ERNEUERUNG DURCH STREIK - DIE EIGENE STÄRKE NUTZEN - Fanny Zeise/Rabea Hoffmann (Hrsg.)

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Fanny Zeise/Rabea Hoffmann (Hrsg.)

ERNEUERUNG DURCH
STREIK – DIE EIGENE
STÄRKE NUTZEN
BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT
UND PRAXIS
INHALT

Fanny Zeise
Einleitung                                                                        2

Klaus Dörre
Strategic Unionism                                                                5
Die Bedeutung von Streiks für gewerkschaftliche Erneuerung in Deutschland

Rabea Hoffmann
Neupack: Arbeitskampf in einem gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen              14
Interview mit Murat Günes

Wolfgang Hoepfner
«Glück gehört dazu»                                                              18
Neue strategische Ansätze beim Streik 2011 im öffent­lichen Personennahverkehr
in Baden-Württemberg

Rabea Hoffmann
126 Tage – «Ein Streik steht, wenn man ihn selbst macht»                         21
Über den Erfolg festen Zusammenhalts und guter Öffentlichkeitsarbeit
beim Streik im Call-Center S-Direkt in Halle

Gabriele Breder und Ursula Gast
Streiken bei einem sozialen Träger – Chaos oder Chance?                          24
Der Arbeitskampf beim «Club Behinderter und ihrer Freunde» in Frankfurt am Main

Yalcin Kutlu
Der Erzieherinnenstreik – Ein Kampf um Anerkennung                               28

Josef Held und Lucie Billmann
Solidarisches Handeln entsteht in der Praxis                                     32
Zur Identifizierung mit Arbeit und zur Selbstverwirklichung im Beruf

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren                                           39
2   Einleitung

Fanny Zeise

EINLEITUNG

Der Streik ist ein wichtiges Mittel gewerk-        gaben des Wirtschafts- und Sozialwissen-
schaftlicher Durchsetzungsmacht. Streiks           schaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stif-
sind gleichzeitig immer auch bedeutende            tung (WSI 2013) gab es im Jahr 2012 um die
Momente, in denen sich im Großen wie im            250 Streiks und Warnstreiks, vor allem we-
Kleinen Emanzipationsbestrebungen aus-             gen Haus- und Firmentarifverträgen, die da-
drücken: Sie lassen Solidarität entstehen,         mit auch eine Reaktion auf die zunehmende
überwinden Spaltungen und stellen die Herr-        Zersplitterung der Tariflandschaft sind. Wäh-
schaft im Betrieb infrage. Jede Zeit, jede kon-    rend von 1960 bis 1990 die meisten Arbeits-
krete gesellschaftliche Konstellation entwi-       niederlegungen im Tarifbereich der IG Metall
ckelt ihre eigene Artikulation von Gegenwehr       stattfanden, ist seit Mitte der 1990er Jahre ei-
und ihre eigenen Streikformen. Ein genauer         ne Verlagerung in den Dienstleistungsbereich
Blick auf Streiks in Deutschland zeigt inter-      festzustellen (Dribbusch 2011). Die 188 Streik-
essante Trends und Entwicklungen, die neue         anträge im Bundesvorstand der größten deut-
Ansätze gewerkschaftlicher Strategien und          schen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im
Praktiken erkennen lassen. Gewerkschaften          Jahr 2012 markieren den bisherigen Höhe-
spielen eine zentrale Rolle bei jeder grundle-     punkt (WSI 2013).
genderen Gesellschaftsveränderung und sind         Bemerkenswert in der jüngsten Vergangen-
daher ein wichtiger Forschungsgegenstand           heit waren Streiks von Beschäftigten, die bis-
der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Sinne lin-         her als schwer zu organisieren galten. Der
ker kritischer Wissenschaft müssen dabei die       erste Streik der Reinigungskräfte in der Nach-
Subjekte der Veränderung ernst genommen            kriegszeit (2009), die langen Konflikte um
werden. Deswegen sollte Forschung auch             den Erhalt des Flächentarifvertrags im Ein-
nicht abseits von Bewegung und Aktion be-          zelhandel (2008/09 und aktuell 2013) sowie
trieben werden.                                    der Streik im Erziehungsdienst (2009) ste-
Die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und            hen exemplarisch für eine hohe Beteiligung
ver.di organisierte Konferenz «Erneuerung          von Frauen. Gerade in Bereichen, die massi-
durch Streik. Erfahrungen mit einer aktivie-       ven Angriffen ausgesetzt und von prekärer
renden und demokratischen Streikkultur»            Beschäftigung geprägt sind, entstehen neue
versammelte Anfang März 2013 in Stuttgart          konfliktorientierte Ansätze. Aber auch in so-
mehr als 500 Interessierte, darunter viele, die    zialen Bereichen, in denen die Arbeitsmarkt-
zu Gewerkschaften forschen, aber vor allem         situation für die Beschäftigten günstig ist,
Gewerkschaftsaktive. Ziel war es, Streikerfah-     gibt es große Auseinandersetzungen. In of-
rungen und Analysen zusammenzutragen, sie          fensiven und innovativen Streiks werden im-
gemeinsam zu diskutieren und voneinander           mer mehr Mitglieder gewonnen. Besonders
zu lernen. Einige der Beiträge werden in vorlie-   deutlich wird das in Auseinandersetzungen,
gender Broschüre dokumentiert, um die Dis-         in denen gezielt auf eine demokratische Be-
kussion über den Rahmen der Konferenz hin-         teiligung der Beschäftigten gesetzt wurde.
aus fortzusetzen.                                  Catharina Schmalstieg hat die Elemente ei-
In den letzten Jahren hat die Anzahl der           ner demokratischen Streikkultur am Beispiel
Streiks – bei gleichbleibender Anzahl der          von ­ver.­di Stuttgart in einer Studie der Rosa-
Streiktage – deutlich zugenommen. Laut An-         Luxem­burg-Stiftung genauer untersucht. In
Einleitung   3

seiner ebenfalls in einer Studie der Rosa-Lux-      Bevölkerung auf Zustimmung stößt. Anstatt
emburg-Stiftung dokumentierten Rede auf             mit einem Vollstreik die Mobilität der Bürge-
der Streikkonferenz hat Bernd Riexinger, der        rinnen und Bürger einzuschränken, wurde der
Vorsitzende der Partei DIE LINKE, seine frühe-      Fokus auf den wirtschaftlichen Schaden des
re Arbeit als ver.di-Geschäftsführer reflektiert.   Unternehmens gelegt und wurden gezielt die
Darin hebt er insbesondere den Zusammen-            Werkstätten sowie die Verkaufsstellen und die
hang zwischen Demokratisierung von Streiks,         Wartung von Fahrkartenautomaten bestreikt.
höherer Streikbeteiligung und Streikfähigkeit       Klaus Dörre, Professor an der Universität Je-
hervor. Dieser Zusammenhang spielt in allen         na, unterstrich in seinem Redebeitrag auf der
in der vorliegenden Broschüre aufgeführten          Konferenz, der auch in der Broschüre doku-
Streikerfahrungen eine wichtige Rolle. Eben-        mentiert ist, die Notwendigkeit strategischer
so wichtige Elemente in allen Beiträgen sind        Debatten: «Auch und gerade in schwierigen
das Ringen um die öffentliche Meinung und           Situationen, in Krisenperioden haben soziale
Solidarisierungsprozesse von Teilen der Be-         Akteure wie Gewerkschaften grundsätzlich
völkerung, was die gesamtgesellschaftliche          die Möglichkeit einer strategischen Wahl.»
Dimension von Streiks unterstreicht.                Angesicht der Aufkündigung der Sozialpart-
In den Beiträgen zu den extrem ausdauernden         nerschaft durch Arbeitgeber und Politik plä-
Streiks im Call-Center S-Direkt Halle (2012)        diert er für den Aufbau von Organisations-
und beim Verpackungsmittelhersteller Neu-           macht, die auf den Gewerkschaftsmitgliedern
pack in Hamburg und Rotenburg/Wümme                 und ihrer Aktivität beruht.
(2012/13) werden die Schwierigkeiten her-           Die Arbeiterbewegung hat immer neue For-
ausgearbeitet, bei anhaltender Repression           men entwickelt, um angesichts veränderter
des Arbeitgebers und bei einem hohen Anteil         Bedingungen wieder in die Offensive zu kom-
von prekär Beschäftigten einen Arbeitskampf         men. Die Diskussionen auf der Konferenz und
zu führen. Die Beiträge über den Erzieherin-        die Beiträge in dieser Broschüre zeigen erste
nenstreik (2009) und die Auseinandersetzung         Ansätze, wie mit konkreten Problemen wie
beim «Club Behinderter und ihrer Freunde»           prekärer Beschäftigung, Repressionen der
(CeBeeF) in Frankfurt am Main (2012), einem         Arbeitgeber und der Destabilisierung von Ta-
sozialen Träger in der Behindertenhilfe, gehen      rifnormen umzugehen ist. Allen Ansätzen ge-
unter anderem der Frage nach, wie trotz der         meinsam ist, dass sie der gewerkschaftlichen
Verantwortung der Beschäftigten für die ih-         Defensive neue konfliktorientierte Strategien
nen in Obhut gegebenen Menschen Streiks             entgegenstellen und damit wichtige Eckpfeiler
möglich sind. Die Erziehungswissenschaftle-         einer sozialpartnerschaftlichen und stellvertre-
rin Lucie Billmann und Josef Held, Professor        terischen Gewerkschaftspraxis infrage stellen.
an der Universität Tübingen, stellen in ihrem       Sie sind damit auch ein Beitrag zu einer um-
Beitrag sogar die These auf, dass die hohe          fassenderen Erneuerung der Gewerkschaften.
Identifikation mit dem Beruf, insbesondere im       Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bietet mit ihren
Bereich sozialer Dienstleistungen, ein Motiv        Aktivitäten eine Plattform für die Suchbewe-
für Arbeitskämpfe sein kann.                        gung einer neuen Generation von Gewerk-
Das Beispiel des Streiks im öffentlichen Nah-       schaftsaktiven und kritischen Gewerkschafts-
verkehr in Baden-Württemberg (2011) zeigt           forscherinnen und -forschern. Dieser Prozess
wiederum, wie der strategische Umgang mit           hat für uns gerade erst begonnen. Wir wol-
der Produktionsmacht der Beschäftigten in           len langfristige Diskussions- und Austausch-
Verbindung mit einer guten Öffentlichkeitsar-       prozesse anstoßen und diese mit eigener
beit dazu führen kann, dass ein Streik in der       Forschung, eigenen Publikationen und Ver-
4   Einleitung

