Diskurs Gender in der Pfl ege Herausforderungen für die Politik - Frauen- und Geschlechterpolitik - Herausforderungen für die Politik

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Diskurs Gender in der Pfl ege Herausforderungen für die Politik - Frauen- und Geschlechterpolitik - Herausforderungen für die Politik
August 2008

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik   Diskurs
                                     Gender in der Pflege
                                     Herausforderungen für
                                     die Politik

                                              Arbeitsbereich
                                     Frauen- und Geschlechterpolitik

                                                               2020                  1
2
Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Gender in der Pflege
Herausforderungen für
die Politik

Gertrud M. Backes
Ludwig Amrhein
Martina Wolfinger
WISO
 Diskurs                                                                                     Friedrich-Ebert-Stiftung

           Inhalt

           Vorbemerkung                                                                                                  3

               1.   Einleitung                                                                                           5
              1.1   Begründung und Inhalt der Expertise                                                                  5
              1.2   Grundlegende Argumentationslinien                                                                    6
               2.   Pflege/Care älterer Menschen in Deutschland                                                          7
              2.1   Demographische und andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen                                        7
              2.2   Die Pflegeversicherung als gesetzlicher Rahmen                                                      10
              2.3   Daten zur Pflege älterer Menschen in Deutschland                                                    13
              2.4   Eckdaten zur Pflegebedürftigkeit in Deutschland                                                     19
              2.5   Fazit: Die Sorge- und Pflegearbeit in Deutschland und ihre Messung
                    aus der Genderperspektive                                                                           21
               3.   Pflege und Sorge als geschlechtlich konnotierte Tätigkeiten                                         23
              3.1   Bedeutungen von Geschlecht im Kontext von Pflege und Sorge                                          23
              3.2   Bedeutungen von Sorge und Pflege                                                                    25
              3.3   Genderbezogene Dichotomisierung und Hierarchisierung der Sorge                                      28
               4.   Private Sorge- und Pflegetätigkeit für ältere Menschen                                              32
              4.1   Daten zur häuslichen Versorgung älterer Menschen                                                    32
              4.2   Umfang und Struktur der informellen Sorge- und Pflegearbeit                                         33
              4.3   Problemfelder in der häuslichen Pflege älterer Menschen                                             43
              4.4   Fazit: Geschlechterstrukturen in der häuslich-familiären Pflege
                    älterer Menschen                                                                                    46
               5.   Berufliche Sorge- und Pflegetätigkeit für ältere Menschen                                           48
              5.1   Die ambulante und stationäre Versorgung älterer Menschen                                            48
              5.2   Die berufliche Sorge- und Pflegearbeit von Frauen und Männern                                       49
              5.3   Kompetenzentwicklung und Professionalisierung in der Altenpflege                                    51
              5.4   Altenpflege als weiblich konnotierter Beruf                                                         52
              5.5   Belastungen und Konflikte der beruflich Pflegenden                                                  53
              5.6   Fazit: Die berufliche Pflege von Älteren als „gendered job“                                         54
               6.   Fazit                                                                                               55
              6.1   Geschlechterstrukturen in der privaten und beruflichen Pflege
                    älterer Menschen                                                                                    55
              6.2   Forschungslücken und Forschungsbedarf                                                               57
              6.3   Perspektiven einer „geschlechtersensiblen Altenpflege“                                              57

           Literatur                                                                                                    59

           Informationen zu den Autorinnen und zum Autor                                                                68

           Die Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-
           Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von
           den Autorinnen und dem Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden.

           Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung    Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 398 www.fes.de/wiso
           Gestaltung: pellens.de     Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei   Titelfoto: dpa
           ISBN: 978-3-89892-942-4
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                               WISO
                                                                                                                Diskurs

Vorbemerkung

Als Konrad Adenauer in den 50er Jahren sagte:          die sie privat und unbezahlt, in ehrenamtlicher
„Kinder kriegen die Leute sowieso“ und mit die-        Arbeit, aber auch in Schwarzarbeit, in semiprofes-
sem Argument verhinderte, dass ein wesentlicher        sioneller und in professioneller Weise verrichten.
Teil gesellschaftlicher Sorgearbeit von Frauen in      Die dominierende Form der heutigen Versorgung von
die Sozialversicherung aufgenommen wurde, hat-         Pflegebedürftigen ist die häusliche familiäre Betreu-
te er sich bitter getäuscht. Heute ist bekannt, dass   ung durch Frauen, die sich aber weder in der Sta-
die gesellschaftliche Verantwortung für die Kin-       tistik noch in der politischen Debatte widerspie-
derbetreuung und auch die soziale Absicherung          gelt. Die vorliegende Expertise bringt Licht in
derer, die sie leisten, ein entscheidender Faktor      dieses Dunkel. Sie zeigt auf:
für die Geburtenrate ist. Der Teil der privaten und
unbezahlten Sorgearbeit, nämlich die Sorgearbeit       1. Der Umfang der häuslichen Pflegearbeit wird
für Kinder, ist als politisches Gestaltungsfeld er-        im extremen Maße unterschätzt:
kannt. Dem gegenüber wird ein anderer Teil der         Die Daten über die Lebenssituation pflegender
Arbeit, der ebenso privat und unbezahlt verrich-       Angehöriger sind völlig unzureichend, das spie-
tet wird, immer noch verdrängt: die Care-Arbeit        gelt die gesellschaftliche Zuordnung zum pri-
für pflegebedürftige alte Menschen. Sie gilt als       vaten Raum wider, die privat pflegende Person
Aufgabe der Familie und bleibt in ihrer konkreten      wird amtlich unsichtbar gemacht. Dennoch weiß
Form ein Tabu.                                         man, dass sie im Durchschnitt 36,7 Wochenstun-
     In Zukunft wird es aber nicht weniger, son-       den oder 5,2 Stunden am Tag pflegt. Der Umfang
dern mehr Pflegebedürftige geben, darin sind sich      dieser Pflegearbeit ist so groß, dass die Schaffung
die Demographen einig. Angesichts dieser Ent-          von 3,2 Millionen Erwerbsarbeitsplätzen in Vollzeit
wicklung, aber auch der Veränderungen in den           möglich wäre. Der Wert dieser Arbeit kann mit 44
Geschlechterverhältnissen und den wachsenden           Milliarden Euro angesetzt werden, wenn man ein
Anforderungen an Mobilität, wird die private           mittleres Lohnniveau unterstellt. Die Absiche-
Pflegearbeit in Zukunft nicht mehr so geleistet        rung für diese Arbeit ist völlig unzureichend,
werden können wie heute. So stellt sich sehr           denn über die Pflegeversicherung werden pro Tag
brennend die Frage, in welcher Form Menschen           nur 0,5 bis 1,8 Stunden Pflegearbeit finanziert.
in Zukunft gepflegt werden sollen. Um diese Fra-       Das Verhältnis der privat Pflegenden zu den pro-
ge geht es in dieser Expertise, die als Beitrag zum    fessionell Pflegenden beträgt drei zu eins.
Zukunftsprojekt 2020 der Friedrich-Ebert-Stiftung
zu sehen ist.                                          2. Die geschlechtliche Ungleichheit zeigt sich bei
     Nur bei genauer Betrachtung der heutigen              Pflegenden und bei Gepflegten:
Realität im Pflegesektor können die richtigen          Die Pflegenden sind überwiegend weiblich: Zwei
Weichen für die Zukunft gestellt werden. Und zur       Drittel der unbezahlten Pflegearbeiten werden von
genauen Betrachtung gehört auch die Geschlech-         Frauen, ein Drittel von Männern geleistet. 90 Pro-
terfrage in der Pflege: Wo werden Polarisierungen      zent der Pflegepersonen, die über die Pflegeversi-
und Hierarchisierungen, also soziale Ungleich-         cherung sozialversichert sind, sind Frauen. Der
heiten über die Zuordnung zum Geschlecht her-          Anteil der Männer an den Hauptpflegepersonen
gestellt? Es ist bekannt, dass die heutige Arbeit im   ist in den letzten Jahren allerdings gestiegen,
Pflegesektor überwiegend Arbeit von Frauen ist,        wenn auch die Männer eher Pflegemanagement-

