensinterne, flächendeckende Breitbandverkabelung. sondern auch unternehmens- und branchenüber- greifende Vernetzung möglich – es entsteht ein • Offene, transparente Standards für den durchgängiger Informationsfluss zwischen Unter- Informationsaustausch und seine Technik. nehmen und ihren Zulieferern und Dienstleistern. Die Unternehmen setzen darauf, mit der Einfüh- • Ausreichende Investitionen in die Informations- rung und Umsetzung der neuen technologischen und Telekommunikationsbranche. Möglichkeiten ihre Produktivität deutlich zu stei- gern. Eine Reihe aktueller Prognosen und Umfra- Dies muss entsprechende Qualifikationen der gen bestätigen diese Erwartung – auch deshalb, Beschäftigten einschließen. Nur hierdurch weil es unter den Bedingungen von Industrie 4.0 werden heute erfolgreiche Industriecluster zu- möglich sein wird, nahezu individuelle Produkte kunftsfähig und es wird vermieden, dass kleine herzustellen, die sich viel besser als bisher an den und mittlere Unternehmen von der Digitalisie- Bedürfnissen der Kunden orientieren. rung abgekoppelt werden. 10
VERTIKALE WERTSCHÖPFUNG IM UNTERNEHMEN HORIZONTALE WERTSCHÖPFUNGSKETTE LIEFERANTEN – KUNDEN – BEZIEHUNGEN f t HINTERGRUND Durch Digitalisierung und Vernetzung werden Materialien, Maschinen und Abläufe aus allen Geschäftsprozesse immer stärker integriert: Im Bereichen, egal ob Entwicklung, Montage oder Unternehmen verbindet der Datenfluss die ein- Verwaltung, stehen jederzeit zur Verfügung. zelnen Prozesse vertikal, vom Vertrieb über die Über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg Produktion bis zur Finanzabteilung. In horizon- lassen sich die Aktivitäten koordinieren, seien es talen Wertschöpfungsketten verknüpfen Unter- Dienstleistung, Produktion oder Service. Schnelle nehmen ihre Daten mit denen ihrer Lieferanten, Anpassungen und kundenindividuelle Produkte, Partner und Kunden. Aktuelle Informationen über bis hin zur Losgröße 1, werden so möglich. 11
Digitalisierung der Industriearbeit Was heißt das für die Beschäftigung? In der digitalen Ökonomie werden sich auch Digitalisierung industrieller Arbeit und Produktion die Tätigkeitsprofile und Qualifikationsanfor- ein zentraler Innovations-und Wachstumstreiber derungen der Beschäftigten verändern: Alte der Zukunft ist. Effizienzgewinne und Produk- Abgrenzungen zwischen Produktions-, Ver- tivitätssteigerungen werden vor allem durch waltungs-, Dienstleistungs- und Wissensar- eine deutlich erhöhte Flexibilität sowie Indivi- beit lösen sich auf. Die Anteile von Dienstleis- dualisierungsmöglichkeiten von Produkten und tungs- und Wissensarbeit werden zunehmen. Dienstleistungen und damit einer noch besse- Die Produkte eines Unternehmens können ren Kundenorientierung erwartet. Die größte vielfältiger werden: Neben industriellen Gütern, Gefahr für Arbeitsplätze in den deutschen etwa Autos oder Werkzeugmaschinen, können Industriebranchen wäre es daher, wenn inno- zusätzlich auch damit verbundene Dienstleis- vationsschwache, kleine und mittelständische tungen und Fachwissen verkauft werden. Eine Unternehmen Möglichkeiten des vernetzten, di- der zentralen Fragen lautet: Kann Industrie gitalisierten Wirtschaftens nicht nutzen und aus 4.0 zu einem Jobmotor werden? Können neue den Wertschöpfungsketten herausfielen. Darum Geschäftsmodelle entwickelt und nachhaltig müssen die kleinen und mittleren Unternehmen verankert werden? Die Voraussetzungen dafür sich verstärkt auf ihre eigene Innovationskraft sind gegeben: Die deutsche Industrie als „Fabrik- besinnen und Strategien zur Digitalisierung ausrüster der Welt“ sowie eine hohe Innovati- ihrer Geschäftsprozesse entwickeln. Außerdem onsfähigkeit (beispielsweise im Maschinen- und muss eine aktive Industriepolitik Rahmenbedin- Anlagenbau) könnten neue Beschäftigungspers- gungen so gestalten, dass kleine und mittlere pektiven eröffnen. Die aktuellen Prognosen und Unternehmen die Umbrüche, die durch die Digi- Umfragen lassen keinen Zweifel daran, dass die talisierung entstehen, auch bewältigen können. 12
PROGNOSEN: BESCHÄFTIGUNGSEFFEKTE DURCH INDUSTRIE 4.0 Die digitale Jobvernichtung hat begonnen, das Ende der Arbeit steht bevor: Zumindest, wenn man den Forscher Carl B. Frey und Michael Osborne von der Universität Oxford glaubt. Sie prognostizie- ren: Durch Automatisierung könnten bis 2035 in den USA 47%, also fast die Hälfte aller Arbeits- plätze, verloren gehen. Für Europa soll es sogar noch schlimmer kommen: Im Durchschnitt seien in der Europäischen Union 54% aller Arbeitsplätze gefährdet. In einer aktuellen Expertise für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurde die Studie von Frey und Osborne für deutsche Verhältnisse geprüft. Ergebnis ist: Etwa 12% der Beschäftigten in Deutschland führen Tätigkeiten aus, die automatisiert werden könnten. Aber: Alle diese Zahlen beschreiben ausschließlich die Aus- wirkungen des Einsatzes von Technik auf bestehende Arbeitsplätze. Andere Effekte, wie die Not- wendigkeit neuer Tätigkeiten oder die Entstehung ganz neuer Unternehmen und Geschäftsfelder sind dabei nicht berücksichtigt. WELCHE AUSWIRKUNGEN ERWARTEN SIE VON INDUSTRIE 4.0 AUF DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFT IM ALLGEMEINEN? Andere Studien, mit anderen Frage- stellungen, kommen daher auch zu ganz anderen Ergebnissen: trifft zu trifft eher zu trifft eher nicht zu trifft nicht zu So sind bei einer Umfrage der Staufen AG unter 140 deutschen Industrieunternehmen aus dem Die Zahl einfacher 33 39 25 3 Maschinen- und Anlagenbau, der Arbeitsplätze nimmt ab Elektro- und Automobilindustrie Die Zahl qualifizierter 35 50 13 2 sowie der Luftfahrt immerhin fast Arbeitsplätze nimmt zu 40% der Befragten der Meinung, Unterm Strich steigt die Gesamt- dass die Gesamtzahl der Beschäf- zahl der Beschäftigten in der BRD 7 32 51 10 tigten eher steigen wird. Sogar 85% meinen, dass die Zahl qualifizierter (in Prozent) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Arbeitsplätze zunehmen wird. 13
