Geschichten Wir wollen - Magazin der - Universität Luzern

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Geschichten Wir wollen - Magazin der - Universität Luzern
Magazin der

                Wir wollen
              Geschichten
                  LINK | September 2018
Geschichten Wir wollen - Magazin der - Universität Luzern
EDITORIAL

Die Erzählung
als Gegenmittel

         Pernille Budtz        Liebe Leserin, lieber Leser
     Redaktionsleiterin LINK
    Redaktionsleiterin LINK
                                Vor Kurzem war ich in Dubai. Ein dreitägiger Stopover zwischen Colombo und Zürich.
                                Es war 47 Grad heiss, die Luftfeuchtigkeit 70 Prozent. Trotz des Verlangens, Kulturel-
                                les ­zu erleben, verschlug es mich in die Dubai Mall, eines der grössten Einkaufszentren
                                der Welt. Überwältigt und ziellos irrte ich mit meiner Familie durch den hypermodernen
                                Megaladen. Es hat dort alles. Sachen, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie
                                gibt. Günstiges, Teures, Ramsch, Gucci, sogar dänische Lakritze und eine Sprüngli-
                                Filiale. Schlussendlich habe ich fast nichts gekauft, zu überwältigend war das Erlebnis.
                                Und so geht es mir – zurück im Büro – auch mit den Medien: Das Informationsange-
                                bot im virtuellen Megaladen von Google & Co. ist schier grenzenlos. Der Kampf um
                                die knappe Aufmerksamkeit der Kundschaft ist hart und fordert zunehmend seine Opfer
                               in der Schweizer Medienlandschaft; Zeitungstitel werden aufgekauft, Redaktionen
                               ­zusammengelegt, es wird zentra­lisiert, schnell produziert, automatisiert.

                               Der Journalismus muss neue Konzepte, neue Visionen für die Zukunft suchen. Und es
                               gibt gute Ansätze, wie dies gelingen kann. Ihnen gemeinsam ist: Sie greifen auf
                               das Urbedürfnis des Menschen zurück, Geschichten zu erleben. Und sie entfalten
                               ihre Kraft dort, wo die Krise entstanden ist: im Internet. Zum Beispiel hat sich die
                               werbefreie Onlineplattform «Republik» einen Namen gemacht, nicht nur mit ihrer
                                 unkonventionellen Organisationsform, sondern vor allem auch mit ihren hervorragenden
                                 Narrativen (lesen Sie das Interview mit Gründer Constantin Seibt auf S. 4–7); oder die
                                 neuen Digital Storytellers bei SRF, die ihren Arbeitstag damit verbringen, komplexe
                               ­Zusammenhänge in kurzen digitalen Geschichten zu erklären; oder Radio SRF, das in
                                ­einem Podcast-Erzählexperiment in sechs Episoden einem gesellschafts­relevanten
                                 Thema auf den Grund geht.
                                                                                                                           Fotos: Cover: colourbox.de; Editorial: Thomas Züger

                               Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!

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Geschichten Wir wollen - Magazin der - Universität Luzern
INHALT                          IN KÜRZE

                                          Fokus
                                          Seite 4
                                          «Republik»-                      Neue SRG-Konzession:
                                          Gründer Seibt
                                          im Interview                     Mehr Service public
                                                                           Der Bundesrat hat der SRG am 29. August 2018          technologischen Rahmenbedingungen und der
                                                                           eine neue Konzession erteilt. Diese tritt am          Nutzungsgewohnheiten eine Anpassung des Ser-
                                                                           1. Januar 2019 in Kraft und gilt bis zum 31. De-      vice public im Medienbereich erfordern. Diese An-
                                                                           zember 2022. Sie setzt kurzfristige Massnahmen        passung soll in zwei Phasen erfolgen: Mit der neuen
                                                                           zur Stärkung des nationalen Service public um,        SRG-Konzession will der Bundesrat kurzfristig ab
                                                                           insbesondere in Bezug auf Integration, Qualität       2019 das Leistungsprofil der SRG schärfen und
                                                                           und Rechenschaftspflichten der SRG. Zudem er-         deren Service-public-Charakter deutlicher um-
                                          Seite 8                          füllt sie politische Vorstösse, welche noch auf der   reissen. Mittelfristig will er das heutige Radio- und
                                          Digital Storytelling bei SRF:    Grundlage des Bundesgesetzes über Radio und           Fernsehgesetz zu einem Bundesgesetz über
                                          Kurz und vertieft                Fernsehen (RTVG) realisiert werden können.            elektronische Medien (BGeM) weiterentwickeln
                                                                           In seinem Bericht zum Service public im Medien-       und der Digitalisierung im Medienbereich Rech-
                                          Seite 10                         bereich vom 17. Juni 2016 hatte der Bundesrat         nung tragen (siehe Seite 12). Die aktuelle Konzes-
                                          Das Leben von «Edi» – neuer      dargelegt, dass die rasanten Veränderungen der        sion hat deshalb Übergangscharakter.
                                          Podcast von Radio SRF

                                          Medienpolitik Seite 12                                                                                    Auszeichnung
                                          Bescheidener Entwurf zum
                                          Mediengesetz
                                                                                                                                                    für SRF-Info-
                                                                                                                                                    sendungen
                                          Unternehmen                                                                                               Im Rahmen des Medien-
                                                                                                                                                    qualitätsratings von
                                          Seite 14                                                                                                  ­Medienqualität Schweiz
                                          «mitenand»:                                                                                                wurden die 50 wichtigsten
                                          Lichtblick auf                                                                                             Informationsmedien der
                                                                                                                                                     Schweiz anhand ihrer
                                          der Müllkippe                                                                                              Qualität bewertet. Die
                                                                                                                                                     zweite Ausgabe des
                                          Seite 16                                                                                                   ­Ratings konzentrierte sich
                                          Der neue SRF-Unterhaltungs-
                                                                                                                                                      dabei auf die Qualitätsver-
                                          chef Stefano Semeria im
                                                                                                                                                      änderung der Medien.
                                          ­Interview
                                                                                                                                                      Gleich zwei Sendungen
                                                                                                                                                      von Radio SRF fallen dabei
                                          Verein                                     MEHR PROGRAMM                                                    auf: Die Sendung «Ren-
                                          Seite 20                                 FÜR SINNESBEHINDERTE
                                                                                                                                                      dez-vous» ist die Quali-
                                                                                                                                                      tätsaufsteigerin des Jah-
                                          Umzug Bern:                                                                                                 res, während «Echo der
                                          «Tagesschau» kritisch beäugt       Der Bundesrat hat am 29. August 2018 die Radio- und                      Zeit» die insgesamt beste
                                                                              Fernsehverordnung (RTVV) angepasst. Der Bundesrat                       Wertung aller 50 Teilneh-
                                          Seite 22
                                                                                hat entschieden, die Medienleistungen für Sinnes­­-                   menden erhält. Beide
                                          Junges Echo gesucht
                                                                            be­hinderte auszubauen. Die SRG wird verpflichtet, den                    ­erhalten als Auszeichnung
                                                                               Anteil der untertitelten Sendungen in den linearen                      das goldene Q. Aber auch
                                          Junge SRG Seite 24
                                          «MoJo»: Mobiler, schneller,
                                                                             ­Fernsehprogrammen in den nächsten Jahren auf min-                        «10vor10» (TV) erreiche
Fotos: Mirco Rederlechner, stock.xchng,

                                          flexibler                           destens drei Viertel anzuheben. Der Anteil der Unter­                    aufgrund der Inhalts­
                                                                               titelung der von der SRG ausschliesslich im Internet                    analyse ein ähnlich hohes
                                          Ombudsstelle Seite 26            ­veröffentlichten Beiträge (Web-only) ist auf zwei Drittel                  ­Niveau wie «Echo der Zeit»
                                          Die Kritik am Doppeladler            zu erhöhen. Damit wird ein Beitrag zur Umsetzung                         und «Rendez-vous», falle
                                          musste sein                              des UNO-Übereinkommens über die Rechte                               in der Befragung aber
                                                                                   von Menschen mit Behinderungen geleistet.                            leicht zurück.

                                                                                                   LINK | September 2018                                                            3
Geschichten Wir wollen - Magazin der - Universität Luzern
«Es       war      eine
    dunkle, stürmische Nacht, als …»
                       Mit Posaunen und Trompeten ist zum Jahresbeginn
             die «Republik» ­gestartet. Das werbefreie Online­magazin verblüfft seither
     mit hervorragend erzählten Geschichten und experimentiert mit innovativen ­Erzählformen.
            Der grosse Test kommt im Januar. Vinzenz Wyss sprach in der Halbzeit mit
                Mitbegründer Constantin Seibt über den (Wahn-)sinn hinter der Idee
                             der Rothaus-Redaktion im Zürcher Kreis 4.