                                                                                                               3
WISO
 Diskurs                                                                                           Friedrich-Ebert-Stiftung

           aufgaben als direkte Pflegearbeiten übernehmen.           heimatet sind. Sie wird den modernen Lebensent-
           Die gesellschaftliche Tabuisierung der weiblichen         würfen von Frauen, aber auch von Männern, nicht
           Sorgearbeit für Pflegebedürftige führt dazu, dass         gerecht.
           auch die „atypische“ Pflegeleistung der Männer
           gering geschätzt wird, sie sind aber in der Pflege        4. Professionelle Pflege ist durch Geschlechter-
           bereits eine quantitativ bedeutsame Minderheit.               hierarchie gekennzeichnet:
           Aber auch im Blick auf die zu Pflegenden fallen           Die Pflegearbeit selbst ist geschlechtsbezogen zu-
           Geschlechterdifferenzen und Ungleichheiten auf:           geordnet: Die direkte Pflege des Körpers ist weib-
           Alte und hochaltrige Männer verfügen in der Regel         lich, die Managementaufgaben in der Pflege sind
           über Partnerinnen, die sie pflegen, alten und hoch-       männlich konnotiert und besetzt. Das Pflege-
           altrigen Frauen fehlt in der Regel dieser Partner, weil   system gilt als weiblich und steht in der Anerken-
           er oft bereits verstorben ist.                            nung und der Bezahlung unter dem medizini-
                                                                     schen System. Typische Merkmale für die Diskri-
           3. Die Pflegeversicherung stabilisiert die Ge-            minierung von Frauenarbeit kennzeichnen das Feld:
               schlechterhierarchien:                                Unterbezahlter Qualifikationseinsatz bei extre-
           Die sozialpolitischen Regelungen zur Pflegearbeit         mer Belastung, Teilzeitarbeit, prekäre Beschäfti-
           verstärken die Polarisierung und Hierarchisierung         gung und die Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch
           im Geschlechterverhältnis. Das hier angewandte            Migrantinnen. Männer in der Pflege erhalten eine
           Subsidiaritätsprinzip in der Pflege führt zu einer        patriarchale Dividende, da sie häufiger in Füh-
           Verstärkung der geschlechtsbezogenen Macht-               rungspositionen im Pflegebereich arbeiten. Schon
           und Ungleichheitsstrukturen im Feld der Alten-            heute lässt sich ein eklatanter Mangel an Fach-
           pflege.                                                   kräften in diesem typischen Frauenberuf feststel-
                Die heutige Gestaltung der Pflegeversiche-           len, und die gegenwärtige Anzahl der Auszubil-
           rung ist einem familiaristischen Bild verpflichtet,       denden liegt weit unter dem absehbaren Bedarf.
           das dem männlichen Haupternährer und der Haus-            Und diese Bedarfsberechnungen beziehen die
           frau und Mutter, später der weiblichen Haupt-             notwendigen Verschiebungen von privater zu
           pflegeperson entspricht. Das durch die Pflegever-         professioneller Arbeit noch nicht mit ein.
           sicherung gezahlte Pflegegeld hat nicht den Status             Die hier vorgelegte Expertise soll ein erster
           von Entlohnung, gilt aber als Anreiz zur privaten         Schritt zur Bewusstmachung und zur Sensibili-
           Pflegearbeit und ist damit dem von konservativer          sierung sein: Geschlecht ist gegenwärtig immer
           Seite stark verteidigten Betreuungsgeld für die           noch ein starker Faktor für die Zuordnung und
           private Kleinkinderziehung vergleichbar.                  Bewertung von Arbeit. Der schon jetzt wahr-
                Die Selbstverständlichkeit, mit der die Pflege       nehmbare Wandel in den Geschlechterverhält-
           von Angehörigen als Frauenarbeit wahrgenom-               nissen muss jedoch einen Wandel in der Gestal-
           men wird, nimmt real jedoch ab. Je höher der Bil-         tung dieser Arbeit nach sich ziehen. Das ist eine
           dungsstand und der Berufsstatus ist, desto we-            große Herausforderung für die Politik.
           niger wird die Verpflichtung zu einer längerfris-
           tigen Pflege von Verwandten akzeptiert. Wenn
           aber die Pflegeversicherung auf die häusliche Pfle-                Dr. Barbara Stiegler
           gebereitschaft setzt, unterstützt sie die vormo-                   Leiterin Arbeitsbereich Frauen und
           dernen Lebensentwürfe, die eher in ländlichen                      Geschlechterpolitik
           Regionen und den unteren Sozialschichten be-                       Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik

      4
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                               WISO
                                                                                                                Diskurs

1. Einleitung

1.1 Begründung und Inhalt der Expertise                der beruflichen – ambulanten wie stationären –
                                                       Pflege. Wenn überhaupt, dann wird meistens nur
Das Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG) der          auf der sozialstatistischen Oberfläche nach Ge-
Hochschule Vechta – Universität (Lehrstuhl Prof.       schlecht differenziert (und selbst da nicht durch-
Dr. Gertrud M. Backes) ist von der Friedrich-Ebert-    gängig); grundlegende strukturelle Geschlechter-
Stiftung mit einer Expertise zu Geschlechterstruk-     differenzen, vor allem im Zusammenhang mit
turen, insbesondere in der informellen, aber auch      „Altern als gesellschaftlichem Problem“ (Backes
in der formellen Pflege älterer Menschen in            1997), bleiben dagegen unterbelichtet (vgl. dage-
Deutschland beauftragt worden. Eine Literatur-         gen Backes 1992, 1993, 1994). Spezifische Aussa-
und Internetrecherche hat zwar ergeben, dass es        gen über Zusammenhänge zwischen Geschlecht,
zur Pflege älterer Menschen im Allgemeinen eine        Alter, Lebenslage und der Ausgestaltung bzw. den
äußerst umfangreiche wissenschaftliche und so-         Formen von Pflege und Pflegebedürftigkeit lassen
zialpolitische Literatur (u.a. von Sozial- und Be-     sich auf der Basis des vorhandenen Datenmate-
rufsverbänden und Ministerien) gibt, jedoch nur        rials nicht ohne Weiteres treffen. Kaum diskutiert
wenige Studien zum Zusammenhang von (Alten-)           wird, ob und wie Geschlechterhierarchien in der
Pflege und Geschlecht. Lediglich acht von insge-       Pflege entstehen, wie sie sich gestalten und durch
samt 262 Veröffentlichungen, die in die Bestands-      was sie gestützt, stabilisiert, verstärkt bzw. verän-
aufnahme zur „Altenpflege in Deutschland“ (In-         dert werden. Erste Ansätze zur Begründung einer
formationszentrum Sozialwissenschaften 2003)           „geschlechtersensiblen Altenpflege“ sind bisher
eingeflossen sind, setzen sich explizit mit der Rol-   nur von Backes (2005a) entwickelt worden. Wei-
le von Geschlecht im Feld der Altenpflege ausein-      tere Arbeiten in dieser Richtung sind erforderlich,
ander. Vereinzelt finden sich Veröffentlichungen       denn Pflege und Pflegebedürftigkeit werden ge-
im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung          schlechtsdifferenziert erlebt und Versorgungs-
wie die Beiträge im Schwerpunktheft 2/3-2006           formen sind nach Geschlecht verschieden und
der Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlech-       ungleich über den Lebensverlauf hinweg verteilt.
terstudien (Backes, Lasch 2006; Backes, Amrhein,       Die geschlechtsspezifische Vergesellschaftung von
Uhlmann 2006) oder die ins Deutsche übersetzte         Männern und Frauen in der „Lebensphase Alter“
Monographie zu Geschlecht und Pflege von Miers         (Backes, Clemens 2008) wirkt bis in die Gestal-
(2001), die sich schwerpunktmäßig auf die beruf-       tung der (Alten-)Pflege hinein und hat konkrete
liche Kranken- bzw. Gesundheitspflege im eng-          Folgen für Pflegende und Pflegeempfänger(innen).
lischsprachigen Raum bezieht. Weiter gibt es erste           Im Mittelpunkt der Expertise sollen daher
Übersichtsarbeiten in der sozialwissenschaftlichen     Fragen stehen, die sich mit der Pflege älterer Men-
Alternswissenschaft (siehe u.a. Backes 2002, 2005a,    schen als einer kontrovers bestimmten Tätigkeits-
2005b; Backes, Wolfinger, Amrhein 2008).               form auseinandersetzen, die insbesondere von
     Zusammenfassend lässt sich der Forschungs-        Frauen, zunehmend aber auch von Männern aus-
und Diskussionsstand zur Verknüpfung von Ge-           geübt wird und mit vergeschlechtlichten Konno-
schlecht und Pflege im deutschsprachigen Raum          tationen und Zuschreibungen versehen ist. Der
als deskriptiv, nicht ausreichend tiefgründig und      Bericht gliedert sich in sechs Kapitel. Nach dieser
von blinden Flecken geprägt beschreiben. Dies          Einleitung und einer kurzen Skizze der grund-
betrifft sowohl die Untersuchung von Geschlech-        legenden Argumentationslinien (Kap. 1) werden
terverhältnissen in der privaten Pflege als auch in    die demographischen, gesellschaftlichen und