Digitalisierung der Industriearbeit INDUSTRIE 4.0 SORGT FÜR WACHSTUM DER BESCHÄFTIGUNG IN DER INDUSTRIE Ähnliches prognostiziert auch die Unterneh- 6% mensberatung BCG aufgrund der Auswertung von statistischen Daten: In den nächsten zehn Jahren wird, so die Studie, die Beschäftigung in der verarbeitenden Indust- rie aufgrund von Industrie 4.0 Entwicklungen und -Anwendungen um insgesamt 6% steigen. Aber auch hier ist klar: Qualifizierte Beschäf- tigte, vor allem solche mit Kompetenzen in IT, Software-Entwicklung, Mechatronik und ähnli- chem, werden, überproportional gefragt sein. Quellen: Frey, C.B., Osborne, M.A.: The Future of Employment: How susceptible are Jobs to Computerisation? Oxford Martin Programme on the Impacts of Future Technology, 2013. http://www.oxfordmartin.ox.ac. uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf Bonin, H. u.a.: Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013) auf Deutschland. Mannheim: ZEW, 2015. www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb-455.pdf Staufen AG (Hrsg.): Deutscher "Industrie 4.0" Index. Auf dem Weg zur Fabrik der Zukunft. Next step Roboterfabrik? Köngen: Staufen AG, 2014. http://www.staufen.ag/fileadmin/hq/survey/STAUFEN-stu- die-deutscher-industrie-4.0-index-2014.pdf Rüßmann, M. u.a.: Industry 4.0. The Future of Productivity and Growth in Manufacturing Industries. München: BCG, 2015. Kurzfassung (engl.: https://www.bcgperspectives.com/content/articles/enginee- red_products_project_business_industry_40_future_productivity_growth_manufacturing_indu stries/ 14
RASANT! Industriearbeit im Wandel – Risiken und Chancen für die Beschäftigten Über die Anzahl der künftigen Arbeitsplätze, Vergangenheit konnte Arbeitsplatzverlust, der darüber, ob es mehr oder weniger als heute durch Rationalisierung erzeugt wurde, immer sein werden, gibt es bislang nur Schätzungen. wieder aufgefangen werden: Wachstum, das Pessimistische Prognosen gehen davon aus, durch neue Produkte, industrielle Dienstleis- dass in naher Zukunft fast jeder zweite Beruf – tungen und Geschäftsmodelle (z. B. Service, zumindest mit seinem heutigen Qualifikations- Finanzdienstleistungen) erarbeitet wurde, profil – automatisiert werden könnte. Klar ist: ermöglichte es, neue Stellen zu schaffen. Eine Die Digitalisierung wird nicht nur die Produkti- zuverlässige Vorhersage, ob dies auch unter on verändern, sondern sich auch auf Logistik, den Bedingungen fortschreitender Digitalisie- Qualitätssicherung, Instandhaltung, Manage- rung möglich sein wird, gibt es bislang nicht. ment, Verwaltung und Entwicklung auswirken. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass hunderttau- Von daher spricht einiges dafür, dass sich sende Arbeitsplätze gefährdet sind, wenn die die Beschäftigtenstrukturen in den kommenden deutsche Industrie nicht zum Investitionstrei- Jahren erheblich verändern werden. In der ber einer digitalen Arbeitswelt wird. 15
Digitalisierung der Industriearbeit DEMOGRAFISCHER WANDEL: WENIGER, ÄLTER, BUNTER Weniger, älter, bunter – diese drei Worte skiz- heute deutlich besseren Zugang zu Qualifizie- zieren, wie sich die Erwerbstätigenstruktur in rungsmöglichkeiten haben. Auch müssen be- Deutschland in den kommenden Jahren und lastende Tätigkeiten weiter abgebaut werden. Jahrzehnten verändern wird. Der vor uns ste- Der Erhalt der Arbeits- und Beschäftigungsfähig- hende Schub der Digitalisierung wird dem- keit erfahrener Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nach auf einen Arbeitsmarkt treffen, aus dem nehmer sowie die Stärkung von IT-Kompetenzen die großen geburtenstarken Jahrgänge zuneh- der Berufseinsteiger sind wichtige Bausteine, mend ausscheiden werden (die sogenannten um für alle Beschäftigten faire Teilhabechancen „Babyboomer“). Gleichzeitig werden vergleichs- an der Arbeitswelt von morgen sicherzustellen. weise weniger Berufseinsteiger nachrücken. Dies ist auch eine staatliche Aufgabe, die insbe- Unter den Bedingungen fortschreitender Di- sondere das Bildungs- und Sozialsystem betrifft. gitalisierung wird der Wandel der Arbeitswelt Die Herausforderung besteht darin, den Schutz schneller kommen als wir es von früheren In- und die Förderung der Beschäftigten unter den novationswellen her kennen. Darum müssen die Bedingungen der Digitalisierung weiterzuentwi- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits ckeln und neu zu organisieren. 16
»Der verstärkte Einsatz von Robotern bedeutet, dass wir in einem oder zwei Jahrzehnten weniger Mitarbeiter in Deutschland haben werden. Der Glücks- fall, dass die Babyboomer in Rente ge- hen, erlaubt es uns, ergonomisch un- günstige Arbeitsplätze abzubauen und zu automatisieren, ohne Mitarbeiter zu entlassen« – Dr. Horst Neumann (Volkswagen AG) DIE BABYBOOMER GEHEN IN DEN RUHESTAND – DAS ARBEITSKRÄFTE-ANGEBOT SINKT Geburten in Deutschland pro Jahr 17
