Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig

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Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
www.landeskirche-braunschweig.de

Evangelische
Perspektiven
Das Magazin der Landeskirche Braunschweig      4 |2019

Erste Hilfe für die Seele
In der Landeskirche Braunschweig sorgen rund 100 Not-
fallseelsorgerinnen und -seelsorger dafür, dass Menschen
in Extremsituationen nicht alleine sind.
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
Editorial

                                                      Liebe Leserinnen und Leser,
                                                      die Kirche kann nicht unpolitisch sein – weder als gesellschaftliche Institution noch
                                                  als christliche Gemeinschaft. Sie ist Teil unserer demokratischen Öffentlichkeit und ein
                                                  Akteur des öffentlichen Gesprächs. Sie muss sagen, wofür sie steht. Tut sie es nicht,
                                                  überlässt sie die Deutungshoheit über ihre Position anderen; im Zweifelsfall denen,
                                                  die die Kirche für ihre Weltanschauung vereinnahmen. Das aber wäre mit Blick auf
                                                  den öffentlichen Auftrag der Kirche völlig unangemessen.

                                                     Schließlich besteht er darin, Gottes Reich zu verkünden, das mit Weihnachten ange-
                                                  brochen ist und seitdem die Wirklichkeit unserer Welt verändert. Indem Menschen
                                                  Gottes Geist Hand und Stimme geben: seinem Drängen auf Frieden und Gerechtig-
                                                  keit, nach Menschlichkeit und Freiheit und einem Leben in Einklang mit der Schöp-
Foto: Jens Schulze

                                                  fung. Weihnachten ist kein rührseliges Konsumfest für Wohlstandsbürger, sondern
                                                  der Anbruch einer neuen Zeit: Gottes Zeit.

                                                     Wenn die Kirche bei ihrer Sache ist, bleibt sie der Öffentlichkeit dieses Zeugnis nicht
                                                  schuldig. Dann ist sie geistesgegenwärtig und beteiligt sich an den Auseinanderset-
                                                  zungen unserer Zeit. Vor allem dann, wenn es um grundlegende Fragen des Mensch-
                                                  seins und des menschlichen Miteinanders geht. Wie in den letzten Wochen, als es im
                                                  Zusammenhang mit dem AfD-Bundesparteitag in Braunschweig notwendig wurde, die
                                                  Position der Kirche angesichts rechtsextremer Weltsichten deutlich zu machen.

                                                     Manche warfen der Kirche vor, sie sei dabei zu weit gegangen und habe Menschen
                                                  im Umfeld der AfD ausgegrenzt. Das aber hat sie nicht getan. Sie hat lediglich ihren
                                                  Auftrag ernst genommen und versucht, die Geister unserer Zeit zu unterscheiden. Damit
                                                  Orientierung in christlicher Verantwortung möglich wird. Denn als Christen müssen
                                                  wir uns stets fragen lassen, ob wir Gott die Ehre geben oder Ideologien folgen, die dem
                                                  christlichen Menschenbild widerstreiten.

                                                      Ihnen frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr,
                                                      Ihr

                                                      Michael Strauß

                                                  Impressum
                                                  Herausgeber Pressestelle der Landeskirche Braunschweig I Redaktion Michael Strauß (mic) I Anschrift Dietrich-Bonhoeffer-
                                                  Straße 1, 38300 Wolfenbüttel, Tel. 05331-802108, Fax 05331-802700, presse@lk-bs.de, www.landeskirche-braunschweig.de I
                                                  Layout Dirk Riedstra | Druck MHD Druck und Service GmbH, 29320 Hermannsburg | Titelfoto Agentur Hübner

                     4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 2
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
Foto: Agentur Hübner

                                                                                                                       Foto: Klaus G. Kohn
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                Foto: Agentur Hübner

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                                       20                                                                                                    24
                                            In dieser Ausgabe
4 Blickpunkt                                                                        18 Dokumentation
   Klimawandel im Harz                                                                 Der englische Patient
   Zwischen Torfhaus und Braunlage mahnen tote                                         Eine Analyse der Lage in Großbritannien am Vorabend
   Bäume, die Schöpfung zu bewahren.                                                   zum Brexit von Nicholas Baines, Bischof von Leeds und
                                                                                       Mitglied im House of Lords.
8 Porträt
   Leidenschaft für die Lehre                                                       20 Reportage
   Ulrike Kaiser leitet seit Januar 2019 das Seminar für                               Kindertreff mit Ausstrahlung
   Evangelische Theologie an der TU Braunschweig.                                      In Calvörde sorgt ein neuer Verein dafür, dass die
                                                                                       „Christenlehre“ fortbestehen kann.
10 Titelthema
   Erste Hilfe für die Seele                                                        24 Hintergrund
   In der Landeskirche sorgen rund 100 Notfallseel-                                    Schritte in die Zukunft
   sorgerinnen und -seelsorger dafür, dass niemand in                                  In einer neuen Reihe stellen wir die Kreisstellen der
   Extremsituationen alleine ist.                                                      Diakonie im Braunschweiger Land vor. Diesmal:
                                                                                       Helmstedt.
14 Interview
   Botschafter der Versöhnung sein                                                  26 Rezension
   Altbischof Christian Krause ist nach wie vor als Bera-                              Demokratischer Aufbruch
   ter in internationalen und ökumenischen Angelegen-                                  Dietrich Kuessner hat ein neues Werk über die 150-jäh-
   heiten gefragt. Im Interview blickt er auf ein bewegtes                             rige Geschichte der Landessynode verfasst. Dieter
   Leben zurück.                                                                       Rammler stellt es vor.

                                                                                                     4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 3
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
Foto: Klaus G. Kohn
Blickpunkt

Klimawandel
im Harz
   Der Nationalpark Harz bietet
derzeit apokalyptische Ansichten.
Zwischen Torfhaus und Braunlage
sowie an vielen anderen Stellen ste-
hen hektarweit tote Fichten. Von tro-
ckenen Sommern geschwächt, von
Stürmen gebeugt und vom Borken-
käfer vernichtet. Ob es sich hierbei
um ein „Waldsterben“ oder einen
„Waldwandel“ handelt, ist umstrit-
ten. Wer den Wald Natur sein las-
sen kann, mag darauf setzen, dass
er sich von alleine erneuert. Wer
den Wald bewirtschaftet, sieht das
vermutlich anders. Deutlich wird
auf jeden Fall, dass der Klimawan-
del sichtbare Spuren auch im Harz
hinterlässt. Deswegen sind die ster-
benden Bäume eine Mahnung, die
Bewahrung der Schöpfung als eine
zentrale Aufgabe unserer Zeit zu
verstehen – und den Klimaschutz
beherzt voranzutreiben.