     Vinzenz Wyss: Besonders auffallende Journalis-          Dann ist der grosse Test, ja. Der Erfahrungswert
     tinnen und Journalisten verlassen ihre Arbeit-          liegt bei etwa fünfzig Prozent Erneuerer. Wir wer-
     geber und stocken das knapp 40-köpfige Team             den mit einer Herbstoffensive für 66 Prozent kämp-
     der «Republik», auf. Was motiviert sie?                 fen. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Blutig wird es
     Constantin Seibt: Wir sind der einzige Laden mit ei-    bei unter vierzig Prozent.
     ner klaren Vision für die Zukunft – so unperfekt
     wir auch noch sind. Wir versuchen sehr energisch,       Was ist, wenn das Ganze scheitert?
     ein neues Modell zu entwickeln, wir wollen aus          Scheitern ist schlicht keine Option. Diese Chance
     dem Nichts eine Institution bauen. Das ist eine Auf-    hat man nur einmal im Leben. Man kommt bei ei-
     gabe, die Menschen mit Wahnsinn und Tempera-            ner Unternehmensgründung an die Grenzen seines
     ment gefällt.                                           Könnens, weit hinaus in das Reich seiner Unfähig-
                                                             keit. Als Journalist hat man quasi als Anarchist ge-
     Wer zur «Republik» wechselt, verlässt in der            lebt: Man hat null Erfahrung in Management, Mar-
     Regel einen guten Arbeitgeber und stürzt sich           keting oder Fundraising. Und im Zweifel erst
     in ein riskantes Abenteuer.                             einmal Sand in den Motor der Routine geworfen.
     Es ist ein Abenteuer, das sich nicht immer angenehm     Und dann stellst du fest, was für eine Kunst es ist,
     anfühlt, weil die Strukturen noch nicht fertig ge-      vernünftige Routinen aufzubauen. Im Nachhinein
     baut sind. Weil wir aber einen genauen Finanzplan       leiste ich einigen meiner Chefs Abbitte. Nun selbst
     haben, ist das Risiko nicht superdramatisch. Zwei       der Verantwortliche für den Motor zu sein, ist eine
     Jahre sollten wir mindestens durchhalten – was im-      verdiente Strafe. Hart, aber gut fürs Karma.
     mer passiert. Ausser wenn bei der Erneuerung im
     Januar die Abonnenten in Scharen von Bord gehen.        Vor was fliehen denn die Journalisten, die zur
     Dann würde ich das Land verlassen müssen.               «Republik» wechseln?
                                                                                                                    Fotos: Mirco Rederlechner

                                                             Die grossen Schweizer Verlage verlassen die Pub-
     Damit es nicht so weit kommt, müsste am                 lizistik – zumindest als Geschäftsmodell. Sie wer-
     14. Januar ein Grossteil eurer bisherigen 22 000        den zu Internet-Handelshäusern – und haben kei-
     «Verleger» das erste Jahresabo erneuern.                nen langfristigen Plan mehr für den Journalismus

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FOKUS

        Die «Republik»
        Bereits vor mehr als sieben Jahren begannen Constantin Seibt (Bild. Früher Studentenzeitung ZS, die Wochenzeitung WOZ und
        ­«Tages-Anzeiger») und Christof Moser (früher «Facts», «Weltwoche», «SonntagsBlick» und «Schweiz am Sonntag») aufgrund ihrer
         Analyse ­eines «kaputten Mediensystems» damit, über das Projekt «Republik» nachzudenken. Am 14. Januar 2018 ging dann das mit
         viel ­Pathos angekündigte Onlinemagazin an den Start. In ihrem Manifest betonen die Herausgeber die Bedeutung des Journalismus
         für die Demokratie und dessen Aufgabe, «den Bürgerinnen und Bürgern die Fakten und Zusammenhänge zu liefern, pur, unabhängig,
         nach bestem Gewissen, ohne Furcht vor niemandem als der Langweile«. Das Magazin beschäftigt mittlerweile knapp 40 Personen,
         darunter überdurchschnittlich viele Datenjournalisten. Die Redaktion experimentiert mit neuen Erzählformen von der «Ameise»
         über den Videotalk bis zum Podcast und pflegt intensiv den Dialog mit der Leserschaft. Finanziert wird das Magazin über das Abon-
         nementmodell (CHF 240/Jahr).
Foto:

                                                               LINK | September 2018                                                         5
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FOKUS

        – ausser die Kosten schneller zu senken, als die Ein-    Schweizer Markt ein Medium zu verankern, das
        nahmen fallen.                                           überlebt. Und gross genug ist, um überhaupt wahr-
                                                                 genommen zu werden. Dabei ist unsere These, dass
        Von den neusten Zusammenlegungen der                     im heutigen Journalismus die Ware nicht Nachrich-
        Redaktionen versprechen sich die Verleger aber           ten sind, sondern Vertrauen. Dazu braucht es: Auf-
        auch einen Qualitätsschub im Überregionalen.             richtigkeit, Mut und Handwerk. Du musst den Leu-
        Es ist ökonomisch sicher das Richtige, alles zusam-      ten zuhören, eine klare Stimme haben, Fehler
        menzulegen. Man gewinnt so durchaus Schlagkraft.         zugeben, verlässliche Qualität bieten und von Zeit
        Das passiert aber, ohne dass wirklich eine klare pu-     zu Zeit etwas wirklich Erstaunliches tun. Und dann
        blizistische Richtung zu sehen wäre, ohne dass eine      sind wir auch ein wenig im Ablasshandel tätig. Das
        Handschrift da ist. Dabei geht die Identität flöten      heisst, wer bei uns abonniert, kauft sich auch das
        und die Zukunftsentwicklung besteht aus irgend-          Gefühl, etwas für die Welt getan zu haben.
        welchen Gadgets wie Roboterjournalismus, Da-
        ta-Mining und weiteren Fusions- und Abbau-Ideen.         Worin besteht das Versprechen?
        Man antwortet auf die Herausforderungen des 21.          Wir haben ehrgeizige Ziele. Wir arbeiten zum Bei-
        mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts: mit industri-      spiel hart daran, weniger zu bieten als die grossen
        ellem Journalismus. Und baut Abfüllstationen. Ich        Medien: möglichst weniger als drei Artikel pro Tag.
        sehe das Problem im Ge-                                                              Unser ehrgeizigstes
        samtsystem. Wir hätten                                                               Ziel als Nischenme-
        die Mühe nicht auf uns                                                               dium ist sicher, den
        genommen, wenn wir                                                                   Mainstream wieder
        nicht davon überzeugt                                                                herzustellen – durch
        wären, dass das Medien-                                                              offene Debatten mit
        system ein neues Modell                                                              Präzision und Höflich-
        braucht.                                                                             keit. Denn der Main-
                                                                                             stream ist entschei-
        Woran krankt das Sys-                                                                dend: als Bühne für die
        tem denn?                                                                            politische Öffentlich-
        Die Verleger hatten                                                                  keit. Je besser der
        lange eine Gelddruck-                                                                Mainstream, desto bes-
        maschine, die Journalis-     Constantin Seibt zum Projekt «Republik»: «Eine Aufgabe, ser das Land.
        ten eine garantierte         die Menschen mit Wahnsinn und Temperament gefällt.»
        Kanzel. Journalismus                                                               Aber manche
        war ein Jahrhundert lang eine geschützte, natio- Medienkritiker wettern ja gerade gegen diesen
        nale Branche – inklusive Gewinnen, Macht, Pres- so genannten Medien-Mainstream.
        tige. Kein Wunder, arbeiteten dort nicht die erfin- Dabei ist der Mainstream das Gemeinsame der
        derischsten Köpfe. Und kein Wunder, haben die Menschen, da, wo man sich versteht, wo man einen
        Journalisten grösste Schwierigkeiten mit Verände- «Common Ground» hat. Das Verbindende ist heute
        rungen. Als Journalist war ich gewöhnt, ein Pro­ das Interessantere als das Trennende. Das Aufbau-
        blem zu dramatisieren. Dass ich Teil des Problems ende ist publizistisch die schwierigere Aufgabe als
        sein könnte, war verblüffend neu für mich. Und das Empören oder Niederreissen. Wir sagen ja
        noch neuer, dass ich ein Teil der Lösung sein nicht, dass wir die Wahrheit gepachtet haben. Aber
        könnte.                                                 wir versuchen, mit unserem Handwerk der Wirk-
                                                                lichkeit so nah wie möglich zu kommen. Dies ge-
        Was ist nun die Antwort                                 lingt uns nicht immer – und auch dann nur höchs-
        der «
            ­ Republik» auf die neuen B  ­ edingungen?          tens zu 80 Prozent. Und gerade weil das eigene
        Unser Job ist ja nicht, die Probleme des gesamten Scheitern und die eigene Blindheit zu diesem Be-
        Systems zu lösen. Selbst im allerbesten Fall wird ruf gehören, ist es wichtig, dass wir Journalisten
        die «Republik» nie eine Grundversorgung bieten immer auch unser Handwerk erklären.
        können: Die ist zu komplex und zu teuer. Da bleibt
        das SRF-Modell unverzichtbar. Unser Ziel ist be- Die «Republik» ist für Medienunternehmen
        scheidener: ein Medium, das für die Öffentlichkeit atypisch als G    ­ enossenschaft plus AG
        sinnvoll ist und seiner Leserschaft Spass macht. organisiert. Ist das auch eine Antwort auf die
        Und das ist schwer genug: Auf dem winzigen neuen Herausforderungen?

