ERWARTUNGEN - UNAUF ONLINE
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UNAUFGEFORDERT. UNABHÄNGIGE STUDIERENDENZEITUNG DER FEBRUAR 2022 HUMBOLDT-UNIVERSITÄT SEIT NOVEMBER 1989 NR. 259 Erwartungen
Editorial Impressum Liebe Leser*innen, UnAufgefordert. Die unabhängige Studierendenzeitung der Humboldt-Universität zu Berlin. wir haben alle ständig furchtbar viele Erwartungen. An uns selbst, an andere, an Ereignisse – eigentlich Herausgeber: Kuratorium des Freundeskreises der an alles. Aber nichts ist, wie wir es uns vorstellen. UnAufgefordert e.V. Erwartungen werden oft enttäuscht und doch können wir das Erwarten nicht lassen. Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin Von dem jetzigen hybriden Semester haben wir Studierende einiges erwartet. Wir wollten Chefredaktion: endlich wieder in Präsenz an den Campus, wollten Jacqueline Kamp, Nils Katzur, Laura Ella Strübbe Begegnungen in der Mensa, in der Bib sitzen und Schlussredaktion: Antonia Augsbach, Leoni Gau, irgendwie war doch alles anders, als erhofft. Die Rachel Geisler, Dennis Günzel, Christina Kleinert, ersehnte Normalität ist nicht zurückgekehrt. Büsra Koc, Malin Kraus, Pau Linke, Selina Matthey, Trotz dem es anders kam, haben wir gelernt, damit Johanna Pfleger, Nora Rauschenbach umzugehen. Natürlich haben wir aber auch nicht Kontakt: chefred@unauf.de aufgehört, Erwartungen zu haben. Anzeigen: werbung@unauf.de Besonders hohe Erwartungen haben die Erstis an ihren Studienbeginn: Hoffentlich ist das gewählte Layout und Gestaltung: Mara Avendano Studienfach das richtige, hoffentlich sind die Illustrationen: Céline Bengi Bolkan, Lidia Brankovic Kommiliton*innen nett, und hoffentlich ist Berlin, wie vorgestellt. Gerade Menschen, die neu nach Titelbild: Marie Castner Berlin ziehen, haben ganz bestimmte Vorstellungen von der Hauptstadt. Druck: Gemeindebriefdruckerei, Eichenring 15a, 29393 Groß Oesingen Aber nicht nur an das Studium und die Stadt, in Auflage: 2.000 der wir leben, haben wir Erwartungen. Auch von Emissionsarm gedruckt auf 100% Recyclingpapier unseren zwischenmenschlichen Beziehungen Die Artikel und Beiträge spiegeln nicht erhoffen wir uns einiges, vor allem von unseren notwendigerweise die Meinung der Redaktion wider. Freundschaften. Nicht zu vergessen sind natürlich Nachdruck und Vervielfältigung nur nach vorheriger die Anforderungen, die wir an uns selbst stellen. Ob Genehmigung. Die Redaktion behält sich vor, das jetzt die perfekte Morgenroutine ist oder die Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Selbstbezeichnung, in der wir uns wiederfinden, Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 20. Dezember wie zum Beispiel „queer“. 2021 Wir können es einfach nicht lassen, Erwartungen Die UnAufgefordert erscheint seit dem 17. November zu haben. Wo uns die Erwartungen hinführen, lest 1989 an der Humboldt Universität zu Berlin und ist eine der ältesten Studierendenzeitungen Deutschlands. ihr in diesem Heft. Zuletzt bleibt noch zusagen, Seitdem begleitet sie den Weg der HU durch dass es eine neue Chefredaktion gibt und ihr dürft unabhängige und professionelle Berichterstattung wie immer viel von uns und der UnAuf erwarten. über Forschung und Lehre, studentisches Leben und Kultur. Bereits zweimal wurde ihr dafür der Pro- Wir hoffen, euch bald wieder auf dem Campus zu Campus Presse Award als beste deutschsprachige Studierendenzeitung verliehen. treffen, aber bis dahin könnt ihr euch mit uns auf Instagram, Facebook und Twitter vernetzen: UnAufgefordert online: www.unauf.de @unaufgefordert. Offene Redaktionssitzung jeden Montag im Semester, 18.30 Uhr, Die Chefredaktion Invalidenstraße 110, Raum 118 Laura Ella Strübbe, Nils Katzur und (finden aktuell online statt) Jacqueline Kamp 3
Inhalt Erwartungen 5 Glosse: Ein Morgen voller Erwartungen 6 Berlin, was erhoffen wir uns eigentlich von dir? 8 Unerwartete Leichtigkeit 10 Wenn die Freundschaft an Erwartungen zerbricht 12 Geschlechtsspezifische Erwartungen: Zwischen Fortschritt und Persistenz 14 Bin ich queer und wenn ja, wie viel? 16 „Wir dürfen die Bühne nicht den Rassisten und Faschisten übergeben“ - Erwartungen im Kampf gegen rechts Campus 19 Was macht eigentlich… die Initiative „Seid ihr die Ersten“? 20 Studienbeginn: Anders als erwartet 22 Post aus Nairobi 24 Sprachkritik: Hysterie 25 Aus meiner Sicht: Einsamer Takt im Bahnhof Friedrichstraße Leben 26 Bis der Teller leer ist - Essstörungen bei Männern 28 Einmal im Leben: Falsch Positiv 29 News aus der HU 30 (Ohne) Endstation: Die Ringbahn
ERWARTUNGEN Glosse: Ein Morgen voller Erwartungen Von Rachel Geisler erinnert mich jetzt netterweise an das Ende der Illustration: Céline Bengi Bolkan Leihfrist der Bücher, die sich auf dem Boden neben dem Schreibtisch stapeln – dabei ist die Hausarbeit Das Gezwitscher der Vögel, die blassen Sonnenstrahlen, noch gar nicht fertig. Mit diesen ganzen Gedanken die das Zimmer durchfluten, ein leises Stöhnen beim werd ich jetzt sowieso nicht gleich einschlafen können, Aufwachen und langsam löst die Realität des Morgens dann brauch' ich eben noch was zum Hören, vielleicht die verträumte Nacht ab. Endlich beginnt ein Tag voller irgendeinen Podcast, aber welchen? Ich scrolle und Hoffnung und Tatendrang! suche. Das mit dem Bildschirm-Blaulicht-Verbot vor dem Einschlafen ist jetzt eh gelaufen. Und dann, kurz Der Morgen fängt oft schon am Abend an. Mit einer vor dem Einschlafen fällt mir ein, dass der Wecker noch perfekt durchgetakteten ‚Night-Time-Routine‘, die – das gestellt werden muss. Jetzt wird erstmal gezählt wie erklärt sich von selbst - aus einer entspannenden Yoga- viele Stunden diese Nacht geschlafen werden darf. Session, dem Auftragen von diversen Haut-, Augen- Jeden einzelnen Klingelton gehe ich durch, entweder zu und Gesichtslotionen, dem Schlürfen eines Lavendel- schrill, zu leise, zu laut, oder einfach nervig. Hätte ich Baldrian-Haferkraut-Tees und der einstündigen doch schon längst eine neue Batterie für den schicken Lektüre irgendeines Murakami-Buchs besteht, wird der analogen Wecker gekauft: Dann müsste ich das nicht regenerierendste Achtstundenschlaf eingeläutet, den immer am Handy machen. es geben kann. Das ist das Geheimnis eines stressfreien, aber auch und vor allem produktiven, effizienten und Montagmorgen. Der Handywecker klingelt. Sechs konstruktiven, vielleicht sogar kreativen Morgens. Mal wird auf snooze gedrückt. Bei jedem erneuten Geheimzutat: AcHtSaMkEiT! Aufwachen denke ich dann, wie müde ich doch bin. Und dann irgendwann packt mich die Scham, noch nicht Ja, schön wär’s. zeitungslesend und blusetragend am Frühstückstisch Porridge zu essen. Es muss jetzt alles hektisch Eher sieht es nämlich so aus, dass versucht wird, den passieren, schließlich sind alle anderen bestimmt schon Zwiebelgeschmack im Mund durch eine zwanzigminütige total produktiv bei der Arbeit. Zahnputz-Session verschwinden zu lassen, und beim Anblick des Badezimmerbodens kommen dann nicht gerade Glücksgefühle hoch. Vor einer Stunde sind mir Aber du hast keine Zeit für aChTsAmE Produktivität, die Augen bei jedem Atemzug schon zugefallen und denn du bist eine chaotische Studentin, du versuchst jetzt bin ich wieder hellwach. Also wird noch auf ein dich in dieser Welt und Zeit zurecht zu finden, dem zu paar Nachrichten geantwortet, und oh diese E-Mail entsprechen, was von dir erwartet wird, und du merkst, dass nun noch etwas auf deine To-Do-Liste gekommen ist: Wie emanzipiere ich mich denn jetzt von diesem in unserer leistungsorientierten Gesellschaft antrainierten Produktivitätswahn??!!!11 5