4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 4
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
4 | 2019 Evangelische      Perspektiven
            2 | 2018 Evangelische Perspektiven ||55
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
Kommunikation mit                            Kirche plant Zukunftsprozess
                       Medien ausbauen
                                                                                                                             Die braunschweigi-
                            Die Landeskirche Braunschweig                                                                    sche Landessynode
                       sollte ihre medienvermittelte Kom-                                                                    hat einen Zukunfts-
                       munikation weiter ausbauen und pro-                                                                   prozess angesto-
                       filieren. Das empfiehlt eine Studie der                                                               ßen, der Leitlinien
                       Kommunikationsberatung „aserto“                                                                       für die Kirche ange-

                                                                                                                                          Foto: Agentur Hübner
                       (Hannover), die Professor Dr. Lars Har-                                                               sichts grundlegen-
                       den der Landessynode am 21. Novem-                                                                    der Veränderungen
                       ber in Goslar vorgestellt hat.                                                                        entwickeln soll. Sie
                            In der Kommunikation nach außen                                                                  hat am 22. Novem-
                       seien vor allem eine stärkere Identifizie-   ber in Goslar eine Arbeitsgruppe „Strategie und Konzept“ gebeten, Auftrag
                       rung von Zielgruppen sowie eine stär-        und Inhalte, Ausrichtung, Ziele und Formen der kirchlichen Arbeit grund-
                       kere inhaltliche Positionierung der Kir-     sätzlicher als bisher zu durchdenken, um daraus personalstrategische Kon-
                       che notwendig. Vor allem junge und der       sequenzen ziehen zu können.
                       Kirche weniger verbundene Menschen           Anlass war eine Diskussion um die Profilierung allgemeinkirchlicher Pfarr-
                                                                    stellen, die bis zum Jahr 2020 auf 28 reduziert werden sollen. Entsprechende
                                                                    Pläne der Kirchenregierung hatten in der Landessynode zu kritischen Rück-
                                                                    fragen geführt, welche Stellen in Zukunft Bestand haben sollten.
                                                                    Landeskirchenrat Jörg Willenbockel betonte in einem Bericht über die Kon-
                                                                    zeption für die allgemeinkirchlichen Stellen, ein Zukunftsprozess sei sinn-
Foto: Agentur Hübner

                                                                    voll, um einen neuen strategischen Rahmen für die gesamte künftige kirch-
                                                                    liche Arbeit zu gewinnen. Auch Landesbischof Dr. Christoph Meyns forderte
                                                                    eine inhaltlich-theologische Neuorientierung. Kirchen- und Gemeindebilder
                       Professor Dr. Lars Harden.                   müssten kritisch überprüft werden. Ein weiterer bloßer Umbau von Struk-
                                                                    turen reiche nicht mehr aus.
                       sollten gezielter angesprochen wer-          Wie der Zukunftsprozess gestaltet werden kann, soll die Arbeitsgruppe
                       den. Nach innen müsse unter anderem          „Strategie und Konzept“ der Landessynode im Mai 2020 erläutern. Kon-
                       eine bessere Vernetzung der kirchlichen      krete Ergebnisse sollen dann im November 2021 vorliegen.
                       Akteure sowie mehr Service gegenüber
                       den Mitarbeitenden angestrebt werden.        Neue Pfarrer willkommen
                           Dabei, so Harden, sollten die neuen
                       Möglichkeiten der Digitalisierung und                                                         Die Landeskirche Braun-
                       der sozialen Medien offensiv genutzt                                                          schweig setzt ihr Einstel-
                       werden. Außerdem müsse die Landes-                                                            lungsprogramm für Pfar-
                       kirche bereit sein, mehr Ressourcen für                                                       rerinnen und Pfarrer bis
                       die medienvermittelte Kommunikation                                                           zum Jahr 2030 fort. Das
                       zur Verfügung zu stellen. Anderenfalls                                                        hat die Landessynode am
                       verliere sie den Anschluss an den dyna-                                                       23. November in Goslar
                                                                                                                   Foto: Agentur Hübner

                       mischen gesellschaftlichen Wandel.                                                            beschlossen. Grundlage
                       Auf Vorschlag des Medienausschus-                                                             war eine Evaluation, die
                       ses hat die Landessynode die Presse-                                                          Oberlandeskirchenrat Dr.
                       stelle, das Landeskirchenamt und die                                                          Mayer vorstellte. Ange-
                       Kirchenregierung gebeten, bis Mai            sichts einer positiven Kirchensteuerentwicklung könnten im Jahr 2030 sogar
                       2020 auf der Grundlage der Studie ein        32 Personen mehr im Pfarrdienst sein als bisher angenommen. Damit gehe
                       Umsetzungskonzept zu erarbeiten. Auf         insbesondere das Signal an Theologiestudierende, dass sie weiter unver-
                       diese Weise, so der Vorsitzende des          ändert in der Landeskirche willkommen seien.
                       Medienausschusses Thomas Möbius,             Das Einstellungsprogramm war von der Landessynode im November 2015
                       könnten finanzrelevante Vorschläge           beschlossen worden. Danach sollen bis zum Jahr 2020 zusätzlich 36 und
                       in die Aufstellung des nächsten lan-         bis zum Jahr 2030 weitere 48 Pfarrpersonen zusätzlich eingestellt werden.
                       deskirchlichen Haushalts für die Jahre       Ziel ist es, eine zu erwartende Pensionierungswelle ab Mitte der 2020er
                       2021 und 2022 einfließen.                    Jahre abzumildern.

                       4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 6
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
Nachrichten

Neues Haushaltsgesetz
                                Die braunschweigische Landessynode hat am 22. November in Goslar ein neues
                                Kirchengesetz über das Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesen beschlossen.
                                Es schafft die rechtlichen Grundlagen für die Einführung eines neuen Finanzsys-
                                tems, der Erweiterten Kameralistik. Damit sollen die kirchlichen Finanzen dem
                                kaufmännischen Rechnungswesen angepasst werden. Mit der Folge, dass in den
                                Haushalten nicht mehr nur Einnahmen und Ausgaben abgebildet werden, sondern
                                auch der Wertezuwachs und Werteverzehr. Außerdem soll eine Bilanz Auskunft
                                über das kirchliche Vermögen geben. Eine Eröffnungsbilanz ist für den 1. Januar
                                2021 geplant.
                                Ziel der Reform sei eine transparentere Darstellung der wirtschaftlichen Verhält-
                                nisse nach innen und außen, sagte Oberlandeskirchenrat Dr. Jörg Mayer, Finanzre-
                                ferent der Landeskirche. Es gehe vor allem um die Ruhegehaltsverpflichtungen für
                                Pfarrerinnen und Pfarrer sowie die Substanzerhaltung von rund 1500 Gebäuden in
                                       Foto: Agentur Hübner

                                der Landeskirche. Auf der Basis von ermittelten Werten könne der Substanzverlust
                                in Form von Abschreibungen errechnet werden, um entsprechende Zuführungen
                                an eine Substanzerhaltungsrücklage vorzunehmen.
Dr. Jörg Mayer.                 Auch Sebastian Ebel, Vorsitzender des Finanzausschusses, betonte die Bedeu-
                                tung des neuen Finanzsystems. Damit könne die Kirche „systematisch Vorsorge
betreiben“ und präzise Kenntnisse über ihr Vermögen und ihre Verpflichtungen erhalten. Dadurch entstehe eine
bessere Grundlage für Finanzentscheidungen. Außerdem könnten die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kirche bes-
ser öffentlich kommuniziert werden.
Oberlandeskirchenrat Mayer wies darauf hin, dass die Einführung der Erweiterten Kameralistik zunächst nur für die
Landeskirche im engeren Sinne geplant sei. Das Gesetz sehe vor, dass die Kirchengemeinden bis auf weiteres von
den Neuerungen ausgenommen seien. Insbesondere aus den Gemeinden waren Sorgen geäußert worden, dass diese
durch das neue System und die darin notwendigen Rückstellungen finanziell überfordert werden könnten.