anstaltungen bereichern. Zu diesem Zweck
vermitteln wir auch Kontakte zu Referentin-   Über bestellung@rosalux.de
nen und Referenten. Ein nächster wichtiger    erhältlich:
Schritt wird die Folgekonferenz «Erneuerung
durch Streik» sein, die von der Rosa-Luxem-   Schmalstieg, Catharina (2013): Parti-
burg-Stiftung und ver.di Hannover gemein-     zipative Arbeitskämpfe, neue Streikfor-
sam ausgerichtet wird und vom 2. bis zum 4.   men, höhere Streikfähigkeit? Eine Un-
Oktober 2014 in Hannover stattfinden soll.    tersuchung der Gewerkschaftsarbeit
                                              des ver.di-Bezirks Stuttgart am Beispiel
Informationen zur Streikkonferenz 2013 und    von Arbeitskämpfen im öffentlichen
zur geplanten Folgekonferenz 2014 unter:      Dienst, herausgegeben von der Ro-
www.rosalux.de/streikkonferenz.               sa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien,
                                              Berlin, auch unter: http://www.rosalux.
Literatur                                     de/publication/39112/partizipative-ar-
Dribbusch, Heiner (2011): Organisieren        beitskaempfe-neue-streikformen-hoe-
am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik        here-streikfaehigkeit.html.
und Mitgliederentwicklung, in: Haipeter,
Thomas/Dörre, Klaus (Hrsg.): Gewerk-          Riexinger, Bernd (2013): Demokrati-
schaftliche Modernisierung. Wiesbaden,        sierung von Streiks. Revitalisierung der
S. 231–263.                                   Gewerkschaftsarbeit. Rede auf der Kon-
WSI (2013): WSI-Tarifbilanz. Deutliche        ferenz «Erneuerung durch Streik», 1.–3.
Zunahme der Arbeitskämpfe im Jahr 2012,       März 2013 in Stuttgart, auch unter:
Pressemitteilung, 27.2.2013, Düsseldorf,      http://www.rosalux.de/publication/394
unter: http://www.boeckler.de/pdf/pm_         22/demokratisierung-von-streiks.html.
wsi_2013_02_27.pdf.
Strategic Unionism   5

Klaus Dörre

STRATEGIC UNIONISM
DIE BEDEUTUNG VON STREIKS FÜR GEWERKSCHAFTLICHE
ERNEUERUNG IN DEUTSCHLAND

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,                der Wissenschaftsseite hat man sich dann ein-
zunächst möchte ich mich dafür bedanken,          fach nicht mehr mit Gewerkschaften befasst.
dass ich an dieser Konferenz teilnehmen kann.     Sie sind soziologisch und politikwissenschaft-
Das hört sich nach einer Phrase an, die Wis-      lich für die Masse der Sozialwissenschaftler
senschaftler gerne aussprechen, um für gu-        und Sozialwissenschaftlerinnen lange Zeit
te Stimmung im Saal zu sorgen. Ich sage das       überhaupt kein Thema mehr gewesen. Aus-
aber sehr bewusst, und zwar aus einem egois-      nahmen wie zum Beispiel Heiner Dribbusch
tischen Grund.                                    vom WSI bestätigten die Regel. Über solche
Blickt man auf die letzten 20 Jahre zurück, so    Ausnahmen rede ich jetzt erst einmal nicht. Bei
war das Verhältnis von Gewerkschaften und         uns an der Universität Jena wuchs nach und
Sozialwissenschaften eher das einer Bezie-        nach aber das Unbehagen angesichts dieser
hung im Niedergang. Geschwächte Gewerk-           sich gegenseitig verstärkenden defensiven
schaften trafen nicht ausschließlich, aber doch   Haltungen und dieses Hohelieds von der all-
vornehmlich auf Wissenschaftler, die das Lied     gemeinen Krise der Gewerkschaften. Das ging
vom unaufhaltsamen Niedergang der Arbei-          uns ziemlich auf den Senkel, um es salopp
ter- und Gewerkschaftsbewegung sangen.            auszudrücken. Wir hatten keine Lust, diese
Vertreter von Arbeitnehmerinteressen befass-      Art von Selbstbespiegelung und No-Alterna-
ten sich in der Praxis überwiegend mit Rück-      tive-Forschung weiterzutreiben. 2008 haben
zugsgefechten, mit betrieblichen Deals und        wir dann auf Anregung von Hans Jürgen Ur-
Wettbewerbspakten. Gewerkschaften waren           ban eine andere Richtung eingeschlagen. Es
in der Defensive, hatten Mitgliederverluste in    entstand eine Arbeitsgruppe, die so hieß wie
den Betrieben zu verzeichnen und akzeptierten     das Buch, das dann später herauskam: «Stra-
zähneknirschend prekäre Beschäftigungsver-        tegic Unionism». Die Arbeitsgruppe hat es sich
hältnisse wie etwa die Leiharbeit. Und der so-    zur Aufgabe gesetzt, eben nicht dieses Nieder-
zialwissenschaftliche Mainstream hat darauf,      gangslied zu singen, sondern tatsächlich An-
um es bewusst etwas überspitzt zu formulie-       sätze zu erforschen, die so etwas verkörpern
ren, folgendermaßen reagiert: TINA, «There is     wie gewerkschaftliche Erneuerung, Erneue-
no alternative». Ihr habt recht damit, defensiv   rung gewerkschaftlicher Solidarität. Viele Mit-
zu reagieren, betriebliche Pakte abzuschließen    glieder dieser Arbeitsgruppe sind heute anwe-
und Tarifverträge zu unterlaufen, weil das das    send wie zum Beispiel Catharina Schmalstieg,
Einzige ist, was euch bleibt. Die Zukunft der     die die schöne Studie über den ver.di-Bezirk
organisierten Arbeitsbeziehungen in Deutsch-      Stuttgart gemacht hat. Die Arbeitsgruppe hat
land und Europa ist ihre Vergangenheit, nur       sich umgeschaut, und wir haben gesehen,
eben schlechter. Das war sozusagen die wech-      es gibt Tonnen von Literatur über Ansätze ge-
selseitige Kommunikation. Also man könnte es      werkschaftlicher Erneuerung, die in Europa
auf den Punkt bringen: eine Beziehung im nie-     und insbesondere in der Bundesrepublik gar
dergehenden und zerrütteten Stadium.              nicht zur Kenntnis genommen werden. For-
Und wie es in solchen Beziehungen nun ein-        schung zu gewerkschaftlicher Erneuerung hat
mal ist: Es entsteht Langeweile. Zumindest auf    in Deutschland schlicht nicht stattgefunden.
6   Strategic Unionism