ERWARTUNGEN Berlin, was erhoffen wir uns eigentlich von dir? Von Johanna Pfleger Illustration: Lidia Brankovic „Paradies der kulturellen Möglichkeiten“, „Ich habe nur Schlechtes gehört“, „Total vermüllt“, „Alle Clubs haben 24/7 offen“ – jedes Jahr ziehen tausende junge Menschen nach Berlin, um dort zu studieren und im besten Fall ein neues Zuhause zu finden. Manche von ihnen haben hohe Erwartungen an ihr neues Leben in der Hauptstadt. Ein Umzug wird meist von Vorstellungen darüber begleitet, wie das zukünftige Leben am neuen Wohnort aussehen könnte. Bis die Realität einen einholt, bleibt viel Raum für persönliche Erwartungen — dazu gehören positive, wie Neugier und Faszination gegenüber dem noch Fremden, sowie auch negative, zum Beispiel die – seien es politische, gesellschaftliche oder soziale der Sorge vor Einsamkeit oder Heimweh. Haltungen, die die eigenen Ansprüche an das Leben in Stadt mitformen. Während die eine Person sich nichts Einen Ersteindruck des potenziellen Wohnorts sehnlicher wünscht als Freizügigkeit und Anonymität, haben junge Menschen häufig automatisch durch die bereiten diese Aspekte einer anderen Unbehagen. Die Stereotype, die mit ihm verbunden sind. Dabei sind positiven oder negativen Vorstellungen sind eng mit der nur wenige Städte derart angereichert mit Klischees eigenen Persönlichkeit verwoben. und Vorurteilen wie Berlin. Ungewöhnlich ist aber die Diskrepanz, die sich zwischen ihnen auftut. Ob Um einen Eindruck zu bekommen, welche Erwartungen dauerhaft feiernde, internationale Partymeuten junge Noch-Nicht-Berliner*innen an die Hauptstadt in Friedrichshain, eine Anhäufung glänzender stellen, hat die UnAuf verschiedene Studierende Diplomatenautos im Regierungsviertel, Spinat- nach ihren Wünschen und Hoffnungen befragt. Dabei Smoothies und Jutebeutel im Prenzlauer Berg, oder ein waren Kommiliton*innen verschiedener Altersgruppen heruntergekommenes Konglomerat an überquellenden vertreten, sowie solche, die bereits weggezogen sind, Mülleimern — Assoziationen mit Berlin sind zahlreich oder noch planen, nach Berlin zu ziehen. Eines zeigte sich und in ihrer Unterschiedlichkeit schwer zu überbieten. hierbei ganz deutlich: Manche von ihnen machte bereits Diese Vorurteile, oft auch befeuert durch Serien, Filme die Vorstellung Angst, sich in Berlin eine Wohnung oder und Medienberichte, beeinflussen die Erwartungen, ein WG-Zimmer suchen zu müssen. Andere wiederum die Studierende haben, bevor sie den Umzug in die konnten es kaum erwarten, sich zum ersten Mal beim Hauptstadt wagen. Auch frühere Erfahrungen können veganen Vietnamesen in Kreuzberg auszutoben. dabei prägend sein. Wer eine Stadt bereits mit den Eltern oder auf Klassenfahrt erlebt hat, konnte „Eigentlich wäre mir etwas Entspannteres lieber dadurch lediglich einen ersten Eindruck gewinnen. gewesen.“ Was dabei aber nicht vergessen werden darf, ist der Unterschied zwischen dem Besuch eines Ortes und Vor allem der Partytourismus und die wilden Gerüchte dem tatsächlichen Wohnen und Leben dort. über die Technoszene sorgen unter Studierenden für große Hoffnungen. Was viele an der Stadt attraktiv Für Berlin kann das Jahr 2020 insofern als besonders finden, hat Marco* (27) aus Peru eher abgeschreckt. bezeichnet werden, als dass die Stadt zum ersten Für ihn war Berlin nicht die erste Option, als er nach Mal seit 20 Jahren weniger Zuzüge als Wegzüge Deutschland gezogen ist: „Eigentlich wäre mir etwas verzeichnete. Allerdings waren es immer noch 143.000 Entspannteres lieber gewesen.“ Menschen, die es im letzten Jahr in die Hauptstadt zog. Grob entspricht das der Einwohnerzahl einer Julia* (23) hingegen, die mit 18 nach Berlin kam, muss mittelgroßen Studierendenstadt wie Regensburg in schmunzeln, wenn sie über ihre damaligen Erwartungen Bayern. nachdenkt: „Ich war total naiv und dachte, man würde sich permanent in Mitte aufhalten.” Darüber hinaus Individuelle Erwartungen sind nicht auf habe sie sich Berlin vor allem offen und international andere übertragbar vorgestellt. Berlin als Ort der freien Entfaltung der Persönlichkeit – das hat auch Emily* (21) erwartet, In Berlin studieren im aktuellen Wintersemester als sie in die Hauptstadt kam: „Endlich das machen, 2021/2022 rund 202.000 junge Menschen. So worauf ich Bock habe.” Sie war froh, sich nicht mehr unterschiedlich wie die Mythen, die Berlin umranken, im kleinstädtischen Raum bewegen zu müssen und an sind auch die Studierenden selbst. Jede*r unter ihnen jeder Ecke etwas zu finden, was sie braucht, mag oder bringt entsprechend unterschiedliche Einstellungen mit 6 gerne unternimmt. Was die Wohnungssuche anbelangt,
ERWARTUNGEN äußerte Jörg* (29) große Bedenken: „Erwartet habe ich dass viele Studierende Sorgen haben, in der Anonymität auf jeden Fall einen kaputten Wohnungsmarkt. Berlin Berlins zu vereinsamen. Er habe zum Glück bisher einen war mir eher suspekt.“ anderen Eindruck gewinnen können: „Ich habe noch nie so unkompliziert Kontakte geknüpft wie hier.” Was ist aus den Erwartungen geworden? Dass das Studieren in Berlin neue Chancen bietet, Erwartungen verwandeln sich durch die Konfrontation betonte Emily* (21): „Hier konnte ich ganz neue Dinge mit der Realität meist automatisch in Erleichterung, kennenlernen. Berlin ermöglicht mir, endlich in den Überraschung oder Enttäuschung — Studierende Bereichen tätig zu sein, die mich interessieren: erleben dabei oft alle drei Reaktionen: Innovation und Nachhaltigkeit.” Erleichterung stellte sich auch bei Jörg (29) ein, für den sich nicht jedes Nicole (24) hat nach vier Monaten in Berlin erleichtert Vorurteil bestätigte: „Die Stadt ist auch viel ruhiger und festgestellt, dass die Anonymität ihr tatsächlich erholsamer als gedacht.” ermöglicht, tun und lassen zu können, was sie möchte. Wie Julia (23) hatte sie sich auf das kulturelle Angebot Ein aus den Antworten gezeichnetes Stimmungsbild der Stadt gefreut. Dabei wurden ihre Vorstellungen zeigt deutlich, dass sich bei vielen Studierenden nach sogar übertroffen. Allerdings gebe es daran auch einen anfänglicher Besorgnis Erleichterung einstellt. Wer Haken: „Was mir fehlt, ist Zeit! Ich hätte gedacht, dass dazu beiträgt, sind auch die Bewohner*innen Berlins: ich die ganzen Kulturangebote viel mehr wahrnehme.” großstädtisch wie erwartet, aber das nicht nur auf Ihr Leben in Berlin hätte sie sich grundsätzlich viel extravagante Weise, sondern auf eine geerdete und ausschweifender vorgestellt: „Aber man muss ja unaufgeregte Art. Die Bewohner*innen der Stadt sind trotzdem seinen Alltag bewältigen und geht doch individuell und spannend, aber manchmal „auch einfach seltener feiern als erwartet.