Digitalisierung der Industriearbeit WIE WIR IN ZUKUNFT ARBEITEN WERDEN – WER HAT DAS SAGEN: MENSCH ODER MASCHINE? Eine Arbeitswelt, die vermehrt von der Vernet- Modell die schweren, belastenden und monoto- zung intelligenter Geräte, Maschinen und Anla- nen Arbeiten aus. Da durch die Vernetzung eine gen geprägt ist, birgt Chancen wie Risiken. enge Anbindung des Menschen an die Maschi- Viele Niedriglohnjobs sind die eine Möglichkeit, nen und Fabrikabläufe entfällt, können bislang in der für die Menschen nur Resttätigkeiten starre Arbeitsstrukturen aufgebrochen werden. bleiben, die Maschinen nicht wirtschaftlich er- Dies könnte neue Freiräume für die Gestaltung füllen können. In diesem Szenario steuert eine der Arbeitsorganisation eröffnen und damit kleine Zahl Hochqualifizierter den Betrieb und selbstbestimmteres Arbeiten sowie eine besse- die Weiterentwicklung der Technik und Abläufe. re Vereinbarkeit von Arbeit und Leben möglich Als Gegenentwurf dazu kann die digitale Ar- machen. Welches Szenario Realität wird, hängt beitswelt jedoch auch so gestaltet werden, dass von der betrieblichen Gestaltung und der Einmi- den Beschäftigten Innovations-, Steuerungs- und schung der Betriebsräte und Gewerkschaften ab. Regulierungstätigkeiten übertragen werden. Nötig für gute Arbeit im Unternehmen 4.0 ist Die Maschinen führen in diesem alternativen die soziale Gestaltung der technischen Abläufe. 18
TECHNIK Tec h nik ges tal ng tun klu g wic ,H um ent an- s zes Ma Pro chi ne- und BETEILIGUNGS- Int ORIENTIERTE kt- erf GESTALTUNG UND du ace Pro ENTWICKLUNG s/I nte ra cti on Lernen – Kompetenzentwicklung – Qualifizierung ORGANISATIONEN MENSCHEN HINTERGRUND Um die Chancen der Industrie 4.0 für besse- Prozesse – dafür braucht es qualifizierte, moti- re Arbeitsbedingungen realisieren zu können, vierte und selbständig agierende Beschäftigte, ist eine umfassende Gestaltungsperspektive die ihre Arbeit selbstorganisiert und kooperativ gefragt. Das bedeutet: Bei der Einführung von vollziehen können. Arbeit muss lernförderlich Industrie 4.0-Lösungen dürfen die Gestaltungs- gestaltet werden, um Beschäftigte zu fähigen fragen der Arbeitsorganisation, der Weiter- Steuerern der digitalen Prozesse zu machen. Die bildung sowie der Technik und Software nicht Stärkung von Qualifizierung, von Mitsprache- isoliert behandelt werden. Stattdessen müssen und Mitwirkungsmöglichkeiten der Beschäftig- sie zusammen – als soziotechnisches System – ten und Betriebsräte und die Erweiterung von gedacht und umgesetzt werden. Industrie 4.0 Handlungsspielräumen ist Voraussetzung für das steht für komplexe, flexible, anpassungsfähige Gelingen des Projekts Industrie 4.0. 19
Digitalisierung der Industriearbeit PROGNOSEN ZUR DIGITALEN Arbeit wird flexibler: INDUSTRIEARBEIT: FLEXIBEL, Arbeit ist weniger an Zeit und Ort gebunden – OPTIMIERT, FRAGMENTIERT? Stichwort „Home Office“. Dadurch können neue Freiräume entstehen, durch die sich beispiels- weise private und berufliche Interessen besser Arbeit wird beschleunigt: vereinbaren lassen. Die alte Trennung von Ar- beit und Leben wird damit tendenziell in Frage Durch Vernetzung können räumliche und zeit- gestellt. Hierdurch entstehen jedoch auch neue liche Schranken überwunden, Informationen in Anforderungen, dem Schutzbedürfnis der Be- Echtzeit bereitgestellt und in die Leistungssteu- schäftigten zu entsprechen – die immer weitere erung übertragen werden. Die Ankopplung der Entgrenzung von Arbeit und Leben wird von Arbeit an Märkte und deren wechselnde Bedin- vielen auch als Belastung erfahren. gungen wird enger. Schnelle Kommunikation und verzahnte Produktionsabläufe ziehen Anfor- Ansprüche an Arbeit werden individueller: derungen an immer schnelles Handelns nach sich. Insbesondere dann, wenn Arbeit nicht nur Brot- Arbeit wird stärker kontrollier- erwerb ist, sondern komplexe, eigenverantwort- und steuerbar: liche Tätigkeiten umfasst, erwarten Beschäftigte neben fairer Bezahlung, Wertschätzung und Durch die Einbindung der Beschäftigten in digita- Anerkennung auch, dass ihre individuellen Be- lisierte Prozesse und Arbeitsumgebungen er- dürfnisse sowie familiären und gesellschaftlichen halten Fragen von Herrschaft und Kontrolle über Verpflichtungen anerkannt und berücksichtigt die Arbeit eine besondere Bedeutung. Vernetzte werden. Die Arbeitskultur muss sich der Vielfalt Mitarbeiter sind prinzipiell lokalisierbar und in von Lebenslagen und Lebensstilen öffnen. Auch ihren Handlungen überwachbar. Leistung und die gewerkschaftliche Praxis muss darauf einge- Arbeitsverhalten können automatisch dokumen- hen, dass Beschäftigte gerne ihre Arbeit selbst- tiert und ausgewertet werden – möglich ist auch, bestimmter gestalten wollen. dass technische Systeme die Leistungsvorgaben individuell anpassen. Arbeit bedeutet zunehmend, auf Unwägbarkeiten und Störungen zu reagieren: Egal ob Menschen „Anhängsel“ oder „Herr“ der Maschinen werden – auf nicht geplante Ereignis- se zu reagieren wird eine zentrale Anforderung. Dies erfordert Handlungsspielräume, kann aber auch zu Überforderung und Stress führen. Für die Industriearbeit der Zukunft sind daher Fähigkei- ten wie kreatives Problemlösen, flexibles Planen und kooperatives Vorgehen entscheidend. 20
MENSCH UND GESELLSCHAFT – TRENDS Mobile Arbeit Drei von fünf Beschäftigten sind der Meinung, dass sie nicht im Büro sein müssen, um produktiv zu arbeiten Demografischer Wandel Dem Arbeitsmarkt stehen immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter (20–65) zur Verfügung (-34% bis 2060) Geburten in Deutschland pro Jahr Gute Arbeit & Gutes Leben Arbeit soll entsprechend der Lebenssituation individuell gestaltbar sein Wachsende Vielfalt & Individualisierung 21
