ERWARTUNGEN - UNAUF ONLINE

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ERWARTUNGEN - UNAUF ONLINE
UNAUFGEFORDERT. UNABHÄNGIGE STUDIERENDENZEITUNG DER   FEBRUAR 2022
HUMBOLDT-UNIVERSITÄT SEIT NOVEMBER 1989                    NR. 259

                                   Erwartungen
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WE WANT YOU!
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Editorial                                               Impressum

Liebe Leser*innen,                                      UnAufgefordert.
                                                        Die unabhängige Studierendenzeitung der
                                                        Humboldt-Universität zu Berlin.
wir haben alle ständig furchtbar viele Erwartungen.
An uns selbst, an andere, an Ereignisse – eigentlich    Herausgeber: Kuratorium des Freundeskreises der
an alles. Aber nichts ist, wie wir es uns vorstellen.   UnAufgefordert e.V.
Erwartungen werden oft enttäuscht und doch
können wir das Erwarten nicht lassen.                   Humboldt-Universität zu Berlin
                                                        Unter den Linden 6
                                                        10099 Berlin
Von dem jetzigen hybriden Semester haben
wir Studierende einiges erwartet. Wir wollten           Chefredaktion:
endlich wieder in Präsenz an den Campus, wollten        Jacqueline Kamp, Nils Katzur, Laura Ella Strübbe
Begegnungen in der Mensa, in der Bib sitzen und         Schlussredaktion: Antonia Augsbach, Leoni Gau,
irgendwie war doch alles anders, als erhofft. Die       Rachel Geisler, Dennis Günzel, Christina Kleinert,
ersehnte Normalität ist nicht zurückgekehrt.            Büsra Koc, Malin Kraus, Pau Linke, Selina Matthey,
Trotz dem es anders kam, haben wir gelernt, damit       Johanna Pfleger, Nora Rauschenbach
umzugehen. Natürlich haben wir aber auch nicht
                                                        Kontakt: chefred@unauf.de
aufgehört, Erwartungen zu haben.
                                                        Anzeigen: werbung@unauf.de
Besonders hohe Erwartungen haben die Erstis an
ihren Studienbeginn: Hoffentlich ist das gewählte       Layout und Gestaltung: Mara Avendano
Studienfach das richtige, hoffentlich sind die          Illustrationen: Céline Bengi Bolkan, Lidia Brankovic
Kommiliton*innen nett, und hoffentlich ist Berlin,
wie vorgestellt. Gerade Menschen, die neu nach          Titelbild: Marie Castner
Berlin ziehen, haben ganz bestimmte Vorstellungen
von der Hauptstadt.                                     Druck: Gemeindebriefdruckerei,
                                                        Eichenring 15a, 29393 Groß Oesingen

Aber nicht nur an das Studium und die Stadt, in         Auflage: 2.000
der wir leben, haben wir Erwartungen. Auch von          Emissionsarm gedruckt auf 100% Recyclingpapier
unseren zwischenmenschlichen Beziehungen
                                                        Die   Artikel   und     Beiträge     spiegeln nicht
erhoffen wir uns einiges, vor allem von unseren         notwendigerweise die Meinung der Redaktion wider.
Freundschaften. Nicht zu vergessen sind natürlich       Nachdruck und Vervielfältigung nur nach vorheriger
die Anforderungen, die wir an uns selbst stellen. Ob    Genehmigung. Die Redaktion behält sich vor,
das jetzt die perfekte Morgenroutine ist oder die       Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen.
Selbstbezeichnung, in der wir uns wiederfinden,
                                                        Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 20. Dezember
wie zum Beispiel „queer“.                               2021

Wir können es einfach nicht lassen, Erwartungen         Die UnAufgefordert erscheint seit dem 17. November
zu haben. Wo uns die Erwartungen hinführen, lest        1989 an der Humboldt Universität zu Berlin und ist eine
                                                        der ältesten Studierendenzeitungen Deutschlands.
ihr in diesem Heft. Zuletzt bleibt noch zusagen,        Seitdem begleitet sie den Weg der HU durch
dass es eine neue Chefredaktion gibt und ihr dürft      unabhängige und professionelle Berichterstattung
wie immer viel von uns und der UnAuf erwarten.          über Forschung und Lehre, studentisches Leben und
                                                        Kultur. Bereits zweimal wurde ihr dafür der Pro-
Wir hoffen, euch bald wieder auf dem Campus zu          Campus Presse Award als beste deutschsprachige
                                                        Studierendenzeitung verliehen.
treffen, aber bis dahin könnt ihr euch mit uns auf
Instagram, Facebook und Twitter vernetzen:              UnAufgefordert online: www.unauf.de
@unaufgefordert.
                                                        Offene Redaktionssitzung
                                                        jeden Montag im Semester, 18.30 Uhr,
Die Chefredaktion                                       Invalidenstraße 110, Raum 118
Laura Ella Strübbe, Nils Katzur und                     (finden aktuell online statt)
Jacqueline Kamp

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Inhalt
Erwartungen
    5   Glosse: Ein Morgen voller Erwartungen
    6   Berlin, was erhoffen wir uns eigentlich von dir?
    8   Unerwartete Leichtigkeit
   10   Wenn die Freundschaft an Erwartungen zerbricht
   12   Geschlechtsspezifische Erwartungen: Zwischen
        Fortschritt und Persistenz
   14   Bin ich queer und wenn ja, wie viel?
   16   „Wir dürfen die Bühne nicht den Rassisten und Faschisten
        übergeben“ - Erwartungen im Kampf gegen rechts
Campus
  19    Was macht eigentlich… die Initiative „Seid ihr die Ersten“?
  20    Studienbeginn: Anders als erwartet
  22    Post aus Nairobi
  24    Sprachkritik: Hysterie
  25    Aus meiner Sicht: Einsamer Takt im Bahnhof
        Friedrichstraße
Leben

  26    Bis der Teller leer ist - Essstörungen bei Männern
  28    Einmal im Leben: Falsch Positiv
  29    News aus der HU
  30    (Ohne) Endstation: Die Ringbahn
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ERWARTUNGEN

Glosse:
Ein Morgen voller Erwartungen
Von Rachel Geisler                                         erinnert mich jetzt netterweise an das Ende der
Illustration: Céline Bengi Bolkan                          Leihfrist der Bücher, die sich auf dem Boden neben
                                                           dem Schreibtisch stapeln – dabei ist die Hausarbeit
Das Gezwitscher der Vögel, die blassen Sonnenstrahlen,     noch gar nicht fertig. Mit diesen ganzen Gedanken
die das Zimmer durchfluten, ein leises Stöhnen beim        werd ich jetzt sowieso nicht gleich einschlafen können,
Aufwachen und langsam löst die Realität des Morgens        dann brauch' ich eben noch was zum Hören, vielleicht
die verträumte Nacht ab. Endlich beginnt ein Tag voller    irgendeinen Podcast, aber welchen? Ich scrolle und
Hoffnung und Tatendrang!                                   suche. Das mit dem Bildschirm-Blaulicht-Verbot vor
                                                           dem Einschlafen ist jetzt eh gelaufen. Und dann, kurz
Der Morgen fängt oft schon am Abend an. Mit einer          vor dem Einschlafen fällt mir ein, dass der Wecker noch
perfekt durchgetakteten ‚Night-Time-Routine‘, die – das    gestellt werden muss. Jetzt wird erstmal gezählt wie
erklärt sich von selbst - aus einer entspannenden Yoga-    viele Stunden diese Nacht geschlafen werden darf.
Session, dem Auftragen von diversen Haut-, Augen-          Jeden einzelnen Klingelton gehe ich durch, entweder zu
und Gesichtslotionen, dem Schlürfen eines Lavendel-        schrill, zu leise, zu laut, oder einfach nervig. Hätte ich
Baldrian-Haferkraut-Tees und der einstündigen              doch schon längst eine neue Batterie für den schicken
Lektüre irgendeines Murakami-Buchs besteht, wird der       analogen Wecker gekauft: Dann müsste ich das nicht
regenerierendste Achtstundenschlaf eingeläutet, den        immer am Handy machen.
es geben kann. Das ist das Geheimnis eines stressfreien,
aber auch und vor allem produktiven, effizienten und       Montagmorgen. Der Handywecker klingelt. Sechs
konstruktiven, vielleicht sogar kreativen Morgens.         Mal wird auf snooze gedrückt. Bei jedem erneuten
Geheimzutat: AcHtSaMkEiT!                                  Aufwachen denke ich dann, wie müde ich doch bin. Und
                                                           dann irgendwann packt mich die Scham, noch nicht
Ja, schön wär’s.                                           zeitungslesend und blusetragend am Frühstückstisch
                                                           Porridge zu essen. Es muss jetzt alles hektisch
Eher sieht es nämlich so aus, dass versucht wird, den
                                                           passieren, schließlich sind alle anderen bestimmt schon
Zwiebelgeschmack im Mund durch eine zwanzigminütige
                                                           total produktiv bei der Arbeit.
Zahnputz-Session verschwinden zu lassen, und beim
Anblick des Badezimmerbodens kommen dann nicht
gerade Glücksgefühle hoch. Vor einer Stunde sind mir       Aber du hast keine Zeit für aChTsAmE Produktivität,
die Augen bei jedem Atemzug schon zugefallen und           denn du bist eine chaotische Studentin, du versuchst
jetzt bin ich wieder hellwach. Also wird noch auf ein      dich in dieser Welt und Zeit zurecht zu finden, dem zu
paar Nachrichten geantwortet, und oh diese E-Mail          entsprechen, was von dir erwartet wird, und du merkst,
                                                           dass nun noch etwas auf deine To-Do-Liste gekommen
                                                           ist: Wie emanzipiere ich mich denn jetzt von diesem in
                                                           unserer leistungsorientierten Gesellschaft antrainierten
                                                           Produktivitätswahn??!!!11

