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September 2008 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Die Steuerung der Arbeitsmigration in Deutschland Reformbedarf und Handlungsmöglichkeiten Gesprächskreis Migration und Integration 2020 1
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Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Die Steuerung der Arbeitsmigration in Deutschland Reformbedarf und Handlungsmöglichkeiten Steffen Angenendt
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhalt Vorbemerkung 3 Zusammenfassung 4 Einleitung 6 1. Bilanz der deutschen Migrationspolitik 9 1.1 Verbreitete Fehlwahrnehmungen 9 1.2 Entwicklung der deutschen Migrationspolitik 11 1.3 Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes und Green Card 12 1.4 Die Novellierung des Gesetzes 2007 15 2. Das Wanderungsgeschehen in Deutschland 16 2.1 Aktuelle Wanderungstrends 16 2.2 Zuwanderungspotenziale in EU-Nachbarregionen 19 3. Politische Herausforderungen in Bezug auf arbeitsmarktbezogene Zuwanderung 23 3.1 Globalisierung und Konkurrenzfähigkeit 23 3.2 Demographische Entwicklung 23 3.3 Entwicklung der Arbeitsmärkte 26 3.4 Integration 29 4. Die gegenwärtige Regelung der arbeitsmarktbezogenen Zuwanderung 31 4.1 Zuwanderungsmöglichkeiten vor dem Zuwanderungsgesetz 31 4.2 Neue Zuwanderungswege nach der Gesetzesreform 34 4.3 Freizügigkeit und Übergangsregelungen für EU-Bürger 35 4.4 Auswirkungen des Zuwanderungsgesetzes 36 4.5 Bewertung des Zuwanderungsgesetzes 38 4.6 Regelungsspielräume 40 5. Notwendige Ergänzungen des Systems zur Steuerung der Arbeitsmigration 42 5.1 Internationale Trends bei der Steuerung der Arbeitsmigration 42 5.2 Die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes 43 5.3 Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften: Engpasssystem 44 5.4 Regelungen für hoch Qualifizierte: Punktesystem 47 6. Der europäische Rahmen 53 6.1 Gesamtansatz zur Migrationsfrage 53 6.2 Zirkuläre Migration und Mobilitätspartnerschaften 54 6.3 Bluecard 56 7. Fazit und Handlungsempfehlungen 58 Literaturverzeichnis 62 Abbildungsverzeichnis 67 Information zum Autor 68 Das Gutachten wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich- Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind vom Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 398 www.fes.de/wiso Gestaltung: pellens.de Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei ISBN: 978-3-89892-914-1
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Vorbemerkung Die Steuerung und Gestaltung der Zuwanderung fizierten Arbeitskräften müssen jedoch beide Stra- ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Heraus- tegien verfolgt werden. Selbst wenn es uns forderungen Deutschlands. Zwar wurde auch in gelingen sollte, die ehrgeizigen Ziele der kürzlich der Vergangenheit Zuwanderung gesteuert, meist gestarteten „Qualifizierungsinitiative“ der Bundes- jedoch mit der Vorgabe, die Zahl der Einwanderer regierung zu erreichen, sind wir auch in Zukunft zu begrenzen. Was fehlt, ist eine mittel- und lang- auf qualifizierte Einwanderer angewiesen. Wir be- fristig angelegte strategische Konzeption, die Mi- nötigen deshalb flexible Instrumente für die Steue- grationspolitik in Wirtschafts- und Gesellschafts- rung der Zuwanderung. politik einbettet. Mit diesem Gutachten von Steffen Angenendt Auch das Zuwanderungsgesetz von 2005 und wollen wir die gesellschaftliche Diskussion um seine Novellierung im Jahr 2007 haben hinsicht- die Weiterentwicklung der Einwanderungspolitik lich der Steuerung der Zuwanderung aus wirt- in Deutschland, die immer stärker die europä- schaftlichen Gründen keinen entscheidenden Fort- ische Politik berücksichtigen muss, voranbringen. schritt bewirkt. Ein ursprünglich vorgesehenes Der Gesprächskreis Migration und Integration Auswahlverfahren nach einem „Punktesystem“, der Friedrich-Ebert-Stiftung legt in dieser Diskus- das auch die „Süßmuth-Kommission“ und der sion Wert darauf, dass eine umfassende Migra- Sachverständigenrat für Zuwanderung in ihren tionspolitik Konzepte der Steuerung der Zuwan- Gutachten vorgeschlagen hatten, wurde letztend- derung und der Förderung von Integrationspro- lich nicht in das Gesetz aufgenommen. zessen verbinden muss. Deutschland muss seine Häufig werden Politikansätze, die die Quali- Attraktivität für Einwanderer erhöhen und ein fizierung und Bildung des vorhandenen Arbeits- gesellschaftliches Klima der gegenseitigen Aner- kräftepotenzials zum Ziel haben, und jene, die für kennung, Akzeptanz und Toleranz schaffen. eine systematische Einwanderungspolitik für qualifizierte Fachkräfte werben, als sich ausschlie- ßende Optionen betrachtet. Angesichts der de- Günther Schultze mographischen Entwicklung, der vorhersehbaren Leiter des Gesprächskreises Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials und der Migration und Integration prognostizierte Bedarf der Wirtschaft an quali- der Friedrich-Ebert-Stiftung 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Zusammenfassung In Deutschland hat eine neue Debatte über Ar- Die Studie kommt aufgrund einer Analyse beitsmigration begonnen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Migrationspolitik, der Wanderungs- der demographischen Alterung und Schrump- trends, der demographischen und wirtschaftlichen fung der Bevölkerung findet der mittel- und lang- Entwicklung Deutschlands und der bestehenden fristige Zuwanderungsbedarf des Landes zuneh- Zuwanderungsregelungen zu dem Schluss, dass mende politische Aufmerksamkeit. In den Unter- auch nach dem Zuwanderungsgesetz und dessen nehmen, den Gewerkschaften, der Wissenschaft Novellierung die Suche nach geeigneten Steue- und der Politik mehren sich Stimmen, die vor rungsinstrumenten für die Zuwanderung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden qualifizierten Menschen fortgesetzt werden muss. warnen, wenn das Land nicht zumindest einen Ohne solche Instrumente wird keine am Wohl Teil dieser Lücken durch gesteuerte Zuwanderung der Landes, der hier lebenden Bevölkerung und schließe. der Zuwanderer ausgerichtete strategische und In diesem Zusammenhang wird auch das umfassende Migrationspolitik entwickelt werden 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz kri- können. Die Studie empfiehlt, zwei Verfahren tisch bewertet. Tatsächlich hat die Reform eine aufzugreifen, über die im Zuge der Verhandlun- größere Rechtssicherheit für die Zugewanderten, gen über das Zuwanderungsgesetz diskutiert wur- eine Vereinfachung der Verwaltungsabläufe und de, und diese miteinander zu kombinieren. einen