Digitalisierung der Industriearbeit DIE KARTEN WERDEN NEU GEMISCHT Digitale Industriearbeit enthält Chancen und Risi- Gerade im Zusammenhang mit der Gestaltung von ken. Diese Chancen und Risiken sind nicht techno- Technik und Organisation kann viel Positives be- logisch vorbestimmt. Digitale Arbeit ist gestaltbar wirkt oder – genau im Gegenteil – den Interessen und verhandelbar. Sie enthält Chancen für alle Be- der Beschäftigten geschadet werden. Nur wenn schäftigten, künftig selbstbestimmter und gesün- Beschäftigte und Unternehmen die Zusammenhän- der, in attraktiven Arbeits- und Lernumgebungen ge von Digitalisierung und Vernetzung mit Arbeit zu arbeiten. Die IG Metall ist entschlossen, diese und ihrer Organisation besser verstehen, können sie Chancen zu realisieren. neue Gestaltungsmöglichkeiten erschließen und den Dafür muss die Technik selbst in den Blick genom- Risiken der digitalen Arbeitswelt entgegen wirken. men werden. Es ist kritisch zu durchleuchten, was Maschinen, Systeme und Software bieten und wie Der IG Metall geht es im Zeichen zunehmender sie in die betriebliche und überbetriebliche Ar- Digitalisierung um die gesellschaftliche Regulie- beits- und Sozialorganisation eingebettet werden. rung einer guten Zukunft von Arbeit und Leben! Konkret heißt das: • Werden vorhandene Qualifikation wertge- schätzt und weiterentwickelt? • Wird das Potenzial der Technik genutzt, um gute Arbeit und Arbeitsbedingungen zu fördern? • Wir das Arbeitsvermögen der Beschäftigten angemessen genutzt, keine Über- aber auch keine Unterforderung? 22
23 VVS fte n cha erks aft Gew sch r und Wissen nsfelde litik von peratio Koo itspo Arbe beit und striear rsg.) n (H Supple Urba Indu rgen ment de s-Jü nn r Zeitsch V Han Hofma el rift Sozia lismus Jörg ef Wetz 6 / 2015 VS Detl Joachim Bischo ff / Björ n Radk e / Axel Indu Troost st der Zu rie Wertsch kunft? öp De-Indu fung zwisch st en industrie rialisierung ller Revo und lution vierter
Digitalisierung der Industriearbeit BEHERZT! Die Handlungsfelder der IG Metall für eine menschen- gerechte Gestaltung der digitalen Arbeitswelt Die Interessen des arbeitenden Menschen Eine neue Humanisierungspolitik würde an das staat- stehen für uns im Mittelpunkt. Um sie in der liche Förderprogramm „Humanisierung des Arbeits- digitalisierten Arbeitswelt zu verwirklichen, lebens“ aus den 70er Jahren anknüpfen. Es wurde brauchen wir eine neue Humanisierungspoli- 1974 vom damaligen Bundesminister für Forschung tik. Unser Leitbild ist der handelnde Mensch, und Technologie Hans Matthöfer aufgelegt, der vor- der die nötige Qualifikation und Kompetenz her viele Jahre beim IG Metall-Vorstand tätig war. zur Nutzung intelligenter maschineller und digitaler Systeme besitzt und die technischen Humanisierung des Arbeitslebens stand Entwicklungen für ein besseres Leben und für eine Reformpolitik, die darauf abzielte: Arbeiten selbstbestimmt nutzen kann. Unser Ansatz einer neuen Humanisierungspolitik ist: • Technisch-organisatorischen Wandel Die Gestaltungspolitik der IG Metall trägt den zu beeinflussen. unterschiedlichen Ansprüchen der Beschäftig- ten ebenso Rechnung, wie sie der Herstellung • Arbeitsbedingungen zu verbessern. sozialer Gerechtigkeit unter den neuen Be- dingungen der Digitalisierung verpflichtet ist. • Industriearbeit zu gestalten. 24
»Freiheit und Gerechtigkeit müssen über- all im Arbeitsleben verwirklicht werden: Menschenwürde, Freiheit und Gerech- tigkeit sind keine Güter, die wirtschaft- lichem Kalkül beliebig geopfert werden können. Nicht der Mensch hat der Produktion, sondern diese hat dem Men- schen zu dienen.« – Hans Matthöfer (Bundesminister 1974 – 1982) Herausgeber: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Herausgeber: Industriegewerkschaft Unfallforschung, Dortmund, 1976 Metall (IG Metall) Vorstand, 1977 HINTERGRUND Eine neue Humanisierungspolitik würde an das Die HdA-Politik beeinflusste auch die Tarifpolitik: staatliche Förderprogramm „Humanisierung des Der Lohnrahmen-Tarifvertrag II (1973) sowie Arbeitslebens (HdA)“ anknüpfen. Dies wurde Rationalisierungsschutzabkommen zeigen das am 1974 vom damaligen Bundesminister für For- deutlichsten. Zudem beteiligten sich IG Metall und schung und Technologie Hans Matthöfer (SPD) viele Betriebsräte an konkreten Projekten in den aufgelegt. „Humanisierung des Arbeitslebens“ Betrieben, die im Rahmen des HdA-Programms stand für eine Reformpolitik, die darauf abzielt, gefördert wurden. Dabei wurden Arbeitsinhalte den technisch-organisatorischen Wandel zu beein- und -beziehungen verbessert, belastende und ge- flussen und Arbeitsbedingungen zu verbessern. sundheitsgefährdende Arbeitssituationen abgebaut. 25
Digitalisierung der Industriearbeit SOZIALE ARBEITSWIRKLICHKEITEN IN DER DIGITALEN WELT – DURCH BETEILIGUNG, MITBESTIMMUNG, TARIFVERTRÄGE Die Weiterentwicklung der Mitbestimmung in Für die Mitbestimmungspraxis in der digitalen der digitalisierten Arbeitswelt ist ein zentra- Arbeitswelt müssen Mitbestimmungsrechte les Handlungsfeld der IG Metall. Der Betrieb angepasst werden. Das beginnt mit dem Infor- soll ein sozialer und demokratischer Ort sein. mationsrecht des Betriebsrats. Der Betriebsrat Dazu braucht es neue Formen der Beteiligung in benötigt zwingend ein Initiativrecht, nicht nur der Betriebs- und Unternehmenspolitik – „ver- zu Umfang und Qualität der erforderlichen Infor- netzte Mitbestimmung“ ist das Stichwort. Die mationen, sondern auch bezüglich der Art ihrer Mitbestimmung muss digital werden – denn die Aufbereitung. Die Weiterentwicklung von Mit- Informations-, Beteiligungs- und Entscheidungs- bestimmung in der digitalen Arbeitswelt ist ein prozesse des Unternehmens werden es auch. Arbeitsschwerpunkt der IG Metall. Die IG Metall entwickelt und begleitet Ideen und Projekte, die dazu beitragen, die Mitbestimmung auch in einer veränderten Realität für die Be- schäftigten wirksam zu gestalten. In den Betrieben gibt es bereits heute erste Beispiele einer solchen neuen „digitalen“ Beteili- gungskultur. Erfolgreiche Beispiele müssen untersucht, wei- terentwickelt und in der Anwendung verbreitert werden. Die Erfahrungen aus solchen Projekten werden Teil der gewerkschaftlichen Bildungs- und Informationsarbeit. 26