                                                                                                                        5
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ERWARTUNGEN

    Berlin, was erhoffen wir
    uns eigentlich von dir?
    Von Johanna Pfleger
    Illustration: Lidia Brankovic

    „Paradies der kulturellen Möglichkeiten“, „Ich
    habe nur Schlechtes gehört“, „Total vermüllt“,
    „Alle Clubs haben 24/7 offen“ – jedes Jahr ziehen
    tausende junge Menschen nach Berlin, um dort zu
    studieren und im besten Fall ein neues Zuhause zu
    finden. Manche von ihnen haben hohe Erwartungen
    an ihr neues Leben in der Hauptstadt.

    Ein Umzug wird meist von Vorstellungen darüber
    begleitet, wie das zukünftige Leben am neuen Wohnort
    aussehen könnte. Bis die Realität einen einholt, bleibt
    viel Raum für persönliche Erwartungen — dazu gehören
    positive, wie Neugier und Faszination gegenüber dem
    noch Fremden, sowie auch negative, zum Beispiel die       – seien es politische, gesellschaftliche oder soziale der
    Sorge vor Einsamkeit oder Heimweh.                        Haltungen, die die eigenen Ansprüche an das Leben in
                                                              Stadt mitformen. Während die eine Person sich nichts
    Einen Ersteindruck des potenziellen Wohnorts              sehnlicher wünscht als Freizügigkeit und Anonymität,
    haben junge Menschen häufig automatisch durch die         bereiten diese Aspekte einer anderen Unbehagen. Die
    Stereotype, die mit ihm verbunden sind. Dabei sind        positiven oder negativen Vorstellungen sind eng mit der
    nur wenige Städte derart angereichert mit Klischees       eigenen Persönlichkeit verwoben.
    und Vorurteilen wie Berlin. Ungewöhnlich ist aber
    die Diskrepanz, die sich zwischen ihnen auftut. Ob        Um einen Eindruck zu bekommen, welche Erwartungen
    dauerhaft feiernde, internationale Partymeuten            junge Noch-Nicht-Berliner*innen an die Hauptstadt
    in Friedrichshain, eine Anhäufung glänzender              stellen, hat die UnAuf verschiedene Studierende
    Diplomatenautos im Regierungsviertel, Spinat-             nach ihren Wünschen und Hoffnungen befragt. Dabei
    Smoothies und Jutebeutel im Prenzlauer Berg, oder ein     waren Kommiliton*innen verschiedener Altersgruppen
    heruntergekommenes Konglomerat an überquellenden          vertreten, sowie solche, die bereits weggezogen sind,
    Mülleimern — Assoziationen mit Berlin sind zahlreich      oder noch planen, nach Berlin zu ziehen. Eines zeigte sich
    und in ihrer Unterschiedlichkeit schwer zu überbieten.    hierbei ganz deutlich: Manche von ihnen machte bereits
    Diese Vorurteile, oft auch befeuert durch Serien, Filme   die Vorstellung Angst, sich in Berlin eine Wohnung oder
    und Medienberichte, beeinflussen die Erwartungen,         ein WG-Zimmer suchen zu müssen. Andere wiederum
    die Studierende haben, bevor sie den Umzug in die         konnten es kaum erwarten, sich zum ersten Mal beim
    Hauptstadt wagen. Auch frühere Erfahrungen können         veganen Vietnamesen in Kreuzberg auszutoben.
    dabei prägend sein. Wer eine Stadt bereits mit den
    Eltern oder auf Klassenfahrt erlebt hat, konnte           „Eigentlich wäre mir etwas Entspannteres lieber
    dadurch lediglich einen ersten Eindruck gewinnen.         gewesen.“
    Was dabei aber nicht vergessen werden darf, ist der
    Unterschied zwischen dem Besuch eines Ortes und           Vor allem der Partytourismus und die wilden Gerüchte
    dem tatsächlichen Wohnen und Leben dort.                  über die Technoszene sorgen unter Studierenden für
                                                              große Hoffnungen. Was viele an der Stadt attraktiv
    Für Berlin kann das Jahr 2020 insofern als besonders      finden, hat Marco* (27) aus Peru eher abgeschreckt.
    bezeichnet werden, als dass die Stadt zum ersten          Für ihn war Berlin nicht die erste Option, als er nach
    Mal seit 20 Jahren weniger Zuzüge als Wegzüge             Deutschland gezogen ist: „Eigentlich wäre mir etwas
    verzeichnete. Allerdings waren es immer noch 143.000      Entspannteres lieber gewesen.“
    Menschen, die es im letzten Jahr in die Hauptstadt
    zog. Grob entspricht das der Einwohnerzahl einer          Julia* (23) hingegen, die mit 18 nach Berlin kam, muss
    mittelgroßen Studierendenstadt wie Regensburg in          schmunzeln, wenn sie über ihre damaligen Erwartungen
    Bayern.                                                   nachdenkt: „Ich war total naiv und dachte, man würde
                                                              sich permanent in Mitte aufhalten.” Darüber hinaus
    Individuelle Erwartungen sind nicht auf                   habe sie sich Berlin vor allem offen und international
    andere übertragbar                                        vorgestellt. Berlin als Ort der freien Entfaltung der
                                                              Persönlichkeit – das hat auch Emily* (21) erwartet,
    In Berlin studieren im aktuellen Wintersemester           als sie in die Hauptstadt kam: „Endlich das machen,
    2021/2022 rund 202.000 junge Menschen. So                 worauf ich Bock habe.” Sie war froh, sich nicht mehr
    unterschiedlich wie die Mythen, die Berlin umranken,      im kleinstädtischen Raum bewegen zu müssen und an
    sind auch die Studierenden selbst. Jede*r unter ihnen     jeder Ecke etwas zu finden, was sie braucht, mag oder
    bringt entsprechend unterschiedliche Einstellungen mit