Und es gab eine solche Literatur sogar, für So-   danke, hier auf dieser Konferenz sprechen zu
ziologen ganz wichtig, im noch immer bedeu-       können. Den soziologischen Ansatz, den ich
tendsten Land der Welt: in den USA. Die Bot-      versuche zu beschreiben, könnte man als Pu-
schaft eines Schlüsselaufsatzes, veröffentlicht   blic Sociology bezeichnen. «Öffentliche So-
im wichtigsten Journal der US-Soziologie, lau-    ziologie» hat vor allem zwei Ziele. Das erste
tete grob zusammengefasst: Selbst US-ameri-       Ziel ist, gesellschaftlich Unsichtbares sichtbar
kanische business unions können sich erneu-       zu machen. Im Elitendiskurs wird über das
ern. Das ist voraussetzungsvoll: Sie müssen       deutsche Beschäftigungswunder gespro-
konfliktfähig werden, sie müssen Aktive re-       chen. Unsichtbar bleibt, dass dieses neue
krutieren aus einem Umfeld wie etwa den so-       deutsche Beschäftigungswunder nichts an-
                                                                        deres ist als eine tief grei-
                                                                        fende Prekarisierung der
Unsichtbar bleibt, dass dieses neue                                     Arbeitswelt. Mit der heu-
deutsche Beschäftigungs­wunder                                          tigen prekären Beschäfti-
nichts anderes ist als eine tief greifende                              gung geht eine Verwilde-
Prekarisierung der Arbeitswelt.                                         rung des Arbeitsmarktes
                                                                        einher, wie man sich das
zialen Bewegungen, sie müssen ein komple- vor 20 Jahren noch nicht hätte vorstellen
xes Gerechtigkeitsverständnis entwickeln, sie können. Und das betrifft nicht nur Arbeitsbe-
müssen aktiv organizing betreiben und Res- dingungen und die Löhne, sondern umfasst
sourcen dafür bereitstellen. Und sie müssen auch direkte Repression gegenüber den Be-
eine Bündnispolitik entwickeln, die größe- schäftigten. Meine Kollegin Ingrid Artus sagt
re Teile der Gesellschaft erfasst, um so über- sehr zu Recht, dass hier nicht mehr Äquiva-
haupt erst einmal wieder zu einem Gegner, zu lente, sondern Repression gegen Angst ge-
einem Herausforderer für die Kapitalseite zu tauscht wird. Das bringt die Sache sehr gut
werden. Aber siehe da: Es gibt Gewerkschaf- auf den Punkt. Diese Konferenz macht dies
ten, die das tatsächlich schaffen!                sichtbar. Von wissenschaftlicher Seite muss
Solche Forschungsergebnisse haben wir in dieser praktische Diskurs Resonanz finden
der Arbeitsgruppe ausgewertet und damit und verstärkt werden.
Diskussionen hier in Deutschland angeregt. Das zweite Ziel ist nicht minder wichtig. «Öf-
Aber das Allerschönste ist eigentlich, dass es fentliche Soziologie» heißt, dass man ver-
jetzt viele junge Leute gibt – ich glaube die Ar- sucht, Forschungsergebnisse im engen
beitsgruppe «Strategic Unionism» hat mitt- Austausch – in diesem Falle mit gewerkschaft-
lerweile 70 mehr oder minder junge Wissen- lichen Praktikern – zu entwickeln. Das ist nicht
schaftler und Wissenschaftlerinnen in ihrem immer einfach. Wissenschaftler bleiben Wis-
Verteiler –, die sich wieder mit Gewerkschaf- senschaftler und gewerkschaftliche Praktiker
ten aus einer kritischen Perspektive heraus be- wissen ihrerseits besser und genauer, wie sie
schäftigen.                                       ihre tägliche Arbeit zu machen haben. Wich-
Sozialwissenschaftler mit einem kritischen tig ist aber, dass es einen Austausch gibt, dass
Selbstverständnis sind darauf angewiesen, man sich wechselseitig befruchtet und vonei-
dass die Kritik, die sie üben, etwas findet, was nander lernt. Allerdings ist das eine außeror-
in der Gesellschaft real ist. Es gibt keine wis- dentlich konfliktreiche Beziehung. Mal kann
senschaftliche Sozialkritik ohne Sozialkritik in man als Wissenschaftler in der vordersten
der Praxis. Das ist der entscheidende Punkt. Reihe mitspielen und zum Beispiel die Kam-
Und es ist der Grund, weshalb ich mich be- pagne gegen Leiharbeit mit eröffnen, aber
Strategic Unionism    7

wenn man dann zu kritisch wird, dann kommt         bieten würde, hätte man das Problem, dass
es schon mal vor, dass man zu bestimmten           große Unternehmen in Werkverträge auswei-
Veranstaltungen überhaupt nicht mehr ein-          chen.
geladen wird. Dann ist man plötzlich Nestbe-       In den großen Automobilfirmen ist der finan-
schmutzer. Aber das lässt sich aushalten und       zielle Anteil, der in Werkverträge fließt – und
geht einher mit diesem Konzept von Wissen-         Werkverträge beinhalten häufig hoch qua-
schaft.                                            lifizierte Arbeit –, oft größer als die offiziel-
Das war für mich das Wichtigste dieser Konfe-      len Forschungs- und Entwicklungsausga-
renz. Es sind eine Menge Leute hier, die prakti-   ben. Das spricht nicht gegen die Beseitigung
sche Sozialkritik üben. Aber nicht nur das. Sie    oder die scharfe Regulierung der Leiharbeit,
haben auch den Schluss gezogen, dass man           aber es wird natürlich Versuche der Kapital-
die Dinge nicht einfach so hinnehmen kann,         seite geben, auf andere Instrumente aus-
wie sie sind, sondern dass man anfangen            zuweichen. Womit man dann das nächs-
muss, sich zu wehren. Das korrigiert das Bild      te Kampffeld aufgemacht hat. Mit anderen
des ruhigen Deutschland, ein Land, in dem al-      Worten: Es gibt nicht TINA, sondern es gibt
le die Hände in den Schoß legen und Angst          die Möglichkeit der strategischen Wahl. Ge-
haben. Es gibt auch andere Perspektiven, und       werkschaften können, in der Tradition deut-
das ist auf dieser Konferenz sehr deutlich ge-     scher Gewerkschaften, das Leiharbeitspro-
worden. Dafür vielen Dank. Das, was ich zum        blem angehen, indem sie versuchen, mit der
Thema Streik zu sagen habe, möchte ich in          Arbeitsministerin zu dealen, und auf eine ei-
acht Thesen bündeln. Ich formuliere die The-       genständige Mobilisierung ihrer Mitglieder
sen explizit aus der Perspektive des lernenden     verzichten. Sie können es aber auch anders
Wissenschaftlers. Es sind Dinge, die ich unter     machen. Jeder weiß, auf welche Konstella­
anderem auf dieser Konferenz gelernt habe.         tion, auf welche Situation ich anspiele. In der
                                                   Krise hatten wir kurzzeitig ein Aufflackern der
These I                                            Hoffnung bei gewerkschaftlichen Führungs-
Es mag banal klingen, ist es aber nicht: Auch      gruppen, dass man mit Elitendeals das Pro-
und gerade in schwierigen Situationen, in Kri-     blem der Leiharbeit in den Griff bekommen
senperioden haben soziale Akteure wie Ge-          könnte. Man schien mit der Arbeitsministerin
werkschaften grundsätzlich die Möglichkeit         Ursula von der Leyen auf einem guten Weg
einer strategischen Wahl. Sie können sich in       zu sein. Als daraus nichts wurde, organisierte
reale oder vermeintliche Sachzwänge fügen          man schnell – gewissermaßen nachgescho-
und zum Beispiel Wettbewerbs- und Standort-        ben – einen Aktionstag gegen Leiharbeit mit
politik betreiben, oder sie können aktiv daran     hoher Beteiligung von Gewerkschaftsmit-
arbeiten, Handlungskorridore auszuweiten,          gliedern. Es herrschte, soweit ich das selbst
alte Machtressourcen zu aktivieren und neue        verfolgen konnte, eine richtig aggressive und
zu erschließen. Es gibt nicht «no alternative».    kämpferische Stimmung unter den Kollegin-
Die Diskussion zur Leiharbeit hier auf der Kon-    nen und Kollegen. Aber diese Stimmung ver-
ferenz war das beste Beispiel dafür. Selbst        puffte, weil man nicht wirklich eine konflikt­
wenn man sich grundsätzlich einig ist, dass        orientierte Strategie durchgedacht hatte, mit
man Leiharbeit überhaupt nicht will, ist damit     der man die politischen Eliten hätte unter
noch nicht entschieden, was die beste Strate-      Druck setzen können, um tatsächlich Subs-
gie ist, um dieses ungeliebte Instrument aus       tanzielles zu erreichen. Das wäre eine strate-
der Welt zu schaffen. Es ist ja auch hier ange-    gische Variante gewesen. Aber es gibt eben
klungen: Selbst wenn man die Leiharbeit ver-       auch andere Möglichkeiten.
8   Strategic Unionism