Neues Recht für Mitarbeitende
                                 Um die Vertretung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche gegenüber ihrem
                                 Dienstgeber zu verbessern hat die braunschweigische Landessynode am 22. Novem-
                                 ber ein neues Kirchengesetz beschlossen. Es betrifft rund 4000 beruflich Beschäftigte
                                 innerhalb der Landeskirche. Insbesondere die Arbeit der Mitarbeitervertretungen
                                 soll professionalisiert werden.
                                 Heftige Auseinandersetzungen gab es in der Frage, ob Personen in einer Mitar-
                                 beitervertretung Mitglied einer christlichen Kirche sein müssen. Durch Entschei-
                                 dung des Bundesarbeitsgerichtes im Jahr 2018 sind die Kirchen verpflichtet, auch
                                 Mitarbeitende zu beschäftigen, die einer anderen oder keiner Religion angehören,
                                 soweit ihr Dienst nicht als verkündigungsnah gilt. Hintergrund dafür ist es, die Dis-
                                 kriminierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu vermeiden.
                                 Vor diesem Hintergrund plädierten insbesondere der Rechtsausschuss und der
                                 Gemeindeausschuss der Synode dafür, auch die Wahl nichtchristlicher Beschäftigter
                               Foto: Agentur Hübner

                                 in Mitarbeitervertretungen zu ermöglichen, um nicht Mitarbeitende zweiter Klasse
                                 zu schaffen. Auch Synodenpräsident Dr. Peter Abramowski, Jurist und Arbeitsrecht-
                                 ler, warnte davor, nichtchristliche Mitarbeitende durch Ausschluss aus Mitarbei-
                                 tervertretungen zu diskriminieren. Hier gehe es um organisatorische und soziale
Dr. Peter Abramowski.
                                 Angelegenheiten, nicht um Bekenntnisfragen. Dagegen hatte die Kirchenregierung
die Auffassung vertreten, nur Mitglieder einer christlichen Kirche könnten einen Platz in der Mitarbeitervertretung
wahrnehmen. Mitarbeitervertretungen hätten Anteil an der Leitung von Kirche, weshalb nur Christen dort mitwirken
dürften. Das Ergebnis der Abstimmung war Ausdruck der kontroversen Debatte: 21 Synodale stimmten für die Öff-
nung der Mitarbeitervertretungen für nichtchristliche Beschäftigte, 17 dagegen, ein Synodenmitglied enthielt sich.

                                                                            4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 7
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
4 | 2015 Evangelische Perspektiven | 8

                                                       Foto: Agentur Hübner

„Ich fühle mich gut angekommen“, sagt Ulrike Kaiser.

4 | 2019    Evangelische Perspektiven | 8
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
Porträt

Leidenschaft für die Lehre
Ulrike Kaiser leitet seit Januar 2019 das Seminar für Evangelische Theologie und Religionspä­
dagogik an der Technischen Universität Braunschweig. In Dresden geboren und in der DDR
aufgewachsen, führte sie ihr Weg über Hamburg, Duisburg und Berlin nach Braunschweig.

    Auf ihrem Berufsweg wandelte Ulrike Kaiser lange            Biblische Inhalte als didaktisches Konzept spielerisch
zwischen verschiedenen Welten. Ursprünglich mathe-          zu erfahren, das könne auch die angehenden Religions-
matisch-naturwissenschaftlich orientiert, arbeitete sie     lehrerinnen und -lehrer an der TU bereichern. Selbst bei
zwischenzeitlich als Gemeindepfarrerin. Doch ihr Herz       vielen Studierenden fehlten mittlerweile „Basics“ des
schlägt für die theologische Lehre. Seit Januar 2019        christlichen Grundwissens. „Wenn die hier mit mehr Fra-
wirkt die geborene Dresdnerin als Professorin für Bib-      gen rausgehen, als sie gekommen sind, dann haben sie
lische Theologie und ihre Didaktik an der Technischen       schon viel verstanden“, meint Ulrike Kaiser lächelnd.
Universität (TU) Braunschweig. Dort leitet sie das Semi-        Sie selbst war immer dicht dran an der Theologie:
nar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik       Geboren 1971 in Dresden. Ihr Vater war dort Pfarrer in
mit mehr als 400 Studierenden. „Hier herrscht ein sehr      der Kreuzkirche. „Kirche in der DDR war ein Ort, freier
gutes Miteinander. Ich fühle mich gut angekommen“,          zu denken.“ Dann kam die „sehr aufregende“ Wende-
resümiert die Professorin freudestrahlend.                  zeit. Und der Wille, Mathematik „als ideologiefreie Zone
                                                            zu studieren“.
                                                                Am Ende fügte sich alles ganz anders: „Wohl auch
       Spielerisch mit biblischen                           weil ich so gerne unterrichte“, glaubt die Professorin. Sie
 Geschichten auseinandersetzen und                          lernte Koptisch, studierte Theologie, arbeitete als wis-
 dabei Gott begegnen – ein Ansatz, der                      senschaftliche Mitarbeiterin an der Uni. Es folgten Pro-
                                                            motion und Vikariat, Zweites Theologisches Examen und
    Ulrike Kaiser am Herzen liegt.                          die Ordination zur Pfarrerin in der Evangelischen Kirche
                                                            Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Ihre erste
    Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Her-            Stelle in Berlin umfasste jeweils hälftig den Gemein-
meneutik und Methodenfragen, Metaphern-Auslegung            dedienst und die Dozententätigkeit am Wichern-Kolleg.
in der Theologie, Geburts- und Zeugungsmetapho-                 Ihre wissenschaftliche Karriere mit der Habilitation
rik im Neuen Testament, Johannes-Evangelium, Nag-           2016 im Fach Neues Testament führte Ulrike Kaiser über
Hammadi- und Gnosis-Forschung und neutestament-             die Universitäten Hamburg und Duisburg-Essen schließ-
liche Apokryphen. Ein Faible hat die 48-Jährige für den     lich nach Braunschweig. Ihr beruflicher Werdegang
vom US-Amerikaner Jerome W. Berryman entwickelten           bewegte sich zwischen gefühlten Extremen, von „kurz
Godly-Play-Ansatz.                                          vor der Verbeamtung“ bis hin zum Hinweis des Arbeits-
    Dabei können sich Kinder im Spiel und mit bereitlie-    amtes, „bei Ihrer spezifischen Qualifikation könnte am
genden Materialien wie Sand, Filzunterlagen und Holzfi-     Ende auch das Kloputzen stehen“, lacht die Professorin.
guren selbsttätig mit biblischen Geschichten und Sym-       Unentwegt pendelte die 48-Jährige durch die Republik.
bolen auseinandersetzen. Diesen Gott-im-Spiel-Ansatz        Auch jetzt noch, denn ihr Mann, ein Pfarrer, und ihre bei-
hat Ulrike Kaiser gemeinsam mit Kollegen in Deutsch-        den Söhne im Teenager-Alter leben in Berlin. | Michael Siano
land weiterentwickelt. Spielmaterialien füllen eine ganze
Regalwand in ihrem Büro.                                          www.tu-braunschweig/theologie