                                                                                                               5
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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           rechtlichen Rahmenbedingungen der Pflege- und         2. Die Geschlechterverhältnisse in der Pflege
           Sorgearbeit (Care) für ältere Menschen mit ihren         sind wie in anderen gesellschaftlichen Berei-
           familien- und genderpolitischen Auswirkungen             chen hierarchisch strukturiert, was von ver-
           diskutiert. Neben einer Genderanalyse der Konse-         schiedenen Autor(inn)en als „hierarchische
           quenzen der Pflegeversicherung für pflegende Fa-         Komplementarität“ (Backes 1999), „hegemo-
           milienmitglieder sollen auch die existierenden           niale Männlichkeit“ und „patriarchale Divi-
           amtlichen und sozialwissenschaftlichen Daten-            dende“ (Connell 1995) oder „männliche Herr-
           quellen kritisch hinsichtlich der darin eingela-         schaft“ (Bourdieu 2005) bezeichnet wurde.
           gerten Gender- und Care-Modelle betrachtet wer-       3. Hierarchische Geschlechterstrukturen verbin-
           den. Danach folgt ein knapper sozialstatistischer        den sich mit anderen z.B. beruflichen (recht-
           Überblick über die Hilfs- und Pflegebedürftigkeit        liche und symbolische Herrschaft von Berufs-
           in Deutschland (Kap. 2). Die Modellvorstellungen         gruppen) und sozialen Hierarchien und füh-
           hinsichtlich des Zusammenhangs von „Gender“              ren zu geschlechtsspezifischen Mustern der
           mit „Care/Pflege“ werden im Folgenden genauer            Kumulation bzw. Kombination von Bevor-
           untersucht und in die Kontexte der Frauen- und           und Benachteiligungen.
           Geschlechterforschung, der angloamerikanischen        4. Diese Geschlechterstrukturen werden im be-
           und deutschen Care-Debatte sowie der Diskus-             ruflichen wie familiär-häuslichen Bereich im
           sion zu wohlfahrtsstaatlichen Gender- und Care-          Lebensverlauf reproduziert und schlagen sich
           Regimen gestellt (Kap. 3). Auf dieser konzeptio-         in einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwi-
           nellen Basis werden dann die wichtigsten Daten           schen den Geschlechtern („Geschlechterver-
           und Erkenntnisse insbesondere zur informell-             hältnisse“) und damit verbundenen ge-
           familiären, aber auch zur formell-beruflichen            schlechtsvermittelten Lebenslagen nieder.
           Pflege- und Sorgearbeit für ältere Menschen prä-      5. „Care“ als Sorge- und Pflegearbeit für ältere
           sentiert und genderkritisch interpretiert (Kap. 4        Menschen ist eine geschlechtsvermittelte Tä-
           und 5), bevor ein Fazit zu Geschlechterstrukturen        tigkeitsform, d.h. die Definitionen und Be-
           in der Pflege gezogen wird (Kap. 6).                     wertungen der Care-Arbeit erfolgen über in-
                                                                    teraktiv, institutionell und gesellschaftlich
                                                                    hergestellte Geschlechtszuschreibungen und
           1.2 Grundlegende Argumentationslinien                    -darstellungen.
                                                                 6. Geschlechterstrukturen in der Pflege sind
           Der folgende Bericht zur formellen und infor-            nicht nur ein Resultat von bewussten Aus-
           mellen Pflege- und Sorgearbeit für ältere Men-           handlungs- und Definitionsprozessen, sondern
           schen konzentriert sich auf die in dieses Feld ein-      entstehen auch als ungeplante und nicht-in-
           gelassenen Geschlechterstrukturen. In der Ana-           tendierte Folgen von sozialen Prozessen und
           lyse haben sich zentrale Argumentationslinien            von unbewußt-habitualisierten Verhaltens-
           herauskristallisiert, die vorab als Erkenntnis lei-      weisen.
           tende Thesen vorgestellt werden.                      7. Die Sorge- und Pflegearbeit in Deutschland
           1. In der formellen und informellen Care-Arbeit          findet in androzentrischen Lebenslauf-, Kar-
              besteht eine grundlegende Struktur der primä-         riere- und Berufsstrukturen statt, die zur Dis-
              ren Zuweisung der Arbeit an Frauen und se-            kriminierung von „abweichenden“ weiblichen
              kundären an Männer, die Ausdruck der hierar-          und nicht dem androzentrischen Modell fol-
              chischen geschlechterspezifischen Arbeitstei-         genden männlichen Arbeits- und Lebenszu-
              lung in unserer Gesellschaft sowie entspre-           sammenhängen führen.
              chender institutioneller Strukturen, Interak-
              tions-, Handlungs- bis hin zu Motivations-
              strukturen ist.

      6
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                            WISO
                                                                                                             Diskurs