Quellen und Komponenten «gewerkschaftlicher Macht»

              Ökonomische                                                             Organisationsmacht
         («strukturelle») Macht                                                           Stabilität/Vitalität
      Arbeitsmarkt- und Produktionsmacht                                         der gewerkschaftlichen Organisation

          Institutionelle Macht                                                     Kommunikative Macht
             Sicherung von Einfluss                                                    «Meinungsführerschaft»
        in institutionellen Arrangements                                              bzw. «Hegemoniefähigkeit»

Quelle: Gerst, Detlef/Pickhaus, Klaus/Wagner, Hilde: Revitalisierung der Gewerkschaften durch Arbeitspolitik?
Die Initiativen der IG Metall – Szenario für Arbeitspolitik in und nach der Krise, in: Haipeter, Thomas/Dörre, Klaus (Hrsg.):
Gewerkschaftliche Modernisierung, Wiesbaden 2011, VS, S. 142.

These II                                                          auf dem Arbeitsmarkt. Lokführer haben eine
Damit bin ich bei der zweiten These. In jeder                     hohe Primärmacht. Jeder weiß, warum. Sie
strategischen Variante ist die Erschließung                       können sozusagen das ganze Logistiksystem
und Verfügung sowie aktive Nutzung von                            torpedieren und sind dementsprechend auch
Machtressourcen zentral. Das war sozusagen                        handlungsfähig. Das sind Quellen primärer
die Prämisse, mit der unsere Forschungsgrup-                      Macht. Die zweite Quelle ist Organisations-
pe gestartet ist. Ein ziemlich banaler Gedan-                     macht. Dazu muss ich euch nicht viel sagen.
ke. Es geht zwischen Kapital und Arbeit immer                     Das ist die Macht, die entsteht, wenn Lohnab-
um Macht. Wichtig scheint mir aber, darauf                        hängige sich zusammenschließen, zum Bei-
hinzuweisen, dass es unterschiedliche Quel-                       spiel in Gewerkschaften. Da ist in der Regel
len gewerkschaftlicher Macht gibt. Ich nenne                      strategisches Handeln nicht nur möglich, son-
hier noch einmal die vier wichtigen, obwohl                       dern zwingend nötig. Die dritte Machtquelle
ich mit dieser Folie bestimmt schon durch vie-                    ist die institutionalisierte Macht. Darüber ging
le Seminare gegangen bin. Das ist sozusagen                       es eben bei der Diskussion um die Leiharbeit.
die heuristische Folie, mit der die Jenaer For-                   Institutionalisierte Macht beruht immer auf
schung betrieben haben.                                           sozialen Kompromissen. Das Betriebsverfas-
Gewerkschaftliche Macht ist immer abgelei-                        sungsgesetz ist eine institutionelle Macht-
tete Macht. Im Kern geht es, wie man alter-                       quelle. Tarifliche Normen sind eine institutio-
tümlich gesagt hätte, um Arbeitermacht. Heu-                      nelle Machtquelle. Diese Machtressource hat
te würde man sagen um Lohnarbeiter- und                           einen Vorteil: Man kann das Arbeitsrecht än-
Lohnarbeiterinnenmacht. Strukturelle Macht                        dern, wenn sich die Kräfteverhältnisse zuun-
ist eine Machtquelle, die Lohnabhängige ha-                       gunsten der Lohnarbeit verschieben. Aber das
ben, ohne dass sie bereits über Organisatio-                      dauert seine Zeit. Es gibt auch einen Nach-
nen verfügen, allein aufgrund ihrer Stellung                      teil von institutionalisierter Macht, der offen-
im Produktionsprozess oder ihrer Stellung                         bar wird, wenn die anderen Machtressourcen
Strategic Unionism   9

schwinden. Dann neigen Gewerkschaften da- nur für eine besondere Interessengruppe.
zu, sich auf die institutionelle Macht zu kon- Und es geht auch darum, Machtquellen au-
zentrieren und schwerpunktmäßig diese Res- ßerhalb der Betriebe und Unternehmen zu er-
source zu nutzen. Das kann auf Kosten der schließen, Verbündete zu gewinnen, um auf
Erneuerung anderer Machtressourcen gehen. dieses Weise durchsetzungsfähig zu werden.
Funktionsfähig ist institutionelle Macht ei- Das hängt stark davon ab, wie man mediale
gentlich nur, wenn es ein annäherndes Kräf- Öffentlichkeiten erreicht und die Kommuni-
tegleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit kationsverhältnisse beeinflussen kann. Das
gibt. Wenn sich Gewerkschaften nur auf ihre will ich jetzt nicht weiter ausführen. Auf die-
institutionelle Macht verlassen und ihre struk- sen vier Machtquellen basiert letztendlich Ge-
turelle und vor allem ihre Organisationsmacht werkschaftsmacht.
nicht erneuern, verschieben sich die Kräfte-
verhältnisse möglicherweise so weit zuun- These III
gunsten der Lohnabhängigen, dass früher Die dritte These habe ich im Laufe der Konfe-
oder später die Eliten auf den Gedanken kom- renz umformulieren müssen. Sie lautet jetzt:
men, auch die institutionelle Macht so weit Gewerkschaftliche Erneuerung bedeutet hier-
zu beschneiden, dass sie wieder den realen zulande in vielen Bereichen, Betrieben und
Kräfteverhältnissen entspricht. Diese Situati- Branchen inzwischen, Konfliktfähigkeit über-
on hatten wir Mitte des letzten Jahrzehnts in haupt erst wieder herzustellen. Es geht zu-
Deutschland, und
es ist keineswegs
so, dass diese Opti-         Gewerkschaftliche Macht ist immer
on, Gewerkschaften           abgeleitete Macht. Im Kern geht es,
wieder an die Wand           wie man altertümlich gesagt hätte, um
zu drängen, nicht            Arbeitermacht. Heute würde man sagen um
mehr da wäre. In vie-        Lohnarbeiter- und Lohnarbeiterinnenmacht.
len Betrieben – wie
auch auf der Konferenz deutlich wurde – wird nächst nicht um Streikfähigkeit, sondern da-
den Interessenvertretungen ihre institutionel- rum, die Voraussetzungen herzustellen, um
le Machtquelle verwehrt. Wer nichts mehr überhaupt noch wirkungsvoll und kollektiv In-
daran setzt, Organisationsmacht zu entfalten teressen von Belegschaften und Lohnabhängi-
und anzuwenden, der muss zumindest die Ge- gen vertreten zu können. Ich glaube, das muss
fahr in Kauf nehmen, dass auch die institutio- man tatsächlich so zur Kenntnis nehmen.
nellen Machtquellen erodieren.                   Zwar haben wir auf der einen Seite immer
Die letzte Machtquelle nenne ich gesell- noch Bereiche mit ausgebauter Mitbestim-
schaftliche Macht, aber manche sagen da- mung. Wir haben aber immer größere Berei-
zu auch Diskursmacht oder kommunikative che, wo es gegenwärtig nicht einmal mehr
Macht. Sie kann man mit einem einfachen gelingt, basale Mitbestimmungsrechte durch-
Satz erklären: Die Macht von Lohnabhängi- zusetzen und anzuwenden. Sehr zu Recht ist
gen ist in der Gesellschaft umso wirkungs- hier viel über niedrigschwellige Maßnahmen
voller, als sie nicht als die Macht einer beson- gesprochen worden. Es erfordert schon Mut,
deren Interessengruppe gilt, sondern etwas dass man sozusagen mit einem roten Pulli in
Gesamtgesellschaftliches verkörpert. Es geht den Betrieb geht und sich darüber kenntlich
also um die Fähigkeit, für alle Arbeitnehmerin- macht. Es bedeutet, an einem Strang zu zie-
nen und Arbeitnehmer zu sprechen und nicht hen mit diesen subversiven Aktionen. Aber all
10 Strategic Unionism