                                                                           4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 9
Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
Erste
                                                                                                                  In der Landeskirche
                                                                                                                  Braunschweig sorgen
                                                                                                                  rund 100 Notfallseelsor­

                             Hilfe
                                                                                                                  gerinnen und -seelsorger
                                                                                                                  dafür, dass Menschen in
                                                                                                                  Extremsituationen nicht
                                                                                                                  allein sind. Knapp zwei

                           für die                                                                                Drittel sind Ehrenamtli­
                                                                                                                  che. Sie betreuen Opfer
                                                                                                                  und Angehörige bei Un­

                            Seele
                                                                                                                  fällen und Katastrophen
                                                                                                                  – und nicht zuletzt die
                                                                                                                  Helfer.
                               Eine Szene, die in Kriminalfilmen selten fehlt, wird
                           meistens so dargestellt: Mit ernsten Gesichtern klingeln zwei
                           Polizeibeamte an der Wohnungstür. Ihr Auftrag: die Über-
                           bringung einer Todesnachricht an die Angehörigen. Diese
                           reagieren – je nach Charakter und Drehbuch – geschockt
                           oder gefasst, hyperaktiv oder apathisch. Die Beamten hätten
                           da noch ein paar Fragen.
                               Kurz darauf sagen sie „tschüss“. Das war’s - und die
                           Angehörigen bleiben allein zurück. „Das ist wenig realistisch
                           dargestellt und vermutlich der Dramaturgie im TV geschul-
                           det“, sagt Pfarrer Maic Zielke. In der Realität würden Poli-
                           zisten in vielen Fällen von Notfallseelsorgenden begleitet.
                           Diese leisteten, wenn die Polizei wieder gehen muss, „erste
                           Hilfe für die Seele“.
                               Kein Mensch reagiert in solch einer Extremsituation
                           gleich. Die Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger sind
                                                                                           Foto: Agentur Hübner

                           geschult, einfühlsam auf Betroffene zuzugehen, dem Leid
                           nicht auszuweichen. Das kann durch Gesten des Mitfüh-
                           lens, ein Gebet oder auch durch einfaches Danebensitzen
                           und gemeinsames Schweigen geschehen.
Foto: Hansjörg Hörseljau

                           4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 10
Titelthema

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               Thema

3 | 2019 Evangelische Perspektiven | 11
Die Notfallseelsorge-Teams bereiten ihre Einsätze sorgfältig vor.
Unterstützt von Pfarrer Olaf Engelbrecht.

   Notfallseelsorger kommen zum Einsatz bei Unfällen          Pfarrer, knapp zwei Drittel Ehrenamtliche. Ehrenamt-
mit mehreren Verletzten und beteiligten Personen, Unfäl-      lich sind auch Christine Périard und Lina Grube im Ein-
len mit Todesfolge oder im Schienenverkehr mit Perso-         satz. Die beiden jungen Frauen sind Mitglieder der Not-
nenschaden, Androhung von Suiziden oder Betreuung von         fallseelsorge Braunschweig. Ihr Notfallseelsorge-Team
Angehörigen bei Suiziden, plötzlichem Kindstod oder bei       ist gleichzeitig ein Teil der Ortsfeuerwehr Watenbüttel.
Großschadenslagen und Evakuierungen.                          Christine Périard ist schon viele Jahre dabei. Die Sozi-
   „80 Prozent unserer Einsätze finden im häuslichen          alarbeiterin koordiniert als ehrenamtliche Teamleiterin
Bereich statt“, sagt Zielke. Ein „Klassiker“: Trotz Einsat-   die derzeit 17 aktiven, überwiegend weiblichen Braun-
zes der Rettungssanitäter oder des Notarztes bleibt die       schweiger Notfallseelsorger. Neun weitere stehen kurz
Reanimierung erfolglos, der Patient verstirbt noch in der     vor ihrer Qualifikation.
Wohnung. Für die Angehörigen ein Schock. Zirka zwei               Lina Grube begleitet nach erfolgreicher Ausbildung
Stunden dauert der Einsatz eines Notfallseelsorgenden,        bereits den Rettungsdienst. „Ich bin durch Zufall dazu
zumeist bis zum Eintreffen weiterer Angehöriger oder          gekommen“, berichtet die gelernte Speditionskauffrau,
auch des Bestatters.                                          die zudem noch ein Studium absolviert. Eine frühere Kol-
                                                              legin, die selbst als Notfallseelsorgerin aktiv war, habe
         Die Auswahl ist streng:                              sie dafür begeistert.
                                                                  Die Auswahlkriterien in der Notfallseelsorge sind
  „Wir suchen charakterlich gefestigte                        streng. Im vergangenen Jahr hatten sich zu einführen-
    Menschen mit Lebenserfahrung.“                            den Infoabenden knapp 40 Interessierte gemeldet. „Nach
                                                              unseren Auswahlgesprächen blieben 13 übrig“, resümiert
   Maic Zielke wirkt in der Landeskirche Braunschweig         Pfarrer Olaf Engelbrecht in seiner Funktion als Seelsor-
als Beauftragter für Notfallseelsorge im Rahmen der           ger der Feuerwehr und des Rettungsdienstes in Braun-
Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersach-            schweig.
sen, koordiniert und bildet aus. Zugleich betreut er als          Ausbildungsvoraussetzungen für die Ehrenamtlichen
Seelsorger Polizei- und Zollbeamte, während und nach          seien neben einer charakterlichen Eignung unter ande-
belastenden Einsätzen sowie durch Unterricht an der           rem: die Vollendung des 23. Lebensjahres, eine abge-
Polizeiakademie. „Wir haben in der Landeskirche etwa          schlossene Berufs- oder (Fach-)Hochschulausbildung
100 ausgebildete Notfallseelsorgende“, berichtet er.          und der Führerschein Klasse B. „Wir suchen charakter-
Etwas mehr als ein Drittel davon seien Pfarrerinnen und       lich gefestigte Menschen mit Lebenserfahrung“, bringt