2. Pflege/Care älterer Menschen in Deutschland

Die Pflege- und Sorgearbeit für ältere Menschen       schen an der Gesamtbevölkerung von ca. 25%
in Deutschland ist ein wichtiger Teil der Heraus-     (2005) auf ca. 36% im Jahr 2030. Nach der Ster-
forderungen, die sich als Folge des allgemeinen       betafel 2002/2004 hat ein neugeborener Junge
Strukturwandels der Gesellschaft, in die der so-      eine Lebenserwartung von 75,9 Jahren, ein neu-
ziale und demographische Strukturwandel des           geborenes Mädchen entsprechend von 81,5 Jah-
Alter(n)s als Teilprozess eingebettet ist, ergeben    ren. Die fernere Lebenserwartung im Alter von
haben (vgl. Backes 1997). In diesem Kapitel soll      60 Jahren beträgt für Männer 20,0 Jahre, für
daher zunächst der gesellschaftliche, rechtliche      Frauen 24,1 Jahre. Frauen haben also im Vergleich
und institutionelle Kontext skizziert werden, der     zu Männern weiterhin eine höhere Lebenserwar-
die von Frauen und Männern geleistete Pflege-         tung. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit ist stark
und Sorgearbeit strukturell prägt. Anschließend       altersabhängig und unterscheidet die Gruppe der
werden grundlegende Fakten zur Pflege und Ver-        „jungen Alten“ (ca. 60-80) von den „alten Alten“
sorgung älterer Menschen in Deutschland vor-          (ab 80): Während das Risiko der Pflegebedürftig-
gestellt, die als Basis dienen für die Auseinander-   keit vor dem 60. Lebensjahr bei lediglich ca. 0,6%
setzung über die Geschlechterdifferenzen und          liegt, beträgt es zwischen dem 60. und 80. Le-
-ungleichheiten, die in diesen Pflege- und Ver-       bensjahr moderate 3,9%, nach dem 80. Lebens-
sorgungsstrukturen eingelassen sind. Dabei kann       jahr dagegen beträchtliche 28,3%. Bei einer kon-
gezeigt werden, dass nicht nur die rechtlich-insti-   stant bleibenden altersspezifischen Pflegewahr-
tutionellen Regelungen der Pflegeversicherung,        scheinlichkeit prognostiziert das Statistische Bun-
sondern schon die amtliche und sozialwissen-          desamt eine Zunahme der Pflegebedürftigen in
schaftliche Erfassung von Pflege- und Sorgetätig-     der Pflegeversicherung in den nächsten dreißig
keiten einen „gender bias“ aufweisen, d.h. sozial     Jahren um ca. die Hälfte, von 1,97 Mio. (2006)
ungleich nach Geschlecht strukturiert sind.           über 2,13 Mio. (2010) und 2,64 Mio. (2020) auf
                                                      3,09 Mio. pflegebedürftige Personen im Jahr
                                                      2030. Allerdings bietet diese aktuelle Kurzüber-
2.1 Demographische und andere                         sicht des BMG keine weitere Aufgliederung der
    gesellschaftliche Rahmenbedingungen               Pflegebedürftigen nach Geschlecht, verdeutlicht
                                                      aber an anderer Stelle die hohe Bedeutung von
In einem PDF-Papier stellt das Bundesgesund-          Frauen für die häuslich-familiäre Pflege: Dem-
heitsministerium aktuelle „Zahlen und Fakten          nach beträgt der Frauenanteil an den pflichtversi-
zur Pflegeversicherung“ (BMG 2008b) zur Verfü-        cherten Pflegepersonen in der gesetzlichen Ren-
gung, die auch Daten zur Bevölkerungsentwick-         tenversicherung über 90%, d.h. so hoch ist die
lung in Deutschland enthalten. Als Basis diente       Frauenquote derjenigen häuslich-familiären Pfle-
die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausschät-         gepersonen, die nicht mehr als 30 Stunden wö-
zung des Statistischen Bundesamtes (2006), wo-        chentlich erwerbstätig sind und mindestens 14
bei die mittlere Variante und ein Wanderungs-         Stunden pro Woche einen Pflegebedürftigen der
saldo von 200.000 zugrunde gelegt wurden. Die         Stufe 1 oder höher versorgen und – gestaffelt
Zahl der älteren Menschen (60 Jahre und älter)        nach Pflegestufe und zeitlichem Aufwand – Bei-
betrug im Jahr 2005 ca. 20,5 Millionen und wird       träge an die gesetzliche Rentenversicherung ge-
bis zum Jahr 2030 auf ca. 28,5 Mio. Menschen          zahlt bekommen.
ansteigen; analog wächst der Anteil älterer Men-

                                                                                                            7
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 Diskurs                                                                                         Friedrich-Ebert-Stiftung

                 Hans-Peter Tews (1993; ebenso 1999) hat die      weiblich dominierten Arbeits- und Lebensräu-
           gesellschaftlichen Begleiterscheinungen des de-        men von Altenhilfe- und Altenpflegeeinrich-
           mographischen Wandels, der spätestens seit Mit-        tungen darstellen, würden sie dort Tews zufolge
           te der 1980er Jahre in allen westeuropäischen          auch qualitativ benachteiligt. Dies zeige sich in
           Industriegesellschaften zu beobachten ist, zu-         der stationären Altenpflege beispielsweise in ei-
           sammenfassend als „Strukturwandel des Alters“          ner mangelnden Berücksichtigung ihrer ge-
           bezeichnet. Das „dreifache Altern“ – d.h. die Zu-      schlechtsspezifischen Betreuungs- und Freizeitbe-
           nahme älterer Menschen in absoluten Zahlen             dürfnisse. Für diese Behauptung, die Tews aus den
           und relativen Anteilen sowie die Zunahme der           quantitativen Relationen heraus evident zu sein
           Hochaltrigkeit – bildet für Tews die demographi-       scheint, bleibt er allerdings einen sozialwissen-
           sche Determinante für quantitative und quali-          schaftlichen Beleg schuldig; genauso plausibel
           tative Veränderungen in vielen gesellschaftlichen      könnte man von der relativen Seltenheit der
           Teilbereichen, die er prägnant als Verjüngung,         Männer auf ihre Bevorzugung schließen. Die
           Entberuflichung, Feminisierung und Singulari-          Ergebnisse der ethnologischen Einzelfallstudie
           sierung des Alters charakterisiert. Tews hat damit     „Fremde Welt Pflegeheim“ von Koch-Straube
           Stichworte geliefert, die sich in der sozialgeron-     (1997) weisen z.B. darauf hin, dass das Pflegeheim
           tologischen Forschung etabliert haben und zur          zwar tatsächlich eine „Welt der Frauen“ ist, in der
           überblicksartigen Beschreibung des demographi-         aber die klassische familiär-häusliche Rollenver-
           schen Wandels genutzt werden. Problematisch ist        teilung von versorgenden Frauen und umsorgten
           allerdings seine These der „Feminisierung des          Männern reproduziert wird.
           Alters“ – sie folgt einer androzentrischen Logik,           Eine weitere Begründung für Tews, von der
           weil hier Frauen implizit als ein von männlichen       Feminisierung des Alters zu sprechen, ist der für
           Normalitätsstandards „abweichendes Geschlecht“         heute alte Kohorten empirisch durchaus evidente
           thematisiert werden. Einige seiner Argumente           und für künftige – wenn auch in differenzierterer
           sollen im Folgenden kritisch dargestellt werden,       Ausprägung zu erwartende – Tatbestand, dass so-
           und zwar als Beispiel für die Rolle der Geronto-       ziale Probleme im Alter überwiegend „weiblich“,
           logie als Mitproduzentin androzentrischer Sicht-       d.h. zumeist Probleme von Frauen sind: Alte
           weisen auf Alter und Altern (vgl. Calasanti 2004,      Frauen sind überproportional stark von Armut
           Backes 2006b).                                         und schlechten Wohnbedingungen betroffen, da
                 Tews (1993, 1999) schließt in seiner Struktur-   sie typischen, kumulativ wirkenden Benachteili-
           wandelthese von quantitativ-demographischen            gungen im Lebenslauf ausgesetzt sind. Vor allem
           Unterschieden zwischen älteren Frauen und Män-         aufgrund ihrer meist diskontinuierlichen Er-
           nern auf qualitative soziale Geschlechterverhält-      werbs- und Bildungsbiographien (Unterbrechung
           nisse und -ungleichheiten. Die „Feminisierung          durch Kinder, Hausfrauendasein, niedrigere For-
           des Alters“ zeige sich zunächst darin, dass mit        malbildung) bzw. nicht qualifikationsadäquaten
           steigendem Alter der Frauenanteil in den jewei-        Beschäftigungsformen konnten (werden) sie (ver-
           ligen Altersgruppen immer stärker anwächst,            mutlich) weitaus geringere Rentenansprüche als
           wobei ältere und alte Frauen in jeder Altersgrup-      Männer aufbauen, was vor allem für alleingeblie-
           pe eine höhere Morbidität aufweisen als die            bene Witwen und geschiedene Frauen ein Ar-
           Männer, insbesondere im hohen Alter jenseits           mutsrisiko im Alter darstellt. Sie sind stärker von
           der 80 Jahre. Ältere Frauen nehmen nach Tews           gesundheitlichen Einbussen betroffen, müssen
           darüber hinaus häufiger an Angeboten der of-           damit im sehr hohen Alter weitgehend allein
           fenen Altenhilfe (z.B. Bildungsveranstaltungen)        zurechtkommen und sind bei Hilfe und Pflege
           teil, übernehmen hauptsächlich die Pflegearbeit        eher auf Unterstützung durch Dritte angewiesen
           (familiär wie beruflich) und stellen das größte        (vgl. Backes 2007; Perrig-Chiello 2008; Backes,
           Kontingent an ambulant und stationär versorg-          Amrhein, Lasch, Reimann 2006). Allerdings legt
           ten Pflegebedürftigen dar (siehe Kapitel 2.2). Da      der so begründete Begriff der „Feminisierung“ des
           Männer eine quantitative Minderheit in den             Alters die Bedeutungsgleichsetzung von Alter mit

