Diskurs Gender in der Pfl ege Herausforderungen für die Politik - Frauen- und Geschlechterpolitik - Herausforderungen für die Politik
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August 2008 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Gender in der Pflege Herausforderungen für die Politik Arbeitsbereich Frauen- und Geschlechterpolitik 2020 1
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Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Gender in der Pflege Herausforderungen für die Politik Gertrud M. Backes Ludwig Amrhein Martina Wolfinger
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhalt Vorbemerkung 3 1. Einleitung 5 1.1 Begründung und Inhalt der Expertise 5 1.2 Grundlegende Argumentationslinien 6 2. Pflege/Care älterer Menschen in Deutschland 7 2.1 Demographische und andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen 7 2.2 Die Pflegeversicherung als gesetzlicher Rahmen 10 2.3 Daten zur Pflege älterer Menschen in Deutschland 13 2.4 Eckdaten zur Pflegebedürftigkeit in Deutschland 19 2.5 Fazit: Die Sorge- und Pflegearbeit in Deutschland und ihre Messung aus der Genderperspektive 21 3. Pflege und Sorge als geschlechtlich konnotierte Tätigkeiten 23 3.1 Bedeutungen von Geschlecht im Kontext von Pflege und Sorge 23 3.2 Bedeutungen von Sorge und Pflege 25 3.3 Genderbezogene Dichotomisierung und Hierarchisierung der Sorge 28 4. Private Sorge- und Pflegetätigkeit für ältere Menschen 32 4.1 Daten zur häuslichen Versorgung älterer Menschen 32 4.2 Umfang und Struktur der informellen Sorge- und Pflegearbeit 33 4.3 Problemfelder in der häuslichen Pflege älterer Menschen 43 4.4 Fazit: Geschlechterstrukturen in der häuslich-familiären Pflege älterer Menschen 46 5. Berufliche Sorge- und Pflegetätigkeit für ältere Menschen 48 5.1 Die ambulante und stationäre Versorgung älterer Menschen 48 5.2 Die berufliche Sorge- und Pflegearbeit von Frauen und Männern 49 5.3 Kompetenzentwicklung und Professionalisierung in der Altenpflege 51 5.4 Altenpflege als weiblich konnotierter Beruf 52 5.5 Belastungen und Konflikte der beruflich Pflegenden 53 5.6 Fazit: Die berufliche Pflege von Älteren als „gendered job“ 54 6. Fazit 55 6.1 Geschlechterstrukturen in der privaten und beruflichen Pflege älterer Menschen 55 6.2 Forschungslücken und Forschungsbedarf 57 6.3 Perspektiven einer „geschlechtersensiblen Altenpflege“ 57 Literatur 59 Informationen zu den Autorinnen und zum Autor 68 Die Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich- Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von den Autorinnen und dem Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 398 www.fes.de/wiso Gestaltung: pellens.de Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei Titelfoto: dpa ISBN: 978-3-89892-942-4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Vorbemerkung Als Konrad Adenauer in den 50er Jahren sagte: die sie privat und unbezahlt, in ehrenamtlicher „Kinder kriegen die Leute sowieso“ und mit die- Arbeit, aber auch in Schwarzarbeit, in semiprofes- sem Argument verhinderte, dass ein wesentlicher sioneller und in professioneller Weise verrichten. Teil gesellschaftlicher Sorgearbeit von Frauen in Die dominierende Form der heutigen Versorgung von die Sozialversicherung aufgenommen wurde, hat- Pflegebedürftigen ist die häusliche familiäre Betreu- te er sich bitter getäuscht. Heute ist bekannt, dass ung durch Frauen, die sich aber weder in der Sta- die gesellschaftliche Verantwortung für die Kin- tistik noch in der politischen Debatte widerspie- derbetreuung und auch die soziale Absicherung gelt. Die vorliegende Expertise bringt Licht in derer, die sie leisten, ein entscheidender Faktor dieses Dunkel. Sie zeigt auf: für die Geburtenrate ist. Der Teil der privaten und unbezahlten Sorgearbeit, nämlich die Sorgearbeit 1. Der Umfang der häuslichen Pflegearbeit wird für Kinder, ist als politisches Gestaltungsfeld er- im extremen Maße unterschätzt: kannt. Dem gegenüber wird ein anderer Teil der Die Daten über die Lebenssituation pflegender Arbeit, der ebenso privat und unbezahlt verrich- Angehöriger sind völlig unzureichend, das spie- tet wird, immer noch verdrängt: die Care-Arbeit gelt die gesellschaftliche Zuordnung zum pri- für pflegebedürftige alte Menschen. Sie gilt als vaten Raum wider, die privat pflegende Person Aufgabe der Familie und bleibt in ihrer konkreten wird amtlich unsichtbar gemacht. Dennoch weiß Form ein Tabu. man, dass sie im Durchschnitt 36,7 Wochenstun- In Zukunft wird es aber nicht weniger, son- den oder 5,2 Stunden am Tag pflegt. Der Umfang dern mehr Pflegebedürftige geben, darin sind sich dieser Pflegearbeit ist so groß, dass die Schaffung die Demographen einig. Angesichts dieser Ent- von 3,2 Millionen Erwerbsarbeitsplätzen in Vollzeit wicklung, aber auch der Veränderungen in den möglich wäre. Der Wert dieser Arbeit kann mit 44 Geschlechterverhältnissen und den wachsenden Milliarden Euro angesetzt werden, wenn man ein Anforderungen an Mobilität, wird die private mittleres Lohnniveau unterstellt. Die Absiche- Pflegearbeit in Zukunft nicht mehr so geleistet rung für diese Arbeit ist völlig unzureichend, werden können wie heute. So stellt sich sehr denn über die Pflegeversicherung werden pro Tag brennend die Frage, in welcher Form Menschen nur 0,5 bis 1,8 Stunden Pflegearbeit finanziert. in Zukunft gepflegt werden sollen. Um diese Fra- Das Verhältnis der privat Pflegenden zu den pro- ge geht es in dieser Expertise, die als Beitrag zum fessionell Pflegenden beträgt drei zu eins. Zukunftsprojekt 2020 der Friedrich-Ebert-Stiftung zu sehen ist. 2. Die geschlechtliche Ungleichheit zeigt sich bei Nur bei genauer Betrachtung der heutigen Pflegenden und bei Gepflegten: Realität im Pflegesektor können die richtigen Die Pflegenden sind überwiegend weiblich: Zwei Weichen für die Zukunft gestellt werden. Und zur Drittel der unbezahlten Pflegearbeiten werden von genauen Betrachtung gehört auch die Geschlech- Frauen, ein Drittel von Männern geleistet. 