Fortschritt bei der Integrationsförderung Zum einen sollte zur Deckung des Bedarfs an gebracht. Es wurden aber – abgesehen von be- dauerhaften und gut qualifizierten Zuwanderern grenzten Regelungen für hoch Qualifizierte und ein humankapitalbezogenes Verfahren in Form Selbstständige – keine neuen Instrumente für die eines Punktesystems eingeführt werden, wie es Steuerung der Arbeitsmigration eingeführt. im Zuge der Zuwanderungsreform unter anderem In den Verhandlungen über das Zuwande- von der Unabhängigen Kommission „Zuwande- rungsgesetz war zwar über entsprechende Vor- rung“ („Süssmuth-Kommission“) vorgeschlagen schläge diskutiert worden, diese hatten aber an- wurde. Zum anderen sollte zur Deckung eines gesichts der wirtschaftlichen Rezession und der strukturellen und wachsenden Fachkräftebedarfs hohen Arbeitslosigkeit keine politische Mehrheit in einzelnen Wirtschaftsbereichen ein arbeits- gefunden. Im Zuwanderungsgesetz fehlen daher marktbezogenes Engpass-Verfahren eingerichtet entsprechende Regelungen. Diese Lücke wurde werden, über das eine Zuwanderung möglich wird, auch bei der Novellierung des Gesetzes im Jahr wenn der betreffende Bedarf nicht aus dem inlän- 2007 nicht geschlossen. dischen Arbeitskräftepotenzial gedeckt werden Die vorliegende Studie befasst sich mit Mög- kann. Ein solches Verfahren wurde u.a. im Jahr lichkeiten der künftigen Gestaltung der arbeits- 2004 vom Sachverständigenrat Zuwanderung marktbezogenen Migrationspolitik in Deutsch- und Integration („Zuwanderungsrat“) in die Dis- land, insbesondere mit der Frage, mit welchen kussion gebracht. Verfahren der wirtschaftliche und gesellschaftli- Diese beiden Instrumente sollten miteinan- che Bedarf an qualifizierten Zuwanderern festge- der kombiniert und durch transparente Rege- stellt und mit welchen Instrumenten eine entspre- lungen für die befristete Zuwanderung von gering chende Zuwanderung gesteuert werden kann. qualifizierten Arbeitskräften ergänzt werden, und 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs sie sollten in Form von Pilotprojekten mit be- te bedacht werden, insbesondere sollten Vorkeh- grenzten Kontingenten getestet werden. Diese rungen zur Verhinderung des Braindrain getrof- Kontingente sollten so klein sein, dass sie keine fen werden. Die Verfahren sollten strategisch nachteiligen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet sein und mögliche künftige Haupt- haben, aber so groß sein, dass daraus begründete herkunftsgebiete der Zuwanderung nach Europa Folgerungen für die künftige Gestaltung der ar- ins Auge fassen. Schließlich sollten Integrations- beitsmarktbezogenen Zuwanderungspolitik gezo- konzepte für eine „Integration auf Zeit“, also für gen werden können. temporäre Zuwanderer, entwickelt werden, um Bei der Gestaltung der Verfahren sollten eu- Fehler der früheren Gastarbeiterpolitik zu ver- ropapolitische und entwicklungspolitische Aspek- meiden. 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Einleitung Im Januar 2005 ist das neue deutsche Zuwande- schaft verzeichnet wieder ein Wachstum, und die rungsgesetz1 in Kraft getreten. Um dieses Gesetz Arbeitslosigkeit hat deutlich abgenommen. Nun hatten Regierung und Opposition – vor dem Hin- werden die strukturellen Schwächen der Reform, tergrund der wirtschaftlichen Rezession und ho- bedingt durch die damalige kurzfristige Orientie- hen Arbeitslosigkeit – erbittert gestritten, und der rung an der schlechten konjunkturellen Lage, Kompromiss konnte erst nach harten Auseinan- sichtbar. Die entscheidende Frage lautet, ob die dersetzungen, die an den Rand einer verfassungs- Reduzierung der Zuwanderung angesichts der de- rechtlichen Krise führten, gefunden werden.2 Die mographischen Entwicklung Deutschlands, die Befürworter der Reform waren über die Einigung aller Wahrscheinlichkeit nach bereits mittelfristig überaus erleichtert und überzeugt, sie hätten zu einem Arbeitskräftemangel in wichtigen Wirt- dieses Politikfeld nun so gründlich geregelt, dass schaftsbereichen führen wird, weiterhin das über- das Thema Zuwanderung mit seinen unkalkulier- geordnete Ziel der deutschen Migrationspolitik baren innenpolitischen Folgen für längere Zeit sein kann? Ist nicht vielmehr eine strategisch aus- von der politischen Agenda verschwinden würde. gerichtete umfassende Zuwanderungspolitik not- Das Gesetz wurde als langfristige und tragfähige wendig, welche die Instrumente zur Verfügung Grundlage für die künftige deutsche Zuwande- stellt, die für die Zuwanderungssteuerung benö- rungspolitik betrachtet und sogar als „modernstes tigt werden und mit denen die künftige Zuwande- Zuwanderungsgesetz Europas“ (Otto Schily)3 be- rung so gestaltet werden kann, dass sie von Um- zeichnet. fang und Struktur her den wirtschaftlichen und Betrachtet man nun die aktuelle Entwick- gesellschaftlichen Bedürfnissen des Landes ent- lung der Zuwanderung nach Deutschland, stellt spricht? man fest, dass diese deutlich abgenommen hat. Über diese Frage ist inzwischen eine Debatte So betrug die Nettozuwanderung nach Deutsch- innerhalb und zwischen den politischen Parteien land (Zuzüge minus Fortzüge) im Jahr 2004 noch sowie in der Fachöffentlichkeit entbrannt. Es 82.000, im Jahr 2006 aber nur noch 22.000 Per- mehren sich Stimmen, die die Zuwanderungs- sonen. In dieser Hinsicht hat das Zuwanderungs- reform als unvollständig bezeichnen. Dabei be- gesetz die im Titel („Gesetz zur Steuerung und steht weitgehender Konsens, dass die Reform Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung einen wichtigen Schritt insbesondere in Hinblick des Aufenthalts und der Integration von Unions- auf die Rechtssicherheit und die Integration der bürgern und Ausländern“) formulierte Erwartung in Deutschland lebenden Zuwanderer darstellt. offensichtlich erfüllt. Gleichwohl wird kritisiert, dass die mit dem Ge- Inzwischen aber haben sich die wirtschaftli- setz eingeführten Zuwanderungsmöglichkeiten chen Rahmenbedingungen verändert. Die Wirt- für Arbeitsmigranten nicht ausreichend seien, 1 Im Folgenden wird vom „Zuwanderungsgesetz“ gesprochen, wenn das Reformgesetz als Ganzes gemeint ist. Bei einem konkreten Bezug auf die durch das Zuwanderungsgesetz neu eingeführten (Aufenthaltsgesetz, Freizügigkeitsgesetz EU) oder veränderten Rechtsquellen (u.a. Asylverfahrensgesetz, Staatsangehörigkeitsgesetz, Bundesvertriebenengesetz, Asylbewerberleistungsgesetz) werden die jeweiligen Gesetze benannt. 