4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 12
Titelthema

                                                             Fotos 3): Agentur Hübner
Pfarrer Maic Zielke koordiniert die Ausbildung und Arbeit der Not-
fallseelsorgenden. Zwei Drittel von ihnen sind Ehrenamtliche.

es Pfarrer Engelbrecht auf den Punkt. Auch die Ausbil-                                  dung, Hausbau, Pflege von Angehörigen. „Manche pau-
dung hat es in sich: Die Notfallseelsorger-Qualifizierung                               sieren und kommen nach Jahren wieder zurück“, weiß
in Braunschweig besteht aus fünf Wochenendsemina-                                       Pfarrer Engelbrecht.
ren, 17 thematischen Abendmodulen, drei obligatorischen
Einzelgesprächen, zwei zwölfstündigen Praktika im Ret-                                       Die Nachsorge von Einsatzkräften
tungsdienst, vier begleiteten Notfallsanitäter-Einsätzen
oder -Übungen sowie einem erweiterten Erste-Hilfe-                                            stellt eine Herausforderung dar.
Lehrgang.
    Engelbrecht: „Und das ist noch eine Besonderheit der                                    Vor dreieinhalb Jahren hat er die Leitung von seinem
Notfallseelsorge in Braunschweig und Salzgitter: Wir                                    Vorgänger Peter Schellberg übernommen. Dieser hatte
erwarten von unseren Freiwilligen zusätzlich die erfolg-                                die Notfallseelsorge in Braunschweig vor 20 Jahren ini-
reiche Teilnahme an der Grundausbildung bei einer Frei-                                 tiiert und aufgebaut. Neben der Notfallseelsorge gibt es
willigen Feuerwehr.“                                                                    noch das Einsatznachsorge-Team (ENT), das sich um die
    Sinn und Zweck werden schnell klar: „Das befähigt zu                                Feuerwehrleute und das Rettungsdienstpersonal küm-
taktischem Denken. Bei Einsatzabläufen wissen wir Not-                                  mert. „Im ENT Braunschweig sind zurzeit Menschen
fallseelsorger dadurch, wie Feuerwehrleute ,ticken‘…“,                                  aktiv, die selbst beruflich im Rettungsdienst tätig sind“,
erklärt Christine Périard. Sie achtet darauf, dass es nie-                              erklärt Pfarrer Engelbrecht. Zum Team gehörten zudem
mand mit den ehrenamtlichen Diensten übertreibt: „Etwa                                  eine Traumatherapeutin, ein Notarzt und er selbst.
30 Zwölf-Stunden-Bereitschaftsschichten pro Jahr wer-                                       Die Nachsorge der Einsatzkräfte stelle eine beson-
den erwartet, 80 Schichten im Jahr sind die absolut zuläs-                              dere Herausforderung dar, betont auch Pfarrer Maic
sige Obergrenze.“ Dazu kämen Teamwochenenden und                                        Zielke: „Ob Feuer, Amoklauf oder Gewalt – Feuerwehr
-trainings, eine Supervision pro Monat                                                  und Polizei, das sind Berufe, die ein Funktionieren auch
sei obligatorisch.                                                                      in Extremsituationen erfordern. Sie gehen da rein, wo
    So stellt die ehrenamtliche Tätig-                                                    andere        weggehen.“ Danach ein Gespräch zum Auf-
keit auch zeitlich eine Herausfor-                                                                          arbeiten zu suchen, sei kein Zeichen
derung dar. Im Schnitt bleiben die                                                                               von Schwäche, sondern zeuge von
Aktiven drei bis vier Jahre dabei.                                                                                    Professionalität und mutiger
Dann dominieren oft andere Pri-                                                                                          Selbstvorsorge.
oritäten: Karriere, Familiengrün-                                                                                                        | Michael Siano

                                                                                                        4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 13
Botschafter der
Versöhnung sein
Konflikte zu befrieden, Brücken zu bauen und
Möglichkeiten zur Versöhnung zu schaffen ist
das Anliegen von Altbischof Christian Krause.
Auch im Ruhestand ist er nach wie vor als
Berater in internationalen und ökumenischen
Zusammenhängen tätig. Im Interview mit den
„Evangelischen Perspektiven“ blickt er auf
ein bewegtes Leben zurück.

                                                          Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches gab es für mich
                                                          kein unpolitisches Deutschland“, sagt Altbischof Krause.

                                                          Evangelische Perspektiven: Herr Landesbischof, Ihr
 Dr. h.c Christian Krause                                 Leben ist bis heute von einer großen Internationalität
     Dr. h.c. Christian Krause war von 1994 bis 2002      geprägt. Wie ist diese Prägung entstanden?
 Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landes-           Landesbischof i.R. Dr. h.c. Christian Krause: Vermut-
 kirche in Braunschweig und bis 2005 Aufsichtsrats-       lich hat das etwas mit der Zeit zu tun, in der ich aufge-
 vorsitzender des Evangelischen Entwicklungsdienstes      wachsen bin. Ich bin im Krieg geboren und habe die Nach-
 (EED). Von 1997 bis 2003 amtierte er als Präsident des   kriegszeit bewusst erlebt. Wir waren Flüchtlinge und in
 Lutherischen Weltbundes (LWB). Von 1985 bis 1994         Göttingen zwangseingewiesen. Ich erlebte die Enge und
 war er Generalsekretär des Deutschen Evangelischen       entwickelte eine Sehnsucht nach Weite. Das fing schon
 Kirchentages (DEKT). Davor wirkte er als Oberkirchen-    damit an, dass ich 1961 mit meiner Vespa von Göttingen
 rat bei der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kir-    nach Athen gefahren bin. Später habe ich als Student in
 che Deutschlands (VELKD) sowie in der Leitung des        Heidelberg ein Fulbright-Stipendium erhalten, das mich
 Flüchtlingsdienstes des LWB in Dar-es-Salaam (Tan-       1962 nach Chicago brachte. Vor allem die Zeit in den USA
 sania). Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehört      hat meine Leidenschaft für Internationales und Grenz-
 der „Orden der Gefährten von Oliver R. Tambo“ (2009),    überschreitendes verstärkt.
 die höchste Ehrung, die Ausländer von der Republik
 Südafrika erhalten können. Im Jahr 2001 zeichnete        Was hat Sie damals besonders fasziniert?
 ihn Bundespräsident Johannes Rau mit dem Gro-               Amerika hat mich stark verändert. Ich habe die Weite
 ßen Verdienstkreuz mit Stern aus. 1999 verlieh ihm       des Landes und die Vielfalt der Kulturen kennengelernt.
 die Comenius-Universität in Bratislawa (Slowakische      Auch die Vielfalt der Religionen und Kirchen. Plötzlich war
 Republik) die Ehrendoktorwürde. Von katholischer         nichts mehr vergleichbar zu meinem vorherigen Leben.
 Seite wurde er 2006 im Dom zu Aachen mit dem Klaus-      Ich wurde externer Dolmetscher für den Ökumenischen
 Hemmerle-Preis geehrt. Sein 80. Geburtstag ist am 6.     Rat der Kirchen (ÖRK) und konnte 1963 erstmals bei einer
 Januar 2020.                                             Konferenz in Rochester mitarbeiten. Dadurch öffnete sich
                                                          die Welt für mich noch weiter. Durch die Verbindung zum
                                                          ÖRK erhielt ich ein Forschungsstipendium in Genf. Dort