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Ja, die zentrale Antwort. Wir haben lange darüber         das schreibt, was einen wirklich interessiert. Und
nachgedacht, was das richtige Verhältnis zur Le-          alles andere weglässt. Schreiben ist in einem Wort:
serschaft ist. Und kamen darauf: Sie ist unverzicht-      Aufrichtigkeit.
bar. Deshalb machen wir auch keine Werbung,
denn so haben wir nur einen Kunden, ein Ziel – und        Die «Republik» fällt durch ihre hervorragend
damit auch nur einen Chef. Wir haben sie deshalb          geschriebenen Erzählungen auf, zugleich wird
auch nicht als Leser, sondern als Verleger angespro-      Kritik wegen der monströsen Länge laut. In
chen. Das hat ausserdem den Vorteil, dass man mit         ­e urem Jargon: zu viele Wale, zu wenig twitterfä-
ihnen viel direkter sprechen kann.                         hige Ameisen 2.0. Stehen Kürze und Erzählung
                                                           in einem Widerspruch?
Die «Republik» setzt stark auf Erzähl­                     Nein, tun sie nicht. Grundsätzlich gilt, dass eine
journalismus. Ist «Storytelling» das Allheil­              Geschichte jede Länge haben kann, so lange sie in-
mittel gegen den Systemfehler?                             teressant ist. Wir haben ja selbst vor dem Start nicht
Wenn man es «Storytelling» nennt, hat man es               nur das Panorama und das Steak versprochen, son-
nicht begriffen. Es klappt nie, wenn man sagt, jetzt       dern auch das Konzentrat und das Dessert. Der
bringen wir mal die Fakten als Erzählung. Vielmehr         Grund, warum die «Republik» mit Artikeln epi-
geht es darum, die Erzählung in der Wirklichkeit           scher Länge begann, war in einem Wort: Angst,
zu suchen. Und zu finden. Dabei sind die Fakten            nackte, magendrehende Angst. Wir haben dann
nur die Zutaten. Diese müssen zwar rein sein, man          hart um Kürze ringen müssen. Zuerst mit Konzen-
darf sie weder verbiegen noch                                              tratsformaten wie «Briefing aus
übergehen – aber der Kuchen sind
sie nicht. Denn erst eine Erzählung
                                            «Erst eine                     Bern». Dann mit der Einführung von
                                                                           «Ameisen», einer Produktelinie, die
lässt den Menschen verstehen. Die       Erzählung lässt                    kurz, subjektiv, dessertfähig ist.
Erzählungen bleiben, die Fakten          den Menschen
verschwinden.
                                           ­verstehen.                   Wie versucht die «Republik»,
                                                                         dem veränderten Nutzungs­
Was macht denn eine gelungene           Die Erzählungen                  verhalten des Publikums im Netz
journalistische Erzählung aus?
Indem ich beispielsweise in dem Ton
                                             bleiben,                    zu begegnen?
                                                                         Unser Marktplatz ist – leider, aber
über komplexe Themen wie Banken-        die Fakten ver-                  dennoch – Facebook und Co. Social
krise oder Derivate schreibe, als         schwinden.»                    Media sind die Vertriebskanäle. Die
wäre mein erster Satz: «Es war eine                                      «Republik»-Seite hat zwar eine
dunkle, stürmische Nacht, als …» Und man muss ei-         harte Paywall, die einzelnen Artikel sind jedoch
nen klaren Weg durch den Faktenwust finden. Denn          unendlich teilbar. Das heisst, unser Kernprodukt
für eine wirklich gute Geschichte braucht es auch         ist zugleich auch das wichtigste Werbemittel. Un-
unglaublich viele, präzis gecheckte Details. Zum Bei-     sere besten Artikel, die, die viel gehen, sind auch
spiel bei unserer viel beachteten Story zum Bündner       das Marketing. Damit haben wir den Anreiz, dass
Baukartell haben unsere Leute über zwei Monate            überzeugende journalistische Arbeit auch der Mo-
lang recherchiert wie die Irren. Alle diejenigen, die     tor für den Verkauf ist.
dann sagten, dass da nichts Neues drin war, täuschen
sich. Die Eckdaten des Skandals waren zwar seit Jah-      Unendlich teilbar heisst aber letztlich auch gratis.
ren bekannt. Aber erst die präzise Erzählung, wie         Natürlich. Nur: Wir haben ja auch unseren Verle-
genau die Deals liefen, liess die Leute plötzlich ver-    gern versprochen, dass wir in der öffentlichen De-
stehen. Plus der Zusammenhang. Die Leser bekamen          batte einen Unterschied machen. Und nicht, dass
die Geschichte vorher nur in Bruchstücken.                wir ihnen pro Jahr exklusiv eine bestimmte An-
                                                          zahl von Artikeln liefern. Unsere Geldgeber inte-
Ist guter Erzähljournalismus auch eine Frage              ressieren sich dafür, dass der Job des Journalismus
der journalistischen Haltung?                             gemacht wird – weil das ein Job ist, den jede Ge-
Ein guter Erzähljournalist recherchiert zum einen         sellschaft braucht. Sie wollen darüber hinaus gele-
gegen aussen, in der Wirklichkeit, was die Fakten         gentlich stolz sein, Verleger der «Republik» zu sein.
sind. Aber recherchiert auch gegen innen, ins ei-         Wenn wir es schaffen, jemanden im Jahr zehn Mal
gene Herz, was ihm die Fakten bedeuten. Was hat           stolz zu machen, wird er oder sie uns erneuern.
ihn wirklich verblüfft, interessiert, berührt? Und
was nicht? Ein Text ist dann stark, wenn man nur          VINZENZ WYSS

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 D
             ie Moderatorin Rosanna Grü-
             ter steht vor der Haustüre ei-
             nes Wohnblocks und drückt
             auf einen Klingelknopf. Sie
kennt den Mann nicht, mit dem sie auf
diese Weise in Kontakt treten möchte,
seine Adresse hat sie gegen Geld erwor-
ben. «Daten kann man kaufen – Dates
auch?» – so lautet ein Beitrag der noch jun-
gen Sendung «Bytes/Pieces» von SRF. Das
ganze Sendungs-Päckli mit drei Beiträgen
erschien Mitte Jahr und war dem Thema
Datenschutz und Datenhandel gewidmet.
Die trocken und kompliziert anmutende
Thematik scheint sich im besten Fall für
eine Hintergrundsendung am Abend zu
eignen. Zielpublikum: Erwachsene mit
Sitzleder. Könnte man denken. Aber es ist
komplett anders. Der Dreiteiler richtet sich
an ein junges Publikum, ist so kurzweilig
wie eine Soap und so lehrreich wie eine
Wissenschaftssendung – und es gibt ihn
nur im Internet, wie alles, was die Mache-
rinnen und Macher von «Bytes/Pieces»
produzieren. Die Sendung ist eines der vie-
len und vielseitigen Beispiele dafür, was
SRF derzeit unter dem Begriff «Digital
Storytelling» produziert.
    Ein ungenauer Begriff notabene. Inner-
halb von SRF findet man in den verschie-
densten inhaltlichen Abteilungen digitale
Storyteller, bei den News ebenso wie in
der Unterhaltung und der Kultur. Eine bes-
sere Eingrenzung ergibt sich über das erste

                                               Kurz gesagt
Wort: «Digital». Es ist genau so gemeint,
umfasst also ausschliesslich journalisti-
sche Arbeiten, die SRF online publiziert.
Aber da wird’s bereits wieder kompliziert:
«Online» kann bedeuten: auf den eigenen
Websites, aber auch auf Youtube und in

                                                   und vertieft erklärt
den sozialen Netzwerken Facebook, Twit-
ter, Instagram und weiteren. Ist die nahe-
liegende Übersetzung «Online-Journalis-
mus» gleichbedeutend mit Digital Story-
telling? Nein, sagt Marius Grieder und                 «Digital Storytelling» gewinnt an Bedeutung.
lacht. Er muss es wissen, denn seine Berufs-      Was beinhaltet d ­ ieses «digitale Geschichtenerzählen»,
bezeichnung bei SRF lautet «Digital Story-     wer übt es aus, was ist das Neue daran und welche Bedeutung
teller». «Ich bin Allrounder. Ich filme,        hat Digital ­Storytelling für SRF – jetzt und für die Zukunft?
schneide, animiere und überlege auch, wie
ein Inhalt aufgebaut werden kann, woran
wir ihn ‹aufhängen›. Ich recherchiere aber
nicht selber, das machen die Journalisten,
                                                                                                                 Illustration: iStock

mit denen ich zusammenarbeite. Wir sind
ein Team.»