90 Pro- terfrage in der Pflege: Wo werden Polarisierungen zent der Pflegepersonen, die über die Pflegeversi- und Hierarchisierungen, also soziale Ungleich- cherung sozialversichert sind, sind Frauen. Der heiten über die Zuordnung zum Geschlecht her- Anteil der Männer an den Hauptpflegepersonen gestellt? Es ist bekannt, dass die heutige Arbeit im ist in den letzten Jahren allerdings gestiegen, Pflegesektor überwiegend Arbeit von Frauen ist, wenn auch die Männer eher Pflegemanagement- 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung aufgaben als direkte Pflegearbeiten übernehmen. heimatet sind. Sie wird den modernen Lebensent- Die gesellschaftliche Tabuisierung der weiblichen würfen von Frauen, aber auch von Männern, nicht Sorgearbeit für Pflegebedürftige führt dazu, dass gerecht. auch die „atypische“ Pflegeleistung der Männer gering geschätzt wird, sie sind aber in der Pflege 4. Professionelle Pflege ist durch Geschlechter- bereits eine quantitativ bedeutsame Minderheit. hierarchie gekennzeichnet: Aber auch im Blick auf die zu Pflegenden fallen Die Pflegearbeit selbst ist geschlechtsbezogen zu- Geschlechterdifferenzen und Ungleichheiten auf: geordnet: Die direkte Pflege des Körpers ist weib- Alte und hochaltrige Männer verfügen in der Regel lich, die Managementaufgaben in der Pflege sind über Partnerinnen, die sie pflegen, alten und hoch- männlich konnotiert und besetzt. Das Pflege- altrigen Frauen fehlt in der Regel dieser Partner, weil system gilt als weiblich und steht in der Anerken- er oft bereits verstorben ist. nung und der Bezahlung unter dem medizini- schen System. Typische Merkmale für die Diskri- 3. Die Pflegeversicherung stabilisiert die Ge- minierung von Frauenarbeit kennzeichnen das Feld: schlechterhierarchien: Unterbezahlter Qualifikationseinsatz bei extre- Die sozialpolitischen Regelungen zur Pflegearbeit mer Belastung, Teilzeitarbeit, prekäre Beschäfti- verstärken die Polarisierung und Hierarchisierung gung und die Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch im Geschlechterverhältnis. Das hier angewandte Migrantinnen. Männer in der Pflege erhalten eine Subsidiaritätsprinzip in der Pflege führt zu einer patriarchale Dividende, da sie häufiger in Füh- Verstärkung der geschlechtsbezogenen Macht- rungspositionen im Pflegebereich arbeiten. Schon und Ungleichheitsstrukturen im Feld der Alten- heute lässt sich ein eklatanter Mangel an Fach- pflege. kräften in diesem typischen Frauenberuf feststel- Die heutige Gestaltung der Pflegeversiche- len, und die gegenwärtige Anzahl der Auszubil- rung ist einem familiaristischen Bild verpflichtet, denden liegt weit unter dem absehbaren Bedarf. das dem männlichen Haupternährer und der Haus- Und diese Bedarfsberechnungen beziehen die frau und Mutter, später der weiblichen Haupt- notwendigen Verschiebungen von privater zu pflegeperson entspricht. Das durch die Pflegever- professioneller Arbeit noch nicht mit ein. sicherung gezahlte Pflegegeld hat nicht den Status Die hier vorgelegte Expertise soll ein erster von Entlohnung, gilt aber als Anreiz zur privaten Schritt zur Bewusstmachung und zur Sensibili- Pflegearbeit und ist damit dem von konservativer sierung sein: Geschlecht ist gegenwärtig immer Seite stark verteidigten Betreuungsgeld für die noch ein starker Faktor für die Zuordnung und private Kleinkinderziehung vergleichbar. Bewertung von Arbeit. Der schon jetzt wahr- Die Selbstverständlichkeit, mit der die Pflege nehmbare Wandel in den Geschlechterverhält- von Angehörigen als Frauenarbeit wahrgenom- nissen muss jedoch einen Wandel in der Gestal- men wird, nimmt real jedoch ab. Je höher der Bil- tung dieser Arbeit nach sich ziehen. Das ist eine dungsstand und der Berufsstatus ist, desto we- große Herausforderung für die Politik. niger wird die Verpflichtung zu einer längerfris- tigen Pflege von Verwandten akzeptiert. Wenn aber die Pflegeversicherung auf die häusliche Pfle- Dr. Barbara Stiegler gebereitschaft setzt, unterstützt sie die vormo- Leiterin Arbeitsbereich Frauen und dernen Lebensentwürfe, die eher in ländlichen Geschlechterpolitik Regionen und den unteren Sozialschichten be- Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 1. Einleitung 1.1 Begründung und Inhalt der Expertise der beruflichen – ambulanten wie stationären – Pflege. Wenn überhaupt, dann wird meistens nur Das Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG) der auf der sozialstatistischen Oberfläche nach Ge- Hochschule Vechta – Universität (Lehrstuhl Prof. schlecht differenziert (und selbst da nicht durch- Dr. Gertrud M. Backes) ist von der Friedrich-Ebert- gängig); grundlegende strukturelle Geschlechter- Stiftung mit einer Expertise zu Geschlechterstruk- differenzen, vor allem im Zusammenhang mit turen, insbesondere in der informellen, aber auch „Altern als gesellschaftlichem Problem“ (Backes in der formellen Pflege älterer Menschen in 1997), bleiben dagegen unterbelichtet (vgl. dage- Deutschland beauftragt worden. Eine Literatur- gen Backes 1992, 1993, 1994). Spezifische Aussa- und Internetrecherche hat zwar ergeben, dass es gen über Zusammenhänge zwischen Geschlecht, zur Pflege älterer Menschen im Allgemeinen eine Alter, Lebenslage und der Ausgestaltung bzw. den äußerst umfangreiche wissenschaftliche und so- Formen von Pflege und Pflegebedürftigkeit lassen zialpolitische Literatur (u.a. von Sozial- und Be- sich auf der Basis des vorhandenen Datenmate- rufsverbänden und Ministerien) gibt, jedoch nur rials nicht ohne Weiteres treffen. Kaum diskutiert wenige Studien zum Zusammenhang von (Alten-) wird, ob und wie Geschlechterhierarchien in der Pflege und Geschlecht. Lediglich acht von insge- Pflege entstehen, wie sie sich gestalten und durch samt 262 Veröffentlichungen, die in die Bestands- was sie gestützt, stabilisiert, verstärkt bzw. verän- aufnahme zur „Altenpflege in Deutschland“ (In- dert werden. Erste Ansätze zur Begründung einer formationszentrum Sozialwissenschaften 2003) „geschlechtersensiblen Altenpflege“ sind bisher eingeflossen sind, setzen sich explizit mit der Rol- nur von Backes (2005a) entwickelt worden. Wei- le von Geschlecht im Feld der Altenpflege ausein- tere Arbeiten in dieser Richtung sind erforderlich, ander. Vereinzelt finden sich Veröffentlichungen denn Pflege und Pflegebedürftigkeit werden ge- im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung schlechtsdifferenziert erlebt und Versorgungs- wie die Beiträge im Schwerpunktheft 2/3-2006 formen sind nach Geschlecht verschieden und der Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlech- ungleich über den Lebensverlauf hinweg verteilt. terstudien (Backes, Lasch 2006; Backes, Amrhein, Die geschlechtsspezifische Vergesellschaftung von Uhlmann 2006) oder die ins Deutsche übersetzte Männern und Frauen in der „Lebensphase Alter“ Monographie zu Geschlecht und Pflege von Miers (Backes, Clemens 2008) wirkt bis in die Gestal- (2001), die sich schwerpunktmäßig auf die beruf- tung der (Alten-)Pflege hinein und hat konkrete liche Kranken- bzw. Gesundheitspflege im eng- Folgen für Pflegende und Pflegeempfänger(innen). lischsprachigen Raum bezieht. Weiter gibt es erste Im Mittelpunkt der Expertise sollen daher Übersichtsarbeiten in der sozialwissenschaftlichen Fragen stehen, die sich mit der Pflege