BEISPIELE DIGITALER Das Ressort Zukunft der Arbeit beim Vorstand der IG Metall betreibt einen Blog, der Betriebsräten, Vertrauensleuten, Beschäftigten, haupt- BETEILIGUNGSKULTUR amtlichen Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft einen Austausch- und Diskussionsforum über die soziale Gestaltung von „Industrie 4.0“ bzw. „Arbeit 4.0“ bietet. http://www.blog-zukunft-der-arbeit.de/ Screenshot des Blog „Zukunft der Arbeit“ Andere Beispiele sind: Die IG Metall Verwaltungsstelle Wolfsburg twittert https://twitter.com/IGMetall_WOB Die IG Metall Jugend debattiert auf Facebook https://www.facebook.com/igmetalljugend Die „Aktiven im Eletrohandwerk“ betreiben einen Blog http://wir-schalten-uns-ein.de/ Auch auf YouTube ist die IG Metall vertreten https://www.youtube.com/watch?v=iLcev0qz-lY Die IG Metall lädt CrowdworkerInnen zur Beteiligung ein http://www.faircrowdwork.org/ 27
Digitalisierung der Industriearbeit In der digitalen Arbeitswelt verändert sich der für gewerkschaftliche Arbeit zu organisieren? Betriebsbegriff. Arbeit ist nicht mehr an einen Damit wir in einer Arbeitswelt mit digitalen Ort gebunden, sondern definiert sich zuneh- Strukturen solidarisch handeln können, müssen mend über Zugänge, Organisation und Kontrolle wir passende Antworten auf diese Fragen fin- von digitalen Abläufen. Der Betrieb bleibt zwar den. Die Digitalisierung ist in vielen Betrieben organisatorisch eine Einheit. Aber es besteht längst angekommen: Je mehr Menschen Teile die Gefahr, dass er keine soziale Einheit mehr ihrer Arbeitszeit im Home Office leisten oder bildet, da direkte kollegiale Kontakte, gemein- auf andere Weise mobil arbeiten, desto größer same Handlungsbezüge, Probleme oder Inter- sind die Herausforderungen für Betriebsräte. essen weniger werden. Hier haben Arbeitgeber Wie können sie Standards des Arbeits- und wie Beschäftigte ein Interesse, gegenzusteu- Gesundheitsschutzes durchsetzen, wie können ern um die sozialen Funktionen des Betriebes Arbeitnehmerhaftung, Arbeitszeitregelungen, zu erhalten. Präsenzzeiten können hier eine Leistungs- und Entgeltrelationen im Interesse Möglichkeit sein. Wie können aber solche Prä- der Beschäftigten verwirklicht werden? Auch senzzeiten genutzt werden für gewerkschaft- hier hat die IG Metall begonnen, erste Erfah- liche Organisationsarbeit und Betriebspolitik? rungen systematisch auszuwerten und eigene Wie lässt sich auf der anderen Seite das Inter- Vorschläge – zum Beispiel zur Regelung Mobiler net dazu nutzen, neue soziale, virtuelle Räume Arbeit – zu entwickeln. 28
„MOBILES ARBEITEN“ – BETEILIGUNGSKAMPAGNE BEI DAIMLER Die IG Metall ist entschlossen, das Thema „Mo- Kampagne durch intensive interne und externe biles Arbeiten“ gemeinsam mit den Beschäf- Kommunikation, die Beschäftigten vielfältige tigten anzugehen und zu gestalten. Ein Vorrei- Beteiligungsmöglichkeiten gibt. terprojekt hierfür ist die Beteiligungskampagne „Mobiles Arbeiten bei Daimler“. Sie wird von Gesamtbetriebsrat, Unternehmensleitung und IG Erste Ergebnisse der Online-Befragung: Metall gemeinsam getragen und wissenschaft- lich begleitet durch das Fraunhofer-Institut IAO. • Für mehr als 90% der Befragungsteilnehmer Durch eine Online-Befragung wurden die Mei- hat mobiles Arbeiten eine positive Bedeu- nungen und Erfahrungen der Beschäftigten in tung: Sei es, weil sie bereits mobil arbeiten der Breite erfasst. Mit großem Erfolg: Über und dies gerne fortsetzen möchten. Sei es, 33.400 Daimler-Beschäftigte füllten den Frage- weil sie dies gern in Zukunft tun würden bogen aus - das sind 41 % der 82.500 Befragten oder weil sie zumindest die Möglichkeit dazu aus der Verwaltung und den produktionsnahen begrüßen würden. Bereichen. In der zweiten Phase werden rund 800 Beschäftigte in halbtägigen Workshops an • Als wesentliche Vorteile nennen die Teil- den Standorten die Chance haben, die Ergebnis- nehmenden die Einsparung von Wegezeiten se der Befragung vertieft zu analysieren und zu (83%), eine größere Produktivität (65%) diskutieren. Gemeinsam sollen Wege zu guter und weniger Stress durch ungestörtes mobiler Arbeit und eine Vorstellung von der Arbeiten (68%). Arbeitswelt der Zukunft entwickelt werden. Erst danach werden Verhandlungen zu einer • Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben neuen Gesamtbetriebsvereinbarung aufgenom- ist ein sehr wichtiges Anliegen: Mehr als 60% men. So wird durch diese Beteiligungskampag- der Befragungsteilnehmer konstatieren dabei ne die Betriebspolitik vom „Kopf auf die Füße heute Schwierigkeiten. Durch mobiles Arbei- gestellt“. Die IG Metall ist in allen Steuer- und ten erwarten 55% eine Entlastung; 35% haben Arbeitsgremien des Projekts und auch in den diese Erfahrung bereits selbst gemacht. Workshops vertreten. Begleitet wird die ganze 29