das deutet darauf hin, dass wir es bereits mit   sionen ausgesetzt sind. Die Streikenden tre-
einer dramatischen Erosion von institutionel-    ten für etwas ein und werden aktiv. Das ist ein
ler Macht zu tun haben.                          Schritt, der in der Regel auch einen Bewusst-
                                                 seinsbildungsprozess voraussetzt. Viertens:
These IV                                         Jeder Streik ist, wenn er einigermaßen gut
In diesem Zusammenhang komme ich gleich läuft, eine Quelle der Erfahrung von Solidarität.
zur vierten These. Der Streik ist die zugespitz- Der Mangel von Solidarität in der Gesellschaft
teste Form der aktiven Anwendung sämtlicher ist hier schon angeklungen. Streiks korrigieren
gewerkschaftlicher Machtressourcen. Ich das sehr grundlegend und schaffen eine Grun-
will das anhand einzelner Punkte illustrieren. derfahrung, die für viele heute ein Mangel ge-
Erstens: In einer Streiksituation gibt es in der worden ist. Fünftens erfordern Streiks akti-
Regel eine sehr                                                               ves Überzeugen.
intensive innere                                                              Die Streikenden
Kommunikation          Der Streik ist die zugespitzteste                      müssen für et-
im Betrieb, aber       Form der aktiven Anwendung                             was eintreten.
auch nach au-          sämtlicher gewerkschaftlicher                          Und sechstens
ßen, in die Fami-      Machtressourcen.                                       hängen die Strei-
lie, in den Freun-                                                            kerfolge mehr
deskreis hinein – also gegenüber Menschen, denn je davon ab, dass Streiks sich gesell-
die sich ansonsten gar nicht unbedingt für schaftliche Machtquellen zu eigen machen;
soziale Konflikte, betriebliche Kämpfe oder also von der Frage, wie ein Streik in der Öffent-
Lohnauseinandersetzungen interessieren. lichkeit inszeniert wird, welche Unterstützung
Zweitens: Wenn er gut gemacht ist, erreicht es außerhalb des Kreises derjenigen gibt, die
der Streik zumindest eine lokale Öffentlich- den Streik tragen. Damit bin ich bei der nächs-
keit. Ein großes Problem ist übrigens, dass die ten These.
vielen Kämpfe zersplittert und lokal geführt
werden. Es ist ja gar nicht nur ruhig in diesem These V
Land. Nicht einmal zu Zeiten des sogenann- Intelligent geführte und erfolgreiche Streiks
ten Krisenkorporatismus, des kooperativen bewirken häufig eine Stärkung von Organisa-
Krisenmanagements 2008/09 war es ruhig. tions- und gesellschaftlicher Macht der Lohn-
Es waren oft – Uwe Meinhardt hat darauf hin- abhängigen. Das ist nicht immer und zwangs-
gewiesen – die Aktivitäten von Belegschaf- läufig der Fall. Das will ich auch klar sagen. Wir
ten, die das Management überhaupt dazu haben eine lange Tradition der südeuropäi-
gebracht haben, nicht zu entlassen. Ich habe schen, italienischen, französischen Gewerk-
selbst ein Zulieferunternehmen untersucht, schaften, die das Mittel unklug genutzt haben
wo das der Fall war. Es brauchte Streiks, um und die sich über verlorene Kämpfe selbst ge-
die Firma an Entlassungen zu hindern. Diese schwächt haben. Es gibt auch in der Bundes-
Kämpfe werden aber nirgendwo sichtbar. Sie republik solche Erfahrungen. Der Streik um
bekommen kaum Öffentlichkeit, und es gibt die 35-Stunden-Woche in den neuen Ländern,
kaum Austausch darüber, was an Aktivitäten der unnötigerweise verloren wurde, ist so ein
eigentlich entsteht. Dritter Punkt: Diejenigen, Fall, der bis heute nicht richtig aufgearbeitet
die sich an Streiks beteiligen, übertreten eine ist. Das sind Negativerfahrungen, die sich
Schwelle. Sie riskieren etwas, selbst wenn sie festsetzen können. Es gibt Betriebe in Bay-
unter einigermaßen akzeptablen Bedingun- ern, da erinnern sich die Beschäftigten noch
gen arbeiten und nicht unmittelbaren Repres- an die 1950er Jahre und sagen: «Hier bei uns
Strategic Unionism 11

kann nicht gestreikt werden, weil wir in den        chen voraussetzungsvoll. Sie müssen natür-
1950er Jahren einen Streik verloren haben.»         lich immer um ihren Job fürchten. Denn selbst
Das lagert sich tief ab im Gedächtnis, aber die     der Mini-Job ist noch besser als gar nichts
Grunderfahrung, auf die Heiner Dribbusch            und besser als der Hartz-IV-Presse zu unter-
wahrscheinlich schon hingewiesen hat, ist:          liegen. Das darf man nicht beiseiteschieben.
Wenn Streiks klug angelegt und klug geführt         Es braucht neue Mobilisierungsformen und
werden, sind sie Motoren für eine starke ge-        Formen der Ansprache und vor allem eine au-
werkschaftliche Organisationsmacht. Es ge-          thentische Interessenvertretung. Dafür sind
lingt in diesem Prozess, Mitglieder und vor         hier auf der Konferenz eine ganze Reihe von
allem Meinungsführer zu gewinnen, die wie-          Beispielen geliefert worden.
derum andere nachziehen. Das ist keine neue         Das Entscheidende ist, dass solche Gruppen
Erkenntnis, aber eine wichtige, die man sich in     überhaupt eine realistische Chance sehen, ih-
Erinnerung rufen muss.                              re Verhältnisse wirklich zu verändern. Solan-
                                                    ge es nur beim moralischen Appell bleibt, das
These VI                                            Gelegenheitsfenster, wirklich etwas zu verän-
Streik ist aber nicht gleich Streik. Auch das ist   dern, aber nicht da ist, kann man das gleich
auf dieser Konferenz deutlich geworden. Was         sein lassen. Aber es gelingt ganz offenkun-
wir erleben, ist, dass die Gruppen, die kollek-     dig, in wichtigen und neuen Bereichen solche
tive Handlungsbereitschaft haben und mög-           Aktivitäten, die dann fast notwendigerweise
licherweise in den Streik gehen, inzwischen         auch konfliktorische sind, gegenüber den Ar-
häufig nicht mehr diejenigen sind, die man          beitgebern hinzubekommen. Das finde ich au-
klassischerweise im Zentrum gewerkschaft-           ßerordentlich bemerkenswert.
licher Interessenvertretung gesehen hat. Da
gibt es wichtige Veränderungen: Wir haben ei-       These VII
ne deutliche Zunahme von Streiks im Dienst-         Die Herstellung von Konfliktfähigkeit und die
leistungsbereich. Wir haben sie in Bereichen,       Erneuerung durch Streik kann auch ein Mittel
wo vorher nichts war oder wo man es sich            sein, die Tendenz zu exklusiver Solidarität, wie
kaum vorstellen konnte. Das gilt zum Beispiel       wir sie in vielen, selbst in hoch organisierten
für den Erzieherinnenstreik, der in aller Mun-      Stammbelegschaften vorfinden, wirksam zu
de war und eine enorme gesellschaftliche Wir-       konterkarieren und durch andere Handlungs-
kung hatte.                                         optionen zu ersetzen. Ich will kurz erläutern,
Insgesamt werden die Streiks weiblicher. Der        was ich damit meine. Wir haben mehrere Be-
hohe Migrantenanteil ist nicht immer neu,           legschaftsbefragungen in einem großen Au-
das gab es schon. Aber es sind heute zum Teil       tomobilwerk, das hier in Baden-Württemberg
andere Migranten, die streiken. Es werden           bekannt ist und einen gewerkschaftlichen
Gruppen aktiv, die offenbar nicht mehr bereit       Organisationsgrad von über 90 Prozent hat,
sind, die Verschlechterung ihrer Arbeits- und       durchgeführt. Wir haben unter anderem 1.440
Lebensbedingungen hinzunehmen, und de-              produktionsnahe Arbeiter und Angestellte, die
nen man lange Zeit nicht zugetraut hat, sich        Sachbearbeiter und auch die Führungskräfte
zu wehren. Unter bestimmten Bedingungen             befragt. Insgesamt etwa 50 Prozent der ge-
sind prekär Beschäftigte zu gewinnen, sich          samten Belegschaft. Das dürfte ein Datensatz
an einer Aktion zu beteiligen. Ich will das nicht   sein, der in der Bundesrepublik ziemlich ein-
beschönigen. Prekär lebende und arbeitende          malig ist.
Menschen dazu zu bringen, aktiv ihre eigenen        Die Ergebnisse zeigen: Das Verhältnis der
Interessen wahrzunehmen, ist ausgespro-             Stammbeschäftigten zu den Leiharbeitern ist
12 Strategic Unionism