2 Vgl. Angenendt, Steffen/Kruse, Imke 2004: Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland 2002/03 – der Kampf um das Zuwande- rungsgesetz, in: Klaus J. Bade u.a. (Hg.), Migrationsreport 2004: Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a. M., 175–202; Angenendt, Steffen/Kruse, Imke/Orren, Henry Edward 2003: The Failure of Immigration Reform in Germany, German Politics, Nr. 3, 129–145. 3 So Bundesinnenminister Schily am 4.7.2001 bei der Übergabe des Berichts der Unabhängigen Kommission Zuwanderung in Berlin. 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs um den mittel- und langfristigen Bedarf an Ar- land. Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage, beitskräften zu decken. In diesem Zusammenhang wie diese Zuwanderung künftig gestaltet werden wird für eine Fortsetzung der Reformen und für soll. Mit welchen Verfahren kann der wirtschaft- eine Ausweitung der Zuwanderungsmöglichkei- liche und gesellschaftliche Bedarf an qualifizier- ten plädiert. ten Zuwanderern festgestellt werden und mit Unterstützung erhalten die Reformbefürwor- welchen Instrumenten kann diese Zuwanderung ter von Seiten der Europäischen Kommission, die gesteuert werden? seit längerem darauf hinweist, dass alle EU-Staa- Um diese Fragen zu beantworten, wird zu- ten zunehmend Schwierigkeiten haben, die Zu- nächst eine kurze Bilanz der bisherigen Politik wanderer zu bekommen, die sie haben möchten. gezogen. Dabei wird auf einige migrationspoli- Die Kommission drängt daher auf gemeinsame tische Tatsachen hingewiesen, die in der Debatte Steuerungsinstrumente, die den Wirtschaftsraum häufig nicht hinreichend gewürdigt werden, die EU unter anderem für hoch qualifizierte Zuwan- aber für die Gestaltung der künftigen Migrations- derer attraktiver machen könnten.4 Tatsächlich politik von Bedeutung sind (Kapitel 1). Anschlie- haben einige Mitgliedstaaten bereits begonnen, ßend werden die aktuellen Migrationstrends und die Zuwanderungsmöglichkeiten deutlich aus- Zuwanderungspotenziale in wichtigen Herkunfts- zuweiten, darunter Irland, das Vereinigte König- gebieten umrissen (Kapitel 2) und grundlegende reich und Schweden. migrationspolitische Herausforderungen benannt Sowohl in der deutschen als auch in der eu- (Kapitel 3). Im vierten Kapitel werden die beste- ropäischen Debatte wird außerdem argumentiert, henden arbeitsmarktbezogenen Zuwanderungs- dass auch die Reduzierung der irregulären Zuwan- regelungen und die politischen Handlungsspiel- derung – ein zentrales Anliegen vieler EU-Mit- räume analysiert. Das fünfte Kapitel diskutiert die gliedstaaten – nur dann gelingen könne, wenn für eine umfassende Migrationssteuerung not- die legalen Möglichkeiten der Zuwanderung zu wendigen Elemente und formuliert Vorschläge, Arbeitszwecken ausgeweitet würden. Einen wich- wie die Steuerungsverfahren für qualifizierte Ar- tigen Vorstoß in diese Richtung haben im Okto- beitskräfte aussehen könnten. Das sechste Kapitel ber 2006 Innenminister Wolfgang Schäuble und fragt nach der Notwendigkeit einer europäischen sein damaliger Amtskollege Nicolas Sarkozy mit Abstimmung der nationalen Politik und nimmt ihrem Vorschlag zur Förderung der „zirkulären hierzu eine kurze Bewertung der europäischen Migration“ unternommen. Dieser Ansatz wurde Migrationspolitik und insbesondere des von den inzwischen mehrfach von den Staats- und Regie- Staats- und Regierungschefs im Dezember 2005 rungschefs der EU bekräftigt. Eine Ausweitung beschlossenen Gesamtansatzes Migration vor. Im der arbeitsmarktbezogenen Zuwanderungsmög- Fazit werden Handlungsempfehlungen für die lichkeiten wird darüber hinaus von einigen Be- deutsche und europäische Politik formuliert. fürwortern als Möglichkeit betrachtet, die miss- Zu all diesen Gestaltungsfragen ist grund- bräuchliche Inanspruchnahme des Asylrechts für sätzlich anzumerken, dass Politik und Öffentlich- Einwanderungszwecke zu verringern.5 keit beim Thema Einwanderung und Integration Die vorliegende Studie liefert einen Beitrag zu Aufgeregtheit und kurzfristigem Aktionismus zu der Debatte um die künftige Gestaltung der ar- tendieren. Das ist allerdings nicht nur in Deutsch- beitsmarktbezogenen Migrationspolitik in Deutsch- land so: Auch in den meisten anderen europä- 4 „Europe is an immigration continent — there is no doubt about it. We are attractive to many. But we are not good enough at attracting highly skilled people. Nor are we young or numerous enough to keep the wheels of our societies and economies turning on our own. It is no secret that our demographics work against the Union; we will have a shortage of labour and skills in the future – this is already the case in some sectors. Our economies and the internal market are dependent on a skilled and mobile workforce. If we want to boost growth and jobs and address demographic change, we must act now. And it only makes sense to act together at European level.“ Rede von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Straßburg, 23.10.2007. 5 Vgl. Angenendt, Steffen/Parkes, Roderick 2007: Das Grünbuch zum EU-Asylsystem: Notwendig, aber nicht hinreichend, SWP-Aktuell Oktober 2007/A 50, Berlin, und Angenendt, Steffen 2007: Irreguläre Migration als internationales Problem. Probleme, Risiken, Optio- nen, SWP-Studie, Berlin. 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung ischen Staaten beziehen sich die migrationspoli- wanderung qualifizierter und hoch qualifizierter tischen Debatten und Regelungsversuche vor- Menschen. Im Zuge der Zuwanderungsreform wur- nehmlich auf kurzfristige Probleme, und die Poli- den weder das von der Unabhängigen Kommission tik ist auch dort eher reaktiv als gestaltend. Da die „Zuwanderung“ („Süssmuth-Kommission“) vorge- meisten Wirkungen von Wanderungsbewegun- schlagene Punktesystem6, das sich am Human- gen jedoch langfristiger Art sind, wie beispiels- kapital und damit an den Integrationschancen weise die Folgen für die Bevölkerungsentwicklung potenzieller Zuwanderer orientiert, noch das vom und die Wirtschafts- und Produktionsstruktur des Sachverständigenrat Zuwanderung und Integra- betreffenden Landes, reichen kurzfristige und tion („Zuwanderungsrat“) entwickelte Engpass- taktische Maßnahmen nicht aus. Gleiches gilt für Verfahren7, mit dem der Arbeitskräftebedarf in die Integration von Zuwanderern in die Aufnah- bestimmten Wirtschaftsbereichen gestillt werden megesellschaft: Auch dies ist ein Prozess, der sich soll, verwirklicht. Damit fehlen wichtige Instru- in der Regel über mehrere Generationen erstreckt mente für eine gezielte arbeitsmarktbezogene – und bei dem man nur in Ausnahmefällen kurz- und demographisch orientierte Zuwanderung. fristige Resultate erwarten kann, wie die Erfah- Tatsächlich sind die durch die