Digitalisierung der Industriearbeit Eine besondere Herausforderung für die IG Metall Durch digitalisierte Abläufe werden riesige Men- stellen Beschäftigte dar, die außerhalb des Be- gen von Daten über jeden einzelnen Beschäftigten triebes arbeiten und keinen Arbeitnehmerstatus erzeugt und gespeichert. Aus den bürgerlichen genießen: So genannte Crowdworker erledigen Freiheitsrechten kennen wir den Anspruch auf als Selbstständige z. B. kleinere Arbeitstätig- das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“, keiten in den Bereichen IT, Forschung und Ent- das jedem Bürger die Entscheidung darüber über- wicklung oder Verwaltung. In Deutschland ist lässt, ob und welche persönlichen Daten er preis- die Arbeitsform des Crowdworkings noch kein gibt. Doch dieser ist bisher im Betrieb rechtlich Massenphänomen – doch je mehr Arbeitsabläufe nicht abgesichert. Darum setzt sich die IG Metall in dafür geeignete standardisierte und abge- für einen eigenständigen und tauglichen Arbeit- grenzte Einheiten zergliedert werden, umso mehr nehmerdatenschutz ein – sei es im Zusammen- Menschen könnten davon betroffen sein: Sie sind hang mit der geplanten Datenschutzgrundverord- eigentlich Kolleginnen und Kollegen, arbeiten nung der EU-Kommission oder durch Neuerungen aber zu völlig anderen Bedingungen. Die IG Metall am Betriebsverfassungsgesetz. Klar ist: Auch im entwickelt daher Konzepte zur Ansprache dieser Betrieb müssen die Grundrechte jedes Menschen Gruppe und zur Vertretung ihrer Interessen. verwirklicht sein. Lesetipp: Big Data. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 11–12/2015). Internet: http://www.bpb.de/apuz/202236/big-data 30
Datenmenge Petabytes Mobile Web Social Web BIG DATA Verkehrslenkung Standort- und und Überwachung Bewegungsdaten (RFID, GPS, NFC) INTERNET Fotos, Websites, Videos, Portale Podcasts Terabytes Datenbanken, Plattformen Produkt-, ERP-System Endgeräte Foren, Geräte-, (SAP) Blogs, z. B. Telefondaten Servicelogs u. a. Kundendaten, Wikis Gigabytes Buchhaltungsdaten, Bestandslisten, Produktionssteuerung Kostenaufstellung Shops, u. a. CAD-, CNC- Services Daten Megabytes Steuerungs- und Steuerungs- Mess-Daten systeme z. B. Motordaten Datenvielfalt, Komplexität Big Data – das ist die Verarbeitung und Spei- Steuerung verwendet, sondern mit den Daten des cherung riesiger Datenmengen in Echtzeit. An sich Fahrers, des Navigationsgeräts und des Smart- ist das nichts Neues. Versicherungen, Personal- phones zu einem Nutzungs- und Bewegungsprofil verwaltungen von Unternehmen oder die statis- zusammen gebracht. So kann natürlich der für den tischen Bundes- und Landesämter gehen schon Fahrer passendste – schönste, schnellste, spritspa- heute mit großen Mengen personenbezogener rendste – Weg zum Ziel gefunden werden. Genau Daten um – allerdings unter strengen Datenschutz- festgehalten wird aber auch die nächtliche Irrfahrt regeln. Datenverarbeitung in Echtzeit ist ebenfalls vom Club nach Hause unter Missachtung sämtlicher nicht neu: Echtzeitsteuerung mit kurzen Reakti- Verkehrsregeln. Auch in der Fabrik kann Big Data onszeiten spielt zum Beispiel bei der Steuerung zum Vorteil, gleichzeitig aber auch zum Nachteil des des Motors und der Airbags im Auto oder auch an Menschen angewendet werden. Wenn zum Beispiel CNC-Maschinen bei der Steuerung von Werkstück Steuerungsdaten von Maschinen mit Daten aus und Werkzeug eine entscheidende Rolle. Warum Planungsprozessen zusammengeführt werden, dann wird „Big Data“ also zum Problem? Für „Big Data“ führt dies sicher zu einem effizienteren Gesamtpro- ist charakteristisch, dass beides zusammen spielt: zess. Aus der Aufzeichnung und Zusammenführung Sehr große Datenmengen werden schnell und von Daten aus dem Arbeitsprozess und personen- genau ausgewertet. Dabei wird häufig auf Daten bezogenen Daten kann aber ebenso leicht eine aus unterschiedlichen Quellen zugegriffen. Im Auto Leistungs- und Verhaltenskontrolle in einer bisher werden also nicht mehr nur die Motordaten zur unbekannten Schärfe und Genauigkeit entstehen. 31
Digitalisierung der Industriearbeit AMAZONISIERUNG ODER verändern. Als „Ideen-Plattform“ oder „Business Innovation“ kann internes Crowdsourcing Be- HUMANISIERUNG DER ARBEIT DURCH schäftigte motivieren, sich an Produkt-oder Pro- CROWDSOURCING? EINE GEWERK- zessoptimierungen zu beteiligen. Mit der Folge, SCHAFTLICHE Ein HERAUSFORDERUNG! Beitrag von Christine Thomas (IG Metall dass sich über diesen „modernen“ Weg Beschäf- Vorstand / VB 05 – Christiane Benner/ tigtengruppen einbringen, die sich am klassischen Crowdsourcing ist eine Strategie des Ausla- Verbesserungswesen nicht beteiligten. Allerdings gerns von Tätigkeiten: Aufträge werden mittels werden mit solchen Verfahren häufig die Mitbe- webbasierten Plattformen an eine große Menge stimmungsrechte der Betriebsräte umgangen. (Crowd) von Menschen ausgeschrieben. Crowdsourcing hat Auswirkungen in die Betriebe und Unternehmen: Tätigkeiten, die ursprünglich Forschung und betriebliche Praxis zeigen, dass von festangestellten Beschäftigten mit entspre- viele Aufgaben aus der Wertschöpfungskette chenden Qualifikationen ausgeführt wurden, zu Crowdsourcing-Projekten werden können. fallen entweder ganz weg oder sie verändern Vielfach sind es standardisierte Tätigkeiten aus sich. Tätigkeiten, die von Routine-und Standard- Administration, Verwaltung, Marketing oder Lo- anteilen befreit werden, können anspruchsvoller gistik. Aber auch anspruchsvolle Tätigkeiten, die und spannender werden. Aber auch die umge- eine hohe Qualifikation