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                                                              gerne unternimmt. Was die Wohnungssuche anbelangt,
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                                                                   äußerte Jörg* (29) große Bedenken: „Erwartet habe ich        dass viele Studierende Sorgen haben, in der Anonymität
                                                                   auf jeden Fall einen kaputten Wohnungsmarkt. Berlin          Berlins zu vereinsamen. Er habe zum Glück bisher einen
                                                                   war mir eher suspekt.“                                       anderen Eindruck gewinnen können: „Ich habe noch nie
                                                                                                                                so unkompliziert Kontakte geknüpft wie hier.”
                                                                   Was ist aus den Erwartungen geworden?
                                                                                                                                Dass das Studieren in Berlin neue Chancen bietet,
                                                                   Erwartungen verwandeln sich durch die Konfrontation          betonte Emily* (21): „Hier konnte ich ganz neue Dinge
                                                                   mit der Realität meist automatisch in Erleichterung,         kennenlernen. Berlin ermöglicht mir, endlich in den
                                                                   Überraschung oder Enttäuschung — Studierende                 Bereichen tätig zu sein, die mich interessieren:
                                                                   erleben dabei oft alle drei Reaktionen:                      Innovation und Nachhaltigkeit.” Erleichterung stellte
                                                                                                                                sich auch bei Jörg (29) ein, für den sich nicht jedes
                                                                   Nicole (24) hat nach vier Monaten in Berlin erleichtert      Vorurteil bestätigte: „Die Stadt ist auch viel ruhiger und
                                                                   festgestellt, dass die Anonymität ihr tatsächlich            erholsamer als gedacht.”
                                                                   ermöglicht, tun und lassen zu können, was sie möchte.
                                                                   Wie Julia (23) hatte sie sich auf das kulturelle Angebot     Ein aus den Antworten gezeichnetes Stimmungsbild
                                                                   der Stadt gefreut. Dabei wurden ihre Vorstellungen           zeigt deutlich, dass sich bei vielen Studierenden nach
                                                                   sogar übertroffen. Allerdings gebe es daran auch einen       anfänglicher Besorgnis Erleichterung einstellt. Wer
                                                                   Haken: „Was mir fehlt, ist Zeit! Ich hätte gedacht, dass     dazu beiträgt, sind auch die Bewohner*innen Berlins:
                                                                   ich die ganzen Kulturangebote viel mehr wahrnehme.”          großstädtisch wie erwartet, aber das nicht nur auf
                                                                   Ihr Leben in Berlin hätte sie sich grundsätzlich viel        extravagante Weise, sondern auf eine geerdete und
                                                                   ausschweifender vorgestellt: „Aber man muss ja               unaufgeregte Art. Die Bewohner*innen der Stadt sind
                                                                   trotzdem seinen Alltag bewältigen und geht doch              individuell und spannend, aber manchmal „auch einfach
                                                                   seltener feiern als erwartet.“                               Normalos wie du und ich”, meint Emily (21).

                                                                   Erleichterung hat vor allem Marco (27) erlebt, dessen        Dass Berlin groß ist, lässt sich nicht leugnen. Einen
                                                                   Befürchtungen sich nicht bewahrheitet haben. Er              Tipp dazu gibt Linda* (25), die anfangs Zweifel hatte,
                                                                   konnte sogar der Covid-19-Pandemie dabei etwas               Berlin als ein richtiges Zuhause anzuerkennen: „Man
                                                                   Positives abgewinnen: „Corona und die Lockdowns              muss nur den eigenen Wohlfühlort finden. Das kann
                                                                   zwangen mich, mich langsam in die Stadt einzufinden.         ein bestimmter Kiez sein; das können aber auch tolle
                                                                   Die Entschleunigung machte den Start einfacher.” Zuvor       Menschen sein, die Berlin weniger grau und groß
                                                                   hatte er befürchtet, dass ihn zu viele soziale Aktivitäten   erscheinen lassen!“
                                                                   erschlagen könnten. Vor allem die Sorge, dass die
                                                                   Kontakte in Berlin häufig oberflächlich sind, hat sich       *Namen von der Redaktion geändert
                                                                   für ihn nicht bestätigt. Andersherum versteht er auch,
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                                                    Gefördert durch die         Zusätzliche Unterstützung durch
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     Foto: Valentin Hansen
                                                           Emotionen verborgen liegen, die man vielleicht nicht so
                                                           gerne fühlt, weil sie weh tun oder hässlich sind – dort
                                                           lauern sie dann. An manchen Stellen kann man ja in
                                                           einen gefrorenen See schauen, man sieht zwar nicht
                                                           ganz genau, was da ist, aber man weiß genau, dass da
                                                           was ist. Spürt es also irgendwie. Diese Eisschicht zeigt
                                                           und verbirgt die Emotionen zugleich. Sie sind sichtbar,
                                                           aber nicht greifbar. Das „Dem“, wie ich es nenne – also
                                                           der Kern des eigenen Selbst – befindet sich in der Mitte
                                                           des Sees und ich würde behaupten, dass es den meisten
                                                           Menschen aus Sorge, einzubrechen, nicht gelingen will,
                                                           zur Mitte des Sees zu kommen.

                                                           UnAuf: Wie hast du angefangen, dieses Buch zu
                                                           schreiben?

                                                           Czienskowskis: Am Anfang stand das Bild des
                                                           Zwiegesprächs zwischen den verschiedenen Ichs,
                                                           die im Buch zu Wort kommen und miteinander sowie
                                                           übereinander reden. Das fand ich spannend zu
                                                           beobachten, wie es sich liest, wenn man verschiedene
                                                           Anteile einer Person aufschreibt. Ein Mensch ist ja nicht
                                                           nur das oder das. Manchmal wollen sich die eigenen
                                                           unterschiedlichen Stimmen gegenseitig zerstören
                                                           im Kampf, der in einem stattfindet, oder zumindest
                                                           mundtot machen. Manchmal versuchen sie, einander
                                                           zu besänftigen, sich zu beruhigen. Diesen Konflikt
                                                           zu dokumentieren, war der Anfang des Buchs. Und
                                                           dann entwickelte sich als Rahmen die Metapher des
                                                           gefrorenen Sees.

                                                           „Ich würde Erwartungen haben als einen
                                                           ,Wartezustand’ beschreiben. Man ist passiv, nicht

    Unerwartete                                            aktiv.“

    Leichtigkeit
                                                           UnAuf: In deinem Buch schreibst du immer wieder
                                                           vom „Außen“ in Abgrenzung zum Ich, zum Selbst.
                                                           Was hältst du in Bezug darauf von dem Begriff der
                                                           Erwartung?

    Eine Erwartung ist ein ambivalenter und abstrakter     Czienskowskis: Wenn ich über Erwartungen
    Zustand. In Paulina Czienskowskis Buch „Sich           nachdenke, dann merke ich direkt, dass sie für mich
    erinnern man selbst zu sein“ changiert die             eher negativ konnotiert sind. Vielleicht weil man sie nur
    Protagonistin ständig zwischen ihrem Inneren und       enttäuschen kann? Ich würde Erwartungen als einen
    dem Außen. Die Berliner Autorin und Journalistin       „Wartezustand“ beschreiben. Man ist passiv, nicht
    spricht mit der UnAuf darüber, warum Erwartungen       aktiv, erwartet etwas ganz Bestimmtes, einen Ausgang
    nur schwer von dem Außen zu trennen sind und           oder ein Gefühl in einer Situation, in der man aber
    was Emotionen und Gefühle im weitesten Sinne mit       vielleicht noch gar nicht ist. Deshalb ist es wohl ratsam,
    einem zugefrorenen See gemeinsam haben.                keine zu haben und im Moment selbst zu erfühlen, wie
                                                           man was empfindet. Wenn ich noch tiefer gehe und mir
    UnAuf: Die Anfangsszene in „Sich erinnern, man         klar mache, was Erwartungen in mir auslösen, stelle ich
    selbst zu sein“ beginnt an einem zugefrorenen See,     jedenfalls fest, dass sie mich nervös machen. Sie engen
    in dessen Tiefen der Kern des Selbst sitzt. Wie bist   mich ein. Interessant ist, dass die meisten Erwartungen,
    du auf das Motiv des Sees gekommen?                    die ich an mich oder eine Situation stelle, meistens
                                                           durch das Außen beeinflusst sind. Erwartungen lassen
    Paulina Czienskowskis: Bei dem zugefrorenen            mich also nicht so losgelöst, so frei und leicht sein, wie
    See geht es um die Eisschicht, unter der auch jene     ich es gerne wäre.