Reform geschaf- rungen der „klassischen“ Einwanderungsländer fenen zusätzlichen Zuwanderungsmöglichkeiten USA, Kanada und Australien zeigen. nicht ausreichend, um den Bedarf an qualifizier- Die Geschichte der deutschen Migrations- ten Zuwanderern in Deutschland zu decken. politik ist voller Beispiele, wie bei einer Fixierung Auch die Integrationspolitik weist – trotz al- auf aktuell drängende Probleme die Festlegung ler unbestreitbaren Errungenschaften – Defizite längerfristiger Ziele in den Hintergrund treten auf. Sie ist nach wie vor noch sehr stark auf die kann und stattdessen eine auf kurzfristige Ergeb- Verbesserung der Sprachkenntnisse der Zuwande- nisse ausgerichtete Politik verfolgt wird, die uner- rer (Sprachkurse) und die Vermittlung von Grund- wartete oder unerwünschte Nebenwirkungen hat wissen über Deutschland (Orientierungskurse) und langfristig eher schadet als nutzt. Es war er- konzentriert und noch nicht hinreichend mit klärte Absicht der am Zuwanderungsgesetz Betei- Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration ver- ligten, dass das neue Gesetz solchen kurzfristigen knüpft. Vor allem fehlen aber Konzepte, wie die Orientierungen entgegenwirken und einen recht- künftig aller Wahrscheinlichkeit nach stark stei- lichen Rahmen für eine längerfristige Migrations- gende Zahl temporärer Zuwanderer integriert politik schaffen sollte. werden soll.8 Es gibt bislang keine Überlegungen, Die vorliegende Studie kommt zu dem wie eine künftige „Integration auf Zeit“ gestaltet Schluss, dass auch nach der Zuwanderungsreform sein könnte – obwohl Konsens besteht, die Fehler von 2005 (und der Novellierung des Gesetzes von der früheren „Gastarbeiteranwerbung“, deren Kon- 2007) immer noch eine längerfristige und strate- sequenzen heute einen Großteil der derzeitigen gische Ausrichtung der deutschen Migrationspoli- Integrationsprobleme ausmachen, zu vermeiden. tik fehlt. Diese Defizite bestehen vor allem im Schließlich ist auch die Sozialberichterstattung Hinblick auf die Steuerung der Arbeitsmigration: über die Lebensbedingungen, Perspektiven und Die Verfahren und Instrumente, mit denen Um- Einstellungen der hier lebenden Menschen mit fang und Zusammensetzung der Zuwanderung Migrationshintergrund immer noch lückenhaft, bestimmt und gesteuert werden können, sind un- und es wird darüber diskutiert, Indikatorensys- vollständig. Insbesondere fehlen nach wie vor teme einzuführen, die Defizite bei der Integration Regelungen für die dauerhafte und befristete Zu- aufzeigen können.9 6 Siehe Unabhängige Kommission Zuwanderung 2001: Zuwanderung gestalten, Integration fördern, Berlin, http://www.zuwanderung.de/downloads/Zuwanderungsbericht_kurz.pdf. 7 Siehe Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration 2004: Migration und Integration – Erfahrungen nutzen, Neues wagen, Jahresgutachten, Berlin, http://www.dstgb.de/homepage/kommunalreport/archiv2004/newsitem00997/997_3_1092.pdf. 8 Vgl. zur Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes: Bundesministerium des Innern 2006: Bericht zur Evaluierung des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern, Berlin. 9 Vgl. Länder wollen Integrationserfolg messen, Der Tagesspiegel, Berlin, 11.4.2008. 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 1. Bilanz der deutschen Migrationspolitik Die deutsche Migrationspolitik war jahrelang zende Gastarbeiteranwerbung als etwas historisch durch die Auseinandersetzung bestimmt, ob das Neues wahr. Mit dem Anwerbestopp von 1973 Land ein Einwanderungsland ist oder nicht. Die- wurde zwar zunächst die Anwerbung von Arbeits- ser politisch und weltanschaulich motivierte kräften offiziell beendet, der Zuzug von Familien- Streit hat die Reform der deutschen Migrations- angehörigen, Flüchtlingen und Aussiedlern nahm politik lange Zeit blockiert. Erst seit dem Kompro- aber zu, und kurze Zeit später wurde auch die An- miss über das Zuwanderungsgesetz entwickelt werbung von (temporären) Arbeitsmigranten im sich eine pragmatischere und sachlichere Debat- Rahmen von Ausnahmeregelungen wieder aufge- te, auch wenn sich die Begriffswahl der Akteure nommen. zum Teil noch voneinander unterscheidet. So hat Zweitens sind viele Menschen in Deutschland die SPD in ihrem Wahlprogramm für die Bun- überzeugt, das Land habe im Vergleich zu den destagswahl 2005 die Formulierung gewählt „klassischen“ Einwanderungsländern einen deut- „Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwande- lich geringeren Anteil an Zuwanderern, und da- rungsland“,10 die CDU hingegen in ihrem Grund- her seien die migrationspolitischen Erfahrungen satzprogramm vom Dezember 2007 die Formulie- auch nicht übertragbar. Tatsächlich gehört rung „Deutschland ist Integrationsland“.11 Deutschland aber im internationalen Vergleich zu den Ländern mit dem größten Anteil von Zu- wanderern. Seit dem Mikrozensus von 2005 gibt 1.1 Verbreitete Fehlwahrnehmungen es dazu belastbare statistische Daten: In dieser Erhebung wurde erstmals nicht nur nach der ge- Gleichwohl prägen immer noch Fehlwahrneh- genwärtigen Nationalität, sondern nach früheren mungen der bisherigen Zuwanderung und Zu- Staatsangehörigkeiten auch der Eltern sowie nach wanderungspolitik die politische Debatte und er- dem früheren Wohnort gefragt. Damit wurde schweren das Finden angemessener Lösungen. nicht nur (wie bisher in der offiziellen Statistik) Fünf solcher Fehleinschätzungen halten sich in die Zahl der Ausländer, sondern auch die der Ein- dieser Hinsicht besonders hartnäckig: gebürgerten, der Spätaussiedler und der Kinder Erstens lautet eine weit verbreitete Auffas- von Zuwanderern schätzbar. Das Ergebnis lautet, sung, Deutschland habe keine Einwanderungsge- dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung in Deutsch- schichte – zumindest keine, die mit den „klassi- land einen Migrationshintergrund hat – eine schen“ Einwanderungsländern vergleichbar wäre. Zahl, die doppelt so hoch ist wie der bislang offi- Diese Einschätzung ist falsch, weil es seit dem ziell angegebene Ausländeranteil, und die unge- Kaiserreich über die Weimarer Republik und das fähr dem Anteil der Zuwanderer im „klassischen“ Dritte Reich bis in die Bundesrepublik eine starke Einwanderungsland USA entspricht.12 Kontinuität der Arbeitsmigration nach Deutsch- Für die Entwicklung einer nachhaltigen land gegeben hat. Dennoch nahmen die meisten Migrationspolitik ist es wichtig, dass Politik und Menschen in der Bundesrepublik die 1955 einset- Öffentlichkeit sich dieser umfangreichen Zuwan- 10 Vgl. SPD 2005: Vertrauen in Deutschland. Das Wahlmanifest der SPD, Berlin, 48. 