“ Normalos wie du und ich”, meint Emily (21). Erleichterung hat vor allem Marco (27) erlebt, dessen Dass Berlin groß ist, lässt sich nicht leugnen. Einen Befürchtungen sich nicht bewahrheitet haben. Er Tipp dazu gibt Linda* (25), die anfangs Zweifel hatte, konnte sogar der Covid-19-Pandemie dabei etwas Berlin als ein richtiges Zuhause anzuerkennen: „Man Positives abgewinnen: „Corona und die Lockdowns muss nur den eigenen Wohlfühlort finden. Das kann zwangen mich, mich langsam in die Stadt einzufinden. ein bestimmter Kiez sein; das können aber auch tolle Die Entschleunigung machte den Start einfacher.” Zuvor Menschen sein, die Berlin weniger grau und groß hatte er befürchtet, dass ihn zu viele soziale Aktivitäten erscheinen lassen!“ erschlagen könnten. Vor allem die Sorge, dass die Kontakte in Berlin häufig oberflächlich sind, hat sich *Namen von der Redaktion geändert für ihn nicht bestätigt. Andersherum versteht er auch, Noa Jansma, Buycloud, 2020–2021 © the artist . Design naroska.de Gefördert durch die Zusätzliche Unterstützung durch
ERWARTUNGEN Foto: Valentin Hansen Emotionen verborgen liegen, die man vielleicht nicht so gerne fühlt, weil sie weh tun oder hässlich sind – dort lauern sie dann. An manchen Stellen kann man ja in einen gefrorenen See schauen, man sieht zwar nicht ganz genau, was da ist, aber man weiß genau, dass da was ist. Spürt es also irgendwie. Diese Eisschicht zeigt und verbirgt die Emotionen zugleich. Sie sind sichtbar, aber nicht greifbar. Das „Dem“, wie ich es nenne – also der Kern des eigenen Selbst – befindet sich in der Mitte des Sees und ich würde behaupten, dass es den meisten Menschen aus Sorge, einzubrechen, nicht gelingen will, zur Mitte des Sees zu kommen. UnAuf: Wie hast du angefangen, dieses Buch zu schreiben? Czienskowskis: Am Anfang stand das Bild des Zwiegesprächs zwischen den verschiedenen Ichs, die im Buch zu Wort kommen und miteinander sowie übereinander reden. Das fand ich spannend zu beobachten, wie es sich liest, wenn man verschiedene Anteile einer Person aufschreibt. Ein Mensch ist ja nicht nur das oder das. Manchmal wollen sich die eigenen unterschiedlichen Stimmen gegenseitig zerstören im Kampf, der in einem stattfindet, oder zumindest mundtot machen. Manchmal versuchen sie, einander zu besänftigen, sich zu beruhigen. Diesen Konflikt zu dokumentieren, war der Anfang des Buchs. Und dann entwickelte sich als Rahmen die Metapher des gefrorenen Sees. „Ich würde Erwartungen haben als einen ,Wartezustand’ beschreiben. Man ist passiv, nicht Unerwartete aktiv.“ Leichtigkeit UnAuf: In deinem Buch schreibst du immer wieder vom „Außen“ in Abgrenzung zum Ich, zum Selbst. Was hältst du in Bezug darauf von dem Begriff der Erwartung? Eine Erwartung ist ein ambivalenter und abstrakter Czienskowskis: Wenn ich über Erwartungen Zustand. In Paulina Czienskowskis Buch „Sich nachdenke, dann merke ich direkt, dass sie für mich erinnern man selbst zu sein“ changiert die eher negativ konnotiert sind. Vielleicht weil man sie nur Protagonistin ständig zwischen ihrem Inneren und enttäuschen kann? Ich würde Erwartungen als einen dem Außen. Die Berliner Autorin und Journalistin „Wartezustand“ beschreiben. Man ist passiv, nicht spricht mit der UnAuf darüber, warum Erwartungen aktiv, erwartet etwas ganz Bestimmtes, einen Ausgang nur schwer von dem Außen zu trennen sind und oder ein Gefühl in einer Situation, in der man aber was Emotionen und Gefühle im weitesten Sinne mit vielleicht noch gar nicht ist. Deshalb ist es wohl ratsam, einem zugefrorenen See gemeinsam haben. keine zu haben und im Moment selbst zu erfühlen, wie man was empfindet. Wenn ich noch tiefer gehe und mir UnAuf: Die Anfangsszene in „Sich erinnern, man klar mache, was Erwartungen in mir auslösen, stelle ich selbst zu sein“ beginnt an einem zugefrorenen See, jedenfalls fest, dass sie mich nervös machen. Sie engen in dessen Tiefen der Kern des Selbst sitzt. Wie bist mich ein. Interessant ist, dass die meisten Erwartungen, du auf das Motiv des Sees gekommen? die ich an mich oder eine Situation stelle, meistens durch das Außen beeinflusst sind. Erwartungen lassen Paulina Czienskowskis: Bei dem zugefrorenen mich also nicht so losgelöst, so frei und leicht sein, wie See geht es um die Eisschicht, unter der auch jene ich es gerne wäre. 8
ERWARTUNGEN UnAuf: Die Protagonistin deines Buches ist genervt, wollen und auch wie ihr Kind zu sein hat. Dem ist man dass sie immer mit ihrem Kern konfrontiert wird, ihn ungewollt ausgesetzt, auch wenn solche Wünsche, aufsuchen soll, zu ihm gehen soll. Was passiert mit Erwartungen, Hoffnungen nicht unbedingt laut dem „Dem“, wenn es mit Erwartungen konfrontiert stattfinden, spürt man sie ja doch irgendwie. Das wird? prägt so oder so, genau wie auch die Eltern durch ihre Leben geprägt wurden. Erwartungen lauern überall. Czienskowskis: Das „Dem“ beschreibt in meinem Buch In der Familie, unter Freud*innen, in der Schule oder ja das Innerste eines jeden Menschen. Es ist etwas Uni. Es gibt Erwartungen an eine Frau und Mutter, an Vulnerables, das man vielleicht nicht jedem gerne den Mann von früher, an den von heute. Den Blick von zeigt, das man auch selber nicht gerne erlebt, weil es Außen übernimmt man schnell und dieser kann damit mit Schwäche zu tun hat, mit Verletzlichkeit. Deshalb zu dem werden, wie man auf sich selbst blickt. schützt man es, riegelt es ab. Auch die Protagonistin weigert sich oder traut sich nicht, in ihre Gefühlswelt UnAuf: Welche Erwartungen hast du als Autorin an abzutauchen, sich ihrem Selbst zu nähern, wie es so dich selber? viele verlangen, weil nur das offiziell als wahrhaftig gilt. Es ist ja immer wieder die Rede vom „Kern“. Sie Czienskowskis: Ich möchte Menschen mit meinen ärgert diese Erwartungshaltung vom Außen, wehrt Worten beziehungsweise