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ERWARTUNGEN

UnAuf: Die Protagonistin deines Buches ist genervt,        wollen und auch wie ihr Kind zu sein hat. Dem ist man
dass sie immer mit ihrem Kern konfrontiert wird, ihn       ungewollt ausgesetzt, auch wenn solche Wünsche,
aufsuchen soll, zu ihm gehen soll. Was passiert mit        Erwartungen, Hoffnungen nicht unbedingt laut
dem „Dem“, wenn es mit Erwartungen konfrontiert            stattfinden, spürt man sie ja doch irgendwie. Das
wird?                                                      prägt so oder so, genau wie auch die Eltern durch ihre
                                                           Leben geprägt wurden. Erwartungen lauern überall.
Czienskowskis: Das „Dem“ beschreibt in meinem Buch         In der Familie, unter Freud*innen, in der Schule oder
ja das Innerste eines jeden Menschen. Es ist etwas         Uni. Es gibt Erwartungen an eine Frau und Mutter, an
Vulnerables, das man vielleicht nicht jedem gerne          den Mann von früher, an den von heute. Den Blick von
zeigt, das man auch selber nicht gerne erlebt, weil es     Außen übernimmt man schnell und dieser kann damit
mit Schwäche zu tun hat, mit Verletzlichkeit. Deshalb      zu dem werden, wie man auf sich selbst blickt.
schützt man es, riegelt es ab. Auch die Protagonistin
weigert sich oder traut sich nicht, in ihre Gefühlswelt    UnAuf: Welche Erwartungen hast du als Autorin an
abzutauchen, sich ihrem Selbst zu nähern, wie es so        dich selber?
viele verlangen, weil nur das offiziell als wahrhaftig
gilt. Es ist ja immer wieder die Rede vom „Kern“. Sie      Czienskowskis: Ich möchte Menschen mit meinen
ärgert diese Erwartungshaltung vom Außen, wehrt            Worten beziehungsweise Erzählungen erreichen.
sich dagegen und konstatiert, dass doch genauso das        Natürlich freue ich mich deshalb über Leser*innen, die
wahrhaftig und sie selbst ist, was sie tut, um ihre        berichten, meine Gedanken haben sie in irgendeiner
Emotionen zu schützen – ob „aus Angst, Selbstschutz,       Form weitergebracht oder sie haben ihre eigenen
aus Pose“.                                                 Gedanken plötzlich formulieren und ordnen können
                                                           mithilfe meiner Überlegungen. Ich schreibe jedenfalls
UnAuf: Stellen wir uns vor, wir lebten in einer            nicht nur, um mich selbst auszudrücken und zu
erwartungslosen Gesellschaft — wären wir nicht             sortieren, sondern auch um andere zu erreichen. Ich
alle unfassbar gleichgültig?                               begreife mich als Teil des Ganzen und deshalb denke ich
                                                           das Außen während des Schreibens indirekt mit. Das
Czienskowskis: Gleichgültigkeit bedeutet ja, dass          ist nicht immer heilsam, weil ich dadurch auch beginne,
einem alles egal ist. Vielleicht sprechen wir lieber von   zu hadern. Häufig frage ich mich dann, wieso ich mir
Offenheit? Es ist ja so, dass wenn ich zum Beispiel mit    überhaupt den Raum nehme und glaube, Menschen
einer pessimistischen Erwartungshaltung an etwas           würden lesen wollen, was ich mir ausdenke. Wenn ich
rangehe oder mich selbst vorab degradiere, schwingt        dann drüber nachdenke, wirkt es fast schon überheblich,
automatisch negative Energie mit. Das kann ja nichts       das zu tun. Ein typisch weibliches Zweifeln wird da
werden und wenn doch, überrascht es einen positiv.         laut. Ich habe das Gefühl, vom Ego eines männlichen
Aber dann bin ich doch lieber gleich offen und spare       Schriftstellers geht sowas nicht oder eher selten aus.
mir all die Gedanken vorher, wie es eventuell werden       Da gibt es dieses überromantisierte, stilisierte Bild vom
könnte. Das nur als Versuch. Daraus können dann ganz       männlichen Genie, das Dinge in die Welt gibt und dem
frei und unmittelbar wieder Emotionen entstehen, die       es egal scheint, ob diese damit etwas anfangen kann
sich jeweils als positive oder negative Erkenntnisse       oder nicht.
abgrenzen, wodurch wir für uns persönlich bewusst
machen können, was wir wann wieso empfinden.               UnAuf: Und wie ist das bei deiner Protagonistin?
Wahrscheinlich ist es sogar unvermeidbar, dass wir aus     Wie verträgt sie sich mit das Außen?
Lebenserfahrungen bestimmte Erwartungen ableiten.
Aber klar ist, dass sie verletzlich machen.                Czienskowskis: In meinem Buch changiert die
                                                           Protagonistin ja ständig zwischen ihrem Inneren und
„Den Blick von Außen übernimmt man schnell und             dem Außen, sie grenzt sich ab und verschwindet dann
dieser kann damit zu dem werden, wie man auf sich          doch wieder im Blick des Außens auf sich selbst. Es ist
selbst blickt.“                                            verworren und wie bei den Erwartungen nur schwer
                                                           auseinanderzuhalten oder sogar unmöglich voneinander
UnAuf: Wieso ist es so schwierig, keine Erwartungen        zu trennen. Da sind viele Versatzstücke, die am Ende
zu haben?                                                  versuchen, etwas Ganzes zu formulieren, etwas aus
                                                           dem Innen und dem Außen. Aber dieses Ganze ist vage,
Czienskowskis: Am Ende finden wir alle ja in einem         weil es subjektiv bleibt. Wie ich mich sehe, ist nie, wie
bereits bestehenden und sich entwickelnden Kontext         andere mich sehen.
statt. Vermutlich beginnt es doch schon mit seinen
Eltern, die einen zeugen, in die Welt setzen und           Das Gespräch führte Natalia Gette
wiederum durch individuelle Erfahrungen bestimmte
Vorstellungen davon haben, wie sie als Eltern sein

                                                                                                                       9
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ERWARTUNGEN

    Wenn die Freundschaft an
    Erwartungen zerbricht
    Von Nora Rauschenbach
    Illustration: Lidia Brankovic

    Erwartungen in und an Freundschaften lösen                Die individuelle Frage nach den Bedürfnissen
    Druck aus, zerstören Beziehungen und sind etwas
    Schlechtes. Das sind Assoziationen, die vielen im         Der Psychologe und Autor des Buches „Freundschaft.
    Zusammenhang „Erwartungen“ und „Freundschaft“             beginnen - verbessern - gestalten“, Dr. Wolfgang
    in den Kopf kommen. Doch sind Erwartungen                 Krüger, erklärt, der Mensch wolle ähnliche Werte
    nicht auch etwas ganz Normales? Hat nicht                 und Bedürfnisse haben wie seine Freund*innen: „Ich
    jede*r von uns bestimmte Vorstellungen von einer          will mit Freunden erstmal gemeinsam lachen können
    Freundschaft? Wie gehen wir damit um, wenn diese          und spüren, dass sie ähnliche Werte haben wie ich.
    Erwartungen mit denen der anderen Person nicht            Ich möchte, dass der andere eine ähnliche Hoffnung,
    übereinstimmen? Und wie entstehen überhaupt               eine ähnliche Bedürfnislage hat, was Nähe und was
    Erwartungen?                                              Autonomie anbetrifft. Dass er in einer ähnlichen Weise
                                                              in der Lage ist, über Probleme zu reden. Ich möchte
    „Habe heute die Freundschaft mit Lene* beendet. Ich       Freunde haben, die ähnliche Grundbedürfnisse haben
    weiß, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist.      [wie ich].“
    Diese Freundschaft hätte zu nicht mehr viel geführt,
    uns beide nur unglücklich gemacht. Dennoch - die          Marie*, 24 und Studentin, sieht das etwas anders:
    Erinnerung ist eine starke Kraft. Es kann doch nicht      „Es gibt Leute, die haben immer Stress mit
    alles falsch gewesen sein? Ich dachte wirklich: Jetzt     irgendjemandem, weil sie ständig erwarten, dass sich
    hab’ ich sie gefunden, die eine beste Freundin für’s      nach ihren Wertvorstellungen verhalten wird. Wenn
    Leben.“                                                   man ständig merkt, dass Freunde und Freundinnen die
                                                              Erwartungen nicht erfüllen können, da denke ich mir,
    Dies ist ein Auszug aus meinem Tagebuch, datiert          du machst dir das Leben viel einfacher, wenn du gar
    mit 28/09/2021. Das war der Tag, an dem ich eine          nichts von deinem Umfeld erwartest, weil ja auch nicht
    Freundschaft beendete, von der ich knapp fünf Jahre       jede Freundin, jeder Freund die gleichen Bedürfnisse
    lang gedacht habe, sie würde ewig bestehen bleiben, und   hat wie du selbst.“
    die letztendlich aufgrund unvereinbarer Erwartungen
    auseinander ging.                                         Die Frage nach den Bedürfnissen scheint genauso
                                                              essentiell wie individuell zu sein: Die einen suchen sich
    Doch wie lassen sich Erwartungen in einem                 direkt Freund*innen mit ähnlichen Bedürfnissen, den
    freundschaftlichen Kontext überhaupt definieren? Wie      anderen ist so etwas nicht wichtig oder sie teilen ihre
    entstehen solche Erwartungen? Und habe ich meine          Erwartungen unter den verschiedenen Freundschaften
                                                              auf: „Man hat ja auch unterschiedliche Freunde, die
    Erwartungen an diese Freundschaft vielleicht einfach
                                                              unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen können. Also
    zu hoch gesetzt? Das sind Fragen, die mich seit diesem
                                                              wenn ich jetzt ‘ne Freundin hab’, mit der ich vielleicht
    Bruch oft beschäftigen.                                   nicht so gut reden kann, aber die mein Bedürfnis nach
                                                              Abenteuern und Party erfüllt, dann geh’ ich genau zu
                                                              der, um das zu bekommen, aber dann hab’ ich auch
                                                              andere Freundinnen, die mir die Tränen trocknen“,
                                                              sagt Marie.