11 Vgl. CDU 2007: Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Beschluss des 21. Parteitags der CDU Deutschlands, Hannover, 3.12.2007, 95. 12 Vgl. Statistisches Bundesamt 2007: Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2005, Fachserie 1 Reihe 2.2, Wiesbaden. 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung derung und den damit verbundenen wirtschaftli- ne, Aussiedler, aber auch Gastarbeiter) auf. Vor chen, sozialen und kulturellen Veränderungen be- allem die Aussiedlerintegration war in großen Tei- wusst sind. Frühere Zuwanderungen sind grund- len eine Erfolgsgeschichte. Staatliche und nicht- sätzlich eine wichtige Rahmenbedingung für die staatliche Institutionen haben viele Jahrzehnte gegenwärtige und künftige Politik: Sie haben Fol- lang große Anstrengungen zur Integration dieser gewirkungen, wie etwa ungelöste Integrationspro- Zuwanderer unternommen und dabei auch be- bleme, und sie ziehen Wanderungen nach sich, trächtliche Mittel investiert. Das Ergebnis dieser weil im Rahmen der früheren Zuwanderungen Bemühungen war außerordentlich positiv. Gleich- Netzwerke entstanden sind. wohl wurde die gelungene Integration der deutsch- Eine dritte Fehleinschätzung lautet, Deutsch- stämmigen Einwanderer aber von der Mehrheits- land habe in der Vergangenheit die Zuwanderung gesellschaft nicht als Integrationserfolg wahrge- nicht oder nicht effektiv gesteuert. Das ist eben- nommen: Aussiedler galten – obwohl sie alle Cha- falls nicht zutreffend, denn es gab eine zum Teil rakteristika von Migranten erfüllten – eben nicht höchst effektive Steuerung bei Gastarbeitern, als solche, sondern, je nach politischer Position Asylbewerbern und Aussiedlern. So wurde zum des Betrachters, entweder als zu unterstützende Beispiel die Zuwanderung von Asylbewerbern, Opfer sowjetischer Repression oder aber als völ- nachdem ihre Zahl im Zuge der Auflösung des kisches Relikt einer imperialistischen deutschen Ostblocks und des Ausbruchs neuer Konflikte zu Vergangenheit. Beginn der 1990er Jahre dramatisch zugenom- Eine Folge dieser Fehlwahrnehmung war men hatte, durch die Asylrechtsreform des Jahres (und ist), dass erfolgreiche Integrationsmodelle 1993 drastisch eingeschränkt. Derzeit beträgt sie und -instrumente nicht auf andere Migranten weniger als ein Zehntel der Zuwanderung von übertragen wurden. Sie wurden noch nicht ein- 1992. Ein weiteres Beispiel ist die Reduzierung der mal in vollem Umfang auf die seit den 1990er Zuwanderung von Spätaussiedlern, die ebenfalls Jahren nach Deutschland eingereisten Aussiedler zu Beginn der 1990er Jahre ihren Höhepunkt er- (seit 1993: Spätaussiedler) angewendet, die mitt- reicht hatte und die unter anderem durch die lerweile – nicht zuletzt aufgrund der reduzierten Einführung einer jährlichen Zuwanderungsquote Integrationshilfen – zunehmende Integrationspro- ebenfalls nachhaltig verringert wurde. bleme haben. Vor allem jugendliche Spätaussied- Allerdings – und das macht die Erfahrungen ler zählen inzwischen integrationspolitisch zu mit diesen Steuerungsinstrumenten für die Ent- den Problemgruppen. wicklung einer langfristigen Migrationspolitik Fünftens gibt es die weit verbreitete Auffas- wichtig – hatten einige dieser Steuerungsinstru- sung, dass eine arbeitsmarktbezogene Zuwande- mente unerwünschte und unerwartete Neben- rung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kurzfristig wirkungen. So hatte die Regierung nach dem An- zu Lohnsenkungen und zusätzlicher Arbeitslosig- werbestopp von 1973 erwartet, dass ein erheb- keit bei Einheimischen führe, wenn diese durch licher Teil der Angeworbenen wieder in ihr Her- Zuwanderer substituiert würden. Tatsächlich gibt kunftsland zurückkehren würde. Tatsächlich aber es Theorien, die dies nahe legen, es gibt aber auch geschah das Gegenteil, und viele Migranten ent- Erklärungsansätze, die solche Folgen nicht erwar- schieden sich eben wegen des Anwerbestopps ten. Ob die Zuwanderung negative Wirkungen zum Bleiben, weil sie fürchteten, nach einer Aus- hat, lässt sich letztlich nur empirisch und für ei- reise nicht wieder nach Deutschland zurückkeh- nen konkreten Untersuchungsbereich feststellen. ren zu dürfen. In diesem Zusammenhang weist das Institut für Viertens sind viele Menschen in Deutschland Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundes- überzeugt, dass es in der Vergangenheit keine er- agentur für Arbeit darauf hin, dass zahlreiche folgreiche Integration von Zuwanderern gegeben ökonometrische Untersuchungen in Deutschland habe. Auch das ist nachweislich falsch. Deutsch- und Europa zu dem Ergebnis kämen, Migration land weist beträchtliche Erfolge bei der Integra- wirke sich entweder neutral auf Arbeitslosigkeit tion bestimmter Zuwanderergruppen (Vertriebe- und Lohnhöhe aus oder habe nur sehr geringe 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Effekte: Eine Meta-Analyse von mehr als 100 Stu- • die freiwillige Rückkehr und die Reintegration dien zeige, dass im Durchschnitt der Studien die in den Herkunftsländern sollte gefördert wer- Zuwanderung von einem Prozent der Erwerbsper- den, sonen die Löhne um 0,1 Prozent und die Beschäf- • die Integration der rechtmäßig in Deutschland tigung der Einheimischen um 0,024 Prozent re- lebenden Ausländer sollte verbessert werden. duziere.13 In Westdeutschland, wie auch zeitgleich in ande- Zudem gelten diese negativen Erwartungen ren westeuropäischen Staaten, wurde mit dem ohnehin nur für die kurzfristigen Folgen der Ar- Anwerbestopp von 1973 eine fast zwanzigjährige beitsmigration. Bezüglich der langfristigen Fol- Phase der Anwerbung gering qualifizierter indus- gen besteht aus ökonomischer Sicht weitestge- trieller Arbeitskräfte vor allem aus Süd- und Süd- hender Konsens, dass die arbeitsmarktbezogene osteuropa beendet. In der Folgezeit wurde zu- Zuwanderung keine oder nur geringe dauerhafte nächst versucht, Ausländern den Zugang zum Effekte für Löhne und Arbeitslosigkeitsrisiken mit Arbeitsmarkt zu erschweren. Dazu wurde ab 1974 sich bringt, weil sich Kapitalstock und Produk- die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an eine stren- tionsstruktur langfristig an die Ausweitung des ge Vorrangprüfung gebunden, also an den (auch Arbeitsangebotes anpassen. Unter den Bedingun- heute noch prinzipiell benötigten) Nachweis, dass gen des demographischen Wandels werden die kein Deutscher oder anderer Bevorrechtigter für langfristigen wirtschaftlichen Folgen der Zuwan- die Beschäftigung zur Verfügung steht, und für derung von qualifizierten Arbeitskräften zudem nachgezogene Familienangehörige