Erzählungen erreichen. sich dagegen und konstatiert, dass doch genauso das Natürlich freue ich mich deshalb über Leser*innen, die wahrhaftig und sie selbst ist, was sie tut, um ihre berichten, meine Gedanken haben sie in irgendeiner Emotionen zu schützen – ob „aus Angst, Selbstschutz, Form weitergebracht oder sie haben ihre eigenen aus Pose“. Gedanken plötzlich formulieren und ordnen können mithilfe meiner Überlegungen. Ich schreibe jedenfalls UnAuf: Stellen wir uns vor, wir lebten in einer nicht nur, um mich selbst auszudrücken und zu erwartungslosen Gesellschaft — wären wir nicht sortieren, sondern auch um andere zu erreichen. Ich alle unfassbar gleichgültig? begreife mich als Teil des Ganzen und deshalb denke ich das Außen während des Schreibens indirekt mit. Das Czienskowskis: Gleichgültigkeit bedeutet ja, dass ist nicht immer heilsam, weil ich dadurch auch beginne, einem alles egal ist. Vielleicht sprechen wir lieber von zu hadern. Häufig frage ich mich dann, wieso ich mir Offenheit? Es ist ja so, dass wenn ich zum Beispiel mit überhaupt den Raum nehme und glaube, Menschen einer pessimistischen Erwartungshaltung an etwas würden lesen wollen, was ich mir ausdenke. Wenn ich rangehe oder mich selbst vorab degradiere, schwingt dann drüber nachdenke, wirkt es fast schon überheblich, automatisch negative Energie mit. Das kann ja nichts das zu tun. Ein typisch weibliches Zweifeln wird da werden und wenn doch, überrascht es einen positiv. laut. Ich habe das Gefühl, vom Ego eines männlichen Aber dann bin ich doch lieber gleich offen und spare Schriftstellers geht sowas nicht oder eher selten aus. mir all die Gedanken vorher, wie es eventuell werden Da gibt es dieses überromantisierte, stilisierte Bild vom könnte. Das nur als Versuch. Daraus können dann ganz männlichen Genie, das Dinge in die Welt gibt und dem frei und unmittelbar wieder Emotionen entstehen, die es egal scheint, ob diese damit etwas anfangen kann sich jeweils als positive oder negative Erkenntnisse oder nicht. abgrenzen, wodurch wir für uns persönlich bewusst machen können, was wir wann wieso empfinden. UnAuf: Und wie ist das bei deiner Protagonistin? Wahrscheinlich ist es sogar unvermeidbar, dass wir aus Wie verträgt sie sich mit das Außen? Lebenserfahrungen bestimmte Erwartungen ableiten. Aber klar ist, dass sie verletzlich machen. Czienskowskis: In meinem Buch changiert die Protagonistin ja ständig zwischen ihrem Inneren und „Den Blick von Außen übernimmt man schnell und dem Außen, sie grenzt sich ab und verschwindet dann dieser kann damit zu dem werden, wie man auf sich doch wieder im Blick des Außens auf sich selbst. Es ist selbst blickt.“ verworren und wie bei den Erwartungen nur schwer auseinanderzuhalten oder sogar unmöglich voneinander UnAuf: Wieso ist es so schwierig, keine Erwartungen zu trennen. Da sind viele Versatzstücke, die am Ende zu haben? versuchen, etwas Ganzes zu formulieren, etwas aus dem Innen und dem Außen. Aber dieses Ganze ist vage, Czienskowskis: Am Ende finden wir alle ja in einem weil es subjektiv bleibt. Wie ich mich sehe, ist nie, wie bereits bestehenden und sich entwickelnden Kontext andere mich sehen. statt. Vermutlich beginnt es doch schon mit seinen Eltern, die einen zeugen, in die Welt setzen und Das Gespräch führte Natalia Gette wiederum durch individuelle Erfahrungen bestimmte Vorstellungen davon haben, wie sie als Eltern sein 9
ERWARTUNGEN Wenn die Freundschaft an Erwartungen zerbricht Von Nora Rauschenbach Illustration: Lidia Brankovic Erwartungen in und an Freundschaften lösen Die individuelle Frage nach den Bedürfnissen Druck aus, zerstören Beziehungen und sind etwas Schlechtes. Das sind Assoziationen, die vielen im Der Psychologe und Autor des Buches „Freundschaft. Zusammenhang „Erwartungen“ und „Freundschaft“ beginnen - verbessern - gestalten“, Dr. Wolfgang in den Kopf kommen. Doch sind Erwartungen Krüger, erklärt, der Mensch wolle ähnliche Werte nicht auch etwas ganz Normales? Hat nicht und Bedürfnisse haben wie seine Freund*innen: „Ich jede*r von uns bestimmte Vorstellungen von einer will mit Freunden erstmal gemeinsam lachen können Freundschaft? Wie gehen wir damit um, wenn diese und spüren, dass sie ähnliche Werte haben wie ich. Erwartungen mit denen der anderen Person nicht Ich möchte, dass der andere eine ähnliche Hoffnung, übereinstimmen? Und wie entstehen überhaupt eine ähnliche Bedürfnislage hat, was Nähe und was Erwartungen? Autonomie anbetrifft. Dass er in einer ähnlichen Weise in der Lage ist, über Probleme zu reden. Ich möchte „Habe heute die Freundschaft mit Lene* beendet. Ich Freunde haben, die ähnliche Grundbedürfnisse haben weiß, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. [wie ich].“ Diese Freundschaft hätte zu nicht mehr viel geführt, uns beide nur unglücklich gemacht. Dennoch - die Marie*, 24 und Studentin, sieht das etwas anders: Erinnerung ist eine starke Kraft. Es kann doch nicht „Es gibt Leute, die haben immer Stress mit alles falsch gewesen sein? Ich dachte wirklich: Jetzt irgendjemandem, weil sie ständig erwarten, dass sich hab’ ich sie gefunden, die eine beste Freundin für’s nach ihren Wertvorstellungen verhalten wird. Wenn Leben.“ man ständig merkt, dass Freunde und Freundinnen die Erwartungen nicht erfüllen können, da denke ich mir, Dies ist ein Auszug aus meinem Tagebuch, datiert du machst dir das Leben viel einfacher, wenn du gar mit 28/09/2021. Das war der Tag, an dem ich eine nichts von deinem Umfeld erwartest, weil ja auch nicht Freundschaft beendete, von der ich knapp fünf Jahre jede Freundin, jeder Freund die gleichen Bedürfnisse lang gedacht habe, sie würde ewig bestehen bleiben, und hat wie du selbst.“ die letztendlich aufgrund unvereinbarer Erwartungen auseinander ging. Die Frage nach den Bedürfnissen scheint genauso essentiell wie individuell zu sein: Die einen suchen sich Doch wie lassen sich Erwartungen in einem direkt Freund*innen mit ähnlichen Bedürfnissen, den freundschaftlichen Kontext überhaupt definieren? Wie anderen ist so etwas nicht wichtig oder sie teilen ihre entstehen solche Erwartungen? Und habe ich meine Erwartungen unter den verschiedenen Freundschaften auf: „Man hat ja auch unterschiedliche Freunde, die Erwartungen an diese Freundschaft vielleicht einfach unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen können. Also zu hoch gesetzt? Das sind Fragen, die mich seit diesem wenn ich jetzt ‘ne Freundin hab’, mit der ich vielleicht Bruch oft beschäftigen. nicht so gut reden kann, aber die mein Bedürfnis nach Abenteuern und Party erfüllt, dann geh’ ich genau zu der, um das zu bekommen, aber dann hab’ ich auch andere Freundinnen, die mir die Tränen trocknen“, sagt Marie. Von Herzen befreundet Doch ist die Frage nach den Bedürfnissen vielleicht gar nicht unbedingt nur eine individuelle? Sondern auch eine Frage nach der unterschiedlichen Abstufungen innerhalb des Freundschaftsspektrums oder des „sozialen Dorfes“, wie Dr. Krüger es in seinem Buch beschreibt? Ist es möglich, Freundschaften zu haben, in denen alles miteinander geteilt wird, während andere Freundschaften eher an der Oberfläche bleiben? Und wenn das möglich ist, ist dann nicht doch eine gewisse Übereinstimmung über die grundsätzlichen Wünsche an diese Freundschaft vorauszusetzen? Dr. Krüger trifft in Anlehnung an Aristoteles die 10 Unterscheidung zwischen „Herzensfreundschaften“