      8
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                           WISO
                                                                                                            Diskurs

sozialen Problemen nahe und ist insofern pro-        sätzlich auch meistens einige Jahre jünger sind.
blematisch einzuschätzen. Ebenfalls als „Femini-     So waren 2006 bereits 46% der 70-84jährigen
sierung“ wird der verrentungs- bzw. pensionie-       Frauen und sogar 76% der mindestens 85jährigen
rungsbedingte Wechsel von Männern aus der            Frauen verwitwet, während lediglich 15% der
männerdominierten öffentlichen Erwerbs- und          70-84jährigen Männer und immer noch eine Min-
Berufssphäre in die frauendominierte private         derheit von 44% der 85 Jahre und älteren Männer
Haushalts- und Familiensphäre gedeutet, so z.B.      Witwer waren (Statistisches Bundesamt, zit. nach
von Kohli (1990). Als Folge dieser „strukturellen    Hoffmann und Nachtmann 2008, S. 12). Während
Feminisierung“ glichen sich im Alter die psychi-     also alte und hochaltrige Männer mehrheitlich
schen Eigenschaften von Frauen und Männern           über Partnerinnen verfügen, die sich im Risikofall
zunehmend aneinander an, was Kohli im An-            der Pflegebedürftigkeit um sie kümmern können,
schluss an Guttman als Prozess der „Androgyni-       gilt das für Frauen nicht: Ihre Pflege und Versor-
sierung“ alter Frauen und Männer bezeichnet.         gung muss dann mehrheitlich über andere Fami-
Männer entwickelten demnach „weibliche“ Ei-          lienmitglieder und/oder professionelle Pflegeper-
genschaften und Fähigkeiten, zumindest als weib-     sonen sichergestellt werden.
lich konnotierte Verhaltensweisen, aufgrund ihres         Die steigende Lebenserwartung und die Ver-
Wechsels in den „weiblich“ geprägten privaten        längerung der Ruhestandsphase verändern aber
Raum, woraus auch auf eine „androgyne“ Anglei-       nicht nur das individuelle Leben im Alter, son-
chung von Geschlechtsrollen und einer zuneh-         dern auch die Strukturen der Gesellschaft insge-
mend von Männern geleisteten Angehörigen-            samt. Nach Backes (1997) hat sich die Alters-
pflege geschlossen werden könne. Auch diese Ar-      thematik im Laufe der letzten eineinhalb Jahr-
gumentation übersieht die Möglichkeit, dass Ge-      hunderte von einem individuellen und sozial
schlechterstrukturen und geschlechterspezifische     abgrenzbaren Problem zu einem gesamtgesell-
Verhaltensweisen im Alter sich zwar verändern        schaftlichen Problem entwickelt, das heute alle
können, ohne dass aber die „hierarchische Kom-       Teilbereiche der Gesellschaft – von der Ökonomie
plementarität“ der Geschlechterverhältnisse und      und Politik über Familie und Verwandtschaft bis
der damit einhergehenden Lebenslagechancen           hin zu Freizeit, Bildung und Kultur – erreicht hat.
(Backes 1999, 2007) grundlegend durchbrochen         Die tradierten Institutionen, allen voran die so-
würde.                                               zialen Sicherungssysteme, sind – so Backes – mit
     Ein weiteres Risiko für das privat-familiäre    ihren bisherigen Mitteln immer weniger dazu
Pflegepotenzial stellt die von Tews (1993) be-       geeignet, die Ziele materielle Sicherung, Teilhabe
schriebene „Singularisierung“ dar: Die Wahr-         am gesellschaftlichen Leben und individuelle
scheinlichkeit, ein unfreiwilliges „Singledasein“    Entfaltungsfreiheit im Alter erreichbar zu ma-
führen zu müssen, erhöht sich mit zunehmendem        chen, so dass neue Lösungen für die „Vergesell-
Lebensalter durch Verwitwung oder Trennung           schaftung des Alters“ (ebd.) gefunden werden
bzw. Scheidung. Dies sei mit einer Tendenz zur       müssen. Angesichts der existierenden Geschlech-
„Entfamilialisierung“ und sozialen Isolierung ver-   terstrukturen können diese Lösungen nicht ge-
bunden: Verwandtschafts- und Kontaktnetze des        schlechtsindifferent sein, sondern müssen „ge-
gestorbenen Ehepartners entfallen, ältere bzw.       schlechtersensibel“ formuliert werden, wie Backes
gleichaltrige Familienmitglieder und Freunde         (2005) am Beispiel der Altenpflege aufzeigt.
sterben, und soziale Kontakte sind bei Krank-             Diese „normative und instrumentelle Unbe-
heiten und Behinderungen schwerer aufrecht zu        stimmtheit des gesellschaftlichen Umgangs mit
erhalten. Diese Singularisierung ist wiederum        Alter(n)“ (Backes 1997) gilt auch für die bishe-
hauptsächlich ein Phänomen von Frauen, die           rigen Strukturen der Altenpflege und -hilfe, die
wesentlich häufiger als Männer von Verwitwung        angesichts des gesellschaftlichen und demogra-
betroffen sind – Frauen überleben ihre Männer        phischen Wandels an die Grenzen ihrer Leis-
nicht nur, weil sie eine höhere Lebenserwartung      tungsfähigkeit gelangt sind. In ihrer umfassenden
haben, sondern weil sie in Partnerschaften zu-       Monographie zu „Pflegebedürftigkeit im Alter“

                                                                                                           9
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 Diskurs                                                                                      Friedrich-Ebert-Stiftung

           nennt Beate Röttger-Liepmann (2007) drei Ursa-       hilfe hinausgeht (vgl. dazu den Abschlussbericht
           chen für die Krise in der Versorgung älterer Men-    der Enquete-Kommission „Situation und Zukunft
           schen: Die demographische Entwicklung, die den       der Pflege in NRW“ von 2005, S. 441–493; ebenso
           Generationenvertrag verändere, die Gefährdung        Röttger-Liepmann 2006, S. 160–171 und Dibe-
           der sozialen Sicherungssysteme und die Tatsache,     lius, Uzarewicz 2006, S. 25–35). Seit dem 1. April
           dass die Träger der Versorgung sich bisher nicht     1995 werden Leistungen für die häusliche Pflege
           auf den strukturellen Wandel eingestellt hätten      gewährt, seit dem 1. Juli 1996 auch für die dauer-
           (ebd., S. 15). Ihre Befunde ordnet die Autorin in    hafte Pflege in stationären Einrichtungen. Damit
           ein gesamtgesellschaftliches Bedingungsgefüge        stellt das SGB XI in Verbindung mit weiteren
           ein, das von der Bevölkerungsentwicklung ein-        pflegerelevanten Regelungen des Sozialgesetzbu-
           schließlich der Alters- und Morbiditätsstruktur,     ches (insbesondere zur Krankenversicherung im
           der staatlichen Altenhilfe- und Sozialpolitik mit    SGB V und zur Sozialhilfe im SGB XII) die leis-
           ihren ambulanten und stationären Versorgungs-        tungsrechtliche Grundlage für die in Deutschland
           strukturen sowie der Rolle der Familien mit ihren    geleistete Pflegearbeit dar. Das SGB XI ist nicht
           abnehmenden Pflegepotenzialen (als Folge von         nur deshalb so bedeutsam, weil es die Finanzie-
           Singularisierung und Frauenerwerbstätigkeit) be-     rung von Pflegeleistungen regelt, sondern weil es
           stimmt wird. Aus diesen Faktoren ergeben sich        darüber hinaus institutionelle Verantwortlichkei-
           die Anzahl der Pflegebedürftigen und Pflegeper-      ten für die Leistungserbringung zuschreibt und
           sonen und die Rolle der ambulanten und statio-       einen spezifischen Begriff von Hilfs- und Pflege-
           nären Versorgung (ebd., S. 14).                      bedürftigkeit rechtlich durchgesetzt hat. Insbe-
                                                                sondere die eng an spezifische körperliche Ver-
                                                                richtungen orientierte Definition von Pflegebe-
           2.2 Die Pflegeversicherung als                       dürftigkeit hat massive Kritik hervorgerufen, da
               gesetzlicher Rahmen                              mit ihr psychosoziale Betreuungsleistungen, wie
                                                                sie insbesondere für Demenzkranke nötig sind,
           2.2.1 Von der Einführung der Pflegeversiche-         nicht erfasst werden können. Das SGB XI be-
                 rung bis zur Pflegereform 2008                 stimmt Pflegebedürftigkeit wie folgt:
                                                                      „Pflegebedürftig sind Personen, die wegen
           Nach über zwanzigjähriger Diskussion verabschie-     einer körperlichen, geistigen oder seelischen
           deten der Deutsche Bundestag und Bundesrat im        Krankheit oder Behinderung für die gewöhn-
           Jahr 1994 das Gesetz zur sozialen Absicherung        lichen und wiederkehrenden Verrichtungen im
           des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Zunächst soll   Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraus-
           ein Abriss über zentrale Einzelregelungen gege-      sichtlich für mindestens sechs Monate, in erheb-
           ben werden, der insbesondere die Situation in der    lichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.“
           häuslich-familiären Pflege berücksichtigt und auf          Das SGB XI sieht drei verschiedene Pflege-
           die aktuellen Änderungen im Rahmen der soge-         stufen vor, nach denen die Sach- und Geldleis-
           nannten „Pflegereform“ eingeht. Im folgenden         tungen für die ambulante oder stationäre Versor-
           Teilkapitel werden dann geschlechter- und fami-      gung gestaffelt gewährt werden. Je nach Häufig-
           lienpolitische Konsequenzen der Pflegeversiche-      keit und Umfang der Hilfeleistung, die jemand
           rung diskutiert.                                     hinsichtlich Körperpflege, Ernährung, Mobilität
                Mit dem „Pflegeversicherungsgesetz“ (Pflege-    und hauswirtschaftliche Versorgung benötigt, er-
           VG) wurde das SGB XI geschaffen, das am 1. Ja-       folgt eine Einstufung in Pflegestufe I (erheblich
           nuar 1995 in Kraft trat. Die Pflegeversicherung      Pflegebedürftige), Pflegestufe II (Schwerpflege-
           wurde als gesetzliche Pflichtversicherung im         bedürftige) oder Pflegestufe III (Schwerstpflege-
           Umlageverfahren eingerichtet und soll eine ein-      bedürftige). Personen, deren Bedarfe unter- oder
           kommensunabhängige Grundversorgung für die           außerhalb dieser, an der zeitlichen Dauer von
           Abdeckung von pflegebedingten Aufwendungen           körperbezogenen Verrichtungen orientierten
           sicherstellen, die über die Leistungen der Sozial-   Festlegungen liegen (umgangssprachlich „Pflege-