                                                              Von Herzen befreundet

                                                              Doch ist die Frage nach den Bedürfnissen vielleicht gar
                                                              nicht unbedingt nur eine individuelle? Sondern auch
                                                              eine Frage nach der unterschiedlichen Abstufungen
                                                              innerhalb des Freundschaftsspektrums oder des
                                                              „sozialen Dorfes“, wie Dr. Krüger es in seinem Buch
                                                              beschreibt? Ist es möglich, Freundschaften zu haben, in
                                                              denen alles miteinander geteilt wird, während andere
                                                              Freundschaften eher an der Oberfläche bleiben? Und
                                                              wenn das möglich ist, ist dann nicht doch eine gewisse
                                                              Übereinstimmung über die grundsätzlichen Wünsche
                                                              an diese Freundschaft vorauszusetzen?

                                                              Dr. Krüger trifft in Anlehnung an Aristoteles die

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                                                              Unterscheidung zwischen „Herzensfreundschaften“
ERWARTUNGEN

und      „Alltagsfreundschaften“.       Dabei      seien    eine Durchschnittsdauer von weit über 30 Jahren.
Herzensfreundschaften Freundschaften, in denen man          Was auseinander geht, sind Alltagsfreundschaften, die
sich verstanden fühle, in denen man über alles reden        doch etwas reservierter sind. Wir müssen akzeptieren,
könne und in denen es eine absolute Verlässlichkeit         dass innerhalb von sieben Jahren 50 Prozent unserer
gebe. Jetzt ist allerdings fraglich, ob das alles ganz      Alltagsfreundschaften kaputt gehen.“
ohne Erwartungen funktioniert, ob eine Verlässlichkeit
zustande kommen kann, ohne dass ich erwarte, dass           Nun kommt bei mir die Frage auf: Ist die von mir
es eine solche gibt, und ob ich nicht automatisch von       beschriebene Freundschaft eine in die Brüche gegangene
einer Herzensfreundschaft diese drei Parameter -            Alltagsfreundschaft, obwohl sie die Intensität einer
Verständnis, Offenheit, Verlässlichkeit - erwarte.          Herzensfreundschaft hatte? Oder war es der Beginn
                                                            einer Herzensfreundschaft, die wider Erwarten nicht
Freundschaft als Tauschbeziehung?                           von Dauer war? Der Schmerz jedenfalls, den ich an
                                                            diesem 28. September und noch einige Zeit danach
Auch Lina*, 25-jährige Studentin aus Berlin, spricht        verspürt habe, war enorm. Dr. Krüger sagt über den
über die Distinktion zwischen besten und guten              Begriff des Freundschaftskummers: „[…] den gibt es vor
Freundschaften: „Ich glaube, je besser die Freundschaft     allem dann, wenn Sie eine sehr innige Beziehung haben
ist, desto höher sind meine Erwartungen. An meine beste     […] wir haben das für den seltenen Fall, dass eine wie
Freundin hab’ ich andere Erwartungen als vielleicht an      auch immer geartete Herzensfreundschaft auseinander
eine gute Freundin.“ Gleichzeitig beschreibt sie jedoch     geht. Bei den normalen Alltagsfreundschaften ist die
auch den Druck, den die Erwartungen anderer an sie          Innigkeit begrenzt und wir neigen eher dazu, dass wir
auslösen können, vor allem in Bezug darauf, dass sie        pragmatisch den anderen runterstufen. Da leiden wir
sich selbst regelmäßiger melden soll.                       nicht so stark drunter […]“

Dies war auch in meiner anfangs beschriebenen               „Hi… können wir eventuell doch nochmal reden? Ich
Freundschaft Thema. Ich habe mich sehr oft bei meiner       weiß, ich hab’ gesagt, ich möchte keinen Kontakt mehr
Freundin gemeldet und hatte die Erwartung, dass sie         und dieses Hin- und Her meinerseits tut mir auch leid…
im Gegenzug das gleiche tun würde, was sie auch tat.        aber ich hatte jetzt mehr Zeit, nachzudenken und ich
Allerdings hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass      würde gern nochmal reden, wenn das geht…“ Das ist
es sie massiv unter Druck gesetzt hat, sich so oft zu       eine WhatsApp-Nachricht, die ich soeben - am 10.
melden.                                                     Dezember 2021 - an meine Freundin geschrieben habe.
                                                            Wie sie reagiert, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch
Doch wie entstehen solche Erwartungen überhaupt             nicht. Ob sie überhaupt antwortet, weiß ich nicht. Aber
und welche Rolle spielen etwa die Medien dabei? Ich         vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren, vielleicht
persönlich gebe vor allem Kultserien wie den „Gilmore       gibt es ja doch noch die Möglichkeit, einige Dinge zu
Girls“ oder „Grey’s Anatomy“ Schuld an meinen hohen         klären.
Erwartungen, da dort zum Teil eine sehr unrealistische
Darstellung von Beziehungen reproduziert wird, wie          *Namen von der Redaktion geändert
etwa dass während des Sex pausiert wird, wenn die beste
Freundin eine*n braucht. So setzen sich Kategorien wie
„bff“ oder „soul mate“ in unseren Köpfen fest. Wann
wir von einer durch zu hohe medial und gesellschaftlich
geprägte Erwartungen bestimmten Freundschaft und
wann nun von einer Herzensfreundschaft sprechen,
lässt sich nicht pauschal beantworten. Vermutlich liegt
die Beantwortung dieser Frage wieder im Individuellen.

Vom Ende der Freundschaft

Was ich aber aufgrund meiner eigenen Erfahrungen
weiß, ist, dass Freundschaften manchmal auseinander
gehen. Laut Dr. Krüger gehen Herzensfreundschaften
um       einiges       seltener      auseinander      als
Alltagsfreundschaften: „Herzensfreundschaften, in
die wir so viel investiert haben, in denen wir über viele
Dinge geredet, Erlebnisse geteilt haben, gehen sehr
selten auseinander. Herzensfreundschaften haben