ERWARTUNGEN und „Alltagsfreundschaften“. Dabei seien eine Durchschnittsdauer von weit über 30 Jahren. Herzensfreundschaften Freundschaften, in denen man Was auseinander geht, sind Alltagsfreundschaften, die sich verstanden fühle, in denen man über alles reden doch etwas reservierter sind. Wir müssen akzeptieren, könne und in denen es eine absolute Verlässlichkeit dass innerhalb von sieben Jahren 50 Prozent unserer gebe. Jetzt ist allerdings fraglich, ob das alles ganz Alltagsfreundschaften kaputt gehen.“ ohne Erwartungen funktioniert, ob eine Verlässlichkeit zustande kommen kann, ohne dass ich erwarte, dass Nun kommt bei mir die Frage auf: Ist die von mir es eine solche gibt, und ob ich nicht automatisch von beschriebene Freundschaft eine in die Brüche gegangene einer Herzensfreundschaft diese drei Parameter - Alltagsfreundschaft, obwohl sie die Intensität einer Verständnis, Offenheit, Verlässlichkeit - erwarte. Herzensfreundschaft hatte? Oder war es der Beginn einer Herzensfreundschaft, die wider Erwarten nicht Freundschaft als Tauschbeziehung? von Dauer war? Der Schmerz jedenfalls, den ich an diesem 28. September und noch einige Zeit danach Auch Lina*, 25-jährige Studentin aus Berlin, spricht verspürt habe, war enorm. Dr. Krüger sagt über den über die Distinktion zwischen besten und guten Begriff des Freundschaftskummers: „[…] den gibt es vor Freundschaften: „Ich glaube, je besser die Freundschaft allem dann, wenn Sie eine sehr innige Beziehung haben ist, desto höher sind meine Erwartungen. An meine beste […] wir haben das für den seltenen Fall, dass eine wie Freundin hab’ ich andere Erwartungen als vielleicht an auch immer geartete Herzensfreundschaft auseinander eine gute Freundin.“ Gleichzeitig beschreibt sie jedoch geht. Bei den normalen Alltagsfreundschaften ist die auch den Druck, den die Erwartungen anderer an sie Innigkeit begrenzt und wir neigen eher dazu, dass wir auslösen können, vor allem in Bezug darauf, dass sie pragmatisch den anderen runterstufen. Da leiden wir sich selbst regelmäßiger melden soll. nicht so stark drunter […]“ Dies war auch in meiner anfangs beschriebenen „Hi… können wir eventuell doch nochmal reden? Ich Freundschaft Thema. Ich habe mich sehr oft bei meiner weiß, ich hab’ gesagt, ich möchte keinen Kontakt mehr Freundin gemeldet und hatte die Erwartung, dass sie und dieses Hin- und Her meinerseits tut mir auch leid… im Gegenzug das gleiche tun würde, was sie auch tat. aber ich hatte jetzt mehr Zeit, nachzudenken und ich Allerdings hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass würde gern nochmal reden, wenn das geht…“ Das ist es sie massiv unter Druck gesetzt hat, sich so oft zu eine WhatsApp-Nachricht, die ich soeben - am 10. melden. Dezember 2021 - an meine Freundin geschrieben habe. Wie sie reagiert, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch Doch wie entstehen solche Erwartungen überhaupt nicht. Ob sie überhaupt antwortet, weiß ich nicht. Aber und welche Rolle spielen etwa die Medien dabei? Ich vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren, vielleicht persönlich gebe vor allem Kultserien wie den „Gilmore gibt es ja doch noch die Möglichkeit, einige Dinge zu Girls“ oder „Grey’s Anatomy“ Schuld an meinen hohen klären. Erwartungen, da dort zum Teil eine sehr unrealistische Darstellung von Beziehungen reproduziert wird, wie *Namen von der Redaktion geändert etwa dass während des Sex pausiert wird, wenn die beste Freundin eine*n braucht. So setzen sich Kategorien wie „bff“ oder „soul mate“ in unseren Köpfen fest. Wann wir von einer durch zu hohe medial und gesellschaftlich geprägte Erwartungen bestimmten Freundschaft und wann nun von einer Herzensfreundschaft sprechen, lässt sich nicht pauschal beantworten. Vermutlich liegt die Beantwortung dieser Frage wieder im Individuellen. Vom Ende der Freundschaft Was ich aber aufgrund meiner eigenen Erfahrungen weiß, ist, dass Freundschaften manchmal auseinander gehen. Laut Dr. Krüger gehen Herzensfreundschaften um einiges seltener auseinander als Alltagsfreundschaften: „Herzensfreundschaften, in die wir so viel investiert haben, in denen wir über viele Dinge geredet, Erlebnisse geteilt haben, gehen sehr selten auseinander. Herzensfreundschaften haben 11
ERWARTUNGEN Geschlechtsspezifische Erwartungen: Zwischen Fortschritt und Persistenz Das Mädchen spielt mit der Puppe, der Junge UnAuf: Wie werden diese Erwartungen denn dann bekommt das Auto. Wie prägen solch frühe von den Kindern internalisiert? Erwartungen unser Identitätsverständnis? Prof. Dr. Jeannette Windheuser ist Professorin für Windheuser: Die Frage, inwiefern es überhaupt zu Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten einer Internalisierung kommt, ist natürlich eine sehr Gender und Diversität an der HU. Mit der UnAuf große Aufgabe für die erziehungswissenschaftliche spricht sie darüber, mit welchen paradoxen Beschäftigung mit der Geschlechterfrage. Man kann geschlechtsspezifischen Anforderungen Kinder aber auch über meine Disziplin hinausgehen und heutzutage konfrontiert sind. generell in die feministische Theorie schauen, und da gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Zum einen UnAuf: Fragt man schwangere Eltern nach dem haben wir die gleichheitsfeministische Perspektive. Geschlecht ihres Babys, hört man oft den Satz: Dort wird erstmal davon ausgegangen, dass es ein „Das ist uns eigentlich egal, Hauptsache, es ist Herrschaftsgefüge zwischen Männern und Frauen gibt: gesund!