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                             WISO
                                                                                                              Diskurs

stufe 0“), sind auf Leistungen der Sozialhilfe        derlosen Personen von 1,95% auf 2,2%. Eine be-
angewiesen, falls ihr eigenes Einkommen oder          deutende Verbesserung im ambulanten Bereich
Vermögen nicht ausreichend ist. Hier sind vor         gibt es für Menschen mit eingeschränkter Alltags-
allem die einkommensabhängigen Regelungen             kompetenz. Für den psychosozialen Betreuungs-
der „Hilfe zur Pflege“ (§ 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII)   bedarf insbesondere von Demenzkranken ohne
und der „Grundsicherung im Alter und bei Er-          Pflegestufe wird zum 1. Juli 2008 der Betreuungs-
werbsminderung“ (§§ 41 ff. SGB XII) zu nennen.        betrag von jährlich 460 € auf jährlich 1.200 €
Mit dem Pflegeleistungsergänzungsgesetz vom           (Grundbetrag) bzw. 2.400 € (erhöhter Betrag) an-
1. Januar 2002 sollten auch die psychosozialen        gehoben, wobei erstmalig auch die Pflegebe-
Betreuungsbedarfe von häuslich gepflegten, ins-       dürftigen der „Pflegestufe 0“ (chronisch Erkrank-
besondere demenzkranken Personen, finanziell          te) in den Leistungserhalt mit einbezogen wer-
unterstützt werden. Allerdings konnte dieses          den. Mit diesem monatlichen Betreuungsbetrag
Gesetz nur ein „Tropfen auf dem heißen Stein“         von 100 € bis 200 € führt die Pflegereform 2008
sein, da mit dem vorgesehenen Betreuungsbei-          faktisch eine neue Pflegestufe ein, die auch die
trag von 460 € pro Jahr (das sind lediglich 1,26 €    psychosozialen sowie die zeitlich geringfügigeren
pro Tag) die mehrheitlich weiblichen Pflegeper-       körperbezogenen Sorge- und Pflegetätigkeiten
sonen kaum entlastet werden konnten und para-         von pflegenden Familienangehörigen berück-
doxerweise Pflegebedürftige der „Pflegestufe 0“       sichtigt. Zudem wird der Zugang zu Leistungen
von diesen Leistungen ausgeschlossen waren            der Pflegeversicherung beschleunigt, indem die
(Dibelius, Uzarewicz 2006, S. 31 f.).                 Vorversicherungszeit von 5 auf 2 Jahre verkürzt
     Das nach längerer Verzögerung im März            wird und die Frist, innerhalb der ein Antrag auf
2008 verabschiedete und zum 1. Juli 2008 in Kraft     Pflegebedürftigkeit begutachtet und entschieden
tretende „Pflege-Weiterentwicklungsgesetz“ (sie-      werden muss, höchstens fünf Wochen (in beson-
he zum Folgenden BMG 2008c) soll eine Vielzahl        deren Fällen nur eine Woche) betragen darf.
dieser von Fachleuten kritisierten Systemfehler der         Neue Erleichterungen für berufstätige Ange-
Pflegeversicherung korrigieren (siehe Enquete-        hörige sollen mit dem Anspruch auf „Pflegezeit“–
Kommission NRW 2005, S. 461–470) und eine             eine bis zu sechsmonatige Freistellung von der
finanzielle und organisatorische Entlastung der       Arbeit für Pflegearbeit – und mit dem Anspruch
Situation von Pflegebedürftigen, ihrer Angehö-        auf eine kurzfristige Freistellung für bis zu 10 Ar-
rigen und der Pflegenden mit sich bringen. Zu-        beitstagen bei akut auftretenden Pflegesituatio-
nächst werden die ambulanten Sachleistungsbe-         nen geschaffen werden. In beiden Fällen wird das
träge und das Pflegegeld in allen Stufen I bis III    Gehalt der pflegenden Angehörigen zwar nicht
sowie die stationären Sachleistungen in den Stu-      weiterbezahlt, sie bleiben aber weiterhin sozial-
fen III und III+ schrittweise bis 2012 angehoben.     versichert; allerdings nicht mehr über den Arbeit-
Allerdings handelt es sich dabei um eher gering-      geber, sondern über die Pflegekassen (Arbeitslo-
fügige Erhöhungen, die wohl kaum die bisherigen       sen- und Rentenversicherung) und in der Regel
Kostensteigerungen kompensieren können (so            über die Familienversicherung (Kranken- und
betragen je nach Pflegestufe die Erhöhung des         Pflegeversicherung). Neben einer Vielzahl organi-
Pflegegelds zwischen 30 bis 35 € im Monat und         satorisch-institutioneller Regelungen, die die
der ambulanten Sachleistungen zwischen 66 und         (teil-)stationären Einrichtungen und Leistungs-
118 € im Monat). Ab 2015 ist eine an die Preis-       träger betreffen und sich auf Fragen der Finan-
entwicklung angepasste Dynamisierung dieser           zierung, Qualitätssicherung und Entbürokrati-
Leistungen im dreijährigen Rhythmus vorge-            sierung beziehen, sollen auch die Angehörigen
schrieben, ohne dass jedoch eine Berechnungs-         und Betroffenen organisatorisch unterstützt wer-
formel für die Höhe der Anpassungen angegeben         den. Hierzu trägt vor allem der ab dem 1. Januar
wird. Zur Gegenfinanzierung werden die Beitrags-      2009 gesetzlich verankerte Anspruch auf eine
sätze zur Pflegeversicherung ab 1. Juli 2008 um       umfassende und individualisierte Pflegeberatung
0,25% erhöht, von 1,7% auf 1,95% bzw. bei kin-        bei, welche die Pflegekassen für die pflegebe-