                                                                                                                       11
ERWARTUNGEN

    Geschlechtsspezifische Erwartungen:
    Zwischen Fortschritt und Persistenz
    Das Mädchen spielt mit der Puppe, der Junge                UnAuf: Wie werden diese Erwartungen denn dann
    bekommt das Auto. Wie prägen solch frühe                   von den Kindern internalisiert?
    Erwartungen unser Identitätsverständnis? Prof.
    Dr. Jeannette Windheuser ist Professorin für               Windheuser: Die Frage, inwiefern es überhaupt zu
    Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten               einer Internalisierung kommt, ist natürlich eine sehr
    Gender und Diversität an der HU. Mit der UnAuf             große Aufgabe für die erziehungswissenschaftliche
    spricht sie darüber, mit welchen paradoxen                 Beschäftigung mit der Geschlechterfrage. Man kann
    geschlechtsspezifischen Anforderungen Kinder               aber auch über meine Disziplin hinausgehen und
    heutzutage konfrontiert sind.                              generell in die feministische Theorie schauen, und da
                                                               gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Zum einen
    UnAuf: Fragt man schwangere Eltern nach dem                haben wir die gleichheitsfeministische Perspektive.
    Geschlecht ihres Babys, hört man oft den Satz:             Dort wird erstmal davon ausgegangen, dass es ein
    „Das ist uns eigentlich egal, Hauptsache, es ist           Herrschaftsgefüge zwischen Männern und Frauen gibt:
    gesund!“ Wann beginnen wir auf einmal damit,               Das Patriarchat.
    doch zu kategorisieren und geschlechtsspezifische
    Erwartungen an Kinder zu stellen?                          Geschlechtsspezifische Sozialisation führt dann dazu,
                                                               dass Mädchen den einen Platz in diesem Gefüge
    Jeannette Windheuser: Es gibt natürlich zum einen          einnehmen und Jungen den anderen. Mädchen lernen
    sehr viele gesellschaftlich verankerte Erwartungen,        im Zuge dieser Sozialisation, sich um andere zu
    aber hier sprechen wir jetzt über die konkreten            sorgen, häuslich zu sein, sich mit Äußerlichkeiten zu
    generationalen Beziehungen: Eltern, die weitere            beschäftigen, sie blieben also eher in diesem Bereich
    Verwandtschaft und das soziale Umfeld beschäftigen         der reproduktiven Tätigkeiten verhaftet. Das ist das,
    sich ja bereits während der Schwangerschaft, wenn          was wir heute auch Sorgearbeit nennen. Die Jungen
    nicht gar schon bei der Planung der Schwangerschaft        hingegen würden in dieser Sozialisation eher gefördert,
    oder in Vorbereitung einer Adoption, mit der Frage         schöpferisch tätig zu sein, produktiv zu sein. Ihnen fiele
    nach dem Geschlecht des Kindes. Die Fantasien der          es dadurch auch leichter, sich in der Öffentlichkeit, im
    Erwachsenen, ob nun bewusst oder unbewusst, spielen        Beruf und in der Politik zu etablieren.
    bereits zu diesem Zeitpunkt eine Rolle. Von daher können
    wir davon ausgehen, dass jeder neue Mensch immer           UnAuf: Und welche anderen Erklärungsansätze gibt
    schon mit einer geschlechtlichen Welt konfrontiert ist.    es noch?

    UnAuf: Und welche Erwartungen stellen wir da               Windheuser: Eine andere Perspektive, die heute weit
    typischerweise an Kinder?                                  verbreitet ist, ist die gendertheoretische Perspektive. In
                                                               dieser Strömung geht man davon aus, dass die Sprache
    Windheuser: Diese Frage zielt ja eigentlich darauf ab,     eine performative Kraft hätte, also eine festschreibende
    mit welchem geschlechtsspezifischen Anforderungen          Wirkung auf die eigene Geschlechtsvorstellung. Ein
    Kinder konfrontiert sind. Wenn man jetzt davon ausgeht,    dritter Ansatz geht von einer feministisch gewendeten
    dass wir es hier mit einem geschichtlich gewordenen        Psychoanalyse aus. Hier wird davon ausgegangen, dass
    Geschlechterverhältnis zu tun haben, dann würde ich        sich unsere Geschlechtervorstellungen im Rahmen von
    sagen, dass wir heute in einer paradoxen Situation         einer sogenannten symbolischen Ordnung, einer Art
    sind. Einerseits gibt es geschlechterpolitische oder       Denkhorizont, entwickeln.
    pädagogische Anforderungen, nach denen Kinder eben
    nicht Geschlechterstereotypen ausgesetzt werden            Dieser Denkhorizont, so die These, sei an einer
    sollten, um ihnen ein möglichst freies Aufwachsen in       männlichen Position ausgerichtet und somit auch der
    dieser Hinsicht zu gewähren, und andererseits sind         Ausgangspunkt für das, was wir als Kultur und auch
    Familien in der Konsumwelt und in der Popkultur mit        als Wirtschaftsordnung erleben. Kinder wachsen nach
    massiv stereotypisierenden Bildern von Geschlecht          dieser Perspektive in einer Welt auf, in der Menschsein
    konfrontiert. Das fängt früh an mit dem typischen          mit Mannsein gleichgesetzt wird. Das würde den
    Beispiel bezogen auf Spielzeuge und Kinderkleidung,        Denkhorizont bestimmen und zur Herrschaft im
    die in rosa und hellblau angeboten werden, und mündet      Geschlechterverhältnis führen.
    im Jugendalter aber dann etwa in den Beiträgen von
                                                               UnAuf: Wir haben hier also drei unterschiedliche
    Influencer*innen, die entsprechende Klischees von
                                                               Perspektiven, wie es zu einer Internalisierung
    Weiblichkeit und Männlichkeit verbreiten.
                                                               kommt?
    Das ist ein Paradox, einerseits die starke Aufforderung,
    sich an spezifische Geschlechterbilder anzupassen, und     Windheuser: Genau. Entweder dadurch, dass Frauen
    andererseits auch ein Entgegenwirken.                      von einer bestimmten Position ferngehalten werden,

12
ERWARTUNGEN

oder dadurch, dass Geschlechter durch Sprache auf          auseinander-
Identitäten festgelegt werden, oder dass Menschen          zusetzen.
über Sprache und das mit ihr einhergehende                 Hinsichtlich
Unbewusste eine bestimmte Geschlechterordnung, in          einer neutraleren
der sie Subjekt oder Peripherie sind, verinnerlichen.      Perspektive
                                                           würde ich aber
UnAuf: Sehen Sie da eine positive Entwicklung in den       auch die Frage
letzten Jahren, oder stecken wir vielleicht doch noch      zurückspiegeln, ob
mehr in diesen rosaroten und babyblauen Schubladen,        es tatsächlich
als wir uns das vielleicht gerne eingestehen würden?       um Neutralität
                                                           gehen sollte. In
Windheuser: Ich denke, das steht im Zusammenhang           welche Richtung
mit dem, was ich vorhin schon diagnostiziert habe:         würde diese gehen?
Wir sind in einer widersprüchlichen Situation, in der      Sollte Neutralität
einerseits ein bestimmter Fortschritt proklamiert          wirklich das Ziel
wird, und sich andererseits doch einige Dinge als sehr     sein, oder bringt
persistent erweisen. Ich würde auf jeden Fall nicht        das vielleicht
                                                                              Foto: Jeannette Windheuser
absprechen, dass sich durch die Frauenbewegungen,          einen neuen
durch andere geschlechterpolitische Bewegungen und         Verdeckungszusammenhang mit sich?
die feministische Theoriebildung einiges verändert hat.
Es ist aber auch so, dass wir noch immer mit einer         UnAuf: Können Sie uns dazu ein Beispiel nennen?
sehr hartnäckigen, bestimmten Vergeschlechtlichung
der Welt konfrontiert sind. Das geht auf eine lange        Windheuser: Um ein Beispiel aus den
Geschichte zurück, die man nicht einfach so abschütteln    Erziehungswissenschaften zu bringen: Man kann
kann.                                                      nicht einfach davon ausgehen, dass, wenn man
                                                           die Geschlechter gleich beschult, am Ende auch
Wir haben es in der Bundesrepublik mit einer               das Gleiche herauskommt. Es gibt sehr wohl auch
Teenagergeneration zu tun, in der Kinder in dem            geschlechtsspezifische Mechanismen, die nicht im
Bewusstsein aufgewachsen sind, dass eine Frau              offiziellen Lehrplan zu finden sind. Die Forschung
Kanzlerin sein kann. Für die geht mit der Merkel-Ära       spricht hierbei von einem “hidden curriculum”.
tatsächlich auch eine Vorstellung von Politik zu Ende
- die Erfahrung „Ja, eine Frau kann diese Position         Der Begriff der Neutralität oder ein problematisches
einnehmen“. Das hat sicherlich auch die Perspektive        Androgynitätsverständnis, das sich bei genauerer
auf eigene Zukunftsmöglichkeiten für Mädchen               Betrachtung als männlich orientiert erweist, hilft
verschoben.                                                nicht weiter, wenn damit eine Idee des Allgemeinen
                                                           reproduziert wird, die sich gegenüber der Differenz
UnAuf: Es haben ja auch viele Staaten, nicht nur           immunisiert. Da liegt eine Gefahr drin, die eine lange
westliche, zumindest formal die Gleichheit der             Geschichte hat, nämlich die faktische Gleichsetzung von
Geschlechter juristisch verankert.                         Menschlichkeit mit Männlichkeit, die aber überdeckt
                                                           wird, indem von „dem Menschen“ gesprochen wird
Windheuser: Ja, trotzdem stehen die politischen und        unter Absehung seines Geschlechts.
theoretischen Ideale nun aber einer Realität entgegen,
in der insbesondere Misogynie und spezifische              UnAuf: Also müssen wir weg von der Idee der
Gewaltformen, die daran anschließen, immer noch eine       Neutralität?
große Rolle spielen. Ich denke, dass es hier bloß um ein
Mitspielen-dürfen geht, in dem Sinne, dass man an dem      Windheuser: Ich würde sagen, wir müssten vielleicht
teilhaben kann, wie es erstmal ist. Dieses Mitspielen-     erst einmal darüber nachdenken, ob Neutralität das
dürfen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass        ist, worum es gehen soll, oder ob es vielleicht um eine
einige Probleme im Geschlechterverhältnis einfach          andere Form des Umgangs mit der Erfahrung von
nicht angegangen werden oder immer wieder versucht         Geschlechtlichkeit geht. Momentan sind wir in einer
werden, mit den gleichen Lösungen zu bearbeiten.           Situation, die offensichtlich nicht wirklich weiterhilft: Ja,
                                                           wir haben ganz viele Errungenschaften, und zugleich gibt
UnAuf: Was würden Sie sagen, muss sich tun, damit          es aber spezifische Formen von Herrschaft und Gewalt,
wir zukünftigen Generationen mit einer neutraleren         und auch von gesellschaftlichen und ökonomischen
Erwartungshaltung begegnen können?                         Strukturen, die weiterhin Herrschaftsverhältnisse
                                                           begünstigen.
Windheuser: Sie sprechen damit wohl pädagogische
Interventionen an, nach denen man vielleicht auch          Vielleicht müssen wir sagen: Die Frage nach diesem
jenseits von so einer Zweigeschlechtlichkeit erziehen      Widerspruch ist einfach offen und es ist eine aktuell
könnte. Es macht dabei jedoch einen Unterschied,           drängende Aufgabe, sich dem zu widmen und neue
ob man davon ausgeht, dass Sprache festschreibend          theoretische und politische Entwürfe zu wagen.
ist, oder dass die Erfahrung vom eigenen Körper
zwar nicht direkt geschlechtliche Identität bestimmt,      Das Gespräch führte Kyra Hoffmann