erfordern, sind nicht da- kehrte Entwicklung ist möglich: Eine Zergliede- vor gefeit „crowdgesourct“ zu werden. So berich- rung und Entwertung von einstmals komplexen ten uns Entwicklungsingenieure, dass sie damit und anspruchsvollen Aufgaben. Crowdsourcing beauftragt werden, ihre komplexen Tätigkeiten in hat als neue Arbeitsform aber auch massive kleine Teilaufgaben zu zerlegen, beziehungsweise Auswirkungen auf diejenigen, die die extern alle standardisierbaren Anteile aus ihren Tätigkei- ausgeschriebenen Tätigkeiten ausführen – auf ten herauszulösen. Diese Teilaufgaben benötigen die Crowdworker. Heute erleben wir Crowd- wenig oder gar kein spezifisches Fachwissen und working als Arbeitsform mit überwiegend können also an eine potentiell riesige Menge aus- schlechter Bezahlung weit unterhalb des Min- geschrieben und von ihr erledigt werden. destlohns, ohne soziale Absicherung. Crowd- Aus Sicht der Unternehmen gibt es verschiedene worker bekommen kein Urlaubsgeld, keine Motive, Tätigkeiten als Crowdsourcing auszu- Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, sie sind schreiben: Sie können durch die Crowd ein großes nicht sozialversichert, das heißt: Krankenversi- Wissenspotenzial „anzapfen“, Prozesse lassen cherung und Altersvorsorge müssen sie von den sich beschleunigen, aber es reizen auch Kosten- ohnehin geringen Einkommen selbst aufbringen. vorteile durch geringe Entlohnung, fehlende Sozi- Arbeitsrechtliche Grundlagen oder gar tarifliche alabgaben und den Verzicht auf Festanstellungen. Absicherung und Mitsprachemöglichkeiten gelten Allerdings müssen die Aufträge präzise defi- ebenfalls nicht. Die Allgemeinen Geschäftsbe- niert, die Zusammensetzung der Teilaufgaben dingungen (AGB) der jeweiligen Plattformen sind muss koordiniert und die Qualität der Ergebnisse Auftrags-Grundlage. Und diese AGB’s sind viel- gesichert werden. Crowdsourcing gibt es auch fach sehr einseitig zugunsten der Plattformbe- als interne Form – oftmals über firmeninterne treiber bzw. der Auftraggeber gestaltet. soziale Netzwerke bzw. das Intranet. In diesem Bei allen Nachteilen birgt Crowdworking auch Fall ist die Belegschaft eines Betriebs, Unterneh- Chancen: Für viele Menschen ist es die einzige mens oder Konzerns die Crowd. Crowdsourcing Chance überhaupt an Arbeit und Einkommen zu beschränkt sich also nicht nur auf die externe gelangen. Auch deshalb ist der IG Metall daran Verlagerung von Aufgaben, es kann auch unter- gelegen, die Arbeitsbedingungen von Crowd- nehmensintern Aufbau- und Ablauforganisation workern gemeinsam mit ihnen zu verbessern. 32
www.faircrowdwork.org/ Mit der Website www.faircrowdwork.org haben wir im Wortsinn eine Plattform für Crowdworker geschaffen, die mehrere Ziele verfolgt: Wir wol- len Vernetzung organisieren, Transparenz über die Plattformen und deren Konditionen schaffen, Gegenmacht aufbauen – und natürlich bieten wir Crowdworkern auch eine Beratung inklusive telefonischer Hotline. Crowdworker sollen zu fairen Bedingungen und existenzsichernden Ein- kommen arbeiten – das ist das Ziel der IG Metall. Die Aufgabe des Ressorts Angestellte, IT, Stu- dierende ist es, Instrumente und Konzepte für die adäquate Ansprache zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Und Unterstützungsange- bote auszuarbeiten, um Crowdworker - soweit sie im Rahmen der Wertschöpfungsketten des Organisationsbereichs der IG Metall tätig sind - zu Mitgliedern zu machen. Wir gehen davon aus, dass Crowdworking - und andere neue Arbeits- formen und Geschäftsmodelle – auch im Orga- nisationsbereich der IG Metall – zunehmen wird. Deshalb sind unsere verschiedenen Aktivitäten – von Forschungsprojekten bis Beratungs-und Ver- netzungsangeboten, von Öffentlichkeitsarbeit und Hineinwirken in die Politik – auch organisati- onspolitisch von hoher Bedeutung. 33
Digitalisierung der Industriearbeit DIGITALISIERUNG ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DEN ARBEITSSCHUTZ Ein Beitrag von Dr. Detlef Gerst (IG Metall Vorstand / VB 07 – Hans-Jürgen Urban / FB Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik) Auch der Arbeits- und Gesundheitsschutz steht cherheitsgesetz darf von der Technologie keine vor neuen Aufgaben: Die Flexibilisierung von Gefährdung für die Sicherheit und Gesundheit Arbeitszeit und -ort macht es notwendig, neue der Beschäftigten ausgehen. Beschäftigte Grenzen zu ziehen, um Stress und Überlastung müssen sich Gefährdungen durch das in Gang vorzubeugen. Eine Anti-Stress-Verordnung gesetzte Arbeitsmittel rechtzeitig entziehen ist hierbei ein wichtiges Element. Es gibt aber können. Der Arbeitgeber hat Gefährdungsbeur- auch handfeste Beispiele für Probleme, die teilungen durchzuführen und durch Maßnahmen gelöst werden müssen: Wir kennen Industrie- sicher zu stellen, dass die Gefährdung so gering roboter vor allem als schwergewichtige Ma- wie möglich gehalten wird. Schon heute stehen schinen hinter einer Schutzabsperrung oder geeignete Schutzeinrichtungen zur Verfügung. umgeben von Käfigen. Heute gibt es jedoch Eingesetzt werden Kamerasysteme, Ultraschall- eine neue Generation von Leichtbaurobotern, sensoren, Lichtschranken, mit Sensoren ausge- konstruiert mit dem Ziel, in unmittelbarer stattete Fußmatten oder sogenannte sensible Umgebung der Beschäftigten eingesetzt zu Roboterhäute, die bei drohendem Kontakt mit werden. „Kollaborierende Leichtbauroboter“ dem Menschen zum Stillstand der Technik etwa können Beschäftigten zur Hand gehen und führen. Ein geeignetes Sicherheitskonzept kann diese entlasten – sie können aber auch Zusam- auch in der Handführung der Roboter oder menstöße oder Quetschungen verursachen. Mit einer Steuerung über Gesten liegen. Keinen dem Einsatz kollaborierender Roboter entsteht ausreichenden Schutz bieten Einrichtungen, also ein Bedarf an sicheren nichttrennenden die erst bei erfolgtem Zusammenstoß mit dem Schutzeinrichtungen. Nach dem Betriebssi- Menschen reagieren. 34