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Geschichten Wir wollen - Magazin der - Universität Luzern
«Daten kann man
                                                                       ­kaufen –
                  Was Digital-Storytelling-Beiträge aus-
                  zeichnet, ist ihre Multimedialität: Text,
                                                                     Dates auch?»              zielle Dates für CHF 9.80», staunen die
                                                                                               beiden. Und die Zuschauenden erfahren
                  Audio, Film, Fotografie, Illustration, Gra-                                  Unerwartetes über Recherche.
                  fik, Infografik – es ist ein individuelles Zu-                                   Mit der Dating-Idee wird zwar vor al-
                  sammenspiel von mehreren dieser Diszi­                                       lem ein junges Publikum angesprochen,
                  plinen. Teamarbeit war schon immer                                           relevant ist dieser dreiteilige Beitrag aber
                  selbstverständlich im Radio- und Fernseh-                                    auch für Ältere. Die über 50-Jährigen seien
                  journalismus, aber jetzt kommen neue                                         übrigens auch das Klientel, bei dem die di-
                  Spezialisten in die Teams: Programmierer                                     gitalen Inhalte von SRF derzeit am stärks-
                  und Designer respektive Multimedia-Pro-                                      ten zulegen würden, sagt Konrad Weber.
                  duzenten. «Unser Ziel ist es, dass sie alle                                  Dies nicht von ungefähr, denn SRF produ-
                  auf gleicher Stufe zusammenarbeiten, dass                                    ziert Digital Storytelling längst nicht nur
                  es kein Gefälle zwischen ihnen gibt», sagt                                   für ein junges Publikum. Auch Christoph
                  der langjährige SRF-Journalist Konrad                                        Aebersold will mit einem Vorurteil aufräu-
                  Weber, der heute Projektleiter für die di-                                   men, nämlich jenem, wonach es online nur
                  gitalen Angebote ist. Hier finde ein Um-         «20 Jahre, 20 Titel»        oberflächliches Kurzfutter zu konsumie-
                  denken statt, wie auch bei den Überlegun-         – eine animierte           ren gebe. Der Leiter Strategie und Ange-
                  gen, für welche Kanäle ein Beitrag                                           bote für die junge Zielgruppe sagt: «Klar
                  produziert werde: «Früher arbeitete man
                                                                    Datenanalyse zu            gibt es viele Kurzformen. Aber es gibt auch
                  immer erst mal fürs Radio oder Fernsehen.          Roger Federer.            viele neue und immer mehr Formen und
                  Heute gibt es Beiträge, die zuerst einmal                                    Möglichkeiten, Informationen online zu
                  für Online recherchiert und produziert                                       vertiefen. Das entspricht auch dem Bedürf-
                  werden.»                                                                     nis des jungen Publikums: Es wünscht In-
                       Anschauliche und vielseitige Beispiele                                  formation, Orientierung und Einordnung.»
                  dafür liefert SRF Data, ein Team von Da-                                     Gerade was das Radio betrifft, sieht Ae-
                  tenjournalisten, das im Online bei SRF                                       bersold im Digital Storytelling Gemein-
                  News angesiedelt ist. Angelo Zehr ist ei-                                    samkeiten: «Radio darf nicht ausufernd
                  ner von ihnen. Der 28-Jährige, der sein                                      sein, es muss Inhalte herunterbrechen. Das
                  Studium in Multimedia Production an der                                      ist eine Qualität, die auch das Digital Sto-
                  Hochschule für Technik und Wirtschaft in                                     rytelling erfordert.» In ihm sieht er vor al-
                  Chur mit einer Bachelorarbeit über multi-                                    lem Chancen – auch fürs Erreichen von
                  medialen Politjournalismus abgeschlossen                                     Hörerinnen und Hörern, zu denen SRF
                  hat, zeigt von den vielen Arbeiten eine, die                                 sonst keinen Zugang (mehr) hätte. «Digi-
                  zu recherchieren und zu produzieren ihm           Infografiken zu            tal Storytelling bietet uns die Möglichkeit,
                  besonders Spass gemacht hat: «20 Jahre,
                  20 Titel» – eine grosse, animierte Daten-
                                                                    Waffenexporten             Inhalte zu produzieren, mit denen wir an
                                                                                               ein neues Publikum herankommen – ins-
                  analyse zur Karriere von Roger Federer.           aus der Schweiz            besondere auch an das junge, das Medien
                  Sie erschien im Januar und beeindruckte                                      kaum noch linear konsumiert.» Und da-
                  auch externe Medienkritiker. «Aktuell bin                                    rum gehe es ja: «SRF hat mit dem Service
                  ich an einer Geschichte zur Entwicklung                                      public den Auftrag, alle Bevölkerungs-
                  der politischen Mehrheitsverhältnisse in                                     gruppen zu erreichen.»
                  den zehn grössten Schweizer Städten. Das
                  war eine Anfrage des Regionaljournals                                        ESTHER BANZ
                  Bern Freiburg Wallis.» Auch das eine fun-
                  dierte Analyse.
                       Dass sich vermeintlich trockener, tech-
                  nischer Datenjournalismus frisch vermit-
                  teln lässt, zeigt beispielhaft die bereits er-
                  wähnte Sendung «Bytes/Pieces», auch sie
                  wird von SRF Data produziert. In einer der
                                                                           Geschichten
                  Folgen sieht man Angelo Zehr neben                       von SRF Data
                  ­Rosanna Grüter sitzen. Er erklärt ihr, wie
Fotos: SRF Data

                   er an die Adressen vermeintlich passender       www.srf.ch/news/srf-data
                   Männer für sie gekommen ist. «28 poten-

                                                                       LINK | September 2018                                              9
Geschichten Wir wollen - Magazin der - Universität Luzern
FOKUS

Das Leben von «Edi»
Radio SRF nimmt seine Hörerinnen und Hörer mit auf eine neue Erzählreise.
Weshalb der neue Podcast «Edi – Leben am Limit» weder ein Radiobeitrag noch ein Hörspiel ist
und warum die Geschichte ­eines K­ riminellen uns alle etwas angeht.

 Fussballer wollte er werden –       «Das Podcast-Format schafft          ­ eziehen will und kann. Dieses
                                                                          b                                   Ähnlich wie in einem Hörspiel.
 Verbrecher ist er geworden. So      neue Möglichkeiten, gesell-          individuelle Hören verlangt an-     Der SRF-Podcast unterschei-
 startet die Geschichte. «Ich        schaftlich relevante Themen in       dere Formen des Storytelling»,      det sich aber von einem Hör-
 habe fast alle Gesetze gebro-       neuen Erzählformen an ein            meint Witzig. Genau hier liegt      spiel, indem die Geschichte
 chen, die man brechen kann»,        ­Audio-Publikum zu bringen»,         ein zentraler Unterschied zum       wahr ist und auf Recherchen
 sagt Eduardo T., kurz Edi. Edi       ­ergänzt sie.                       herkömmlichen Radiobeitrag:         mit echten Menschen basiert,
 ist ein notorischer Verbrecher,         Mit «Edi» folgt nach «Einfach    Podcasts tauchen tiefer ins The-    während Hörspiele meist fiktive
 Einbrecher, Drogenkurier, Bor-        Politik» der zweite Original-      ma ein, der Inhalt gibt die Länge   Geschichten erzählen. Was die
 dellbesitzer und Lottogewin-          Pod­cast von SRF. Original, weil   vor. Dadurch, dass sie bedeu-       beiden Formate im Gegensatz
 ner, der das Schweizer Rechts-        es sich nicht um einen Sende-      tend länger und persönlicher        zu klassischem Radio verbindet:
 system immer wieder an seine          mittschnitt oder eine Zusammen­    sind als Radiobeträge, entsteht     «Sie erfordern die volle Auf-
 Grenzen gebracht hat. Der         fassung eines Radiobeitrags            eine viel intimere Beziehung        merksamkeit; deshalb werden
 neue SRF-Podcast, der den         handelt, sondern um ein für sich       zwischen der Person, die            sie gerne beim Pendeln oder
 Namen des Verbrechers trägt,      stehendes Produkt. «Podcasts           spricht, und dem Hörer oder der     Spazieren gehört», so Witzig.
   erzählt seine Geschichte. Der   sind eine wichtige und gute            Hörerin.                            Und das passt. Denn mit dem
 Fall hat hohe gesellschaftliche   ­Ergänzung zum Radio, das eher            Neben dem Sprecher Aaron         Handy in der Tasche und den
 Brisanz: «Sein Leben spiegelt      ein breiteres Publikum                Hitz und den beiden Journalis-      Stöpseln in den Ohren können
 die Resozialisierungsgeschich-     ­anspricht. Wir haben ein wach-       tinnen Sabine Meyer und Patricia    wir über den Platzspitz schlen-
 te der Schweiz», ­erklärt           sendes Publikum, das seine In-       Banzer kommen in «Edi» diverse      dern, während Edi uns von
 ­Susanne Witzig, Radio-Forma-       formationen individuell mobil        Personen aus Edis Umfeld vor.       ­seinen dubiosen Geschäften
  tentwicklerin bei SRF und für                                                                                an genau diesem Ort erzählt.
  die Produktion von «Edi –
  ­Leben am Limit» z­ uständig.
                                               «Edi» herunterladen unter                                      Luca Passerini
                                               • www.srf.ch/edi • Spotify • iTunes • Deezer
                                                                                                                                                Bild: SRF