älterer Men- Alternswissenschaft (siehe u.a. Backes 2002, 2005a, schen als einer kontrovers bestimmten Tätigkeits- 2005b; Backes, Wolfinger, Amrhein 2008). form auseinandersetzen, die insbesondere von Zusammenfassend lässt sich der Forschungs- Frauen, zunehmend aber auch von Männern aus- und Diskussionsstand zur Verknüpfung von Ge- geübt wird und mit vergeschlechtlichten Konno- schlecht und Pflege im deutschsprachigen Raum tationen und Zuschreibungen versehen ist. Der als deskriptiv, nicht ausreichend tiefgründig und Bericht gliedert sich in sechs Kapitel. Nach dieser von blinden Flecken geprägt beschreiben. Dies Einleitung und einer kurzen Skizze der grund- betrifft sowohl die Untersuchung von Geschlech- legenden Argumentationslinien (Kap. 1) werden terverhältnissen in der privaten Pflege als auch in die demographischen, gesellschaftlichen und 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung rechtlichen Rahmenbedingungen der Pflege- und 2. Die Geschlechterverhältnisse in der Pflege Sorgearbeit (Care) für ältere Menschen mit ihren sind wie in anderen gesellschaftlichen Berei- familien- und genderpolitischen Auswirkungen chen hierarchisch strukturiert, was von ver- diskutiert. Neben einer Genderanalyse der Konse- schiedenen Autor(inn)en als „hierarchische quenzen der Pflegeversicherung für pflegende Fa- Komplementarität“ (Backes 1999), „hegemo- milienmitglieder sollen auch die existierenden niale Männlichkeit“ und „patriarchale Divi- amtlichen und sozialwissenschaftlichen Daten- dende“ (Connell 1995) oder „männliche Herr- quellen kritisch hinsichtlich der darin eingela- schaft“ (Bourdieu 2005) bezeichnet wurde. gerten Gender- und Care-Modelle betrachtet wer- 3. Hierarchische Geschlechterstrukturen verbin- den. Danach folgt ein knapper sozialstatistischer den sich mit anderen z.B. beruflichen (recht- Überblick über die Hilfs- und Pflegebedürftigkeit liche und symbolische Herrschaft von Berufs- in Deutschland (Kap. 2). Die Modellvorstellungen gruppen) und sozialen Hierarchien und füh- hinsichtlich des Zusammenhangs von „Gender“ ren zu geschlechtsspezifischen Mustern der mit „Care/Pflege“ werden im Folgenden genauer Kumulation bzw. Kombination von Bevor- untersucht und in die Kontexte der Frauen- und und Benachteiligungen. Geschlechterforschung, der angloamerikanischen 4. Diese Geschlechterstrukturen werden im be- und deutschen Care-Debatte sowie der Diskus- ruflichen wie familiär-häuslichen Bereich im sion zu wohlfahrtsstaatlichen Gender- und Care- Lebensverlauf reproduziert und schlagen sich Regimen gestellt (Kap. 3). Auf dieser konzeptio- in einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwi- nellen Basis werden dann die wichtigsten Daten schen den Geschlechtern („Geschlechterver- und Erkenntnisse insbesondere zur informell- hältnisse“) und damit verbundenen ge- familiären, aber auch zur formell-beruflichen schlechtsvermittelten Lebenslagen nieder. Pflege- und Sorgearbeit für ältere Menschen prä- 5. „Care“ als Sorge- und Pflegearbeit für ältere sentiert und genderkritisch interpretiert (Kap. 4 Menschen ist eine geschlechtsvermittelte Tä- und 5), bevor ein Fazit zu Geschlechterstrukturen tigkeitsform, d.h. die Definitionen und Be- in der Pflege gezogen wird (Kap. 6). wertungen der Care-Arbeit erfolgen über in- teraktiv, institutionell und gesellschaftlich hergestellte Geschlechtszuschreibungen und 1.2 Grundlegende Argumentationslinien -darstellungen. 6. Geschlechterstrukturen in der Pflege sind Der folgende Bericht zur formellen und infor- nicht nur ein Resultat von bewussten Aus- mellen Pflege- und Sorgearbeit für ältere Men- handlungs- und Definitionsprozessen, sondern schen konzentriert sich auf die in dieses Feld ein- entstehen auch als ungeplante und nicht-in- gelassenen Geschlechterstrukturen. In der Ana- tendierte Folgen von sozialen Prozessen und lyse haben sich zentrale Argumentationslinien von unbewußt-habitualisierten Verhaltens- herauskristallisiert, die vorab als Erkenntnis lei- weisen. tende Thesen vorgestellt werden. 7. Die Sorge- und Pflegearbeit in Deutschland 1. In der formellen und informellen Care-Arbeit findet in androzentrischen Lebenslauf-, Kar- besteht eine grundlegende Struktur der primä- riere- und Berufsstrukturen statt, die zur Dis- ren Zuweisung der Arbeit an Frauen und se- kriminierung von „abweichenden“ weiblichen kundären an Männer, die Ausdruck der hierar- und nicht dem androzentrischen Modell fol- chischen geschlechterspezifischen Arbeitstei- genden männlichen Arbeits- und Lebenszu- lung in unserer Gesellschaft sowie entspre- sammenhängen führen. chender institutioneller Strukturen, Interak- tions-, Handlungs- bis hin zu Motivations- strukturen ist. 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 2. Pflege/Care älterer Menschen in Deutschland Die Pflege- und Sorgearbeit für ältere Menschen schen an der Gesamtbevölkerung von ca. 25% in Deutschland ist ein wichtiger Teil der Heraus- (2005) auf ca. 36% im Jahr 2030. Nach der Ster- forderungen, die sich als Folge des allgemeinen betafel 2002/2004 hat ein neugeborener Junge Strukturwandels der Gesellschaft, in die der so- eine Lebenserwartung von 75,9 Jahren, ein neu- ziale und demographische Strukturwandel des geborenes Mädchen entsprechend von 81,5 Jah- Alter(n)s als Teilprozess eingebettet ist, ergeben ren. Die fernere Lebenserwartung im Alter von haben (vgl. Backes 1997). In diesem Kapitel soll 60 Jahren beträgt für Männer 20,0 Jahre, für daher zunächst der gesellschaftliche, rechtliche Frauen 24,1 Jahre. Frauen haben also im Vergleich und institutionelle Kontext skizziert werden, der zu Männern weiterhin eine höhere Lebenserwar- die von Frauen und Männern geleistete Pflege- tung. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit ist stark und Sorgearbeit strukturell prägt. Anschließend altersabhängig und unterscheidet die Gruppe der werden grundlegende Fakten zur Pflege und Ver- „jungen Alten“ (ca. 60-80) von den „alten Alten“ sorgung älterer Menschen in Deutschland vor- (ab 80): Während das Risiko der Pflegebedürftig- gestellt, die als Basis dienen für die Auseinander- keit vor dem 60. Lebensjahr bei lediglich ca. 0,6% setzung über die Geschlechterdifferenzen und liegt, beträgt es zwischen dem 60. und 80. Le- -ungleichheiten, die in diesen Pflege- und Ver- bensjahr moderate 3,9%, nach dem 80. Lebens- sorgungsstrukturen eingelassen sind. Dabei kann jahr dagegen beträchtliche 28,3%. Bei einer kon- gezeigt werden, dass nicht nur die rechtlich-insti- stant bleibenden altersspezifischen Pflegewahr- tutionellen Regelungen der Pflegeversicherung, scheinlichkeit prognostiziert das Statistische Bun- sondern schon die amtliche und sozialwissen- desamt eine Zunahme der Pflegebedürftigen in schaftliche Erfassung von Pflege- und Sorgetätig- der Pflegeversicherung in den nächsten dreißig keiten einen „gender bias“ aufweisen, d.h. sozial Jahren um ca. die Hälfte, von 1,97 Mio. (2006) ungleich nach Geschlecht strukturiert sind. über 2,13 Mio. (2010) und 2,64 Mio. (2020) auf 3,09 Mio. pflegebedürftige Personen im Jahr 2030. Allerdings bietet diese aktuelle Kurzüber- 2.1 Demographische und andere sicht des BMG keine weitere Aufgliederung der gesellschaftliche Rahmenbedingungen Pflegebedürftigen nach Geschlecht, verdeutlicht aber an anderer Stelle die hohe Bedeutung von In einem PDF-Papier stellt das Bundesgesund- Frauen für die häuslich-familiäre Pflege: Dem- heitsministerium aktuelle „Zahlen und Fakten nach beträgt der Frauenanteil an den pflichtversi- zur Pflegeversicherung“ (BMG 2008b) zur Verfü- cherten Pflegepersonen in der gesetzlichen Ren- gung, die auch Daten zur Bevölkerungsentwick- tenversicherung über 90%, d.h. so hoch ist die lung in Deutschland enthalten. Als Basis diente Frauenquote derjenigen häuslich-familiären Pfle- die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausschät- gepersonen, die nicht mehr als 30 Stunden wö- zung des Statistischen Bundesamtes (2006), wo- chentlich erwerbstätig sind und mindestens 14 bei die mittlere Variante und ein Wanderungs- Stunden pro Woche einen Pflegebedürftigen der saldo von 200.000 zugrunde gelegt wurden. Die Stufe 1 oder höher versorgen und – gestaffelt Zahl der älteren Menschen (60 Jahre und älter) nach Pflegestufe und zeitlichem Aufwand – Bei- betrug im Jahr 2005 ca. 20,5 Millionen und wird träge an die gesetzliche Rentenversicherung ge- bis zum Jahr 2030 auf ca. 28,5 Mio. Menschen zahlt bekommen. ansteigen; analog wächst der Anteil älterer Men- 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Hans-Peter Tews (1993; ebenso 1999) hat die weiblich dominierten Arbeits- und Lebensräu- gesellschaftlichen Begleiterscheinungen des de- men von Altenhilfe- und Altenpflegeeinrich- mographischen Wandels, der spätestens seit Mit- tungen darstellen, würden sie dort Tews zufolge te der 1980er Jahre in allen westeuropäischen auch qualitativ benachteiligt. Dies zeige sich in Industriegesellschaften zu beobachten ist, zu- der stationären Altenpflege beispielsweise in ei- sammenfassend als „Strukturwandel des Alters“ ner mangelnden Berücksichtigung ihrer ge- bezeichnet. Das „dreifache Altern“ – d.h. die Zu- schlechtsspezifischen Betreuungs- und Freizeitbe- nahme älterer Menschen in absoluten Zahlen dürfnisse. Für diese Behauptung, die Tews aus den und relativen Anteilen sowie die Zunahme der quantitativen Relationen heraus evident zu sein Hochaltrigkeit – bildet für Tews die demographi- scheint, bleibt er allerdings einen sozialwissen- sche Determinante für quantitative und quali- schaftlichen Beleg schuldig; genauso plausibel tative Veränderungen in vielen gesellschaftlichen könnte man von der relativen Seltenheit der Teilbereichen, die er prägnant als Verjüngung, Männer auf ihre Bevorzugung schließen. Die Entberuflichung, Feminisierung und Singulari- Ergebnisse der ethnologischen Einzelfallstudie sierung des Alters charakterisiert. Tews hat damit „Fremde Welt Pflegeheim“ von Koch-Straube Stichworte geliefert, die sich in der sozialgeron- (1997) weisen z.B. darauf hin, dass das Pflegeheim tologischen Forschung etabliert haben und zur zwar tatsächlich eine „Welt der Frauen“ ist, in der überblicksartigen Beschreibung des demographi- aber die klassische familiär-häusliche Rollenver- schen Wandels genutzt werden. Problematisch ist teilung von versorgenden Frauen und umsorgten allerdings seine These der „Feminisierung des Männern reproduziert wird. Alters“ – sie folgt einer androzentrischen Logik, Eine weitere Begründung für Tews, von der weil hier Frauen implizit als ein von männlichen Feminisierung des Alters zu sprechen, ist der für Normalitätsstandards „abweichendes Geschlecht“ heute alte Kohorten empirisch durchaus evidente thematisiert werden. Einige seiner Argumente und für künftige – wenn auch in differenzierterer sollen im Folgenden kritisch dargestellt werden, Ausprägung zu erwartende – Tatbestand, dass so- und zwar als Beispiel für die Rolle der Geronto- ziale Probleme im Alter überwiegend „weiblich“, logie als Mitproduzentin androzentrischer Sicht- d.h. zumeist Probleme von Frauen sind: Alte weisen auf Alter und Altern (vgl. Calasanti 2004, Frauen sind überproportional stark von Armut Backes 2006b). und schlechten Wohnbedingungen betroffen, da Tews (1993, 1999) schließt in seiner Struktur- sie typischen, kumulativ wirkenden Benachteili- wandelthese von quantitativ-demographischen gungen im Lebenslauf ausgesetzt sind. Vor allem Unterschieden zwischen älteren Frauen und Män- aufgrund ihrer meist diskontinuierlichen Er- nern auf qualitative soziale Geschlechterverhält- werbs- und Bildungsbiographien (Unterbrechung nisse und -ungleichheiten. Die „Feminisierung durch Kinder, Hausfrauendasein, niedrigere For- des Alters“ zeige sich zunächst darin, dass mit malbildung) bzw. nicht qualifikationsadäquaten steigendem Alter der Frauenanteil in den jewei- Beschäftigungsformen konnten (werden) sie (ver- ligen Altersgruppen immer stärker anwächst, mutlich) weitaus geringere Rentenansprüche als wobei ältere und alte Frauen in jeder Altersgrup- Männer aufbauen, was vor allem für alleingeblie- pe eine höhere Morbidität aufweisen als die bene Witwen und geschiedene Frauen ein Ar- Männer, insbesondere im hohen Alter jenseits mutsrisiko im Alter darstellt. Sie sind stärker von der 80 Jahre. Ältere Frauen nehmen nach Tews gesundheitlichen Einbussen betroffen, müssen darüber hinaus häufiger an Angeboten der of- damit im sehr hohen Alter weitgehend allein fenen Altenhilfe (z.B. Bildungsveranstaltungen) zurechtkommen und sind bei Hilfe und Pflege teil, übernehmen hauptsächlich die Pflegearbeit eher auf Unterstützung durch Dritte angewiesen (familiär wie beruflich) und stellen das größte (vgl. Backes 2007; Perrig-Chiello 2008; Backes, Kontingent an ambulant und stationär versorg- Amrhein, Lasch, Reimann 2006). Allerdings legt ten Pflegebedürftigen dar (siehe Kapitel 2.2). Da der so begründete Begriff der „Feminisierung“ des Männer eine quantitative Minderheit in den Alters die Bedeutungsgleichsetzung von Alter mit 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs sozialen Problemen nahe und ist insofern pro- sätzlich auch meistens einige Jahre jünger sind. blematisch einzuschätzen. Ebenfalls als „Femini- So waren 2006 bereits 46% der 70-84jährigen