noch ambivalent. Also man sagt: «Die helfen,      Beschäftigten führe ich deshalb an, weil ich
unsere Arbeitsplätze sicherer zu machen.»         glaube, dass diese Haltung zu exklusiver Soli-
Aber es gibt Mehrheiten, die sagen: «Die ge-      darität kein Sachzwang und keine naturwüch-
hören nicht zur Betriebsfamilie und verstär-      sige Tendenz ist. Tatsächlich hängt es von den
ken die Konkurrenz im Betrieb.» Am wichtigs-      Aktiven, von den Interessenvertretungen, von
ten ist aber die Frage: «Glauben Sie, dass eine   den Gewerkschaften, von euch und von uns
Gesellschaft, die jeden mitnimmt, auf Dauer       allen ab, ob die Systemkritik laut wird und eine
überlebensfähig ist?» Mit ihr wird sozusagen      Stimme kriegt oder ob diese Tendenz zu ex-
Sozialdarwinismus getestet. 51 Prozent der        klusiver Solidarität verstärkt wird. Wenn man
befragten Produktionsarbeiter bejahten diese      20 Jahre lang nichts anderes gemacht hat, als
Aussage. Ich will das nicht moralisieren, aber    einen Wettbewerbspakt nach dem anderen zu
wir stoßen hier auf ein altbekanntes Phäno-       beschließen – ich will das nicht generell und
men: Gruppen, die sich selbst im sozialen Ab-     pauschal kritisieren –, und keine Alternative
stieg wähnen oder darum kämpfen, ihren so-        mehr sichtbar wird, dann ist das zumindest in-
zialen Status zu halten, tragen die Konkurrenz    direkt eine Stärkung der Tendenz zu exklusiver
oft mit dem Mittel des Ressentiments aus.         Solidarität. Nur wenn es eine Chance auf Ver-
Das ist aber keine durchgängige Tendenz. Die-     änderung gibt, bricht sich das, was an gesell-
selben Arbeiter, die wir befragt haben, sagen     schaftskritischer Haltung da ist, tatsächlich
auch mit großer Mehrheit, dass der Reichtum       Bahn. Damit bin ich bei meiner letzten These.
gerechter verteilt werden könnte. Sie beto-
nen, dass es in dieser Gesellschaft ungerecht     These VIII
zugeht, dass es keine Mitte mehr, sondern nur     «Erneuerung durch Streik.» Das Motto bringt
noch oben und unten gibt, und dass sie per-       auf den Punkt, worum es geht. Allerdings
manent unter der Standortkonkurrenz leiden.       muss man auch klar sehen: Es gibt radikale
In derselben Belegschaft haben wir 20 Pro-        Streiks, die von business unions in den USA
zent der Beschäftigten in der Produktion als      geführt werden. Da wurde sogar geschos-
ausgesprochene Systemkritiker identifiziert.      sen. Und es gibt sehr unpolitische Berufsge-
Es gibt aber auch, und das ist die größte Grup-   werkschaften, die manchmal monatelang ge-
pe, über 30 Prozent sogenannter Wettbe-           streikt haben. Ich glaube das, was auf dieser
werbsindividualisten. Die kritisieren den Kapi-   Konferenz diskutiert worden ist, ist schon et-
talismus zwar auch, aber sie gehen davon aus,     was anderes. Hier geht es um den Streik auch
dass er nicht zu beseitigen ist, und entschei-    als Mittel gewerkschaftlicher Erneuerung.
den sich für die Anpassung. Nach dem Motto:       Solidarität muss eingebunden sein oder ein-
Weil keine Handlungsalternative zum Schwei-       gebunden werden in so etwas wie eine Pers-
nesystem sichtbar ist, will ich sozusagen bei     pektive, in eine Vision von einer anderen Ge-
den Schweinen sein.1                              sellschaft.
Diese widersprüchlichen Tendenzen selbst          Im Jahr 2012 hat der Gründer des Weltwirt-
unter gewerkschaftlich hoch organisierten         schaftsforums von Davos, Klaus Schwab, ge-

Und in diesem Sinne waren Streiks sozusagen immer
Schulen, die der Bewusstseinsbildung dienten. Selbst
wenn Streiks verloren gehen, können sie immer noch
die Funktion haben, dass mehr Klarheit entsteht, wohin
die Reise eigentlich gehen soll.
Strategic Unionism 13

sagt: «Die Welt leidet an einem Burnout-Syn-      ne andere, solidarische Gesellschaft. Und in
drom. Diese Art von Kapitalismus ist nicht        diesem Sinne waren Streiks sozusagen im-
überlebensfähig und passt nicht mehr in die       mer Schulen, die der Bewusstseinsbildung
Zeit.» Natürlich hat er das gesagt, um den Ka-    dienten. Selbst wenn Streiks verloren gehen,
pitalismus zu retten. Nur das Verrückte ist ja,   können sie immer noch die Funktion haben,
dass diese Aussage radikaler und klarer war,      dass mehr Klarheit entsteht, wohin die Reise
als das meiste, was wir in der Krise aus vie-     eigentlich gehen soll. Ich glaube, da gibt es
len gewerkschaftlichen Stäben gehört haben.       noch großen Nachholbedarf. Aber es ist wich-
Da wurde viel über pragmatisches Krisenma-        tig, dass man mit der Debatte überhaupt an-
nagement in einer Situation gesprochen, in        fängt. In diesem Sinne ist für mich diese Kon-
der sich konventionelle Ökonomen kritisch zu      ferenz «ein Zeichen der Hoffnung», um ein
Wort meldeten und selbst Hans-Werner Sinn         Jedi-Zitat aus einem der Star-Wars-Filme zu
von einem Systemfehler, der die globale Fi-       gebrauchen: Es ist noch keine Schlacht ge-
nanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst habe,        schlagen, schon gar nicht gewonnen, aber wir
sprach. Wenn aber die Gegenseite über Sys-        sehen ein Zeichen der Hoffnung.
temfehler redet, dann meint sie natürlich an-
dere als wir. Deshalb darf man ihr dieses The-    Vielen Dank.
ma nicht überlassen. Und das ist es, worum
es mir geht: Die Debatte über eine konfliktori-   1 Vgl. dazu ausführlich Dörre, Klaus/Happ, Anja/Matuschek, Ingo
                                                  (Hrsg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische
entierte Gewerkschaftspolitik muss dringend       Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben, Ham-
verbunden werden mit der Debatte über ei-         burg 2013, S. 208.
14 Neupack: Arbeitskampf in einem gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen

Rabea Hoffmann

NEUPACK: ARBEITSKAMPF IN EINEM
GEWERKSCHAFTSFEINDLICHEN
UNTERNEHMEN
INTERVIEW MIT MURAT GÜNES

Mit neun Monaten und neun Tagen war            viele vom Staat abhängig. Etwa 15 Kollegin-
der Streik für einen Haustarifvertrag beim     nen und Kollegen haben bei einer Vollzeitbe-
Verpackungshersteller Neupack im Jahr          schäftigung nicht einmal 1.000 Euro verdient.
2012/13 in Hamburg-Stellingen und Roten-       Andere, Angestellte und Vorgesetzte, verdie-
burg/Wümme einer der längsten in der Ge-       nen bis zu 140 Prozent über dem Flächentarif-
schichte der Industriegewerkschaft Berg-       vertrag der chemischen Industrie. Sie haben
bau, Chemie, Energie (IG BCE). Die Ausdauer    sich dann auch nicht am Streik beteiligt.
der Streikenden war vor dem Hintergrund
ihrer oftmals prekären Arbeitsverhältnisse     Was hat den Streik ausgelöst?
und des gewerkschaftsfeindlichen Klimas        Gab es ein besonderes Ereignis?
im Unternehmen besonders beachtlich. Der       Da gibt es eine Vorgeschichte. Es hatte
Streik endete nicht mit einem Tarifvertrag,    schon länger in der Belegschaft gebrodelt.
sondern mit einer Betriebsvereinbarung und     Wir, einige aktive Gewerkschafter im Be-
mit einigen Kündigungen, von denen auch        trieb, haben 2010 eine Entscheidung ge-
der Betriebsratsvorsitzende Murat Günes        troffen. Uns war klar, dass wir alleine unse-
betroffen war. Mittlerweile hat das Arbeits-   re Forderungen nicht durchsetzen können.
gericht Hamburg allerdings den Antrag der      Wir hatten versucht, mit dem Arbeitgeber ei-
Firmenleitung von Neupack abgewiesen,          nen Tarifvertrag auszuhandeln. Er ignorierte
eine Kündigung des Betriebsratsvorsitzen-      uns, leitete bei jeder Gelegenheit rechtliche
den durchzusetzen. Im Interview beschreibt     Schritte gegen uns ein, zahlte unsere Löhne
Murat Günes Ziele und Taktiken des Neu-        nicht. Es gab Abmahnungen und Kündigun-
pack-Streiks und zieht Bilanz, was für zu-     gen. Um unser Ziel zu erreichen, mussten
künftige Kämpfe aus dem Streik gelernt wer-    wir die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder er-
den kann.                                      höhen. Dazu haben wir die Betriebsratswahl
                                               genutzt und sind mit drei Schlagworten rein-
Woher kam die Streikbereitschaft               gegangen: «IG BCE – Solidarität und Tarifver-
deiner Kolleginnen und Kollegen?               trag.» Erst 2011 haben wir es geschafft, den
Viele wurden jahrelang nur heruntergemacht     unternehmerfreundlichen Betriebsrat zu kip-
und haben seit 12, 13 Jahren keine Lohnerhö-   pen. Wir haben sofort den Vorsitzenden aus-
hung mehr bekommen. Wir hatten drei zen-       gewechselt. Dann haben wir eine Tarifkom-
trale Forderungen: gerechte Löhne, Arbeits-    mission wählen lassen und die Belegschaft
platzsicherung und einen altersgerechten       nach ihren Forderungen befragt. Der Arbeit-
Arbeitsplatz. Man muss aber sagen: Bei Neu-    geber weigerte sich weiterhin, Verhandlun-
pack hat es der Unternehmer geschafft, die     gen zu führen, bis wir im Mai 2012 mit ei-
Belegschaft zu spalten. Bei einigen war der    nem Warnstreik gedroht haben. Als er dann
Lohn sittenwidrig, weil er unter 53 Prozent    im Oktober unseren Vorschlag ablehnte, war
des Flächentarifvertrages lag. Dadurch waren   das der Startpunkt für unseren Streik.
Neupack: Arbeitskampf in einem gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen 15

Wie hat sich euer Streik ausgewirkt?               bahn- und Verkehrsgewerkschaft). Viele
In der ersten Streikwoche haben wir die Pro-       haben mit uns zusammen vor dem Tor ge-
duktion zu circa 90 Prozent gestoppt. Von          standen. Es gibt einige Kollegen und Kolle-
den knapp 200 Beschäftigten haben etwa             ginnen, die bis heute noch vorbeikommen.
110 Kolleginnen und Kollegen gestreikt.            Außerdem hat DIE LINKE eine große politi-
Danach wurden polnische Leiharbeitneh-             sche Rolle gespielt. Insbesondere, um einen
mer als Streikbrecher eingesetzt. Mit dieser       Namen zu nennen: Kersten Artus in Ham-
Mannschaft wurde weitergearbeitet. Aller-          burg. Und unser Solikreis hat eine sehr gro-
dings belief sich die Produktion schätzungs-       ße Rolle gespielt, besonders was die Öffent-
weise auf nur 30 Prozent.                          lichkeitsarbeit angeht. Das haben sie sehr
                                                   gut gemacht. Sie haben zum Beispiel im
Aber dann wurden doch auch viele                   Stadium von St. Pauli auf allen vier Tribünen
Abnehmerbetriebe nicht beliefert?                  Transparente hochgehalten. Pressemäßig
Doch, leider. Wir hatten hohe Lagerreserven.       kann ich sagen: Die linke Presse war auf un-
Das war ein Nachteil für uns. Aber ich habe        serer Seite, aber die Springergruppe war na-
gehört, dass Neupack ein paar wichtige Kun-        türlich gegen uns. Sie haben eine total ein-
den, besonders im Ausland, verloren hat,           seitige Berichterstattung gemacht.
weil er nicht mehr liefern konnte.
                                                   Nach drei Monaten habt ihr die Streik­
Aber ihr wurdet auch unter Druck                   strategie gewechselt. Warum?
gesetzt?                                           Unser Ursprungskonzept war, Neupack so-
Beleidigungen waren auch vorher an der Ta-         lange finanziell zu schaden, bis sich das Un-
gesordnung. Aber im Streik sind wir stark          ternehmen an den Verhandlungstisch setzt.
unter Druck gesetzt worden. Es gab einen           Im Vollstreik haben wir das zwar geschafft,
rechtlichen Kampf. Neupack ist wegen jeder         aber der Arbeitgeber blieb stur und wollte
Kleinigkeit zum Arbeitsgericht gegangen und        trotzdem keinen Tarifvertrag. Deshalb hat
hat einstweilige Verfügungen erwirkt. Im Sin-      die IG BCE gemeint, gut, dann ändern wir die
ne von: «Wir dürfen vor dem Tor keine Kolle-       Streikstrategie, und hat das durchgesetzt.
gen anhalten, ansprechen und überzeugen.»          Ziel war, mit einem Flexi-Streik den Produk-
Das haben die Arbeitsgerichte Hamburg und          tionsablauf zu stören. An sich war das auch
Verden bestätigt. Parallel dazu habe ich per-      eine gute Idee.
sönlich ein Verfahren bekommen. Außer-
dem wurde 15 Kolleginnen und Kollegen ge-          Aber?
kündigt, darunter auch mir. Seit Beginn des        Während des Vollstreiks konnten viele Wa-
Streiks haben neun Kolleginnen und Kollegen        ren nicht geliefert werden. Durch den Flexi-
den Betrieb selbst verlassen. Das alles hat uns    Streik ist Neupack wieder lieferfähig gewor-
ein bisschen demoralisiert, aber wir sind trotz-   den. Wir waren einen Tag draußen, dann fünf
dem stark geworden und stark geblieben.            Tage drinnen und haben gearbeitet, dann
                                                   fünf Tage draußen und so weiter. Ein Resul-
Was für eine Rolle hat die Öffentlichkeit          tat war, dass das Unternehmen die leeren
gespielt? Wie wichtig waren Unterstüt­             Lager wieder auffüllen konnte. Zudem war ja
zung und Solidarität von außen?                    noch die Reservemannschaft aus Streikbre-
Uns haben viele andere Betriebe und auch           chern im Betrieb. Wir hatten den Flexi-Streik
andere Gewerkschaften finanziell unter-            anders geplant. Wir haben gesagt, dass wir
stützt: ver.di, die IG Metall, die EVG (Eisen-     viel flexibler streiken. Reingehen, ein paar
16 Neupack: Arbeitskampf in einem gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen

Stunden arbeiten und wieder rausgehen.          zen, mussten wir eine Betriebsvereinbarung
Oder wir sagen: Wir kommen morgen zum           abschließen. Dazu habe ich zwei Meinun-
Arbeiten rein und dann bleiben wir doch         gen. Ich persönlich finde das Ergebnis mau.
draußen. Oder die Frühschicht geht rein,        Aber wenn ich das mit Blick auf die gesamte
arbeitet, aber die Spätschicht arbeitet dann    Belegschaft betrachte, sehe ich es als Erfolg,
plötzlich nicht mehr. So wäre die Produkti-     dass wir immerhin die Tätigkeitsbeschrei-
onsplanung unkalkulierbar geworden. Das         bungen durchgesetzt haben. Das hilft vie-
hat aber leider nicht funktioniert.             len Kollegen und Kolleginnen, die jahrelang
                                                nicht gemäß ihrer Leistung bezahlt wurden.
Warum nicht?                                    In Zukunft kann das nicht mehr passieren.
Weil die IG BCE das nicht umgesetzt hat. Die    Bei 40 Prozent der Belegschaft erhöhen sich
Landesbezirksleitung aus Hannover hat die       die Stundenlöhne um 4 Euro. Auch das Ur-
Entscheidungen getroffen, ohne uns zu fra-      laubsgeld, die Zulagen für Nacht-, Spät- und
gen. Wir haben ihnen unsere Einschätzung        Wochenendarbeit sowie die Urlaubstage
mehrmals schriftlich geliefert. Dafür haben     wurden erhöht und vereinheitlicht. Die Wo-
wir auf die Produktionsplanung geguckt, wir     chenarbeitszeit wurde um eine beziehungs-
sind die Feiertage und die Urlaubsplanung       weise um zwei Stunden verringert. Die Be-
durchgegangen. Dadurch konnten wir ge-          legschaft hat etwas bekommen. Allerdings
nau einschätzen, wie wir der Produktion am      keinen Tarifvertrag. Also nicht das, was wir
meisten hätten schaden können. Zentral für      eigentlich wollten.
die Strategie waren die Unkalkulierbarkeit
sowie die Neuwahl der betrieblichen Streik-     Wo siehst du rückblickend die Stärken
leitung und ihre Verankerung in Hamburg         und wo die Schwächen eures Streiks?
und Rotenburg. Wir haben keine Rückmel-         Wir haben jeden Morgen unsere Versamm-
dung von der IG BCE bekommen.                   lung gemacht und dort über Aktionen der
Obwohl wir unsere eigene Meinung vertre-        nächsten Tage beraten. Wer geht hin, was
ten haben, konnten wir sie nicht durchset-      machen wir? Immer wieder haben wir auch
zen. Denn bei einem Streik hat eben die Ge-     spontan Aktionen gemacht. Der Zusammen-
werkschaft die materiellen und rechtlichen      halt war wichtig. Wir haben die Leute jeden
Mittel in der Hand, und nicht wir. Abgese-      Tag motiviert. Mit den neuesten Zahlen, mit
hen davon hat die IG BCE auch eine finanziel-   dem Personal und mit der Produktionszahl.
le Rolle gespielt, die sehr gut war. Das muss   Alles haben wir weitergeben. So würde ich
ich ehrlich sagen. Sie haben die vollen Löhne   das wieder machen. Es war ein großer Er-
der Kolleginnen und Kollegen bezahlt. Die IG    folg, dass eine Belegschaft, in der außer mir
BCE war seit 41 Jahren nicht mehr im Streik,    niemand Streikerfahrung hatte, überhaupt
die Streikkasse war voll. Und deswegen war      gestreikt hat. Wir haben eine tolle Kollegiali-
das kein Problem.                               tät und besondere Stimmung erlebt. Das hat
                                                die Jungs und unsere Forderung bestärkt.
Nach über neun Monaten habt ihr euch            Jetzt sagen viele: Wir haben zwar diesen
mit dem Unternehmer statt auf den               Kampf verloren, aber wir müssen uns auf die
geforderten Tarifvertrag auf eine               Zukunft, auf einen künftigen Kampf konzen-
Betriebsvereinbarung geeinigt.                  trieren. Wir fordern weiterhin einen Tarifver-
Wie bewertest du das Ergebnis?                  trag. Wir haben aber auch Fehler gemacht.
Weil der Streik am Ende nicht ausreichte, um    Als die Streikbrecher aus Polen angekom-
den Arbeitgeber wirksam unter Druck zu set-     men sind, hätten wir an dem Tag wieder rein-
Neupack: Arbeitskampf in einem gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen 17

gehen und den Flexi-Streik anfangen sollen,     Was kann in streiktak­ti­scher Hinsicht
ohne vorher die Zustimmung der IG BCE ab-       als positive Erfahrung auf andere Aus­
zuwarten. Wir hätten selbst entscheiden sol-    einandersetzungen übertragen werden?
len. Das haben wir falsch kalkuliert und das    Streiks müssen demokratisch sein. Die Strei-
war unser großer Fehler.                        kenden sollten selbst entscheiden, wie man
Aber ich habe auch mit meinen Kolleginnen       den Streik führt. Denn jeder Betrieb ist an-
und Kollegen diskutiert: Die Belegschaft war    ders, jede Unternehmenskultur und jede Be-
in der ersten Woche noch nicht «reif» dafür.    legschaft ist anders. Deswegen meine ich
In den drei Monaten draußen haben die So-       auch, dass jede streikende Belegschaft das
lidarität, der Solikreis, die Kolleginnen und   alles selbst kalkulieren muss. Wenn die Ge-
Kollegen aus anderen Betrieben, aber auch       werkschaft nur von außen kommt und sagt,
das Interesse aus der Politik und von den Me-   macht das so und so, funktioniert das nicht.
dien die Jungs richtig fit gemacht. Die sind    Dann kann jeder Streik kaputtgehen.
stark geworden. In der ersten Woche waren
sie wahrscheinlich noch nicht so stark.         Vielen Dank.
18 «Glück gehört dazu»

Wolfgang Hoepfner

«GLÜCK GEHÖRT DAZU»
NEUE STRATEGISCHE ANSÄTZE BEIM STREIK 2011 IM ÖFFENT­
LICHEN PERSONENNAHVERKEHR IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Der Auslöser war vergleichsweise banal. Seit      men und Arbeitszeit hingenommen werden.
mehr als fünf Jahren verhandelten ver.di und      Bei Tariferhöhungen und Arbeitszeit blieb
der kommunale Arbeitgeberverband (KAV)            der ÖPNV in Baden-Württemberg an den öf-
Baden-Württemberg über eine neue Ent-             fentlichen Dienst von Bund und Kommunen
geltordnung für den 2003 bis 2005 als «Vor-       angekoppelt. Die Beschäftigten waren ziem-
läufer» des Tarifvertrages des öffentlichen       lich demoralisiert, die Kampfkraft war frag-
Dienstes (TVöD) eingeführten Tarifvertrag         lich und der traditionell hohe gewerkschaft-
Nahverkehr Baden-Württemberg (TV-N). Im           liche Organisationsgrad bröckelte massiv.
Herbst 2010 sagte der Arbeitgeberverband          Trotz aller Rückschläge gab es aber eine sehr
erneut eine geplante Verhandlungsrunde            intensive basisorientierte Diskussion mit
kurzfristig ab und bot mehr als sechs Monate      dem Ziel der Wiedergewinnung der Offen-
später einen neuen Termin an. Dies war der        sive. Als der TV-N im Jahr 2010 gekündigt
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brach-       wurde, stellte sich daher ein Forderungspa-
te. Am Ende des Tages kündigte die ver.di-Ta-     ket mit vielen nahverkehrstypischen, von der
rifkommission den Manteltarifvertrag TV-N         Basis eingebrachten Forderungen quasi von
zum 31. März 2011.                                selbst zusammen. Hierzu zählten:
                                                  –	eigenständige Verhandlungen bei Lohn
Rückblende                                           und Arbeitszeit,
Seit den 1990er Jahren stand der öffentliche      –	100 Prozent Weihnachtsgeld,
Personennahverkehr (ÖPNV) bundesweit              –	Umwandlung der «leistungsorientierten
unter erheblichem Kostendruck. Dazu kam              Bezahlung» des Lohntarifabschlusses
die Unsicherheit, ob nicht die EU-Kommis-            2010 in zwei freie Tage für alle und
sion, wie in anderen Bereichen der Daseins-       –	als Gewerkschaftskomponente: 50 Euro
vorsorge, Wettbewerb über verpflichtende             pro Monat zusätzliche Altersvorsorge für
Ausschreibungen vorschreiben würde. Die              ver.di-Mitglieder.
Arbeitgeber reagierten mit erheblichen Re-
organisationen, Aufspaltungen sowie Ta-           Gleichzeitig gab es intensive Strategiedis-
rifflucht durch «Billigtöchter» und verkauften    kussionen. Aufgrund einer Analyse von Ar-
zum Teil öffentliche Betriebe. Die damalige       beitskämpfen im öffentlichen Dienst der
Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport       letzten Jahre war klar: Es mussten neue Inst-
und Verkehr (ÖTV) und ihre Nachfolgerin           rumente her, um die Forderungen erfolgreich
­ver.­di reagierten mit einer Defensivstrategie   durchzusetzen. Der bisherige «Vollstreik»
 auf Bundesebene und versuchten gar nicht         des Fahrpersonals und der Werkstätten zeig-
 erst, sich zu wehren.                            te immer weniger Wirkung. So freute sich
 In Baden-Württemberg konnten zwar Ver-           der Berliner Finanzsenator während des
 käufe, Aufspaltungen und Tarifflucht weit-       Streiks der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG)
 gehend verhindert werden, dafür mussten          2010 über die Einsparungen. Jeder Streiktag
 allerdings bei der Einführung des TV-N er-       bedeute weniger Lohn- und weniger Ener-
 hebliche Verschlechterungen bei Einkom-          giekosten für die von der Stadt finanzierten
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