wurden War- durchweg positiv gesehen. tezeiten eingeführt. Ab 1975 wurde die Zahlung Probleme unter anderem fiskalischer Natur von Kindergeld an im Herkunftsland verbliebene werden hingegen erwartet, wenn sich Zuwande- Kinder reduziert, es wurden Rückkehrprämien rer wegen unzureichender Qualifikation nicht in eingeführt, Zuzugssperren für städtische Ballungs- den Arbeitsmarkt integrieren können. Eine lang- gebiete erlassen und Maßnahmen gegen irreguläre fristig ausgerichtete Zuwanderungspolitik muss Beschäftigung ergriffen. Diese Steuerungsversu- daher besonderes Gewicht auf eine hinreichende che erwiesen sich allerdings weitgehend als wir- Qualifikation der Zuwanderer legen und sich ak- kungslos oder sogar kontraproduktiv, die meisten tiv um eine Verbesserung der Integrationschan- hatten unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Ab cen der bereits im Land lebenden gering qualifi- 1977 wurde diese Begrenzungspolitik durch Maß- zierten Zuwanderer bemühen. nahmen zur sozialen Integration ergänzt. Der zentrale Widerspruch dieser Politik war, dass die Bundesrepublik nach offizieller Auffassung kein 1.2 Entwicklung der deutschen Einwanderungsland war, die ausländische Bevöl- Migrationspolitik kerung aber integriert werden sollte. Zu Beginn der 1980er Jahre geriet vor dem Von den frühen 1970er Jahren bis in die späten Hintergrund der anhaltenden Wirtschaftskrise 1990er Jahre war die deutsche Migrationspolitik und der steigenden Arbeitslosigkeit die Zuwan- – zunächst in Westdeutschland und nach der Ver- derung und insbesondere die zunehmende Zahl einigung in der gesamten Bundesrepublik – im der Asylbewerber in das Zentrum der politischen Wesentlichen von drei Zielen geprägt: Debatte. Die Regierungskoalition aus Sozialdemo- • Der weitere Zuzug aus Staaten außerhalb der kraten und Liberalen stand wegen ihrer angeb- EU und des Europäischen Wirtschaftsraumes lichen Untätigkeit unter politischem Druck, wo- sollte begrenzt werden, rauf sie mit einer restriktiveren Ausländerpolitik 13 Vgl. Brücker, Herbert: Migration als Therapie für Fachkräftemangel?, in: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Materialsamm- lung Fachkräftebedarf der Wirtschaft, Nürnberg, August 2007, 2f. 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung reagierte. Das Nachzugsalter für Kinder wurde ge- nigen in die Hände, die diesen Politikbereich senkt, ein Gesetz zur Bekämpfung der irregulären durch an ausländerfeindliche Einstellungen an- Beschäftigung verabschiedet und weitere Maß- knüpfende Forderungen zur politischen Profilie- nahmen zur Rückkehrförderung erlassen. rung nutzten. Auf Seiten der Zugewanderten Nach dem Regierungswechsel von 1982 er- führte diese unklare Einwanderungssituation oft- klärte Bundeskanzler Helmut Kohl die Ausländer- mals zu Orientierungslosigkeit hinsichtlich ihrer politik zu einem seiner politischen Schwerpunkte Zukunft in dem „Einwanderungsland wider Wil- und kündigte einen verschärften Kampf gegen len“ (Klaus J. Bade), häufig auch zu einem Unwil- den so genannten „Asylmissbrauch“ an. Auch die- len, den Integrationsangeboten zu folgen, sich se Regierung griff in ihrer Ausländerpolitik vor hier heimisch zu fühlen und auf eine dauerhafte allem zu Einzelmaßnahmen; statt einer umfas- Niederlassung vorzubereiten. senden Novellierung des Ausländerrechts wurden In der DDR war die politische Bereitschaft weiterhin hauptsächlich Verwaltungsanordnun- zur Integration der ausländischen Bevölkerung gen erlassen. Anfang 1989 geriet die Regierung noch weniger ausgeprägt als in Westdeutschland. durch die Wahlerfolge verschiedener rechtsradi- Die größte Gruppe, die in der DDR stationierten kaler Parteien, vor allem der so genannten „Re- Soldaten der Westgruppe der sowjetischen Streit- publikaner“, unter politischen Handlungsdruck. kräfte, die 1989 einschließlich ihrer Familienan- Im Frühjahr 1990 wurde gegen die Stimmen der gehörigen auf 550.000 Personen geschätzt wurde, Oppositionsparteien ein neues Ausländergesetz lebte weitestgehend kaserniert; die angeworbe- verabschiedet, das nicht weniger umstritten war nen und in der Produktion eingesetzten Arbeits- als die früheren Maßnahmen: Den einen gingen kräfte, zu diesem Zeitpunkt noch etwa 190.000 die Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl der Menschen vornehmlich aus Vietnam, Polen, der Ausländer nicht weit genug, andere bemängel- Sowjetunion, Mosambik und Ungarn, waren in ten, dass die Einwanderungssituation immer der Regel in Gemeinschaftsunterkünften unterge- noch negiert werde. bracht und noch stärker sozial isoliert. Ihre An- Insgesamt war die Ausländerpolitik seit den wesenheit war kein politisches Thema, öffentli- 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre von der Ab- che Stellungnahmen zur Politik der Arbeitskräfte- sicht geprägt, keine weitere Zuwanderung zuzu- anwerbung gab es nicht, und angesichts der rigi- lassen, gleichzeitig aber von der Unfähigkeit, dies den Rotationspolitik und der strikten polizeilichen mit der Realität der internationalen Migrations- Kontrolle der Ausländer und ihrer Kontakte zur und Fluchtbewegungen in Deckung zu bringen. deutschen Bevölkerung war nach Auffassung der Zudem herrschte Unentschiedenheit, welche in politischen Entscheidungsträger auch keine Inte- Deutschland lebenden Ausländer wirtschaftlich grationspolitik nötig. unverzichtbar waren und wie eine Rückkehrför- derungspolitik gestaltet werden müsste. Unklar blieb auch, was unter Integration verstanden wer- 1.3 Reform des Staatsangehörigkeits- den soll, was zu einer entsprechenden Zaghaftig- gesetzes und Green Card keit bei der Gestaltung der sozialen Integration führte. Schließlich vermehrten zahlreiche Ver- Vor diesem Hintergrund bedeutete das Jahr 2000 suche, den veränderten gesellschaftlichen Bedin- in zweifacher Hinsicht eine Weichenstellung in gungen durch Verwaltungsanordnungen zu ent- der deutschen Asyl- und Migrationspolitik: Es wur- sprechen, die Unübersichtlichkeit der ausländer- de ein neues Staatsangehörigkeitsrecht verabschie- rechtlichen Regelungen. All diese Unsicherheiten det, und die Regierung startete die so genannte wurden durch die Formel, Deutschland sei kein „Green Card“-Initiative. Bereits Ende der 1980er Einwanderungsland, lediglich verdeckt, und die Jahre war bei den Bundestagsparteien die Über- Regierungen hatten erhebliche Schwierigkeiten, zeugung gewachsen, dass eine grundlegende Re- gegenüber der Öffentlichkeit eine kohärente Poli- form des Staatsangehörigkeitsrechts notwendig tik zu formulieren. Dies wiederum spielte denje- sei, um die