“ Wann beginnen wir auf einmal damit, Das Patriarchat. doch zu kategorisieren und geschlechtsspezifische Erwartungen an Kinder zu stellen? Geschlechtsspezifische Sozialisation führt dann dazu, dass Mädchen den einen Platz in diesem Gefüge Jeannette Windheuser: Es gibt natürlich zum einen einnehmen und Jungen den anderen. Mädchen lernen sehr viele gesellschaftlich verankerte Erwartungen, im Zuge dieser Sozialisation, sich um andere zu aber hier sprechen wir jetzt über die konkreten sorgen, häuslich zu sein, sich mit Äußerlichkeiten zu generationalen Beziehungen: Eltern, die weitere beschäftigen, sie blieben also eher in diesem Bereich Verwandtschaft und das soziale Umfeld beschäftigen der reproduktiven Tätigkeiten verhaftet. Das ist das, sich ja bereits während der Schwangerschaft, wenn was wir heute auch Sorgearbeit nennen. Die Jungen nicht gar schon bei der Planung der Schwangerschaft hingegen würden in dieser Sozialisation eher gefördert, oder in Vorbereitung einer Adoption, mit der Frage schöpferisch tätig zu sein, produktiv zu sein. Ihnen fiele nach dem Geschlecht des Kindes. Die Fantasien der es dadurch auch leichter, sich in der Öffentlichkeit, im Erwachsenen, ob nun bewusst oder unbewusst, spielen Beruf und in der Politik zu etablieren. bereits zu diesem Zeitpunkt eine Rolle. Von daher können wir davon ausgehen, dass jeder neue Mensch immer UnAuf: Und welche anderen Erklärungsansätze gibt schon mit einer geschlechtlichen Welt konfrontiert ist. es noch? UnAuf: Und welche Erwartungen stellen wir da Windheuser: Eine andere Perspektive, die heute weit typischerweise an Kinder? verbreitet ist, ist die gendertheoretische Perspektive. In dieser Strömung geht man davon aus, dass die Sprache Windheuser: Diese Frage zielt ja eigentlich darauf ab, eine performative Kraft hätte, also eine festschreibende mit welchem geschlechtsspezifischen Anforderungen Wirkung auf die eigene Geschlechtsvorstellung. Ein Kinder konfrontiert sind. Wenn man jetzt davon ausgeht, dritter Ansatz geht von einer feministisch gewendeten dass wir es hier mit einem geschichtlich gewordenen Psychoanalyse aus. Hier wird davon ausgegangen, dass Geschlechterverhältnis zu tun haben, dann würde ich sich unsere Geschlechtervorstellungen im Rahmen von sagen, dass wir heute in einer paradoxen Situation einer sogenannten symbolischen Ordnung, einer Art sind. Einerseits gibt es geschlechterpolitische oder Denkhorizont, entwickeln. pädagogische Anforderungen, nach denen Kinder eben nicht Geschlechterstereotypen ausgesetzt werden Dieser Denkhorizont, so die These, sei an einer sollten, um ihnen ein möglichst freies Aufwachsen in männlichen Position ausgerichtet und somit auch der dieser Hinsicht zu gewähren, und andererseits sind Ausgangspunkt für das, was wir als Kultur und auch Familien in der Konsumwelt und in der Popkultur mit als Wirtschaftsordnung erleben. Kinder wachsen nach massiv stereotypisierenden Bildern von Geschlecht dieser Perspektive in einer Welt auf, in der Menschsein konfrontiert. Das fängt früh an mit dem typischen mit Mannsein gleichgesetzt wird. Das würde den Beispiel bezogen auf Spielzeuge und Kinderkleidung, Denkhorizont bestimmen und zur Herrschaft im die in rosa und hellblau angeboten werden, und mündet Geschlechterverhältnis führen. im Jugendalter aber dann etwa in den Beiträgen von UnAuf: Wir haben hier also drei unterschiedliche Influencer*innen, die entsprechende Klischees von Perspektiven, wie es zu einer Internalisierung Weiblichkeit und Männlichkeit verbreiten. kommt? Das ist ein Paradox, einerseits die starke Aufforderung, sich an spezifische Geschlechterbilder anzupassen, und Windheuser: Genau. Entweder dadurch, dass Frauen andererseits auch ein Entgegenwirken. von einer bestimmten Position ferngehalten werden, 12
ERWARTUNGEN oder dadurch, dass Geschlechter durch Sprache auf auseinander- Identitäten festgelegt werden, oder dass Menschen zusetzen. über Sprache und das mit ihr einhergehende Hinsichtlich Unbewusste eine bestimmte Geschlechterordnung, in einer neutraleren der sie Subjekt oder Peripherie sind, verinnerlichen. Perspektive würde ich aber UnAuf: Sehen Sie da eine positive Entwicklung in den auch die Frage letzten Jahren, oder stecken wir vielleicht doch noch zurückspiegeln, ob mehr in diesen rosaroten und babyblauen Schubladen, es tatsächlich als wir uns das vielleicht gerne eingestehen würden? um Neutralität gehen sollte. In Windheuser: Ich denke, das steht im Zusammenhang welche Richtung mit dem, was ich vorhin schon diagnostiziert habe: würde diese gehen? Wir sind in einer widersprüchlichen Situation, in der Sollte Neutralität einerseits ein bestimmter Fortschritt proklamiert wirklich das Ziel wird, und sich andererseits doch einige Dinge als sehr sein, oder bringt persistent erweisen. Ich würde auf jeden Fall nicht das vielleicht Foto: Jeannette Windheuser absprechen, dass sich durch die Frauenbewegungen, einen neuen durch andere geschlechterpolitische Bewegungen und Verdeckungszusammenhang mit sich? die feministische Theoriebildung einiges verändert hat. Es ist aber auch so, dass wir noch immer mit einer UnAuf: Können Sie uns dazu ein Beispiel nennen? sehr hartnäckigen, bestimmten Vergeschlechtlichung der Welt konfrontiert sind. Das geht auf eine lange Windheuser: Um ein Beispiel aus den Geschichte zurück, die man nicht einfach so abschütteln Erziehungswissenschaften zu bringen: Man kann kann. nicht einfach davon ausgehen, dass, wenn man die Geschlechter gleich beschult, am Ende auch Wir haben es in der Bundesrepublik mit einer das Gleiche herauskommt. Es gibt sehr wohl auch Teenagergeneration zu tun, in der Kinder in dem geschlechtsspezifische Mechanismen, die nicht im Bewusstsein aufgewachsen sind, dass eine Frau offiziellen Lehrplan zu finden sind. Die Forschung Kanzlerin sein kann. Für die geht mit der Merkel-Ära spricht hierbei von einem “hidden curriculum”. tatsächlich auch eine Vorstellung von Politik zu Ende - die Erfahrung „Ja, eine Frau kann diese Position Der Begriff der Neutralität oder ein problematisches einnehmen“. Das hat sicherlich auch die Perspektive Androgynitätsverständnis, das sich bei genauerer auf eigene Zukunftsmöglichkeiten für Mädchen Betrachtung als männlich orientiert erweist, hilft verschoben. nicht weiter, wenn damit eine Idee des Allgemeinen reproduziert wird, die sich gegenüber der Differenz UnAuf: Es haben ja auch viele Staaten, nicht nur immunisiert. Da liegt eine Gefahr drin, die eine lange westliche, zumindest formal die Gleichheit der Geschichte hat, nämlich die faktische Gleichsetzung von Geschlechter juristisch verankert. Menschlichkeit mit Männlichkeit, die aber überdeckt wird, indem von „dem Menschen“ gesprochen wird Windheuser: Ja, trotzdem stehen die politischen und unter Absehung seines Geschlechts. theoretischen Ideale nun aber einer Realität entgegen, in der insbesondere Misogynie und spezifische UnAuf: Also müssen wir weg von der Idee der Gewaltformen, die daran anschließen, immer noch eine Neutralität? große Rolle spielen. Ich denke, dass es hier bloß um ein Mitspielen-dürfen geht, in dem Sinne, dass man an dem Windheuser: Ich