4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 14
Interview

                                                                                spannende politische Zeit. Es war die nachkoloniale
                                                                                Phase. Viele afrikanische Länder waren erst in den 1960er
                                                                                Jahren unabhängig geworden. Und Tansania wurde von
                                                                                einem Präsidenten geführt, der für mich ein politisches
                                                                                Idol war: Julius Nyerere. Trotz der großen Armut im Land
                                                                                hatte es unter seiner Führung weder Bürgerkriege noch
                                                                                Korruptionsskandale gegeben. Das sah in anderen Län-
                                                                                dern Afrikas anders aus. Für den Lutherischen Weltbund
                                                                                war ich dort für Flüchtlinge aus den Nachbarländern tätig.
                                                                                Ich musste sowohl mit den Befreiungsbewegungen ver-
                                                                                handeln als auch mit den Regierungen. Da war politi-
                                                                                sches Handeln zwangsläufig, wenn man helfen wollte.

                                                                                Wie sah das konkret aus?
                                                                                    Zum Beispiel Nord-Mosambik. Dort brannten die
                                                                                Kolonialmächte die Ernte auf den Feldern nieder, wenn
                                                                                sie in der Gegend Guerillakämpfer vermuteten. Mit der
                                                                                Folge, dass viele Menschen keine ausreichende Versor-
                                                         „Foto: Klaus G. Kohn   gung hatten. Da war es unsere Aufgabe, durch Verhand-
                                                                                lungen zu ermöglichen, dass Saatgut geliefert werden
                                                                                konnte, damit Menschen nicht fliehen mussten, sondern
                                                                                in ihrer Heimat bleiben konnten. Das Entscheidende war
                                                                                stets, die Verhältnisse und die Menschen zu verstehen.
                                                                                Diplomatie bedeutet erst einmal zuhören. Und dann gilt
                                                                                es, unter den jeweiligen politischen Bedingungen das
                                                                                Notwendige und Mögliche zu tun.

bin ich später ordiniert worden, obwohl ich im Studium
kein besonderes Berufsziel vor Augen hatte. Ich wollte                            „Ich war entschlossen mitzuhelfen,
einfach mehr über Gott wissen.                                                       vor dem Ende des Millenniums
Schon früh war Ihre theologische eine politische Exis-
                                                                                    einen Jahrhunderte alten Streit
tenz. Was hat Sie bewogen, diese enge Verbindung von                                         zu beenden.“
Theologie und Politik zu suchen?
    Nach den Erfahrungen des Krieges und des Dritten                            Internationalität heißt in kirchlicher Perspektive Öku-
Reiches gab es für mich kein unpolitisches Deutschland.                         mene. Vor allem als Präsident des Lutherischen Welt-
Und je länger desto mehr wurde mir klar, dass dieses                            bundes haben Sie hier Akzente gesetzt. Unter anderem
Land, in dem derartige Ungeheuerlichkeiten geschehen                            vor 20 Jahren bei der Unterzeichnung der Gemeinsamen
waren, auch mein Land ist. Außerdem fiel der Aufenthalt                         Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Welche Bedeutung
in Amerika in eine hochpolitische Zeit, geprägt von Ras-                        messen Sie der Erklärung im Rückblick zu?
senunruhen und der Bürgerrechtsbewegung um Martin                                  1997 wurde ich in Hongkong überraschend zum Präsi-
Luther King. Da konnte ich die Bedeutung des Engage-                            denten des Lutherischen Weltbundes gewählt. Die Öku-
ments für Frieden und Gerechtigkeit aus christlicher Ver-                       mene war für mich stets präsent gewesen im Zusam-
antwortung hautnah erleben. So hat die Frage nach Gott                          menleben mit Christen verschiedener Kirchen. Aber nun
für mich schon früh eine hohe gesellschaftliche Rele-                           hatte ich es mit einer besonderen Frage zu tun, nämlich
vanz gehabt.                                                                    mit dem Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche, zu
                                                                                der ich vorher kaum Kontakt hatte. Was mich auch hier
Vor allem Afrika hat für Sie in der Folgezeit eine ent-                         besonders bewegt hat, war der Versuch, leidvolle Ausei-
scheidende Rolle gespielt. 2009 haben Sie den höchsten                          nandersetzungen zu beenden. Was sich damals eröffnete,
Orden erhalten, den die Republik Südafrika Ausländern                           war eine Chance auf Aussöhnung zwischen den Konfes-
verleiht. Wie hat Afrika Sie geprägt?                                           sionen, die Öffnung hin zu einem gemeinsamen Chris-
   In einem fremden, ganz anderen Umfeld tätig zu wer-                          tusbekenntnis. Ich war entschlossen, diese Chance nicht
den, hat mich gereizt. Außerdem gab es auch hier eine                           zu verspielen und vor dem Ende des Millenniums mitzu-

                                                                                              4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 15
helfen, einen Jahrhunderte alten Streit zu beenden. Die-                        katholischen Partner. Hinzu kommt, dass Lutheraner und
ses Anliegen habe ich mit Papst Johannes Paul II. geteilt.                      Katholiken eigentlich viel verbindet. Martin Luther war ja
Dass es gerade in Deutschland vor allem von evangeli-                           ein katholischer Theologe. Viele Katholiken betrachten
schen Theologen kritisiert wurde, fand ich bedauerlich.                         ebenso wie Lutheraner die Kirchenspaltung in Folge der
Weltweit jedenfalls hat die Gemeinsame Erklärung viel                           Reformation als Tragik. So spielt gerade der Dialog mit
Unterstützung erfahren.                                                         den Lutheranern für den Vatikan eine wichtige Rolle. Es
                                                                                ist ja auch bemerkenswert, dass Papst Franziskus 2016
                                                                                zum 500-jährigen Gedenken an die Reformation nach
                                                                                Lund gereist ist, um dort im Dom, wo der Lutherische
                                                                                Weltbund einst gegründet wurde, einen gemeinsamen
                                                                                Gottesdienst mit den lutherischen Kirchen der Welt zu
                                                                                feiern.

                                                                                Welche Bedeutung messen Sie der lutherischen Stimme
                                                                                im Konzert der anderen ökumenischen Akteure bei?
                                                                                   Wenn es um das gemeinsame Bekennen geht, spielt
                                                                                die lutherische Stimme eine erhebliche Rolle. Es stimmt
                                                                                ja nicht, wie gelegentlich vor allem in Deutschland
                                                                                behauptet wird, dass das Bekenntnis abgrenze und den
                                                                                Konfessionalismus fördere. Wenn wir eine ökumenische
                                                                                und internationale Perspektive einnehmen, ist genau das
                                                                                Gegenteil der Fall.