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KOLUMNE

                                                  Nachrichten des
                                                  Heimkehrers
                                                       Zeig mir bloss keine Fotos!, hof-
                                                  fen wir, wenn jemand aus den
                                                                                                                                                              «Die besten
                                                  Ferien zurückkommt. Als die                                                                                 Nachrichten be-
                                                  Welt für die meisten noch ein                                                                               kommt man,
                                                  paar Quadratkilometer gross
                                                  war, war einer aber ein gefrag-
                                                                                                                                                              wenn man Gele-
                                                  ter Zeitgenosse, der ein biss-                                                                              senes mit einem
                                                  chen weiter wanderte als über                                                                               Besuch ergänzt.»
                                                  die zu bestellenden Felder und
                                                  bis zur Kirche. Kehrte er von
                                                  ­einer Handelsreise zurück, aus                                                                             Ich bin gerade auf einer Reise
                                                   Asien oder der nächsten Stadt,                                                                             in Israel und im Westjordanland.
                                                   versammelte sich viel Volk, um                                                                             Ich wohne bei Politaktivistinnen
                                                   zu erfahren, was sich in der                                                                               in Jerusalem, nehme an Touren
                                                   ­weiten Welt ereignet hatte.                                                                               teil, besuche Konzerte und
                                                    Im September 1605 erschien in                                                                             ­stehe um halb vier auf, um mich
                                                    Strassburg die erste Zeitung.                                                                              mit palästinensischen A ­ rbeitern
                                                    Es war die «Relation: Aller Fuer-                                                                          am Checkpoint in Bethlehem in
                                                    nemmen und gedenckwuerdi-                                                                                  die Schlange zu stellen.
                                                    gen Historien». In der ersten                                                                              Es wird so viel über die weite
                                                    Hälfte des 20. Jahrhunderts                                                                                Welt, beispielsweise über den
                                                    ­erlebten die gedruckten Nach-                                                                             Nahostkonflikt, geschrieben,
                                                     richten dann ihren Höhepunkt:                                                                             dass man unmöglich alles lesen
                                                     ­Korrespondenten in aller Herren                                                                          kann. Die besten Nachrichten
                                                      Länder. Frau und Herr Schweizer                                                                          bekommt man meiner Meinung
                                                      lasen die Neuigkeiten aus Kap-                                                                           nach aber, wenn man Gelesenes
                                                      stadt oder Peking neuerdings                                                                             mit einem Besuch ergänzt.
                                                      täglich am Frühstückstisch.                                                                              Ich hoffe, wenn ich zuhause bin,
                                                      Seit dem ersten Internetauftritt                                                                         wird sich vielleicht sogar ein
                                                      der «Schweriner Volkszeitung»                                                                            wenig Volk versammeln.
                                                      am 5. Mai 1995 gehen die Aufla-                                                                          Ich hätte ein paar Geschichten.
                                                      gen der Printmedien kontinuier-                                                                          Und Fotos!
                                                      lich zurück. Als sich Internet und
                                                                                                                                  ke r
                                                      ­Social Media bis in die einsams-                              ic Zw ic                                 Frédéric Zwicker
                                                                                                          Fr é d é r          a t , Musik
                                                                                                                                              er
                                                       ten Winkel des Erdballs aus­                                  L it e r
                                                                                                              ) is t                         hie n
                                                                                                ( *1983                   . 2 0 16 e r s c
                                                       breiteten, glaubte man, die
                                                                                                            ur nali   s t                      e n Sie
                                                                                               und Jo                         H  ie r kö n n
                                                       Nachrichten über den Arabischen
                                                                                                         büt rom
                                                                                                                      a  n  «                   in Rap ­
                                                                                            s ein D e                          ic k e r le bt
                                                  Frühling oder die brutale Unter-                                 n ».  Z  w                    d e sie ­
                                                                                                  r e is g e h e                a  b er gera
                                                  drückung von Demonstrationen             im  K                     ach    t e                     sib ar,
                                                                                                          , ver br                       nd S an
Foto: SRF / Lukas Maeder (www.ansichten.srf.ch)

                                                                                            p e r s w  il                    g r e b  u                 n
                                                  in der Türkei ab sofort direkt                                        Za                  n Ro m a
                                                                                                           nat e in             z weit e
                                                       von den Betroffenen zu erhalten.      ben Mo                   in  e m                      h e n
                                                                                                               n se                    r o at is c
                                                       Die Freude wurde indes bald               wo er a               n  euen, k                  ts
                                                                                                                 a m                        K  n u
                                                       von Suchmaschinen, die wissen,                s ow ie               in e r  B and
                                                                                                                      se
                                                                                                          ­A lbum              ar b eit e
                                                                                                                                            t e.
                                                       wo und wer wir sind, Face-                                  Ko f f e r
                                                       book-Algorithmen, Zensur oder
                                                       vom Skandal um Cambridge
                                                       Analytica getrübt.

                                                                                                          LINK | September 2018                                                               11
MEDIENPOLITIK

                Bescheidener Entwurf zum
                  Mediengesetz
                        Der Bundesrat will die elektronischen Medien gesetzlich neu regeln.
                      Vom in Aussicht gestellten Mediengesetz ist nicht mehr die Rede. Schade.
                           Dennoch gibt die neue Gesetzesvorlage heftig zu diskutieren.

     D
                 ie Erwartungen waren        den Online-Bereich ausgeweitet, wird also     mission (KOMEM) ausserhalb von
                 hoch und vielfältig an      zu einer Regelung auch für elektronische      Staat und Verwaltung soll neu über die
                 das sogenannte Medien-      Medien. Damit hat der Bundesrat das           Umsetzung des Gesetzes entscheiden
                 gesetz: Kurz vor der        RTVG der digitalen Realität angepasst.        – statt wie bisher Bundesrat, Departe-
   Sommerpause hat der Bundesrat dann        • Entsprechend wird explizit anerkannt,       ment oder BAKOM.
  seinen lange angekündigten Entwurf         dass neben Radio und Fernsehen ebenso         • Aus dem Gebührentopf können neu ein
 vorgestellt. Konkret geliefert hat er ein   Online-Publikationen Teile des Ser-           Teil der Aus- und Weiterbildung im Jour-
Gesetz zu den elektronischen Medien,         vice-public-Auftrages vermitteln und da-      nalismus, der Presserat und eine Nachrich-
BGeM. Und dieser Name macht gleich           mit auch zum Auftrag der SRG oder ande-       tenagentur unterstützt werden.
klar: Die Vorlage ist kein Mediengesetz.     rer Veranstalter gehören können.              Das alles scheinen vernünftige Ansätze zu
                                             • Publizistische Online-Angebote und          sein. Man kann bezüglich BGeM-Entwurf

Das bringt das BGeM                          ­digitale Infrastrukturen können neu via
                                              Gebührengelder unterstützt werden.
                                                                                           aber auch grosse Defizite respektive
                                                                                           ­Kritikpunkte auflisten.
im Wesentlichen                               • Die Leistungsaufträge für jene «Sender»,    • Es gibt eine deutlich sichtbare Medien-
                                              welche Gebührengelder erhalten, werden        krise: Die Finanzierung des Journalismus
                                                                                                                                         Illustration: Medianovis

• Das Radio- und Fernsehgesetz (RTVG),        anders geregelt. Insbesondere der Auftrag     ist über die bisherigen Modelle nicht mehr
das sich bisher auf lineares Radio und        an die SRG wird enger definiert.              garantiert, die Folgen sind ein massiver
Fernsehen beschränkte, wird teilweise auf     • Eine neue unabhängige Expertenkom-          Abbau von Redaktionskapazitäten und ein