würde sagen, wir müssten vielleicht teilhaben kann, wie es erstmal ist. Dieses Mitspielen- erst einmal darüber nachdenken, ob Neutralität das dürfen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ist, worum es gehen soll, oder ob es vielleicht um eine einige Probleme im Geschlechterverhältnis einfach andere Form des Umgangs mit der Erfahrung von nicht angegangen werden oder immer wieder versucht Geschlechtlichkeit geht. Momentan sind wir in einer werden, mit den gleichen Lösungen zu bearbeiten. Situation, die offensichtlich nicht wirklich weiterhilft: Ja, wir haben ganz viele Errungenschaften, und zugleich gibt UnAuf: Was würden Sie sagen, muss sich tun, damit es aber spezifische Formen von Herrschaft und Gewalt, wir zukünftigen Generationen mit einer neutraleren und auch von gesellschaftlichen und ökonomischen Erwartungshaltung begegnen können? Strukturen, die weiterhin Herrschaftsverhältnisse begünstigen. Windheuser: Sie sprechen damit wohl pädagogische Interventionen an, nach denen man vielleicht auch Vielleicht müssen wir sagen: Die Frage nach diesem jenseits von so einer Zweigeschlechtlichkeit erziehen Widerspruch ist einfach offen und es ist eine aktuell könnte. Es macht dabei jedoch einen Unterschied, drängende Aufgabe, sich dem zu widmen und neue ob man davon ausgeht, dass Sprache festschreibend theoretische und politische Entwürfe zu wagen. ist, oder dass die Erfahrung vom eigenen Körper zwar nicht direkt geschlechtliche Identität bestimmt, Das Gespräch führte Kyra Hoffmann 13 aber Anlass gibt, sich mit der eigenen Begrenzung
ERWARTUNGEN Bin ich queer und wenn ja, wie viel? Von Pau Linke galt der Begriff im Englischen als Beleidigung, um Illustration: Céline Bengi Bolkan Menschen als seltsam oder eigenartig zu degradieren. Im Laufe der 80er- und 90er-Jahre eigneten sich Es gibt viele Labels, um die eigene insbesondere schwarze queere Menschen den Begriff Geschlechtsidentität oder Sexualität zu beschreiben. als Selbstbezeichnung an, indem sie ihn positiv Und trotz dieser Begriffsvielfalt scheint es einen besetzten. kleinen gemeinsamen Nenner zu geben: queer. Was hat es damit auf sich? Von Erwartungen und Gefühle Queer sein - ein Politikum? gegenüber einer Selbstbezeichnung. Jamie* sitzt Rahel gegenüber, mit dem Rücken zum Laute Musik übertönt die mit Stimmengewirr gefüllte Tresen. Jamies Verständnis von queer liegt eine Geräuschkulisse. Menschen sitzen in kleinen Gruppen politische Haltung zu Grunde: Es sei auch eine Form der zusammen. Die Wärme im Raum lässt die Kälte draußen Abgrenzung und ein Ausdruck, nicht in eine Schablone vergessen: Manche tragen knappe Outfits, als ob passen zu wollen. Als nicht-binäre Person ist für Jamie es Sommer wäre. Die Stimmung wirkt vertraut und die Bezeichnung queer so wichtig, weil sie keine klaren ausgelassen. Es ist Samstagabend in einer queeren Bar. Rückschlüsse auf Geschlechtsidentität oder Sexualität Beim Betreten sticht sofort der lange Bartresen hervor, zulässt: „Wenn ich sage, ich bin queer, sagt das noch über dem rote LED-Lichter flackern. Zuerst poppt +++ nichts darüber aus, wen ich begehre oder wie ich mich gay bar +++ und anschließend +++ queer bar +++ identifiziere.“ auf. Was nun? Die Person hinter dem Tresen erzählt mir, es sei eher eine queere als eine gay Bar. Man wolle Jamie hat längere Zeit ein anderes Label genutzt. Wohl Sichtbarkeit für alle Personen innerhalb der LGBTIQ- habe sich Jamie dabei nicht gefühlt. Es sei eher eine Community schaffen. Nicht nur für schwule Männer, Zuschreibung von außen gewesen, die Jamie einfach an die klischeehaft gedacht werde, wenn im Deutschen übernommen habe. Queer zu sein, bedeute für Jamie das Wort gay genannt wird. Auch lesbische und trans immer auch ein Ausweichen von Fremdzuschreibungen. Personen sollten hier einen Safer Space finden. Was für „Für mich ist es sehr wichtig, sich auch in der einen Unterschied macht also dieses kurze Wort queer? Geschlechtsidentität und Sexualität herauszufordern. Sich also die Frage zu stellen: Warum handle oder „Viele wissen nicht, was es mit dem Begriff auf sich denke ich so? Verbirgt sich dahinter vielleicht eine hat“ Anleitung, die die Gesellschaft für mich vorbereitet hat und deren Regeln ich einfach verinnerlicht habe? Labels Eine Besucherin der Bar ist Rahel*. Sie sitzt auf der sind häufig sowohl in der Identität als auch im Begehren Fensterbank mit dem Rücken zu der Straße. Die Kälte auf ein Geschlecht eingrenzend. Queer lässt da mehr draußen liefert für sie den Einstieg in ein Gespräch mit Freiräume.“ Jamie würde sich wünschen, dass mehr dem Nachbartisch. Ein Bein wärmt sie an der Heizung, Menschen ihre Sexualität und Geschlechtsidentität im das andere ist angewinkelt. Über ihre Sexualität Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konventionen spricht sie gelassen: Sie sei kein Fan von Labels. Aber hinterfragen. Auch Personen, die sich bereits als queer queer treffe es noch am besten. „Für mich umfasst das verstehen. Wort halt alles, was nicht Cis-Hetero ist.“ Trotzdem Judith Butler, die wohl bekannteste Vertreter*in tut sie sich dabei schwer, ihre Sexualität zu definieren. der Queer Theory, argumentiert dafür, queer nicht Schließlich gebe es auch keine einheitliche Form der als feststehende Identität zu begreifen. Queer Heterosexualität. Begriffe wie bisexuell oder pansexuell zu sein, heiße, selbstkritisch zu handeln, um sich lehnt sie ab. Sie seien ihr zu spezifisch. „Aber ich muss möglicherweise neu positionieren zu können. Es sei auch sagen, dass viele cisheterosexuelle Personen oft demnach auch ein Hadern mit eigenen Bedürfnissen, gar nicht wissen, was es genau damit auf sich hat, wenn die mit gesellschaftlichen Normen zu kollidieren ich sage, ich bin queer. Vielleicht weil das Wort aus dem scheinen. Das müsse sich nicht nur auf Fragen des Englischen kommt und im Deutschen noch nicht so Geschlechts oder der Sexualität beschränken. Weiter etabliert ist.“ gedacht würde das also heißen, dass eine queere Dabei steht queer als Adjektiv sogar im Duden. Doch Community auch bestehende Strukturen innerhalb die Definition wirkt etwas unbeholfen: „Einer anderen der Community ständig aufarbeiten muss. Es als der heterosexuellen Geschlechtsidentität zugehörig entsteht eine Verletzlichkeit, weil sich verinnerlichte sein“. Das ist eine missverständliche Zusammenführung Vorstellungen stetig bewusst gemacht und reflektiert von Geschlechtsidentität und Sexualität. Wie kann die werden müssen. Das macht queeres Handeln zu einem Art und Weise, wie ich mich geschlechtlich identifiziere, politischen Projekt. heterosexuell sein? „Raum für die Unsicherheit, die wir alle haben“ Stattdessen wird der Begriff queer heutzutage eher als Sammelbegriff für Menschen verstanden, die sich nicht Rahel schätze ebenfalls die große Spannweite, die der der Cishetero-Norm zugehörig fühlen. Ursprünglich Begriff queer ihr lässt. Dennoch begleitete sie oft das 14