                                                                                Wo stehen wir heute im ökumenischen Gespräch?
                                                                                    Wir sind deutlich vorangekommen, nicht zuletzt auf
                                                                                der Ebene der Gemeinden. Hier ist das Miteinander stark
                                                                                gewachsen, was sehr erfreulich ist, weil es in Deutsch-
                                                         „Foto: Klaus G. Kohn

                                                                                land ja etwa gleich viele Katholiken und Evangelische gibt.
                                                                                Allerdings muss man auch feststellen, dass es im ökume-
                                                                                nischen Dialog nach wie vor Machtfragen gibt. Die sind
                                                                                für die römisch-katholische Kirche schwerer aufzugeben
                                                                                als für die evangelische. Was ich vor allem bedauere, ist,
                                                                                dass es von Seiten der katholischen Kirche kaum Bewe-
Welche Wirkung hat sie in den vergangenen 20 Jahren                             gung in Richtung einer Gastfreundschaft beim Abend-
entfaltet?                                                                      mahl gibt. Als Evangelische sind wir davon überzeugt,
    Inzwischen haben sich weitere Konfessionsfamilien                           dass Christus der Gastgeber beim Abendmahl ist und
der Gemeinsamen Erklärung angeschlossen: die metho-                             nicht die Institution Kirche.
distische und die anglikanische Weltgemeinschaft, auch
die Reformierten. Die Erklärung hat zu einer Neugestal-                          „Der Kirchentag ist nicht ein Tag der
tung der Ökumene geführt. Entscheidend geworden ist
der Bezug auf das gemeinsame Bekennen, das im Mit-
                                                                                   verfassten Kirche, sondern das
telpunkt der Erklärung steht. Wenn irgendetwas nottut                              Parlament des Kirchenvolkes.“
in unserer Zeit, dann ist es ja genau das, dass sich die
Christenheit mit einer Stimme zu Christus bekennt und                           Von 1985 bis 1994 haben Sie als Generalsekretär den
danach handelt. Deswegen ist die gemeinsame Erklärung                           Deutschen Evangelischen Kirchentag als protestanti-
zur Rechtfertigungslehre für mich eine Erfolgsgeschichte.                       sche Laienbewegung profiliert. In jüngerer Zeit scheint
                                                                                der Schulterschluss zwischen Kirchentag und verfass-
Sie pflegen bis heute enge Kontakte zur römisch-katho-                          ter Kirche größer geworden zu sein. Welche Entwick-
lischen Kirche. Welchen Stellenwert misst der Vatikan                           lung sehen Sie derzeit?
dem Gespräch mit den lutherischen Kirchen bei?                                      Der Kirchentag ist in der Tat stark von den Kirchen-
    In einem Dialog muss jeder wissen, wer er selber                            leitungen übernommen worden. Gerade in der media-
ist. Das lutherische Bekenntnis ist das Erkennungszei-                          len Öffentlichkeit. Oft wird der Ratsvorsitzende der EKD
chen einer weltweiten Kirche. Das schätzen die römisch-                         eher zu Angelegenheiten des Kirchentages gefragt als die

4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 16
Interview

Kirchentagsleute selber. Das
ist nach meinem Dafürhalten
eine Lose-lose-Situation für
beide Seiten.

Inwiefern?
   Der deutsche Protestan-
tismus braucht eine starke
Laienbewegung für den
öffentlichen Diskurs. Es
müssen nicht ständig Kir-
chenfunktionäre auftreten,
um die Lage zu beurteilen.
Über den Schlussgottes-
dienst 2017 in Wittenberg war
ich in dieser Hinsicht etwas
erschrocken. Dort waren fast
nur Bischöfe am Werk. Der
Kirchentag ist aber nicht ein
Tag der verfassten Kirche,
sondern der Kirchentag ist
                                „Foto: Klaus G. Kohn

das Parlament des Kirchen-
volkes. Dahin sollte er stär-
ker zurückfinden.

Welche Bedeutung messen
Sie den kirchlichen Institutionen bei?                      hingegen für vieles geeignet, aber kaum für Reformen,
   Wir sollten viel stärker lernen, unseren Glauben viel-   sofern wir an geistliche Aufbrüche oder inhaltliche Fra-
gestaltig zu leben. Das Christsein ist nicht mehr durch     gen der Neugestaltung denken. Die Institution hat andere
irgendwelche Institutionen einzufangen. Die Kirchen         Aufgaben: Sie kann vor allem die Kontinuität wahren und
müssen ihre Rolle für Deutschland und Europa und im         die Infrastruktur für freies christliches Leben bereithal-
globalen Zusammenhang neu definieren. Es reicht nicht       ten.
mehr, immer wieder nur auf sinkende Mitgliederzahlen
zu starren und Strukturen um- und abzubauen. Wir müs-       Zeitansage aus christlicher Perspektive gehörte stets zu
sen stärker darüber nachdenken, was die Institutionen       Ihrem Kennzeichen. Welche Herausforderungen sehen
sinnvollerweise leisten können und was nicht und wie        Sie heute im Jahr 2019?
die vielfältigen geistlichen Laienbewegungen neue Auf-          Wir haben es noch immer nicht geschafft, den fun-
brüche ermöglichen.                                         damentalen Umbruch von 1989 ausreichend zu gestal-
                                                            ten. Das merken wir gerade in dieser Zeit 30 Jahre nach
Welche Erfahrungen haben Sie als Landesbischof in           dem Mauerfall. Wir stellen fest, dass viele auf der Stre-
Braunschweig bei der Umgestaltung der Institution           cke geblieben sind und sich nicht ausreichend beachtet
Kirche gesammelt?                                           fühlen. Wir lernen, dass es eben nicht nur um das neue
    Eines ist meines Erachtens sicher: Es wird sich alles   Auto geht und fühlen uns an die Christusfrage erinnert:
radikal und dramatisch verändern. In wenigen Jahren         Ist das Leben nicht mehr? Deswegen halte ich es für ent-
wird die Welt völlig anders aussehen. Auch hier bei uns     scheidend, dass wir uns um Versöhnung kümmern, um
in Deutschland und auch in der Kirche. Sowohl durch die     eine versöhnte Verschiedenheit im öffentlichen Leben der
technischen als auch die gesellschaftlichen Entwicklun-     vielen Kulturen. Wir müssen aufeinander zugehen, die
gen. Wir sollten uns darauf einstellen, dass Menschen       Räume öffnen, einander einladen. Dabei können die Kir-
sich zunehmend in Gruppierungen zusammentun und             chen einen entscheidenden Punkt christlicher Verkündi-
darin auch geistliche Gemeinschaft finden. Die positive     gung zur Sprache bringen, indem sie der Ermutigung des
Mitgliederentwicklung vieler Freikirchen zeigt ja auch in   Apostels Paulus aus dem zweiten Korintherbrief folgen:
eine solche Richtung. Sie sind in der Lage, der Sehnsucht   So seid ihr nun Botschafter der Versöhnung an Christi
vieler Menschen zu entsprechen. Die Landeskirchen sind      statt!		          				                              | mic

                                                                          4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 17
Der englische Patient
 Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union könnte zum Zerfall des Vereinigten
 Königreiches führen, sagt Nicholas Baines, Bischof von Leeds und Mitglied im House of Lords. Die
 Abstimmung für den Brexit habe wenig mit der EU, aber viel mit innerbritischen Konflikten zu tun.
 Wir dokumentieren zentrale Passagen seiner Rede, die er beim Parlamentarischen Abend der Kon­
 föderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen am 24. Oktober in Hannover gehalten hat.