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starker Konzentrationsprozess im Medien­        schuss des Gebührentopfs. Warum die             diesem Bericht zu bedeuten hat, muss
bereich. Warum also hat der Bundesrat           Verlagshäuser über Gebührengelder für           ebenfalls diskutiert werden.
nicht gleich ein Mediengesetz vorgelegt?        elektronische Medien die Postzustellung              Das Gesetz regelt viele Details – und
Dieses könnte eine staatsunabhängige Me-        von Zeitungen unterstützen wollen und           auch hier verstecken sich viele Teufel be-
dien- respektive Journalismusförderung          warum die Verleger ausschliesslich auf          ziehungsweise muss man kritische Fragen
beinhalten.                                     eine Unterstützung im Zeitungsbereich fo-       stellen. Etwa: Erhält diese neue KOMEM
• Online-Medien können gemäss Entwurf           kussieren, wird bestimmt Diskussionen           zu viel Macht? Warum wird nicht auch für
nur gefördert werden, wenn sie «im We-          auslösen.                                       die rätoromanische Sprachregion ein line-
sentlichen» aus Audio- und Videobeiträ-             Den Verlegern geht aber auch die ein-       ares Radioprogramm als Minimalangebot
gen bestehen – und nicht hauptsächlich aus      geschränkte Möglichkeit («im Wesentli-          gesetzlich verankert? Warum wird die Be-
Textelementen. Damit werden zum Bei-            chen» Audio- und Videobeiträge), On-            günstigung der ausländischen Werbefens-
spiel kleinere Online-Zeitungen von einer       line-Publikationen zu unterstützen, zu          ter nicht aufgehoben? Ist es richtig, dass
Förderung ausgeschlossen. Warum ist die         weit: Das sei ein zusätzlicher Angriff auf      Radiosender ohne Gebühren und Leis-
Förderung von Online-Medien derart res-         die Presse.                                     tungsauftrag künftig politische und religi-
triktiv angelegt? Entspricht diese Unter-           Man darf davon ausgehen, dass sich die      öse Werbung ausstrahlen dürfen? Und
scheidung überhaupt der konvergenten di-        härtesten Differenzen in der Debatte um         ­gefährdet die Neuregelung des Ausland-
gitalen Realität in den Redaktionen?            das BGeM um diese Fragen drehen wer-             angebots die Unabhängigkeit und die
    Diese Fragen kann man auf der recht-        den: Welche Förderung im Bereich der On-         Breite des bisherigen Angebots?
lichen Ebene beantworten – und der Bun-         line-Medien und was darf die SRG im On-              Kontroverse Diskussionen kann man
desrat argumentiert entsprechend: Die           line-Bereich überhaupt publizieren?              auch bei anderen, grösseren Schwachstel-
Verfassung lasse eine weitergehende För-                                                         len im Gesetzesentwurf erwarten. Kritisch
derung über den elektronischen Bereich
hinaus gar nicht zu. Gefragt werden muss,       Das bringt das BGeM                              beurteilt werden muss etwa, dass die Netz-
                                                                                                 betreiber (wie Swisscom oder UPC) kei-
ob es nicht angebracht wäre, einen neuen        für die SRG SSR                                  nen Regelungen unterworfen werden. So
Verfassungsartikel zur Sicherung von ge-                                                         werden diese weiterhin frei entscheiden
sellschaftlich notwendigen medialen Leis-       • Der Online-Bereich gehört nun auch ge-         können, ob sie Dienste (wie zum Beispiel
tungen vorzulegen. Damit könnte man die         setzlich definiert zum elektronischen Be-        HbbTV) auch jener Sender, welche verbrei-
Grundlage schaffen für eine nachhaltige         reich. Aber die SRG muss sich dennoch im         tet werden müssen («must carry»), an die
Sicherstellung von gesellschaftlich not-        Wesentlichen auf den Audio- und Vi-              Konsumenten weiterleiten. Und schliess-
wendigen Journalismusleistungen – unab-         deobereich konzentrieren. Im Vergleich           lich: Wie soll die wichtige Absicht im
hängig davon, in welcher Form sie publi-        zur aktuellen Praxis ändert sich damit           BGeM, eine «nicht gewinnorientierte»
ziert werden.                                   nichts.                                          Nachrichtenagentur als Basisdienst für alle
    Die halbherzige Vorlage des Bundesra-       • Die SRG darf via Online keine Werbung          Medien unterstützen zu können, umge-
tes widerspiegelt aber auch die Fronten der     verkaufen. Das war bisher schon so, ist nun      setzt werden können, wenn doch die ein-
aktuellen medienpolitischen Auseinander-        aber im Gesetz festgehalten.                     zige Nachrichtenagentur in der Schweiz,
setzung. Die Verleger, die dauernd argu-        • Die SRG erhält engere Vorgaben beim            die SDA, sich eben eine neue Struktur ge-
mentieren, sie seien aus wirtschaftlichen       Leistungsauftrag (Definition von Quali-          geben hat, die Gewinn erwirtschaften
Gründen gezwungen, Kapazitäten abzu-            tätsanforderungen), bei der Organisation         muss? Das BGeM ist kein Mediengesetz.
bauen, wehren sich gegen eine umfassende        des Publikumsdiskurses, beim Eingehen            Dennoch wird es grundsätzliche medien-
öffentliche Medienförderung. Und sie            von Partnerschaften und Kooperationen            politische Debatten über den elektroni-
wehren sich ebenfalls gegen eine On-            und im Bereich der kommerziellen Ein-            schen Bereich hinaus auslösen. Und das ist
line-Förderung, die den Textbereich ein-        nahmen. Es ist davon auszugehen, dass die        gut so.
bezieht. Diese Fundamentalposition galt         SRG diese Einschränkungen nicht alle po-
zumindest bis kürzlich. Jetzt erfolgte eine     sitiv beurteilt, weil es ihre Flexibilität im   PHILIPP CUENI
bemerkenswerte Richtungsänderung: Die           Alltag einengt.
Presse werde beim neuen Gesetz nicht be-        • Unklar bleibt, wie die SRG bei sinken-
 rücksichtigt, das sei falsch und gefährlich.   den Werbeerträgen adäquat finanziert
  Sie «wird mit der einseitigen Bevortei-       werden soll, um ihren Auftrag zu erfüllen.
   lung der elektronischen Medien weiter        Der Bundesrat hat die Einnahmen für die
    unter Druck gesetzt», kritisiert der Ver-   SRG bekanntlich bereits plafoniert. Im er-
     legerverband den BGeM-Entwurf. Er          läuternden Bericht zum Gesetz ist zu le-
      verlangt eine Aufstockung der Bei-        sen, es sei auch denkbar, «dass die SRG
       träge an die Postzustellung der Zei-     künftig mit weniger Mitteln auskommen
        tungen, finanziert aus dem Über-        muss». Was dieses politische Statement in

                                                             LINK | September 2018                                                       13
UNTERNEHMEN

                                                                                           Überall finden sich
                                                                                           ­p ositive Geschichten –
                                                                                            wie auf dieser philippi­
                                                                                            nischen Mülldeponie,
                                                                                            die «mitenand»-Leiter
                                                                                            Mitja Rietbrock mit der
                                                                                            heute 17-jährigen
                                                                                            Jenly (Mitte, kniend)

Lichtblick                                                             F
                                                                                 ür sie ist das Leben kein Zucker-
                                                                                 schlecken: Sie werden als Rand-
                                                                                 gruppen diskriminiert, wühlen
                                                                                 im Müll, sind schwer behindert,

auf der Müllkippe
                                                                      leben auf der Strasse – kurz: Sie sind Men-
                                                                      schen, die fürs Leben kämpfen. Für die meis-
                                                                      ten Medien sind ihre Geschichten wenig in-
                                                                      teressant. Nicht so für die Redaktorinnen
                                                                      und Redaktoren der SRF-Sendung «miten-
1975 hiess sie «… ausser man tut es», seit 1990 kennen wir die        and», die mitunter gleichzeitig auch Video-
Sendung als «mitenand». Ein kleines, feines TV-Format mit             journalisten sind. Sie gehen dorthin, wo
grossem Engagement: Die vierminütige Sendung richtet jeden            Hilfe und Unterstützung dringend gebraucht
Sonntag den Fokus auf jene, die im medialen Schatten ­stehen.         wird. «Das kann in Entwicklungsländern
Der neue Redaktionsleiter möchte vor allem positive Geschichten       der Fall sein, aber auch hier in der Schweiz»,
erzählen – denn davon gibt es viele.                                  sagt Mitja Rietbrock, der seit März 2018 das
                                                                      sechsköpfige «mitenand»-Team leitet.
                                                                         Im Fokus der Sendungen stehen stets so-
                                                                      ziale oder ökologische Projekte gemeinnüt-
                                                                      ziger Organisationen, was natürlich Betrof-
                                                                      fenheit mit sich bringt – und dadurch eine
                                                                      gewisse Schwere. Rietbrock möchte mit sei-
                                                                      nem Team den Blickwinkel wechseln: «Wir
                                                                      machen ‹Constructive Journalism› – konst-

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ruktiven Journalismus», erklärt er. Das
                                          heisst: Statt auf die Tränendrüse zu drücken,
                                          habe sich die «mitenand»-Redaktion, die zur
                                                                                            1400
                                                                                            Mal wurde «mitenand» seit dem
                                                                                            Start am 25. August 1990
                                                                                                                               nehmen zu können, kündete die SRG den
                                                                                                                               während 30 Jahren geltenden Vertrag mit der
                                                                                                                               Zewo, der Schweizerischen Zertifizierungs-
                                          DOK/Reportage-Familie gehört, dafür ent-          ­ausgestrahlt. Die erste Sendung   stelle für gemeinnützige Spenden sammelnde
                                          schieden, die positiven Aspekte in den Vor-        berichtete über den               Organisationen. Dieser habe die inhaltliche
                                          dergrund zu stellen – ohne jedoch dabei die        Schweizerischen Samariterbund.    Verantwortung der SRG eingeschränkt, er-
                                          Ernsthaftigkeit des Themas aus dem Blick                                             klärte SRG-Sprecher Daniel Steiner damals
                                          zu verlieren.                                                                        der NZZ.