sierung“ wird der verrentungs- bzw. pensionie- Frauen und sogar 76% der mindestens 85jährigen rungsbedingte Wechsel von Männern aus der Frauen verwitwet, während lediglich 15% der männerdominierten öffentlichen Erwerbs- und 70-84jährigen Männer und immer noch eine Min- Berufssphäre in die frauendominierte private derheit von 44% der 85 Jahre und älteren Männer Haushalts- und Familiensphäre gedeutet, so z.B. Witwer waren (Statistisches Bundesamt, zit. nach von Kohli (1990). Als Folge dieser „strukturellen Hoffmann und Nachtmann 2008, S. 12). Während Feminisierung“ glichen sich im Alter die psychi- also alte und hochaltrige Männer mehrheitlich schen Eigenschaften von Frauen und Männern über Partnerinnen verfügen, die sich im Risikofall zunehmend aneinander an, was Kohli im An- der Pflegebedürftigkeit um sie kümmern können, schluss an Guttman als Prozess der „Androgyni- gilt das für Frauen nicht: Ihre Pflege und Versor- sierung“ alter Frauen und Männer bezeichnet. gung muss dann mehrheitlich über andere Fami- Männer entwickelten demnach „weibliche“ Ei- lienmitglieder und/oder professionelle Pflegeper- genschaften und Fähigkeiten, zumindest als weib- sonen sichergestellt werden. lich konnotierte Verhaltensweisen, aufgrund ihres Die steigende Lebenserwartung und die Ver- Wechsels in den „weiblich“ geprägten privaten längerung der Ruhestandsphase verändern aber Raum, woraus auch auf eine „androgyne“ Anglei- nicht nur das individuelle Leben im Alter, son- chung von Geschlechtsrollen und einer zuneh- dern auch die Strukturen der Gesellschaft insge- mend von Männern geleisteten Angehörigen- samt. Nach Backes (1997) hat sich die Alters- pflege geschlossen werden könne. Auch diese Ar- thematik im Laufe der letzten eineinhalb Jahr- gumentation übersieht die Möglichkeit, dass Ge- hunderte von einem individuellen und sozial schlechterstrukturen und geschlechterspezifische abgrenzbaren Problem zu einem gesamtgesell- Verhaltensweisen im Alter sich zwar verändern schaftlichen Problem entwickelt, das heute alle können, ohne dass aber die „hierarchische Kom- Teilbereiche der Gesellschaft – von der Ökonomie plementarität“ der Geschlechterverhältnisse und und Politik über Familie und Verwandtschaft bis der damit einhergehenden Lebenslagechancen hin zu Freizeit, Bildung und Kultur – erreicht hat. (Backes 1999, 2007) grundlegend durchbrochen Die tradierten Institutionen, allen voran die so- würde. zialen Sicherungssysteme, sind – so Backes – mit Ein weiteres Risiko für das privat-familiäre ihren bisherigen Mitteln immer weniger dazu Pflegepotenzial stellt die von Tews (1993) be- geeignet, die Ziele materielle Sicherung, Teilhabe schriebene „Singularisierung“ dar: Die Wahr- am gesellschaftlichen Leben und individuelle scheinlichkeit, ein unfreiwilliges „Singledasein“ Entfaltungsfreiheit im Alter erreichbar zu ma- führen zu müssen, erhöht sich mit zunehmendem chen, so dass neue Lösungen für die „Vergesell- Lebensalter durch Verwitwung oder Trennung schaftung des Alters“ (ebd.) gefunden werden bzw. Scheidung. Dies sei mit einer Tendenz zur müssen. Angesichts der existierenden Geschlech- „Entfamilialisierung“ und sozialen Isolierung ver- terstrukturen können diese Lösungen nicht ge- bunden: Verwandtschafts- und Kontaktnetze des schlechtsindifferent sein, sondern müssen „ge- gestorbenen Ehepartners entfallen, ältere bzw. schlechtersensibel“ formuliert werden, wie Backes gleichaltrige Familienmitglieder und Freunde (2005) am Beispiel der Altenpflege aufzeigt. sterben, und soziale Kontakte sind bei Krank- Diese „normative und instrumentelle Unbe- heiten und Behinderungen schwerer aufrecht zu stimmtheit des gesellschaftlichen Umgangs mit erhalten. Diese Singularisierung ist wiederum Alter(n)“ (Backes 1997) gilt auch für die bishe- hauptsächlich ein Phänomen von Frauen, die rigen Strukturen der Altenpflege und -hilfe, die wesentlich häufiger als Männer von Verwitwung angesichts des gesellschaftlichen und demogra- betroffen sind – Frauen überleben ihre Männer phischen Wandels an die Grenzen ihrer Leis- nicht nur, weil sie eine höhere Lebenserwartung tungsfähigkeit gelangt sind. In ihrer umfassenden haben, sondern weil sie in Partnerschaften zu- Monographie zu „Pflegebedürftigkeit im Alter“ 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung nennt Beate Röttger-Liepmann (2007) drei Ursa- hilfe hinausgeht (vgl. dazu den Abschlussbericht chen für die Krise in der Versorgung älterer Men- der Enquete-Kommission „Situation und Zukunft schen: Die demographische Entwicklung, die den der Pflege in NRW“ von 2005, S. 441–493; ebenso Generationenvertrag verändere, die Gefährdung Röttger-Liepmann 2006, S. 160–171 und Dibe- der sozialen Sicherungssysteme und die Tatsache, lius, Uzarewicz 2006, S. 25–35). Seit dem 1. April dass die Träger der Versorgung sich bisher nicht 1995 werden Leistungen für die häusliche Pflege auf den strukturellen Wandel eingestellt hätten gewährt, seit dem 1. Juli 1996 auch für die dauer- (ebd., S. 15). Ihre Befunde ordnet die Autorin in hafte Pflege in stationären Einrichtungen. Damit ein gesamtgesellschaftliches Bedingungsgefüge stellt das SGB XI in Verbindung mit weiteren ein, das von der Bevölkerungsentwicklung ein- pflegerelevanten Regelungen des Sozialgesetzbu- schließlich der Alters- und Morbiditätsstruktur, ches (insbesondere zur Krankenversicherung im der staatlichen Altenhilfe- und Sozialpolitik mit SGB V und zur Sozialhilfe im SGB XII) die leis- ihren ambulanten und stationären Versorgungs- tungsrechtliche Grundlage für die in Deutschland strukturen sowie der Rolle der Familien mit ihren geleistete Pflegearbeit dar. Das SGB XI ist nicht abnehmenden Pflegepotenzialen (als Folge von nur deshalb so bedeutsam, weil es die Finanzie- Singularisierung und Frauenerwerbstätigkeit) be- rung von Pflegeleistungen regelt, sondern weil es stimmt wird. Aus diesen Faktoren ergeben sich darüber hinaus institutionelle Verantwortlichkei- die Anzahl der Pflegebedürftigen und Pflegeper- ten für die Leistungserbringung zuschreibt und sonen und die Rolle der ambulanten und statio- einen spezifischen Begriff von Hilfs- und Pflege- nären Versorgung (ebd., S. 14). bedürftigkeit rechtlich durchgesetzt hat. Insbe- sondere die eng an spezifische körperliche Ver- richtungen orientierte Definition von Pflegebe- 2.2 Die Pflegeversicherung als dürftigkeit hat massive Kritik hervorgerufen, da gesetzlicher Rahmen mit ihr psychosoziale Betreuungsleistungen, wie sie insbesondere für Demenzkranke nötig sind, 2.2.1 Von der Einführung der Pflegeversiche- nicht erfasst werden können. Das SGB XI be- rung bis zur Pflegereform 2008 stimmt Pflegebedürftigkeit wie folgt: „Pflegebedürftig sind Personen, die wegen Nach über zwanzigjähriger Diskussion verabschie- einer körperlichen, geistigen oder seelischen deten der Deutsche Bundestag und Bundesrat im Krankheit oder Behinderung für die gewöhn- Jahr 1994 das Gesetz zur sozialen Absicherung lichen und wiederkehrenden Verrichtungen im des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Zunächst soll Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraus- ein Abriss über zentrale Einzelregelungen gege- sichtlich für mindestens sechs Monate, in erheb- ben werden, der insbesondere die Situation in der lichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.