                                                                                                             11
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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           dürftigen Versicherten und ihre Angehörigen          letzte Weg sein, wenn eine Pflege im vertrauten
           bereitstellen müssen (Fallmanagement). Speziell      häuslichen Umfeld und mit Mitwirkung von
           qualifizierte Pflegeberater(innen) bzw. Fallmana-    Familienangehörigen, nahestehenden Personen
           ger(innen) sollen die Versicherten und ihre An-      und ehrenamtlich Tätigen nicht mehr möglich
           gehörigen bei allen Schritten der Antragstellung,    ist. Diese sozialpolitische Grundsatzentschei-
           der Pflegeorganisation und der Auswahl von Pfle-     dung, die im Sinne des sozialethischen Subsi-
           gediensten und Pflegeeinrichtungen beraten und       diaritätsprinzips die Erstverantwortung für die
           unterstützen und sich um alle dabei anfallenden      Pflege alter Menschen an die Familie delegiert,
           Formalien kümmern (individuelle Versorgungs-         wirkt sich eher erhaltend oder gar verstärkend auf
           planung). Sofern ein entsprechender Beschluss        die geschlechtsbezogenen Macht- und Ungleich-
           eines Bundeslandes vorliegt, wird dieses Fallma-     heitsstrukturen im Feld der Altenpflege aus und
           nagement organisatorisch eingegliedert in neu zu     hat entsprechende Konsequenzen für Pflegende
           schaffende und vom Bund geförderte regionale         und Pflegebedürftige.
           „Pflegestützpunkte“. Damit sollen zentrale und            Die Höhe des Pflegegeldes, das grundsätzlich
           wohnortnahe Anlaufstellen für die Pflegebedürf-      an den Pflegebedürftigen ausgezahlt wird, erfüllt
           tigen und ihre Angehörigen geschaffen werden,        mit Blick auf den Zeitaufwand und die physischen
           die sich um die bürokratischen Aspekte der Pflege    und psychischen Belastungen der Hauptpflege-
           und ihrer Organisation kümmern sollen.               person nicht den Status einer Entlohnung und
                                                                kann daher keine adäquate Kompensation für
           2.2.2 Gender- und familienpolitische                 den teilweisen oder vollständigen Verzicht auf
                 Konsequenzen der Pflegeversicherung            eine berufliche Tätigkeit sein. Rentenversiche-
                                                                rungsbeiträge, die nur für Pflegepersonen mit
           Da die Regelungen der „Pflegereform 2008“ erst       einer reduzierten Berufstätigkeit von maximal 30
           zum 1. Juli 2008 in Kraft treten, können ihre Aus-   Wochenstunden und einer Pflegetätigkeit von
           wirkungen auf die in Deutschland geleistete          mindestens 14 Wochenstunden bezahlt werden,
           Sorge- und Pflegearbeit für ältere Frauen und        wie auch der „Pflegeurlaub“ und die neue Mög-
           Männer nur abgeschätzt werden. Davon unbe-           lichkeit zur zeitlich befristeten Freistellung von
           rührt bleiben zentrale Grundsätze der Pflegever-     der Arbeit („Pflegezeit“) fördern die Teilzeitarbeit
           sicherung, die wichtige strukturelle Weichen für     bzw. den zeitweiligen oder vollständigen Ausstieg
           die organisatorische und institutionelle Zuschrei-   aus der beruflichen Tätigkeit der Pflegeperson.
           bung von Pflegeverantwortung gestellt haben          Dabei wird die Geschlechterspezifik der Über-
           und einige wichtige geschlechter- und familien-      nahme von Pflegeverantwortung, der Vereinbar-
           politische Folgen aufweisen, die im Folgenden        keit von Beruf und Pflege und der Gesundheits-
           erläutert werden.                                    und Altersvorsorge der Pflegenden nicht ausrei-
                Die Verabschiedung der über Sozialversiche-     chend beachtet – schließlich sind es die Frauen,
           rungsbeiträge finanzierten Pflegeversicherung        die mehrheitlich die Hauptpflegeverantwortung
           (SGB XI) übertrug die gesellschaftliche Verantwor-   tragen und damit primär von diesen Regelungen
           tung für die Pflege älterer Menschen zunächst auf    betroffen sind; auch scheinen die bestehenden
           die Solidargemeinschaft. Gleichzeitig wurden die     Strukturen nicht förderlich für die hauptverant-
           Leistungen des SGB XI im Sinne einer Teilkasko-      wortliche Pflegeübernahme durch berufstätige
           versicherung begrenzt, d.h. es ist bei jeder Ver-    Männer zu sein. Hinter familienpolitischen Zie-
           sorgungsform zusätzlich zur Sicherstellung der       len verstecken sich also genderpolitisch relevante
           Grundversorgung stets ein Eigenanteil zu erbrin-     Zuweisungen:
           gen. Dabei genießt die ambulante und häusliche            „Wenn im politischen Diskurs über die häus-
           Pflege einen Vorrang vor der teilstationären, die    liche Pflege stets die Familie als Leistungsträger
           wiederum der stationären Versorgung vorrangig        im Vordergrund steht, so ist doch auch deutlich,
           ist. Die Unterbringung in ein Alten- und Pflege-     dass der Gesetzgeber insbesondere Frauen als pri-
           heim soll nach Absicht des Gesetzgebers nur der      vat Pflegende im Auge hatte. Durch Aufwertung

    12
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                            WISO
                                                                                                             Diskurs

der informellen häuslichen Pflege mittels der ge-     2.3 Daten zur Pflege älterer Menschen
setzlichen Veränderungen sollten diese motiviert          in Deutschland
werden, sich weiterhin diesen Aufgaben zu wid-
men.“ (Kreutzner 2006, S. 31)                         Bevor grundlegende Eckdaten zur Hilfs- und Pfle-
      Bisher gibt es – abgesehen vom Qualitäts-       gebedürftigkeit in Deutschland präsentiert wer-
sicherungsbesuch in der häuslich-ambulanten           den, stellt sich zunächst die Frage, welche Daten-
Versorgung – keine institutionellen Angebote, die     grundlagen es für einen statistischen Überblick
eine bewusste Planung und Entscheidung für eine       zur Pflege in Deutschland gibt, welche Defini-
Versorgungsform bzw. eine regelmäßige Über-           tionen zugrunde gelegt werden und wie und ob
prüfung der Vereinbarkeit von Pflege, Beruf und       Geschlechterstrukturen darüber erfasst und er-
Familie durch die Pflegenden unterstützen (vgl.       klärt werden können.
Barkholdt, Lasch 2006; Wolfinger 2006). Hier läge
eine wichtige Aufgabe für die von den Pflege-         2.3.1 Amtliche Daten im Rahmen der
kassen zu finanzierenden Fallmanager(innen) und             Pflegeversicherung
– bei Vorliegen eines positiven Länderentscheides
– auch der regionalen Pflegestützpunkte.              Die Suche nach aktuellen und aussagekräftigen
      Das SGB XI greift auch in das Feld der beruf-   Daten zur Situation von Pflegenden und Pflege-
lichen Pflegearbeit ein (siehe dazu Kapitel 5). Ge-   bedürftigen in Deutschland und zu den institu-
setzlich festgelegte Qualitätsanforderungen wie       tionellen Kontexten, in denen diese Sorge- und
in § 80 SGB XI erzeugen eine Hierarchisierung         Pflegearbeit ausgeübt wird, zeigt eine erste
von Tätigkeiten, die mit unterschiedlichen Qua-       Schwierigkeit. Die amtlichen Daten, die regelmä-
lifikationen verknüpft sind und die „indirekte        ßig im Rahmen der Pflegeversicherung erhoben
Pflege“ gegenüber der „direkten Pflege“ bevorzu-      werden, beziehen sich auf die Pflegebedürftigen
gen. Gleichzeitig besteht eine Spannung zwischen      und die ambulanten und stationären Einrich-
Qualitätsanforderungen und den verhandelten           tungen (einschließlich des Personals), in denen
und in ihrer Höhe begrenzten (ambulanten wie          diese gepflegt werden. Damit sind zwei wesent-
stationären) Leistungsentgelten – der Kosten-         liche Einschränkungen gesetzt: Zum einen exis-
druck infolge des Wirtschaftlichkeitsgebotes der      tiert keine gesetzliche Pflicht, einen regelmäßigen
Pflegeversicherung motiviert dazu, möglichst          Bericht über die Situation der nicht-professio-
viele Tätigkeiten an kostengünstigere niedrig         nellen Pflegepersonen in der familiär-häuslichen
oder nicht qualifizierte (Teilzeit-)Kräfte zu dele-   Versorgung vorzulegen. Die Beantwortung der
gieren. Dies führt auch zu beruflichen Hierar-        Frage, wer in welchem Umfang mit welchen Bela-
chisierungen der in der Pflege Beschäftigten, z.B.    stungen welche Pflegetätigkeiten für Angehörige
zwischen Pflegefach- und Pflegehilfskräften (vgl.     und Nahestehende leistet, bleibt damit unregel-
Wolfinger 2006). Zudem führen Wirtschaftlich-         mäßig erhobenen empirischen Studien vorbehal-
keitszwänge infolge der Pflegeversicherung und        ten. Diese lassen sich zudem häufig nur schwer
Mängel in der Aufbau- und Ablauforganisation          miteinander vergleichen und haben ihre spezi-
vor allem in den stationären Altenpflegeeinrich-      fischen blinden Flecken. Zum anderen basiert die
tungen zu höheren Arbeitsbelastungen des über-        amtliche Berichterstattung auf der stark ver-
wiegend weiblichen Personals. Dies fördert einen      richtungs- und körperbezogenen Einstufung in
Anstieg an krankheitsbedingten Absenzen und           Pflegestufen, die vom Medizinischen Dienst der
führt zu einer erhöhten Personalfluktuation, die      Krankenkassen vorgenommen wird. Die Defini-
wiederum Rationalisierungsmaßnahmen und da-           tion der Pflegestufen und die Regeln, nach denen
mit eine insgesamt niedrigere Pflegequalität zur      die Einstufung praktisch vorgenommen wird,
Folge hat. Es entsteht eine Spirale, die den Druck    richten sich nach den sozialversicherungsrecht-
auf die verbliebenen Arbeitskräfte zusätzlich er-     lichen Vorgaben der Pflegeversicherung und ih-
höht (vgl. Amrhein 2002, 2005b).                      ren Durchführungsbestimmungen. Pflegebedürf-
                                                      tigkeit, Pflegebedarf, Pflegeleistungen und Pflege-