Integration der dauerhaft in Deutsch- 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs land lebenden Zuwanderer zu erleichtern. Bis wiesen oder einen Arbeitsvertrag mit einem Jah- zum Regierungswechsel 1998 kam es aber zu kei- resgehalt von mindestens 100.000 DM vorlegen ner umfassenden Reform, da kein Konsens herge- konnten. Dies galt auch für Ausländer, die ein stellt werden konnte, inwieweit ein Erwerb der entsprechendes Studium an einer deutschen Hoch- deutschen Staatsangehörigkeit auch durch Ge- schule absolviert hatten. Die Arbeitserlaubnis war burt im Inland (ius soli) ermöglicht und ob gege- an die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses ge- benenfalls Mehrstaatigkeit in Kauf genommen bunden (wobei ein Stellenwechsel möglich war), werden sollte. wurde aber längstens für fünf Jahre erteilt. Fami- Für die neue Regierungskoalition aus SPD lienangehörigen wurde die Einreise gestattet, sie und Bündnis 90/Die Grünen war die Reform des durften aber erst nach einer Wartezeit von zwei Staatsangehörigkeitsrechts ein zentrales Reform- Jahren einer bezahlten Tätigkeit nachgehen. vorhaben. Durch die Neuregelung wurde der Er- Diese Initiative zur Öffnung des deutschen werb der Staatsangehörigkeit durch Geburt grund- Arbeitsmarktes für Hochqualifizierte wurde von sätzlich ermöglicht, und der Anspruch auf die Ein- den Branchenverbänden und vielen Arbeitgebern bürgerung wurde erleichtert, indem die dafür not- in anderen Wirtschaftsbereichen begrüßt, wenn wendige Aufenthaltszeit verkürzt wurde. Der bis- auch kritisiert wurde, dass die Regelungen nicht herige Grundsatz, dass bei der Einbürgerung Mehr- weit genug gingen und man mit der zeitlichen staatigkeit vermieden werden soll, wurde beibe- Befristung des Aufenthalts und der Wartezeit für halten. Das Gesetz trat am 1. Januar 2000 in Kraft. die Familienangehörigen keine erstklassigen Ar- Die zweite Weichenstellung in der deutschen beitskräfte nach Deutschland holen könne. Die Einwanderungspolitik war die Einführung der Gewerkschaften reagierten zunächst zurückhal- „Green Card“. Das Ziel war, dem von der Infor- tend und befürchteten vor allem Lohndumping, mations- und Telekommunikationsbranche be- sprachen sich später aber ebenfalls für eine Ab- klagten Mangel an Fachkräften entgegenzuwir- schaffung der Befristung des Aufenthalts der IT- ken. Ausländische Spezialisten sollten unbürokra- Fachkräfte aus. tisch Visa erhalten und in Deutschland arbeiten Die Nachfrage nach der Green Card war vor dürfen. Allerdings machte Bundeskanzler Ger- allem wegen der einsetzenden Rezession schwä- hard Schröder bei der Vorstellung des Programms cher als ursprünglich erwartet. Bis Ende 2003 im Frühjahr 2000 deutlich, dass diese Regelung wurden 15.658 Erlaubnisse erteilt, von denen 42 nur als Teil einer Strategie zur Technologieförde- Prozent an Mittelosteuropäer und 25 Prozent an rung zu verstehen sei, und forderte die Unterneh- Inder vergeben wurden. Im Juli 2003 verlängerte men auf, arbeitslose deutsche Ingenieure für den die Bundesregierung die Regelung bis Ende 2004. Einsatz in der Kommunikations- und Informa- Auswertungen des Programms haben gezeigt, tionstechnologie umzuschulen. Er kündigte zu- dass die Beschäftigung zum größten Teil in klei- dem an, die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit neren (und fast ausschließlich in westdeutschen) zur Aus- und Weiterbildung im Hochtechnolo- Betrieben stattfand und dass die Beschäftigung giesektor künftig um ein Fünftel zu erhöhen, im jeder ausländischen IT-Fachkraft einen zusätz- Gegenzug habe die Wirtschaft sich bereit erklärt, lichen Beschäftigungseffekt von durchschnittlich die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Bereich 2,5 weiteren Stellen hatten. in den nächsten Jahren deutlich zu erhöhen, von Beide Reformmaßnahmen, Staatsbürger- 13.000 auf 60.000 Plätze. schaftsreform und Green Card, trugen zu einer Die Zahl der Arbeitserlaubnisse im Rahmen neuen Diskussion über Zuwanderung bei: Ver- der Green Card wurde bis 2003 auf 10.000 festge- treter der verschiedensten Wirtschaftsbranchen legt, falls dann noch weitere Nachfrage bestünde, meldeten sich zu Wort und warnten vor einem sollte die Gesamtzahl auf 20.000 erhöht werden. dramatischen Arbeitskräftemangel nicht nur bei In Anspruch genommen werden konnte die Rege- höchstqualifizierten Tätigkeiten, sondern auch lung von Fachkräften, die entweder eine einschlä- im Facharbeiterbereich und forderten eine ent- gige Hoch- oder Fachhochschulausbildung nach- sprechende Anwerbung von ausländischen Ar- 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung beitskräften; mittelständische Unternehmer, die Vereinigten Staaten überlagert. Die parlamenta- seit einigen Jahren bosnische Flüchtlinge beschäf- rische Arbeit am Zuwanderungsgesetz wurde un- tigten, kritisierten die deutsche Flüchtlingspolitik terbrochen, und die so genannten „Sicherheits- und forderten ein Bleiberecht für diese Menschen, pakete“ wurden verabschiedet, nach nur kurzer die als unverzichtbare Arbeitskräfte betrachtet parlamentarischer Debatte und ohne nennens- wurden; Wissenschaftler zeigten die Alterung der werten parteipolitischen Widerstand. deutschen Bevölkerung auf und warnten vor den Die Arbeit am Zuwanderungsgesetz wurde Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft; ostdeut- Anfang 2002 wieder aufgenommen. Von Beginn sche Politiker beklagten die verheerenden Folgen an war unstrittig, dass der Gesetzentwurf vom des Geburtenrückgangs und der Abwanderung. Bundestag angenommen werden würde. Wegen Auch bei den Bundestagsparteien waren verän- der Mehrheitsverhältnisse war es aber zweifelhaft, derte Einstellungen zur Zuwanderung zu erken- ob die Bundesregierung dafür auch im Bundesrat nen: Anfang 2000 schien – bei aller Unterschied- eine Mehrheit finden könnte. Tatsächlich kün- lichkeit der Schwerpunktsetzung und der Termi- digte die CDU/CSU bereits unmittelbar nach der nologie – Einigkeit darüber zu bestehen, dass Veröffentlichung der Vorschläge an, dass sie nicht Deutschland künftig aus arbeitsmarktpolitischen zustimmen werde, weil das Gesetz nicht der Be- Gründen die Zuwanderung vor allem von Hoch- grenzung und Reduzierung der Zuwanderung qualifizierten brauchen würde, dass die Integra- diene, sondern diese vielmehr erweitern würde. tionsanstrengungen von und für dauerhaft an- Wie erwartet wurde das Gesetz am 1. März 2002 wesende Zuwanderer verstärkt werden müssten vom Bundestag angenommen. Aber die Gegner und dass für die Steuerung der Wanderungsbewe- des Gesetzes gaben ihren Widerstand nicht auf. gungen