“ häuslich-familiären Pflege berücksichtigt und auf Das SGB XI sieht drei verschiedene Pflege- die aktuellen Änderungen im Rahmen der soge- stufen vor, nach denen die Sach- und Geldleis- nannten „Pflegereform“ eingeht. Im folgenden tungen für die ambulante oder stationäre Versor- Teilkapitel werden dann geschlechter- und fami- gung gestaffelt gewährt werden. Je nach Häufig- lienpolitische Konsequenzen der Pflegeversiche- keit und Umfang der Hilfeleistung, die jemand rung diskutiert. hinsichtlich Körperpflege, Ernährung, Mobilität Mit dem „Pflegeversicherungsgesetz“ (Pflege- und hauswirtschaftliche Versorgung benötigt, er- VG) wurde das SGB XI geschaffen, das am 1. Ja- folgt eine Einstufung in Pflegestufe I (erheblich nuar 1995 in Kraft trat. Die Pflegeversicherung Pflegebedürftige), Pflegestufe II (Schwerpflege- wurde als gesetzliche Pflichtversicherung im bedürftige) oder Pflegestufe III (Schwerstpflege- Umlageverfahren eingerichtet und soll eine ein- bedürftige). Personen, deren Bedarfe unter- oder kommensunabhängige Grundversorgung für die außerhalb dieser, an der zeitlichen Dauer von Abdeckung von pflegebedingten Aufwendungen körperbezogenen Verrichtungen orientierten sicherstellen, die über die Leistungen der Sozial- Festlegungen liegen (umgangssprachlich „Pflege- 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs stufe 0“), sind auf Leistungen der Sozialhilfe derlosen Personen von 1,95% auf 2,2%. Eine be- angewiesen, falls ihr eigenes Einkommen oder deutende Verbesserung im ambulanten Bereich Vermögen nicht ausreichend ist. Hier sind vor gibt es für Menschen mit eingeschränkter Alltags- allem die einkommensabhängigen Regelungen kompetenz. Für den psychosozialen Betreuungs- der „Hilfe zur Pflege“ (§ 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) bedarf insbesondere von Demenzkranken ohne und der „Grundsicherung im Alter und bei Er- Pflegestufe wird zum 1. Juli 2008 der Betreuungs- werbsminderung“ (§§ 41 ff. SGB XII) zu nennen. betrag von jährlich 460 € auf jährlich 1.200 € Mit dem Pflegeleistungsergänzungsgesetz vom (Grundbetrag) bzw. 2.400 € (erhöhter Betrag) an- 1. Januar 2002 sollten auch die psychosozialen gehoben, wobei erstmalig auch die Pflegebe- Betreuungsbedarfe von häuslich gepflegten, ins- dürftigen der „Pflegestufe 0“ (chronisch Erkrank- besondere demenzkranken Personen, finanziell te) in den Leistungserhalt mit einbezogen wer- unterstützt werden. Allerdings konnte dieses den. Mit diesem monatlichen Betreuungsbetrag Gesetz nur ein „Tropfen auf dem heißen Stein“ von 100 € bis 200 € führt die Pflegereform 2008 sein, da mit dem vorgesehenen Betreuungsbei- faktisch eine neue Pflegestufe ein, die auch die trag von 460 € pro Jahr (das sind lediglich 1,26 € psychosozialen sowie die zeitlich geringfügigeren pro Tag) die mehrheitlich weiblichen Pflegeper- körperbezogenen Sorge- und Pflegetätigkeiten sonen kaum entlastet werden konnten und para- von pflegenden Familienangehörigen berück- doxerweise Pflegebedürftige der „Pflegestufe 0“ sichtigt. Zudem wird der Zugang zu Leistungen von diesen Leistungen ausgeschlossen waren der Pflegeversicherung beschleunigt, indem die (Dibelius, Uzarewicz 2006, S. 31 f.). Vorversicherungszeit von 5 auf 2 Jahre verkürzt Das nach längerer Verzögerung im März wird und die Frist, innerhalb der ein Antrag auf 2008 verabschiedete und zum 1. Juli 2008 in Kraft Pflegebedürftigkeit begutachtet und entschieden tretende „Pflege-Weiterentwicklungsgesetz“ (sie- werden muss, höchstens fünf Wochen (in beson- he zum Folgenden BMG 2008c) soll eine Vielzahl deren Fällen nur eine Woche) betragen darf. dieser von Fachleuten kritisierten Systemfehler der Neue Erleichterungen für berufstätige Ange- Pflegeversicherung korrigieren (siehe Enquete- hörige sollen mit dem Anspruch auf „Pflegezeit“– Kommission NRW 2005, S. 461–470) und eine eine bis zu sechsmonatige Freistellung von der finanzielle und organisatorische Entlastung der Arbeit für Pflegearbeit – und mit dem Anspruch Situation von Pflegebedürftigen, ihrer Angehö- auf eine kurzfristige Freistellung für bis zu 10 Ar- rigen und der Pflegenden mit sich bringen. Zu- beitstagen bei akut auftretenden Pflegesituatio- nächst werden die ambulanten Sachleistungsbe- nen geschaffen werden. In beiden Fällen wird das träge und das Pflegegeld in allen Stufen I bis III Gehalt der pflegenden Angehörigen zwar nicht sowie die stationären Sachleistungen in den Stu- weiterbezahlt, sie bleiben aber weiterhin sozial- fen III und III+ schrittweise bis 2012 angehoben. versichert; allerdings nicht mehr über den Arbeit- Allerdings handelt es sich dabei um eher gering- geber, sondern über die Pflegekassen (Arbeitslo- fügige Erhöhungen, die wohl kaum die bisherigen sen- und Rentenversicherung) und in der Regel Kostensteigerungen kompensieren können (so über die Familienversicherung (Kranken- und betragen je nach Pflegestufe die Erhöhung des Pflegeversicherung). Neben einer Vielzahl organi- Pflegegelds zwischen 30 bis 35 € im Monat und satorisch-institutioneller Regelungen, die die der ambulanten Sachleistungen zwischen 66 und (teil-)stationären Einrichtungen und Leistungs- 118 € im Monat). Ab 2015 ist eine an die Preis- träger betreffen und sich auf Fragen der Finan- entwicklung angepasste Dynamisierung dieser zierung, Qualitätssicherung und Entbürokrati- Leistungen im dreijährigen Rhythmus vorge- sierung beziehen, sollen auch die Angehörigen schrieben, ohne dass jedoch eine Berechnungs- und Betroffenen organisatorisch unterstützt wer- formel für die Höhe der Anpassungen angegeben den. Hierzu trägt vor allem der ab dem 1. Januar wird. Zur Gegenfinanzierung werden die Beitrags- 2009 gesetzlich verankerte Anspruch auf eine sätze zur Pflegeversicherung ab 1. Juli 2008 um umfassende und individualisierte Pflegeberatung 0,25% erhöht, von 1,7% auf 1,95% bzw. bei kin- bei, welche die Pflegekassen für die pflegebe- 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung dürftigen