ERWARTUNGEN Gefühl, diesem Label nicht gerecht werden zu können. Sie finde es manchmal schwierig, sich queer zu nennen: „Ich denke, Labels sind vor allem dann wichtig, wenn Menschen auf eine Weise gezwungen sind, sich wegen irgendwelcher Normen positionieren zu müssen. Diesem Problem war ich aber eigentlich nie ausgesetzt.“ Sie fühle sich so unvorbelastet, erklärt Rahel, weswegen sie lieber anderen Menschen den Raum überlassen möchte, sich als queer zu identifizieren. Queere Personen sind immer noch häufig marginalisiert. So geben beispielsweise 80 Prozent der queeren Jugendlichen an, bereits Diskriminierung auf Grund ihrer Sexualität oder geschlechtlichen Identität erlebt zu haben. Doch selbst unter queeren Menschen gibt es große Diskrepanzen, weil das Label unterschiedlichste Lebensrealitäten vereint. Viele Diskriminierungserfahrungen beschränken sich dabei nicht nur auf das Queersein, sondern umfassen ebenfalls Bereiche des Rassismus, der Behindertenfeindlichkeit oder des Sexismus. Deshalb lassen sich Diskriminierungen nicht immer auf eine Kategorie reduzieren. Queer als Begriff erzeugt die Illusion einer Homogenität, die es in dieser Form nicht gibt. Was bedeutet also queer und wer entscheidet, was als queer gilt? Jamie wird bei dieser Frage ambivalent, denn für viele sei Queerness politische Realität. „Deswegen soll es kein fancy Modeaccessoire sein, mit dem Menschen sich schmücken können. Vor allem nicht für Unternehmen im Pride Month.“ Andererseits, räumt Jamie ein, bräuchten wir ein Bewusstsein dafür, dass sich das Queersein ganz unterschiedlich ausdrücken kann. Es ergebe keinen Sinn, hier ein Kriterium zu nennen. Jamie sieht die eigene Queerness eher in eigenen Handlungen anstatt als ein identitätsstiftendes Merkmal. Als Bruch mit der Norm durch das Spielen mit Geschlechterrollen zum Beispiel. Jamies Einschätzung nach sei es genau das, was viele queere Menschen gemeinsam hätten: Der Wunsch, für sich und die Mitmenschen die Freiheit zu schaffen, sich unabhängig von starren und einengenden Vorstellungen entfalten zu können. Vielleicht beschreibt Rahel ihre Sexualität deswegen auch am liebsten in eigenen Worten, ohne sich auf Labels zu beziehen: „Dazu hat mich auch eine Freundin inspiriert. Sie hat mich vor einiger Zeit mal gefragt, ob ich mir in meiner Sexualität sicher bin. Das fand ich viel schöner als die Frage nach irgendwelchen Begriffen. Das lässt Raum für die Unsicherheit, die wir alle irgendwie manchmal haben – egal ob im Begehren oder in der Geschlechtsidentität.“ *Namen von der Redaktion geändert 15
ERWARTUNGEN „Wir dürfen die Bühne nicht den Rassisten und Faschisten übergeben“ — Erwartungen im Kampf gegen rechts Von Leoni Gau Im Kampf gegen Rechtsextremismus und seine Am 6. Mai 2013 begann der NSU-Prozess vor dem Gewalt spielen antifaschistische und antirassistische Oberlandesgericht München. Hauptangeklagte war Initiativen, Bündnisse und Gruppen in Deutschland Beate Zschäpe. Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, eine entscheidende Rolle. Sie machen die Gefahr André Eminger und Carsten Schultze wurden als des Rechtsextremismus sichtbar, informieren und Unterstützer des NSU-Trios angeklagt. Fünf Jahre und gedenken an rechtsextremistische Gewalt und 438 Verhandlungstage später fiel das Urteil. Zschäpe leisten politische Aufklärungsarbeit – Aufgaben, wurde wegen Mittäterschaft und Mitgliedschaft in denen die deutsche Politik oftmals nur unzureichend der terroristischen Vereinigung NSU sowie schwerer nachkommt. Die Gruppen „NSU-Watch”, der Brandstiftung zu lebenslanger Haft mit Feststellung „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992“ und die „Initiative 9. Oktober Halle” haben ganz direkte Erwartungen an die Politik, die Gesellschaft und sich selbst. „Nazis morden, der Staat macht mit, der NSU war nicht zu dritt!“ Vor fünf Jahren, ich war 15 Jahre alt, nahm ich an einer Anti-AfD-Demo in Berlin teil. Dort begegnete mir diese Parole zum ersten und nicht zum letzten Mal. Seitdem lässt mich das Thema Rechtsextremismus in Deutschland nicht mehr los. Ich fing an, mich näher mit dem Nationalsozialistischen Untergrund, kurz NSU, zu beschäftigen und war fassungslos. Fassungslos von den kaltblütigen, rassistischen Morden, verübt von Rechtsextremist*innen — aber auch von der mangelhaften Aufklärung und Aufarbeitung der Mordserie durch die deutsche Politik und Justiz. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist. Ich war naiv und dachte nur aus meiner privilegierten Perspektive als nicht von Rassismus betroffene Person heraus. Heute sind meine Erwartungen an den Staat niedriger — und realistischer — nicht zuletzt dank der Arbeit von Initiativen, Bündnissen und Gruppen, die sich gegen rechtsextremen Terror engagieren. Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess Der NSU war eine rechtsterroristische Vereinigung, die von 2000 bis 2007 neun Menschen aus rassistischen Motiven und eine Polizistin ermordete sowie drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübte. Der Kern der Terrorvereinigung bestand aus den der besonderen Schwere verurteilt. drei Jenaer Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt Die vier weiteren Angeklagten erhielten Haftstrafen und Beate Zschäpe. Das Trio lebte seit 1998 bis zu von zweieinhalb bis zehn Jahren. Im August 2021 wies seiner Selbstenttarnung am 4. November 2011, bei der Bundesgerichtshof die Revisionen von Zschäpe, dem Mundlos und Böhnhardt Suizid begangen, im Wohlleben und Gerlach zurück und bestätigte die Urteile Untergrund. Nur wenige Tage nach der Selbstenttarnung als rechtskräftig. Gegen das Urteil von zweieinhalb stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Das war das Jahren Haft für André Eminger, der als einer der engsten Ende der größten rechtsterroristischen Mordserie Unterstützer des NSU gilt, legten nicht nur Emingers seit der Wiedervereinigung — und der Anfang ihrer Anwälte Revision ein, die einen Freispruch verlangten, Aufklärung. Im Februar 2013 versprach die ehemalige sondern auch die Bundesanwaltschaft selbst. Sie Bundeskanzlerin Angela Merkel eine vollständige forderte eine Strafe von zwölf Jahren. Im Dezember Aufklärung der Mordserie. Doch dieses Versprechen 2021 wies der Bundesgerichtshof die Revisionen zurück hat sie gebrochen. und bestätigte das milde Urteil gegen Eminger. 16
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