„DIE ROBOTER KOMMEN AUS DEN KÄFIGEN ...“ 35
Digitalisierung der Industriearbeit GLEICHE CHANCEN FÜR DIE BESCHÄFTIGTEN – QUALIFIKATION UND BERUFLICHE BILDUNG FÜR ALLE In den Veränderungsprozessen hin zur digitalen gen noch schneller ändern, Technologieschübe Arbeitswelt darf es keine Verlierer geben. immer häufiger aufeinander folgen, vorhandene Allen Beschäftigten auf allen Qualifikationsebe- Technologien veralten und neue eingeführt nen müssen in der digitalen Arbeitswelt be- werden. Beruflicher Fort- und Weiterbildung rufliche Entwicklungschancen eröffnet werden. wird daher in Zukunft für alle Beschäftigten Dazu sind deutlich verbesserte Zugänge zur eine wichtige Rolle spielen. Dafür sind auch beruflichen Bildung erforderlich. Dies betrifft neue Formen des Lernens und seiner formalen die Berufsvorbereitung, die Berufsausbildung Zertifizierung erforderlich, die institutionelle und ganz besonders berufliche Fort- und Wei- Veränderungen im System beruflicher Bildung terbildungen, denen eine entscheidende Rolle erfordern. Arbeit muss generell lernförder- zukommt. Denn die Zeiten, in denen galt: „Was lich gestaltet werden, breite Erstausbildungen Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ müssen berufsbegleitendes Lernen vorberei- sind endgültig vorbei. Früher konnte man noch ten, Qualifizierung muss betrieblich und tarif- davon ausgehen, dass neue Technologien ein lich abgesichert werden, Bildungs- wie Sozi- Thema für die junge Generation und für neue alsystem müssen an die neuen Anforderungen Ausbildungsgänge sind. Schon heute gilt das angepasst werden. Kurz: Herausgefordert sind nicht mehr. In Zukunft, in der digitalen Arbeits- Arbeitsgestaltung, Tarifpolitik, Bildungs- und welt, werden sich die Qualifikationsanforderun- Arbeitsmarktpolitik. 36
VERÄNDERTE QUALIFIKATIONSANFORDERUNGEN NICOLE FRITSCHE ALTER: 23 JAHRE VERFAHRENSMECHANIKERIN FÜR BESCHICHTUNGSTECHNIK 3. AUSBILDUNGSJAHR Handarbeit am Produkt Systemregulierung (Nacharbeit in derLackierung): (Auftrag von Farbstoffsolarzellen) Schleifen Kontrollieren Lackieren Spezifizieren Polieren Entwickeln und Betreuen von Systemlösungen Ausbildung: Ausbildung: Handwerkliche und technologische Prozesswissen (Hard- und Software) Fähigkeiten und Kenntnisse Netzwerkarchitekturen Systemlösungen HINTERGRUND Nicole ist Verfahrensmechanikerin für Beschich- etwa bei der Produktion von Farbstoff-Solarzellen tungstechnik im Fahrzeugbau. Sie erledigt heute für energieeffiziente Autos. Nicole könnte also in viele Aufgaben, die von Robotern noch nicht feh- Zukunft dafür verantwortlich sein, dass diese So- lerfrei bewältigt werden. Dazu gehören die La- larzellen so aussehen, wie der Kunde sie für sein ckierung der Türpfalz oder Nacharbeiten, etwa das jeweiliges Auto wünscht, egal ob es an einem Tag Beseitigen von im Lack eingeschlossenen Luft- goldene sechseckige und am nächsten Tag rote, bläschen. Absehbar ist: Neue Roboter und bildver- quadratische Solarzellen sein sollen. Für diese Ar- arbeitende Kameras könnten ihre jetzigen Tätig- beit wäre ein Abschluss als Technikerin in Chemie- keiten in Zukunft übernehmen. Ebenso könnten technik sinnvoll und weitere Zusatzqualifikationen neue Technologien ihre Arbeit überflüssig machen. erforderlich, etwa zu den neuen Materialien und zu Dann entstehen aber auch neue Tätigkeitsprofile, intelligenter Steuerungstechnik. 37
Digitalisierung der Industriearbeit In Deutschland besteht seit längerem ein Mangel: Das gilt für die duale Ausbildung in Betrieb und Be- Die Auswirkungen des technologischen Wandels rufsschule, aber auch für die Dualen Studiengänge auf die Qualifikationsanforderungen werden nicht (Ausbildung in Betrieben und Dualen Hochschulen). rechtzeitig erforscht. Das wäre aber notwendig, Hier ist jedoch durch die Neuordnung des europäi- damit Beschäftigte zur richtigen Zeit über die rich- schen Studien- und Ausbildungssystems seit dem tigen Qualifikationen verfügen. Damit das endlich „Bologna-Prozess“ ein Wildwuchs kleinspuriger anders wird, erhebt die IG Metall erneut die For- akademischer Abschlüsse erzeugt worden. derung nach einer präventiven Arbeitsmarkt- und Auch das System der beruflichen Weiterbildung Bildungsforschung. Auf solcher Grundlage benö- muss weiterentwickelt werden. Meister- und tigt dann auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) Techniker-Qualifikationen sind häufig Sackgassen. mehr Fachleute, die Beschäftigte über ihre weitere Sie werden in den Betrieben nicht genutzt und berufliche Entwicklung beraten können. Für An- bringen den Beschäftigten keine Vorteile. Modula- und Ungelernte gibt es das Projekt „Wegebau“. re, zertifizierte Weiterbildungsabschnitte können Ähnliche Angebote muss es auch für andere Ziel- beiden Seiten mehr Vorteile bringen – auch im gruppen geben. Je schneller und unterschiedlicher Rahmen eines personenbezogenen Bildungspasses Berufsbilder sich verändern, umso breiter und (beispielsweise im Zusammenhang mit dem Deut- fundierter muss die berufliche Erstausbildung sein. schen Qualifikationsrahmen DQR). 38
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