Versicherten und ihre Angehörigen letzte Weg sein, wenn eine Pflege im vertrauten bereitstellen müssen (Fallmanagement). Speziell häuslichen Umfeld und mit Mitwirkung von qualifizierte Pflegeberater(innen) bzw. Fallmana- Familienangehörigen, nahestehenden Personen ger(innen) sollen die Versicherten und ihre An- und ehrenamtlich Tätigen nicht mehr möglich gehörigen bei allen Schritten der Antragstellung, ist. Diese sozialpolitische Grundsatzentschei- der Pflegeorganisation und der Auswahl von Pfle- dung, die im Sinne des sozialethischen Subsi- gediensten und Pflegeeinrichtungen beraten und diaritätsprinzips die Erstverantwortung für die unterstützen und sich um alle dabei anfallenden Pflege alter Menschen an die Familie delegiert, Formalien kümmern (individuelle Versorgungs- wirkt sich eher erhaltend oder gar verstärkend auf planung). Sofern ein entsprechender Beschluss die geschlechtsbezogenen Macht- und Ungleich- eines Bundeslandes vorliegt, wird dieses Fallma- heitsstrukturen im Feld der Altenpflege aus und nagement organisatorisch eingegliedert in neu zu hat entsprechende Konsequenzen für Pflegende schaffende und vom Bund geförderte regionale und Pflegebedürftige. „Pflegestützpunkte“. Damit sollen zentrale und Die Höhe des Pflegegeldes, das grundsätzlich wohnortnahe Anlaufstellen für die Pflegebedürf- an den Pflegebedürftigen ausgezahlt wird, erfüllt tigen und ihre Angehörigen geschaffen werden, mit Blick auf den Zeitaufwand und die physischen die sich um die bürokratischen Aspekte der Pflege und psychischen Belastungen der Hauptpflege- und ihrer Organisation kümmern sollen. person nicht den Status einer Entlohnung und kann daher keine adäquate Kompensation für 2.2.2 Gender- und familienpolitische den teilweisen oder vollständigen Verzicht auf Konsequenzen der Pflegeversicherung eine berufliche Tätigkeit sein. Rentenversiche- rungsbeiträge, die nur für Pflegepersonen mit Da die Regelungen der „Pflegereform 2008“ erst einer reduzierten Berufstätigkeit von maximal 30 zum 1. Juli 2008 in Kraft treten, können ihre Aus- Wochenstunden und einer Pflegetätigkeit von wirkungen auf die in Deutschland geleistete mindestens 14 Wochenstunden bezahlt werden, Sorge- und Pflegearbeit für ältere Frauen und wie auch der „Pflegeurlaub“ und die neue Mög- Männer nur abgeschätzt werden. Davon unbe- lichkeit zur zeitlich befristeten Freistellung von rührt bleiben zentrale Grundsätze der Pflegever- der Arbeit („Pflegezeit“) fördern die Teilzeitarbeit sicherung, die wichtige strukturelle Weichen für bzw. den zeitweiligen oder vollständigen Ausstieg die organisatorische und institutionelle Zuschrei- aus der beruflichen Tätigkeit der Pflegeperson. bung von Pflegeverantwortung gestellt haben Dabei wird die Geschlechterspezifik der Über- und einige wichtige geschlechter- und familien- nahme von Pflegeverantwortung, der Vereinbar- politische Folgen aufweisen, die im Folgenden keit von Beruf und Pflege und der Gesundheits- erläutert werden. und Altersvorsorge der Pflegenden nicht ausrei- Die Verabschiedung der über Sozialversiche- chend beachtet – schließlich sind es die Frauen, rungsbeiträge finanzierten Pflegeversicherung die mehrheitlich die Hauptpflegeverantwortung (SGB XI) übertrug die gesellschaftliche Verantwor- tragen und damit primär von diesen Regelungen tung für die Pflege älterer Menschen zunächst auf betroffen sind; auch scheinen die bestehenden die Solidargemeinschaft. Gleichzeitig wurden die Strukturen nicht förderlich für die hauptverant- Leistungen des SGB XI im Sinne einer Teilkasko- wortliche Pflegeübernahme durch berufstätige versicherung begrenzt, d.h. es ist bei jeder Ver- Männer zu sein. Hinter familienpolitischen Zie- sorgungsform zusätzlich zur Sicherstellung der len verstecken sich also genderpolitisch relevante Grundversorgung stets ein Eigenanteil zu erbrin- Zuweisungen: gen. Dabei genießt die ambulante und häusliche „Wenn im politischen Diskurs über die häus- Pflege einen Vorrang vor der teilstationären, die liche Pflege stets die Familie als Leistungsträger wiederum der stationären Versorgung vorrangig im Vordergrund steht, so ist doch auch deutlich, ist. Die Unterbringung in ein Alten- und Pflege- dass der Gesetzgeber insbesondere Frauen als pri- heim soll nach Absicht des Gesetzgebers nur der vat Pflegende im Auge hatte. Durch Aufwertung 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs der informellen häuslichen Pflege mittels der ge- 2.3 Daten zur Pflege älterer Menschen setzlichen Veränderungen sollten diese motiviert in Deutschland werden, sich weiterhin diesen Aufgaben zu wid- men.“ (Kreutzner 2006, S. 31) Bevor grundlegende Eckdaten zur Hilfs- und Pfle- Bisher gibt es – abgesehen vom Qualitäts- gebedürftigkeit in Deutschland präsentiert wer- sicherungsbesuch in der häuslich-ambulanten den, stellt sich zunächst die Frage, welche Daten- Versorgung – keine institutionellen Angebote, die grundlagen es für einen statistischen Überblick eine bewusste Planung und Entscheidung für eine zur Pflege in Deutschland gibt, welche Defini- Versorgungsform bzw. eine regelmäßige Über- tionen zugrunde gelegt werden und wie und ob prüfung der Vereinbarkeit von Pflege, Beruf und Geschlechterstrukturen darüber erfasst und er- Familie durch die Pflegenden unterstützen (vgl. klärt werden können. Barkholdt, Lasch 2006; Wolfinger 2006). Hier läge eine wichtige Aufgabe für die von den Pflege- 2.3.1 Amtliche Daten im Rahmen der kassen zu finanzierenden Fallmanager(innen) und Pflegeversicherung – bei Vorliegen eines positiven Länderentscheides – auch der regionalen Pflegestützpunkte. Die Suche nach aktuellen und aussagekräftigen Das SGB XI greift auch in das Feld der beruf- Daten zur Situation von Pflegenden und Pflege- lichen Pflegearbeit ein (siehe dazu Kapitel 5). Ge- bedürftigen in Deutschland und zu den institu- setzlich festgelegte Qualitätsanforderungen wie tionellen Kontexten, in denen diese Sorge- und in § 80 SGB XI erzeugen eine Hierarchisierung Pflegearbeit ausgeübt wird, zeigt eine erste von Tätigkeiten, die mit unterschiedlichen Qua- Schwierigkeit. Die amtlichen Daten, die regelmä- lifikationen verknüpft sind und die „indirekte ßig im Rahmen der Pflegeversicherung erhoben Pflege“ gegenüber der „direkten Pflege“ bevorzu- werden, beziehen sich auf die Pflegebedürftigen gen. Gleichzeitig besteht eine Spannung zwischen und die ambulanten und stationären Einrich- Qualitätsanforderungen und den verhandelten tungen (einschließlich des Personals), in denen und in ihrer Höhe begrenzten (ambulanten wie diese gepflegt werden. Damit sind zwei wesent- stationären) Leistungsentgelten – der Kosten- liche