                                                                                                                    13
aber Anlass gibt, sich mit der eigenen Begrenzung
ERWARTUNGEN

    Bin ich queer und wenn ja, wie viel?
    Von Pau Linke                                               galt der Begriff im Englischen als Beleidigung, um
    Illustration: Céline Bengi Bolkan                           Menschen als seltsam oder eigenartig zu degradieren.
                                                                Im Laufe der 80er- und 90er-Jahre eigneten sich
    Es    gibt    viele   Labels,   um     die   eigene         insbesondere schwarze queere Menschen den Begriff
    Geschlechtsidentität oder Sexualität zu beschreiben.        als Selbstbezeichnung an, indem sie ihn positiv
    Und trotz dieser Begriffsvielfalt scheint es einen          besetzten.
    kleinen gemeinsamen Nenner zu geben: queer. Was
    hat es damit auf sich? Von Erwartungen und Gefühle          Queer sein - ein Politikum?
    gegenüber einer Selbstbezeichnung.
                                                                Jamie* sitzt Rahel gegenüber, mit dem Rücken zum
    Laute Musik übertönt die mit Stimmengewirr gefüllte         Tresen. Jamies Verständnis von queer liegt eine
    Geräuschkulisse. Menschen sitzen in kleinen Gruppen         politische Haltung zu Grunde: Es sei auch eine Form der
    zusammen. Die Wärme im Raum lässt die Kälte draußen         Abgrenzung und ein Ausdruck, nicht in eine Schablone
    vergessen: Manche tragen knappe Outfits, als ob             passen zu wollen. Als nicht-binäre Person ist für Jamie
    es Sommer wäre. Die Stimmung wirkt vertraut und             die Bezeichnung queer so wichtig, weil sie keine klaren
    ausgelassen. Es ist Samstagabend in einer queeren Bar.      Rückschlüsse auf Geschlechtsidentität oder Sexualität
    Beim Betreten sticht sofort der lange Bartresen hervor,     zulässt: „Wenn ich sage, ich bin queer, sagt das noch
    über dem rote LED-Lichter flackern. Zuerst poppt +++        nichts darüber aus, wen ich begehre oder wie ich mich
    gay bar +++ und anschließend +++ queer bar +++              identifiziere.“
    auf. Was nun? Die Person hinter dem Tresen erzählt
    mir, es sei eher eine queere als eine gay Bar. Man wolle    Jamie hat längere Zeit ein anderes Label genutzt. Wohl
    Sichtbarkeit für alle Personen innerhalb der LGBTIQ-        habe sich Jamie dabei nicht gefühlt. Es sei eher eine
    Community schaffen. Nicht nur für schwule Männer,           Zuschreibung von außen gewesen, die Jamie einfach
    an die klischeehaft gedacht werde, wenn im Deutschen        übernommen habe. Queer zu sein, bedeute für Jamie
    das Wort gay genannt wird. Auch lesbische und trans         immer auch ein Ausweichen von Fremdzuschreibungen.
    Personen sollten hier einen Safer Space finden. Was für     „Für mich ist es sehr wichtig, sich auch in der
    einen Unterschied macht also dieses kurze Wort queer?       Geschlechtsidentität und Sexualität herauszufordern.
                                                                Sich also die Frage zu stellen: Warum handle oder
    „Viele wissen nicht, was es mit dem Begriff auf sich        denke ich so? Verbirgt sich dahinter vielleicht eine
    hat“                                                        Anleitung, die die Gesellschaft für mich vorbereitet hat
                                                                und deren Regeln ich einfach verinnerlicht habe? Labels
    Eine Besucherin der Bar ist Rahel*. Sie sitzt auf der       sind häufig sowohl in der Identität als auch im Begehren
    Fensterbank mit dem Rücken zu der Straße. Die Kälte         auf ein Geschlecht eingrenzend. Queer lässt da mehr
    draußen liefert für sie den Einstieg in ein Gespräch mit    Freiräume.“ Jamie würde sich wünschen, dass mehr
    dem Nachbartisch. Ein Bein wärmt sie an der Heizung,        Menschen ihre Sexualität und Geschlechtsidentität im
    das andere ist angewinkelt. Über ihre Sexualität            Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konventionen
    spricht sie gelassen: Sie sei kein Fan von Labels. Aber     hinterfragen. Auch Personen, die sich bereits als queer
    queer treffe es noch am besten. „Für mich umfasst das       verstehen.
    Wort halt alles, was nicht Cis-Hetero ist.“ Trotzdem
                                                                Judith Butler, die wohl bekannteste Vertreter*in
    tut sie sich dabei schwer, ihre Sexualität zu definieren.
                                                                der Queer Theory, argumentiert dafür, queer nicht
    Schließlich gebe es auch keine einheitliche Form der
                                                                als feststehende Identität zu begreifen. Queer
    Heterosexualität. Begriffe wie bisexuell oder pansexuell
                                                                zu sein, heiße, selbstkritisch zu handeln, um sich
    lehnt sie ab. Sie seien ihr zu spezifisch. „Aber ich muss
                                                                möglicherweise neu positionieren zu können. Es sei
    auch sagen, dass viele cisheterosexuelle Personen oft
                                                                demnach auch ein Hadern mit eigenen Bedürfnissen,
    gar nicht wissen, was es genau damit auf sich hat, wenn
                                                                die mit gesellschaftlichen Normen zu kollidieren
    ich sage, ich bin queer. Vielleicht weil das Wort aus dem
                                                                scheinen. Das müsse sich nicht nur auf Fragen des
    Englischen kommt und im Deutschen noch nicht so
                                                                Geschlechts oder der Sexualität beschränken. Weiter
    etabliert ist.“
                                                                gedacht würde das also heißen, dass eine queere
    Dabei steht queer als Adjektiv sogar im Duden. Doch         Community auch bestehende Strukturen innerhalb
    die Definition wirkt etwas unbeholfen: „Einer anderen       der Community ständig aufarbeiten muss. Es
    als der heterosexuellen Geschlechtsidentität zugehörig      entsteht eine Verletzlichkeit, weil sich verinnerlichte
    sein“. Das ist eine missverständliche Zusammenführung       Vorstellungen stetig bewusst gemacht und reflektiert
    von Geschlechtsidentität und Sexualität. Wie kann die       werden müssen. Das macht queeres Handeln zu einem
    Art und Weise, wie ich mich geschlechtlich identifiziere,   politischen Projekt.
    heterosexuell sein?
                                                                „Raum für die Unsicherheit, die wir alle haben“
    Stattdessen wird der Begriff queer heutzutage eher als
    Sammelbegriff für Menschen verstanden, die sich nicht       Rahel schätze ebenfalls die große Spannweite, die der
    der Cishetero-Norm zugehörig fühlen. Ursprünglich           Begriff queer ihr lässt. Dennoch begleitete sie oft das