ein umfassendes politisches Instrumenta- Die unionsregierten Bundesländer reichten beim rium entwickelt werden müsste. Bundesverfassungsgericht eine Klage ein und ver- Die politische Reformstimmung des Jahres langten, das Gesetz für verfassungswidrig zu er- 2000 hielt allerdings nicht lange an. Bereits kurz klären, weil es aufgrund eines rechtswidrigen Ab- nachdem die von der Bundesregierung zur Erar- stimmungsverfahrens im Bundesrat zustande ge- beitung eines Konzeptes zur Reform der Migra- kommen sei. Im Dezember 2002 bestätigte das tionspolitik eingesetzte Unabhängige Kommis- Bundesverfassungsgericht diese Ansicht und er- sion „Zuwanderung“ unter Leitung von Rita Süss- klärte das Gesetz für nichtig. muth („Süssmuth-Kommission“) im Konsens aller Letztlich bestimmten in der Debatte über die wichtigen gesellschaftlichen Gruppen ein Gesamt- Reform einige wenige Sachthemen die Auseinan- konzept für Zuwanderungssteuerung und Integra- dersetzung: Bei der Frage der Zuwanderungssteu- tionsförderung vorgelegt hatte, und noch bevor erung waren dies die Arbeitskräftezuwanderung, die Bundesregierung den ersten Entwurf ihres da- die Familienzusammenführung und die nicht- rauf aufbauenden Zuwanderungsgesetzes in den staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung. Bundestag eingebracht hatte, zerbrach der partei- Die anderen diesbezüglichen Streitpunkte waren politische Konsens über die Notwendigkeit einer eher verfahrenstechnischer Art, etwa hinsichtlich schnellen und umfassenden Reform.14 In Anbe- der Frage, welche Institution entscheiden solle, tracht der anstehenden Landtags- und Bundes- ob ein Arbeitskräftemangel bestehe. Im Streit zwi- tagswahlen wurde parteipolitisches Kalkül wich- schen Regierung und Opposition ging es haupt- tiger als die zuvor vertretenen Sachargumente. sächlich um die Frage, ob das Gesetz eine Auswei- Diese Konfrontation zwischen Regierung tung oder eine Begrenzung der Zuwanderung zur und Opposition wurde nach dem 11. September Folge haben würde. Auf die Vorwürfe der Opposi- 2001 von den Folgen der Terroranschläge auf die tion, dass sie mit dem Gesetz neue Zuwande- 14 Vgl. zur Entwicklung dieser Konzepte Angenendt, Steffen 2002: Einwanderungspolitik und Einwanderungsgesetzgebung in Deutschland 2000–2001, in: Klaus J. Bade u.a. (Hg.): Migrationsreport 2002: Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a. M., 31–59. 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs rungsmöglichkeiten eröffnen wolle, entgegnete der Integration und dem Familiennachzug vorzu- die Regierung, dass es ihr um eine Vereinfachung nehmen. Ein Kernpunkt war die seit langem von und Modernisierung des selbst für Experten nicht Nichtregierungsorganisationen geforderte Alt- mehr handhabbaren Ausländerrechts sowie um fallregelung für die etwa 180.000 in Deutschland klare, transparente und dem gesellschaftlichen lebenden Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmi- Bedarf entsprechende Zuwanderungsregelungen gung, für die so genannten „Geduldeten“. Die gehe, nicht aber um eine Erhöhung der Zuwande- Novellierung wurde im Sommer 2007 abgeschlos- rung. Die CDU/CSU-Opposition blieb bei ihrer sen, das überarbeitete Gesetz trat am 28. August Auffassung, dass die wahren Beweggründe der Re- 2007 in Kraft. gierung andere seien: Die Regierung wolle offen- Viele Migrantenverbände kritisierten vor sichtlich die Verwandlung Deutschlands in eine allem die Einschränkung des Familiennachzugs multikulturelle Gesellschaft vorantreiben und da- durch den nun erforderlichen Nachweis von mit ein Ziel verfolgen, das die Grünen schon im- Deutschkenntnissen und das geforderte Mindest- mer verfolgt hätten. Um die kulturelle Identität alter von 18 Jahren, außerdem die Sanktionen bei des Landes zu wahren, müsse aber die Zuwande- einer Nichtteilnahme an den Integrationskursen rung aus Nicht-EU-Staaten auf eine „sozial ver- (Kürzung der Sozialleistungen). Umstritten war trägliche Größenordnung“ begrenzt werden.15 in der Debatte um die Novellierung des Gesetzes Um das Reformprojekt, das in der Wahrneh- auch die Erleichterung des Zuzugs von Selbst- mung vieler Menschen unverständlich viel Zeit ständigen und Fachkräften. Die große Koalition und Streit gekostet hatte, endlich zu einem Ab- einigte sich darauf, dass Selbstständige nur noch schluss zu bringen, trieb die Regierung ab Anfang die Schaffung von fünf Arbeitsplätzen und die 2004 die Verhandlungen mit Hilfe weit reichender Investition von 500.000 Euro nachweisen müs- Zugeständnisse an die Opposition voran. In der sen, um zuwandern zu dürfen. Das erforderliche Schlussphase dominierten die Sozialdemokraten Mindesteinkommen für ausländische Fachkräfte die Verhandlungen, der grüne Koalitionspartner (84.000 Euro pro Jahr) wurde hingegen nicht ge- blieb weitgehend ausgeschlossen. Am 30. Juli senkt, trotz deutlicher Kritik der Wirtschaftsver- wurde schließlich ein Kompromiss mit der Op- bände an der geringen Zahl der bisher unter dem position gefunden; das Gesetz trat am 1. Januar Zuwanderungsgesetz angeworbenen Fachkräfte.16 2005 in Kraft. Insgesamt, so die zusammenfassende Bewer- tung, blieb das Zuwanderungsgesetz auch nach der Novellierung von 2007 deutlich hinter dem 1.4 Die Novellierung des Gesetzes 2007 vom ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily verkündeten Ziel zurück. Es hat zwar den vollzie- Bereits während des Gesetzgebungsverfahrens henden Behörden erhebliche Handlungsspielräu- war offensichtlich, dass das Zuwanderungsgesetz me eröffnet, ist aber in der Gesamtheit restriktiv bald novelliert werden müsste, um die deutsche und vornehmlich auf Begrenzung und Kontrolle Rechtslage an die inzwischen ebenfalls veränderte ausgerichtet. Die vorgesehenen Instrumente und EU-Rechtslage anzupassen und um mehrere neue Verfahren werden aller Wahrscheinlichkeit nach EU-Richtlinien umsetzen zu können. Diese Gele- nicht ausreichen, um die künftigen Herausfor- genheit wurde genutzt, um zum Teil weit rei- derungen insbesondere bezüglich der arbeits- chende Änderungen im Einbürgerungsrecht, bei marktbezogenen Zuwanderung zu bewältigen. 15 Michael Glos (CSU), Plenarprotokoll 14/222, 1.3.2002, 22031 (D). 16 Vgl. ausführlich zur Novellierung des Zuwanderungsgesetzes Breitkreutz, Katharina/Franßen-de la Cerda, Boris/Hübner, Christoph 2007: Das Richtlinienumsetzungsgesetz und die Fortentwicklung des deutschen Aufenthaltsrechts, Zeitschrift für Ausländerrecht und Auslän- derpolitik (ZAR), Nr. 10, 2007, S. 341–347 und ZAR Nr. 11/12, 2007, S. 381–386. 15
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