Einschränkungen gesetzt: Zum einen exis- druck infolge des Wirtschaftlichkeitsgebotes der tiert keine gesetzliche Pflicht, einen regelmäßigen Pflegeversicherung motiviert dazu, möglichst Bericht über die Situation der nicht-professio- viele Tätigkeiten an kostengünstigere niedrig nellen Pflegepersonen in der familiär-häuslichen oder nicht qualifizierte (Teilzeit-)Kräfte zu dele- Versorgung vorzulegen. Die Beantwortung der gieren. Dies führt auch zu beruflichen Hierar- Frage, wer in welchem Umfang mit welchen Bela- chisierungen der in der Pflege Beschäftigten, z.B. stungen welche Pflegetätigkeiten für Angehörige zwischen Pflegefach- und Pflegehilfskräften (vgl. und Nahestehende leistet, bleibt damit unregel- Wolfinger 2006). Zudem führen Wirtschaftlich- mäßig erhobenen empirischen Studien vorbehal- keitszwänge infolge der Pflegeversicherung und ten. Diese lassen sich zudem häufig nur schwer Mängel in der Aufbau- und Ablauforganisation miteinander vergleichen und haben ihre spezi- vor allem in den stationären Altenpflegeeinrich- fischen blinden Flecken. Zum anderen basiert die tungen zu höheren Arbeitsbelastungen des über- amtliche Berichterstattung auf der stark ver- wiegend weiblichen Personals. Dies fördert einen richtungs- und körperbezogenen Einstufung in Anstieg an krankheitsbedingten Absenzen und Pflegestufen, die vom Medizinischen Dienst der führt zu einer erhöhten Personalfluktuation, die Krankenkassen vorgenommen wird. Die Defini- wiederum Rationalisierungsmaßnahmen und da- tion der Pflegestufen und die Regeln, nach denen mit eine insgesamt niedrigere Pflegequalität zur die Einstufung praktisch vorgenommen wird, Folge hat. Es entsteht eine Spirale, die den Druck richten sich nach den sozialversicherungsrecht- auf die verbliebenen Arbeitskräfte zusätzlich er- lichen Vorgaben der Pflegeversicherung und ih- höht (vgl. Amrhein 2002, 2005b). ren Durchführungsbestimmungen. Pflegebedürf- tigkeit, Pflegebedarf, Pflegeleistungen und Pflege- 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung tätigkeiten werden im Rahmen einer gesetzlichen über die Berichterstattungspflichten der Medizi- Auskunftspflicht erfasst, mit der vor allem die nischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) Ausgaben- und Einnahmeströme der Pflegeversi- nach § 53a SGB XI sowie der Geschäftsstatistik cherung sowie das damit finanzierte Leistungs- der Pflegeversicherung nach § 79 SGB IV mit er- geschehen erfasst werden sollen. Eine sozialwis- hoben. Aber weder im zuletzt publizierten sta- senschaftliche Untersuchung des formellen und tistischen und finanziellen Bericht zur sozialen informellen Pflegegeschehens darf diese Daten Pflegeversicherung (BMG 2006) – die Statistiken nicht unkritisch verwenden, da in ihre Kon- zur privaten Pflegeversicherung sind dort nicht struktion bereits politische Definitionen, soziale mit erfasst – noch in den alljährlichen Pflege- Differenzen und insbesondere Genderstrukturen berichten des Medizinischen Dienstes der Spit- mit einfließen – schon die fehlende amtliche Be- zenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) sind richterstattungspflicht über pflegende Angehö- Daten zur Situation der pflegenden Angehörigen rige, die ja überwiegend Frauen sind, ist Teil einer zu finden. Auch der mittlerweile „Vierte Bericht Geschlechterordnung in der Praxis der Bericht- über die Entwicklung der Pflegeversicherung“ erstattung. (BMG 2008a), der alle drei Jahre nach § 10 Absatz 4 Der § 109 des SGB XI ermächtigt die Bundes- SGB XI vorgelegt werden muss, sowie der eben- regierung dazu, die Erhebung einer Bundessta- falls dreijährlich vorzulegende 2. Bericht des MDS tistik mit Zustimmung des Bundesrates durch nach § 118 Abs. 4 SGB XI zur „Qualität in der Rechtsverordnung anzuordnen. Diese Ermächti- ambulanten und stationären Pflege“ (MDS 2007) gung umfasst „jährliche Erhebungen über ambu- folgen einer Darstellungslogik, die zum einen auf lante und stationäre Pflegeeinrichtungen sowie die versicherten Leistungsempfänger (Pflegebe- über die häusliche Pflege“ (Absatz 1) sowie „jähr- dürftige) und auf die institutionellen Leistungs- liche Erhebungen über die Situation Pflegebedürf- erbringer (ambulante, teil- und vollstationäre tiger und ehrenamtlich Pflegender“ (Absatz 2). Einrichtungen) fokussiert. Im Mittelpunkt dieser Die auf dieser Basis im November 1999 erlassene Berichte stehen die finanzielle, rechtliche und or- Pflegestatistik-Verordnung („Verordnung zur ganisatorische Entwicklung der Pflegeversiche- Durchführung einer Bundesstatistik über Pflege- rung und die Sicherstellung einer qualitativ zu- einrichtungen sowie über die häusliche Pflege“) friedenstellenden Versorgung durch die professi- schränkt die Bundesstatistik auf eine alle zwei onellen Leistungserbringer. In der Pflegestatistik Jahre vorzulegende Erhebung über Pflegeeinrich- nach § 109 SGB XI wird die Pflege- und Sorge- tungen (ambulant, teil- und vollstationär) und arbeit von Angehörigen nur indirekt über die Pflegegeldleistungen ein. Damit hat der Gesetz- Statistik zu Pflegegeldleistungen abgebildet, und geber nur von Absatz 1 des § 109 SGB XI Ge- selbst hier steht wiederum der Leistungen erhal- brauch gemacht (und auch hier mit zahlreichen tende Versicherte und nicht die informelle Pfle- weiteren Einschränkungen), jedoch auf eine Er- geperson, die die Pflegeleistung ganz oder teil- hebung über die Situation Pflegebedürftiger und weise erbringt, im Mittelpunkt (vgl. Pflegestatistik ehrenamtlicher Pflegender (darin eingeschlossen 2005 in: Statistisches Bundesamt 2007). Über Art, die Angehörigen) völlig verzichtet. In der Be- Umfang und Qualität der Pflege, die von Angehö- gründung zur Verordnung (Bundesratsdrucksa- rigen und ehrenamtlichen Helfern geleistet wird, che Nr. 483/99 vom 27. August 1999) werden und über deren Lebenssituation können aus den hierfür datenschutzrechtliche Gründe geltend amtlichen Pflichtberichten keine Aussagen ab- gemacht, „obwohl der Bund auch ein hohes geleitet werden. Interesse an epidemiologischen Daten über die Die amtliche Statistik zur Pflege in Deutsch- Situation der Pflegebedürftigen (wie etwa nach land ist also eindeutig auf die Pflegeversicherten, § 109 Abs. 2 SGB XI) sowie an Daten über in An- darunter die Pflegebedürftigen als Leistungsemp- spruch genommene Leistungen, die Zahl der Leis- fänger, und die ambulanten und stationären tungsempfänger oder die Beitragsentwicklung Versorgungsträger zentriert und erfasst das Leis- hat“ (ebd.). Zwar werden einige dieser Daten auch tungsgeschehen in sozialer, finanzieller und or- 14
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