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ERWARTUNGEN

Gefühl, diesem Label nicht gerecht werden zu können.
Sie finde es manchmal schwierig, sich queer zu nennen:
„Ich denke, Labels sind vor allem dann wichtig, wenn
Menschen auf eine Weise gezwungen sind, sich wegen
irgendwelcher Normen positionieren zu müssen. Diesem
Problem war ich aber eigentlich nie ausgesetzt.“ Sie
fühle sich so unvorbelastet, erklärt Rahel, weswegen
sie lieber anderen Menschen den Raum überlassen
möchte, sich als queer zu identifizieren.

Queere Personen sind immer noch häufig
marginalisiert. So geben beispielsweise 80 Prozent
der queeren Jugendlichen an, bereits Diskriminierung
auf Grund ihrer Sexualität oder geschlechtlichen
Identität erlebt zu haben. Doch selbst unter queeren
Menschen gibt es große Diskrepanzen, weil das
Label unterschiedlichste Lebensrealitäten vereint.
Viele     Diskriminierungserfahrungen      beschränken
sich dabei nicht nur auf das Queersein, sondern
umfassen ebenfalls Bereiche des Rassismus, der
Behindertenfeindlichkeit oder des Sexismus. Deshalb
lassen sich Diskriminierungen nicht immer auf eine
Kategorie reduzieren. Queer als Begriff erzeugt die
Illusion einer Homogenität, die es in dieser Form nicht
gibt.

Was bedeutet also queer und wer entscheidet, was
als queer gilt? Jamie wird bei dieser Frage ambivalent,
denn für viele sei Queerness politische Realität.
„Deswegen soll es kein fancy Modeaccessoire sein, mit
dem Menschen sich schmücken können. Vor allem nicht
für Unternehmen im Pride Month.“

Andererseits, räumt Jamie ein, bräuchten wir ein
Bewusstsein dafür, dass sich das Queersein ganz
unterschiedlich ausdrücken kann. Es ergebe keinen
Sinn, hier ein Kriterium zu nennen. Jamie sieht die
eigene Queerness eher in eigenen Handlungen anstatt
als ein identitätsstiftendes Merkmal. Als Bruch mit der
Norm durch das Spielen mit Geschlechterrollen zum
Beispiel. Jamies Einschätzung nach sei es genau das,
was viele queere Menschen gemeinsam hätten: Der
Wunsch, für sich und die Mitmenschen die Freiheit zu
schaffen, sich unabhängig von starren und einengenden
Vorstellungen entfalten zu können.

Vielleicht beschreibt Rahel ihre Sexualität deswegen
auch am liebsten in eigenen Worten, ohne sich auf
Labels zu beziehen: „Dazu hat mich auch eine Freundin
inspiriert. Sie hat mich vor einiger Zeit mal gefragt, ob
ich mir in meiner Sexualität sicher bin. Das fand ich viel
schöner als die Frage nach irgendwelchen Begriffen.
Das lässt Raum für die Unsicherheit, die wir alle
irgendwie manchmal haben – egal ob im Begehren oder
in der Geschlechtsidentität.“

*Namen von der Redaktion geändert

                                                                  15
ERWARTUNGEN

    „Wir dürfen die Bühne nicht den Rassisten
    und Faschisten übergeben“ —
    Erwartungen im Kampf gegen rechts
    Von Leoni Gau

    Im Kampf gegen Rechtsextremismus und seine                   Am 6. Mai 2013 begann der NSU-Prozess vor dem
    Gewalt spielen antifaschistische und antirassistische        Oberlandesgericht München. Hauptangeklagte war
    Initiativen, Bündnisse und Gruppen in Deutschland            Beate Zschäpe. Ralf Wohlleben, Holger Gerlach,
    eine entscheidende Rolle. Sie machen die Gefahr              André Eminger und Carsten Schultze wurden als
    des Rechtsextremismus sichtbar, informieren und              Unterstützer des NSU-Trios angeklagt. Fünf Jahre und
    gedenken an rechtsextremistische Gewalt und                  438 Verhandlungstage später fiel das Urteil. Zschäpe
    leisten politische Aufklärungsarbeit – Aufgaben,             wurde wegen Mittäterschaft und Mitgliedschaft in
    denen die deutsche Politik oftmals nur unzureichend          der terroristischen Vereinigung NSU sowie schwerer
    nachkommt. Die Gruppen „NSU-Watch”, der                      Brandstiftung zu lebenslanger Haft mit Feststellung
    „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen
    Brandanschläge in Mölln 1992“ und die „Initiative 9.
    Oktober Halle” haben ganz direkte Erwartungen an
    die Politik, die Gesellschaft und sich selbst.

    „Nazis morden, der Staat macht mit, der NSU war nicht
    zu dritt!“ Vor fünf Jahren, ich war 15 Jahre alt, nahm ich
    an einer Anti-AfD-Demo in Berlin teil. Dort begegnete
    mir diese Parole zum ersten und nicht zum letzten Mal.
    Seitdem lässt mich das Thema Rechtsextremismus in
    Deutschland nicht mehr los. Ich fing an, mich näher mit
    dem Nationalsozialistischen Untergrund, kurz NSU, zu
    beschäftigen und war fassungslos.

    Fassungslos von den kaltblütigen, rassistischen
    Morden, verübt von Rechtsextremist*innen — aber auch
    von der mangelhaften Aufklärung und Aufarbeitung der
    Mordserie durch die deutsche Politik und Justiz. Ich
    konnte mir nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist.
    Ich war naiv und dachte nur aus meiner privilegierten
    Perspektive als nicht von Rassismus betroffene Person
    heraus. Heute sind meine Erwartungen an den Staat
    niedriger — und realistischer — nicht zuletzt dank der
    Arbeit von Initiativen, Bündnissen und Gruppen, die sich
    gegen rechtsextremen Terror engagieren.

    Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess

    Der NSU war eine rechtsterroristische Vereinigung, die
    von 2000 bis 2007 neun Menschen aus rassistischen
    Motiven und eine Polizistin ermordete sowie drei
    Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübte.
    Der Kern der Terrorvereinigung bestand aus den               der besonderen Schwere verurteilt.
    drei Jenaer Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt              Die vier weiteren Angeklagten erhielten Haftstrafen
    und Beate Zschäpe. Das Trio lebte seit 1998 bis zu           von zweieinhalb bis zehn Jahren. Im August 2021 wies
    seiner Selbstenttarnung am 4. November 2011, bei             der Bundesgerichtshof die Revisionen von Zschäpe,
    dem Mundlos und Böhnhardt Suizid begangen, im                Wohlleben und Gerlach zurück und bestätigte die Urteile
    Untergrund. Nur wenige Tage nach der Selbstenttarnung        als rechtskräftig. Gegen das Urteil von zweieinhalb
    stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Das war das          Jahren Haft für André Eminger, der als einer der engsten
    Ende der größten rechtsterroristischen Mordserie             Unterstützer des NSU gilt, legten nicht nur Emingers
    seit der Wiedervereinigung — und der Anfang ihrer            Anwälte Revision ein, die einen Freispruch verlangten,
    Aufklärung. Im Februar 2013 versprach die ehemalige          sondern auch die Bundesanwaltschaft selbst. Sie
    Bundeskanzlerin Angela Merkel eine vollständige              forderte eine Strafe von zwölf Jahren. Im Dezember
    Aufklärung der Mordserie. Doch dieses Versprechen            2021 wies der Bundesgerichtshof die Revisionen zurück
    hat sie gebrochen.                                           und bestätigte das milde Urteil gegen Eminger.

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