                                                                                            168
                                              So ging es in einer Sendung beispiels-                                               «Wir entscheiden nun selbst, nach journa-
                                          weise um ein Ferienlager für Kinder Multi-                                           listischen Kriterien, welches Thema wir
                                          ple-Sklerose-kranker Eltern. «Wir haben                                              wann aufgreifen», erklärt Rietbrock, der
                                          uns natürlich damit auseinandergesetzt, was                                          2014 noch nicht Leiter des «mitenand»-Teams
                                          die Diagnose MS für die Erkrankten und ihre                                          war, sondern als Videojournalist für die Sen-
                                          Angehörigen bedeutet und wie schwierig            Sendungen produzieren              dung unterwegs war. So habe es immer wie-
                                          auch ihr Alltag ist», so Rietbrock. Doch den      «mitenand» (SRF) und ihre          der die Situation gegeben, dass wichtige ak-
                                          Fokus haben sie auf das gerichtet, was ein        SRG-Schwestersendungen             tuelle Themen in der Sendung nicht
                                          solches Ferienlager den betroffenen Fami-         «Ensemble» (RTS) und               stattgefunden hätten. Dies soll nun Dank der
                                          lien ermöglicht: «Die Erkrankten können           «Insieme» (RSI) pro Jahr.          Neuausrichtung nicht mehr passieren.
                                          sich zuhause ganz auf sich und ihre Gesund-                                              Für die herbeigesehnte journalistische
                                          heit konzentrieren, und ihre Kinder können                                           Unabhängigkeit verzichtete die SRG mit der

                                                                                            60
                                          sich mit Gleichaltrigen austauschen – und                                            Vertragsauflösung auf die finanzielle Betei-
                                          merken so, dass sie mit ihren Sorgen nicht                                           ligung der Hilfswerke an den Produktions-
                                          alleine sind.»                                                                       kosten. Die jeweils vorgestellten NGOs hat-
                                              Die positive Herangehensweise wird auch                                          ten bis dato nämlich einen Teil davon
                                          im Beitrag über Jenly von den Philippinen                                            finanziert. Ein Umstand, der in der Vergan-
                                          deutlich. In diesem besucht Rietbrock zusam-       Bisher hat «mitenand» über        genheit immer wieder Propaganda-Vorwürfe
                                          men mit der 17-Jährigen jenen Ort, an dem         ­soziales Engagement               gegen das Format hat laut werden lassen.
                                          sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hat:    aus der Schweiz in mehr als       «Diese waren nie gerechtfertigt, doch es war
                                          die Müllkippe der Stadt Cagayan de Oro.            60 Ländern berichtet.             schwierig, gegen die Unterstellungen anzu-
                                          Dort lebte und arbeitete sie, um ihre Familie                                        gehen», so Rietbrock.
                                          zu unterstützen. In Jenlys Leben aber gibt es                                            Mit der neuen Ausrichtung hat der Recher-

                                                                                            4
                                          heute Lichtblicke: Sie lebt bei der Schweizer                                        cheumfang deutlich zugenommen: Seit 2014
                                          Organisation «Island Kids Philippines», geht                                         überprüft die Redaktion selbst die Organisa-
                                          dort zur Schule – und träumt heute sogar da-                                         tionen – früher konnte sie sich noch auf das
                                          von, mal Ärztin zu werden.                                                           von der Zewo verliehene Gütesiegel verlas-
                                              «Über solche Menschen und Themen zu                                              sen. Zudem sind die neuen Fokusthemen kom-
                                          berichten, gibt einem das Gefühl, etwas           Mal pro Jahr berichtet             plexer und entsprechend rechercheaufwändig.
                                          Sinnvolles zu tun», so Rietbrock, der trotz       «mitenand» über die Tätigkeiten    «Es geht uns heute primär um die grossen He-
                                          seiner Leitungsfunktion immer noch selbst         der «Glückskette».                 rausforderungen unserer Zeit wie Klimawan-
                                          für «mitenand» auf Drehs geht, vor allem in                                          del, Armut, Gleichberechtigung von Frauen.
                                          Krisengebieten. Erst kürzlich ist er aus dem                                         Und erst dann um die NGOs, die sich in die-
                                          Irak zurückgekommen. Dass es vor allem                                               sen Bereichen engagieren», so Rietbrock.
                                          ihn in unruhige Gebiete verschlägt, liegt         Sendeplatz                             Der Mehraufwand zahlt sich aber aus:
                                          nicht daran, dass er die Gefahr explizit                                             Durch die intensivere Auseinandersetzung
                                          sucht, sondern daran, dass er da niemanden        TV: SRF 1, Sonntag, 19:20 Uhr      mit den Themen, den Organisationen und mit
                                          aus seinem Team hinschicken würde, «es sei        Online: www.srf.ch/mitenand        den betroffenen Menschen fühlt sich das «mi-
                                          denn, sie wollen es». Wichtig ist ihm, dass                                          tenand»-Team stärker in die Protagonistin-
                                          solche Themen in der Sendung vorkommen,                                              nen und Protagonisten und ihr Umfeld ein.
Foto: «mitenand», Quellen: Faro und NZZ

                                          auch und gerade wenn sie sich an Orten ab-                                           Seine kurzen Reportagen ziehen die Zu-
                                          spielen, zu denen wenige Journalisten Zu-                                            schauerinnen und Zuschauer in den Bann
                                          gang haben.                                                                          und nehmen sie mit auf eine Reise jenseits
                                              Welche Themen das sind, darüber ent-                                             der Schlagzeilen.
                                          scheidet seit Anfang 2014 die Redaktion
                                          selbst. Denn um selbst das Steuer in die Hand                                        FEE RIEBELING

                                                                                                   LINK | September 2018                                                 15
UNTERNEHMEN

 Zur Person
 Stefano Semeria (52) ist seit
 2011 für SRF tätig, zunächst
 als Programmleiter TV und
 dann als Leiter Junge Ziel-
 gruppen. In den vergangenen
 zwei Jahren richteten Seme-
 ria und sein Team das Ange-
 bot für das junge Publikum
 komplett neu aus und lan-
 cierten über zwanzig Webse-
 rien wie «True Talk», «Nr. 47»
 oder «Zwei am Morge». Vor
 seinen Tätigkeiten bei SRF
 hatte Semeria die allscreenz
 in Berlin gegründet, eine Be-
 ratungs- und Entwicklungs-
 firma für Onlinevideo und die
 Analyse digitaler Strategien
 internationaler Medienunter-
 nehmen. Zudem war er als
 Programmplaner bei der ARD,
 als Leiter Programmplanung
 Fernsehen ORB/RBB sowie
 als Head of International For-
 mat Research bei der ProSie-
 benSat.1 Media SE tätig.
                                                          SRF / Oscar Alessio

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Neuer Chef aus der
          Generation Mitte
          Seit Anfang August leitet Stefano Semeria (52) die Abteilung Unterhaltung von Schweizer Radio
                und Fernsehen (SRF) in Zürich. Im Gespräch mit LINK erklärt der erfahrene TV-Mann,
             wie er den Spagat zwischen junger Zielgruppe und älterem Stammpublikum schaffen will.
                   Als Erfolgsfaktor sieht er die «Scharniergeneration» der 30- bis 55-Jährigen.