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WISO
 Diskurs                                                                                         Friedrich-Ebert-Stiftung

           tätigkeiten werden im Rahmen einer gesetzlichen        über die Berichterstattungspflichten der Medizi-
           Auskunftspflicht erfasst, mit der vor allem die        nischen Dienste der Krankenversicherung (MDK)
           Ausgaben- und Einnahmeströme der Pflegeversi-          nach § 53a SGB XI sowie der Geschäftsstatistik
           cherung sowie das damit finanzierte Leistungs-         der Pflegeversicherung nach § 79 SGB IV mit er-
           geschehen erfasst werden sollen. Eine sozialwis-       hoben. Aber weder im zuletzt publizierten sta-
           senschaftliche Untersuchung des formellen und          tistischen und finanziellen Bericht zur sozialen
           informellen Pflegegeschehens darf diese Daten          Pflegeversicherung (BMG 2006) – die Statistiken
           nicht unkritisch verwenden, da in ihre Kon-            zur privaten Pflegeversicherung sind dort nicht
           struktion bereits politische Definitionen, soziale     mit erfasst – noch in den alljährlichen Pflege-
           Differenzen und insbesondere Genderstrukturen          berichten des Medizinischen Dienstes der Spit-
           mit einfließen – schon die fehlende amtliche Be-       zenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) sind
           richterstattungspflicht über pflegende Angehö-         Daten zur Situation der pflegenden Angehörigen
           rige, die ja überwiegend Frauen sind, ist Teil einer   zu finden. Auch der mittlerweile „Vierte Bericht
           Geschlechterordnung in der Praxis der Bericht-         über die Entwicklung der Pflegeversicherung“
           erstattung.                                            (BMG 2008a), der alle drei Jahre nach § 10 Absatz 4
                 Der § 109 des SGB XI ermächtigt die Bundes-      SGB XI vorgelegt werden muss, sowie der eben-
           regierung dazu, die Erhebung einer Bundessta-          falls dreijährlich vorzulegende 2. Bericht des MDS
           tistik mit Zustimmung des Bundesrates durch            nach § 118 Abs. 4 SGB XI zur „Qualität in der
           Rechtsverordnung anzuordnen. Diese Ermächti-           ambulanten und stationären Pflege“ (MDS 2007)
           gung umfasst „jährliche Erhebungen über ambu-          folgen einer Darstellungslogik, die zum einen auf
           lante und stationäre Pflegeeinrichtungen sowie         die versicherten Leistungsempfänger (Pflegebe-
           über die häusliche Pflege“ (Absatz 1) sowie „jähr-     dürftige) und auf die institutionellen Leistungs-
           liche Erhebungen über die Situation Pflegebedürf-      erbringer (ambulante, teil- und vollstationäre
           tiger und ehrenamtlich Pflegender“ (Absatz 2).         Einrichtungen) fokussiert. Im Mittelpunkt dieser
           Die auf dieser Basis im November 1999 erlassene        Berichte stehen die finanzielle, rechtliche und or-
           Pflegestatistik-Verordnung („Verordnung zur            ganisatorische Entwicklung der Pflegeversiche-
           Durchführung einer Bundesstatistik über Pflege-        rung und die Sicherstellung einer qualitativ zu-
           einrichtungen sowie über die häusliche Pflege“)        friedenstellenden Versorgung durch die professi-
           schränkt die Bundesstatistik auf eine alle zwei        onellen Leistungserbringer. In der Pflegestatistik
           Jahre vorzulegende Erhebung über Pflegeeinrich-        nach § 109 SGB XI wird die Pflege- und Sorge-
           tungen (ambulant, teil- und vollstationär) und         arbeit von Angehörigen nur indirekt über die
           Pflegegeldleistungen ein. Damit hat der Gesetz-        Statistik zu Pflegegeldleistungen abgebildet, und
           geber nur von Absatz 1 des § 109 SGB XI Ge-            selbst hier steht wiederum der Leistungen erhal-
           brauch gemacht (und auch hier mit zahlreichen          tende Versicherte und nicht die informelle Pfle-
           weiteren Einschränkungen), jedoch auf eine Er-         geperson, die die Pflegeleistung ganz oder teil-
           hebung über die Situation Pflegebedürftiger und        weise erbringt, im Mittelpunkt (vgl. Pflegestatistik
           ehrenamtlicher Pflegender (darin eingeschlossen        2005 in: Statistisches Bundesamt 2007). Über Art,
           die Angehörigen) völlig verzichtet. In der Be-         Umfang und Qualität der Pflege, die von Angehö-
           gründung zur Verordnung (Bundesratsdrucksa-            rigen und ehrenamtlichen Helfern geleistet wird,
           che Nr. 483/99 vom 27. August 1999) werden             und über deren Lebenssituation können aus den
           hierfür datenschutzrechtliche Gründe geltend           amtlichen Pflichtberichten keine Aussagen ab-
           gemacht, „obwohl der Bund auch ein hohes               geleitet werden.
           Interesse an epidemiologischen Daten über die                Die amtliche Statistik zur Pflege in Deutsch-
           Situation der Pflegebedürftigen (wie etwa nach         land ist also eindeutig auf die Pflegeversicherten,
           § 109 Abs. 2 SGB XI) sowie an Daten über in An-        darunter die Pflegebedürftigen als Leistungsemp-
           spruch genommene Leistungen, die Zahl der Leis-        fänger, und die ambulanten und stationären
           tungsempfänger oder die Beitragsentwicklung            Versorgungsträger zentriert und erfasst das Leis-
           hat“ (ebd.). Zwar werden einige dieser Daten auch      tungsgeschehen in sozialer, finanzieller und or-

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