Sie sind seit 1. August im Amt als Unter­                                        bei zu fragen: Was wollen wir denn in Zu-
haltungschef von Schweizer Radio und                                             kunft anbieten? Das freut mich sehr, weil
Fernsehen (SRF). Was befähigt Sie zu dieser                                      ich mir dieselbe Frage stelle.
Aufgabe?
Ich habe in meinem Leben sehr unter-                                             Was macht im Kern ein Unterhaltungs­an­
schiedliche Funktionen ausgeübt, aber es                                         gebot eines Service-public-Anbieters aus?
gab immer zwei Kernelemente. Das eine                                            Am Anfang steht für mich die Frage, wie
war Planung und Organisation und das an-                                         ernst wir unser Publikum nehmen. Das gilt
dere war Trendscouting im weitesten Sinne.       «Am Anfang                      eigentlich für alle Formen und Formate. Wie
Ich habe mich sehr viele Jahre für private,      steht für mich                  präsentieren wir Personen, wie erzählen wir
aber auch für öffentlich-rechtliche Medien                                       Geschichten? Damit können wir uns auch
mit der Frage auseinandergesetzt, was es         die Frage, wie                  von den Privaten unterscheiden. Nehmen
Neues an audiovisuellen Medieninhalten           ernst wir unser                 wir «Scripted Reality» als Beispiel. Dürfen
weltweit gibt.
                                                 Publikum                        wir das machen? Ich würde das nicht per se
                                                                                 ausschliessen. Es ist nur die Frage, ob wir
Was haben Sie in den ersten Wochen im            nehmen.»                        dem Publikum klarmachen würden, wie wir
neuen Job alles schon gemacht?                                                   in und mit dem Genre spielen. Wir dürften
Viel gelesen, viele Gespräche geführt. Für                                       es nicht im Glauben lassen, die «Reality» sei
viele Mitarbeitende geht es zuerst einmal        Stefano Semeria,                echt. Und wir führen unsere Protagonisten
                                                 Leiter Unterhaltung Schweizer
darum, zu wissen, wer ich bin, was sie von       Radio und Fernsehen (SRF)
                                                                                 nicht vor. Es besteht ein grosser Unterschied,
mir erwarten können, wofür ich stehe. Na-                                        was die Fairness gegenüber dem Publikum
türlich gibt es bei solchen Wechseln auch                                        angeht. Ich behaupte, dass es kein Genre
immer die Frage: Wie findet er das, was wir                                      gibt, das uns gar nicht ansteht. Unsere Hal-
bisher gemacht haben?                                                            tung ist entscheidend.

In welchem Zustand befindet sich die                                             Die TV-Unterhaltung war jahrzehntelang
­Abteilung Unterhaltung?                                                         geprägt von den grossen Samstagabend-
 Ich sehe, dass alle Mitarbeitenden extrem                                       kisten, «Benissimo» gab es z­ wanzig Jahre
 motiviert sind. Es freut mich besonders,                                        lang auf (damals) SF. Wird es ­solche Publi-
 dass es eine relativ junge Abteilung ist.                                       kumsmagnete in Zukunft noch geben?
 Mein ehemaliges «Junge Zielgruppe»-Team                                         Die klassische Show hat ihre Halbwertszeit
 (siehe Personenkasten) bestand natürlich                                        irgendwann erreicht. Wir stehen jetzt ge-
 mehrheitlich aus jungen Mitarbeitenden.                                         rade in diesem Transitionsprozess und
 Dass dies auch in der Unterhaltung der Fall                                     überlegen, wie wir damit umgehen. Es wird
 ist, war mir vorher gar nicht bewusst. Si-                                      weiterhin ein Publikum geben, das gerne
 cherlich ist nicht allein das Alter der Grund                                   eine Samstagabendshow sieht, und einen
 für die Motivation. Ich merke, dass es ein                                      anderen Teil, der lieber etwas anderes
 Bedürfnis ist, den Umbruch mitzugestalten,                                      guckt. Und darauf müssen wir Antworten
 den es in der Unterhaltung und in den Me-                                       finden. Aber eine lange Samstagabendun-
 dien gibt. Ich spüre das Selbstverständnis                                      terhaltung wird es noch sehr lange geben.
 der Mitarbeitenden, für ein Service-pub-                                        Gute Beispiele unter vielen anderen sind
 lic-Unternehmen zu arbeiten und sich da-                                        etwa «Happy Day» und «SRF bi de Lüt

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UNTERNEHMEN

live». Es gibt dieses ­Bedürfnis des Publi-
kums, am Samstagabend lange unterhalten                                     Angesichts der verbreiteten digitalen und
und begeistert zu werden.                                                   mobilen Nutzung, denkt Ihr heute a ­ lles vom
                                                                            Web her?
Wie sieht für Sie eine ideale Unter­                                        Für mich geht es zuerst um die Idee und
haltungssendung aus?                                                        dann um den Kanal oder die Plattform. Bei
Ich kann das gut an einem Beispiel illustrie-                               einer Webserie, wie etwa «Nr. 47», denke
ren, das mich in den letzten Monaten sehr                                   ich aber natürlich zuerst ans Web – obwohl
beschäftigt hat, weil es ein Format ist, das                                wir solche auch am Fernsehen in einer zu-
ich sehr intelligent finde und das aufzeigt,
wie man ein breiteres Publikum ansprechen
                                                 «Für mich geht es          sammengefassten Form ausgestrahlt haben.
                                                                            Und ein «SRF bi de Lüt» schaut die grosse
kann. Der britische Channel 4 brachte letz-      zuerst um die              Mehrheit am heimischen TV. Die Sendung
tes Jahr «Old People’s Home for 4 Year Olds»
als Zweiteiler. Das ist eine Sendung, die Kin-
                                                 Idee und dann um           machen wir darum nicht per se fürs Netz.
                                                                            Aber: Wir müssen uns viel mehr Gedanken
dergartenkinder über einen längeren Zeit-        den Kanal oder             darüber machen, wie wir auf welcher Platt-
raum mit Senioren in einem Betagtenheim          die Plattform.»            form mit welchen Inhalten wie oft, wie
zusammengebracht hat. Das Format zeigt –                                    lange, in welcher Art präsent sind. Denn ne-
in sehr unterhaltender Weise – ein gesell-                                  ben Radio, Fernsehen und Online srf.ch sind
schaftlich hochrelevantes Thema: Älter wer-                                 wir auch auf Drittplattformen unterwegs,
den und die Frage, wie wir unsere älter                                     wie Facebook oder Instagram, wo wir An-
werdenden Mitmenschen in der Gesellschaft                                   gebote für spezifische Publika schaffen.
betreut wissen wollen. Es ist ein gutes Bei-
spiel dafür, was Service public leisten kann,                               Sie müssen es allen recht machen.
dass es möglich ist, mehrere Generationen                                   Aber welches Publikumssegment wollen Sie
mit einem relevanten Inhalt anzusprechen.                                   speziell umwerben?
Wenn ich mir etwas wünschen würde, dann                                     Eine Zielgruppe, die wir noch stärker in den
wäre es, dass auch wir noch mehr in diese                                   Mittelpunkt rücken müssen, sind die 30- bis
Richtung denken.                                                            55-Jährigen. Das sind genau die Kinder
                                                                            vom älteren, bestehenden Publikum und
Was bei SRF möglich und machbar ist,                                        die Eltern von denen, die wir auch als Pub-
hängt auch von Konzession und Gesetz ab.                                    likum haben wollen. Diese Generation in
Im Entwurf zur neuen Konzession wird                                        der Mitte – ich nenne sie «Scharniergene-
eine klare Abgrenzung vom Angebot der                                       ration» – spielt eine wahnsinnig wichtige
Privaten gefordert. Sehen Sie solche                                        Rolle bei der Mediensozialisierung, weil sie
­Vorgaben als störendes Korsett oder als                                    beides kennt: Sie hat das analoge Medien-
 willkommene Leitplanke?                                                    angebot miterlebt und ist damit grossge-
 Weder noch. Ich glaube, die Unterhaltung                                   worden. Sie ist aber auch digital total auf
 hat das, was nun gefordert wird, schon längst                              dem Quivive.
 gemacht. Wir unterscheiden uns bereits jetzt
 sehr deutlich von den Privaten. Wir thema-                                 Sie sind 52 Jahre alt: Ist dies ein ideales
 tisieren auch Integration, wir beschäftigen                                ­Alter als Unterhaltungschef, um den
 uns mit Randgruppen und mit schwierigen                                     Spagat zwischen junger Zielgruppe und
 Themen, die im Umfeld privater Medienan-                                    ­älterem Stammpublikum auszuhalten?
 bieter kaum zu refinanzieren wären. Ich                                      Wenn ich jetzt nein sagen würde, wäre ich
 nenne mal als Beispiel die SRF Virus-Sen-                                    ja nicht am richtigen Ort. Wenn ich ja sage,
 dung «Rehmann S.O.S. – Sick of Silence», in                                  klingt das wie eine Selbstbehauptung. Aber
 der Moderator Robin Rehmann mit jungen                                       es ist natürlich nie ganz falsch, mit dem Al-
 Leuten spricht, die chronisch krank sind.                                    ter auch etwas Alter und Erfahrung mitzu-
 Und in Youtube-Videos lässt Robin Men-                                       bringen.
 schen, vermittelt über Schauspieler, zu Wort
 kommen, die sich mit ihren oft tragischen                                  NICK LÜTHI
                                                                                                                              SRF / Oscar Alessio

 Geschichten nicht in seine Sendung trauen.
 Ich freue mich natürlich, wenn auch private
 Medien sich dieser Themen annehmen.

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