                                                                                                   und der „Wille des Volkes“ befolgt werde. Erst als das
                                                                                                   Ergebnis in die “falsche” Richtung lief, wurde den Men-
                                                                                                   schen klar, dass in einem parlamentarischen System ein
                                                                                                   Referendum nur beratend sein kann und die Antwort auf
                                                                                                   die Frage keinen Hinweis darauf gibt, was „Verlassen der
                                                                                                   EU“ in der Praxis bedeuten könnte.
                                                                                                       Das Parlament hat die Verantwortung, nach bestem
                                                                                                   Wissen und Gewissen Gesetze im besten Interesse des
                                                                                                   Landes zu erlassen. Aber was passiert, wenn dies der
                                                                                                   im Referendum getroffenen Wahl widerspricht? Deshalb
                                                                                                   sind wir in einem Durcheinander.
                                                                                                       Es ist wichtig zu erkennen, dass der Brexit im Wesent-
                                                                                                   lichen ein englisches und kein britisches Problem ist.
                                                                                                   Ein berühmter englischer Journalist schrieb vor zwan-
                                                                                                   zig Jahren ein Buch mit dem Titel „The English“. Jeremy
                                                                                                   Paxman erklärt an einer Stelle, dass ein wesentliches
                                                                                                   Element der irischen oder schottischen oder walisischen
                                                                                                   Identität darin bestehe, dass ich „nicht englisch“ bin.
                                                                                                       Aber es ist sinnlos, wenn ein Engländer sagt: „Ich
                                                                                                   bin kein Schotte.“ Die Schotten haben ein Parlament,
                                                                                                   die Waliser eine Versammlung, die Iren auch eine Ver-
                                                                  Foto: epd-bild/Friedrich Stark

                                                                                                   sammlung. Und die Engländer? Nur Westminster. Die
                                                                                                   letzten drei Jahre haben den Walisern, Schotten und Iren
                                                                                                   gezeigt, dass die Engländer sich nicht um sie kümmern.
                                                                                                       Umfragen zeigen, dass die Brexiteers bereit sind,
                                                                                                   das Ende der Union als geringen Preis für den Brexit zu
„Der Brexit hat tiefe Spaltungen in der britischen Gesellschaft                                    sehen. Es ist durchaus möglich, dass der Brexit zu einem
 aufgedeckt“, sagt Nicholas Baines, Bischof von Leeds.                                             vereinigten Irland und einem unabhängigen Schottland
                                                                                                   führen wird.
                                                                                                       Außerdem war der Brexit immer ein Versuch der
                                                                                                   Konservativen Partei, ein internes Problem zu lösen.
     Die britische Demokratie wird in einem System parla-                                          Die EU-Frage hat die Partei jahrzehntelang geteilt, und
 mentarischer Demokratie ausgeübt. Dieses System hat                                               keine der beiden Hauptparteien hat sich jemals für die
 keinen Platz für Volksabstimmungen. Es ist problema-                                              EU eingesetzt.
 tisch, dass Politiker aller Parteien vor dem Referendum                                               Es gibt das Argument, dass die EU als eine politi-
 im Juni 2016 versprachen, dass das Ergebnis gewürdigt                                             sche Union in Großbritannien niemals ehrlich anerkannt

 4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 18
Dokumentation
                                                                                                                           Reportage

                       wurde - was zu wachsendem Ressentiment und nach-                Nach 1945 mussten sich die Deutschen mit ihrer
                       lassendem Vertrauen unter Politikern und Institutio-        Geschichte, Identität und ihren Fehlern auseinander-
                       nen geführt hat. Aber es bleibt wahr, dass viele Men-       setzen. Die Briten mussten das noch nie. Wir werden es
                       schen in Großbritannien glauben, dass der Brexit eine       jetzt tun müssen. Ich stimme mit der Philosophin Susan
                       Tory-Lösung für ein Tory-Problem ist, um den Tories zu      Neiman überein, die in ihrem neuen Buch „Learning
                       ermöglichen, an der Macht festzuhalten.                     from the Germans“ (Von den Deutschen lernen) schreibt:
                           Darüber hinaus hat der Brexit tiefe Spaltungen in der       „Nostalgische Sehnsüchte nach Imperium und Senti-
                       britischen Gesellschaft aufgedeckt. Der Brexit hat sie      mentalismus im Zusammenhang mit dem Zweiten Welt-
                       aber nicht erschaffen. Der neoliberale Globalisierungs-     krieg weisen nicht nur auf außergewöhnliche Mängel
                       traum ließ viele Gebiete des Landes und viele Akteure       des öffentlichen Gedächtnisses in Großbritannien hin,
                       mit dem Gefühl zurück, dass sie übersehen, vergessen        sondern auch auf die Unfähigkeit, mit der Geschichte reif
                       oder ignoriert seien. Die ärmsten Gebiete des Verei-        zu rechnen.” Neil MacGregor hat gesagt: „Die Deutschen
                       nigten Königreichs haben für den Austritt aus der EU        nutzen ihre Geschichte, um über die Zukunft nachzu-
                       gestimmt, obwohl sie über vier Jahrzehnte hinweg in         denken, während die Briten ihre Geschichte nutzen, um
                       hohem Maße von EU-Subventionen und Projektfinan-            sich zu trösten“.
                       zierungen profitiert haben.
                           Warum? Einige sagen, dass das Leben für sie nicht
                       schlimmer werden kann. Warum also nicht die Gele-           „Deutschland und Europa haben viele
                       genheit ergreifen, gegen die Politiker zu treten? Dies        Freunde in Großbritannien und wir
                       wurde von denjenigen ausgenutzt, die sich als „gegen
                       die Eliten und gegen das Establishment“ positionieren        brauchen ihre Freundschaft, um eine
                       - obwohl die meisten von ihnen wohlhabend, privilegiert         andere Zukunft zu gestalten.“
                       und von keinem durch den Brexit verursachten Schaden
                       betroffen werden.
                           Das Problem besteht darin, dass die EU nicht für die        Die Europäer sollten sehen, dass fast die Hälfte der
                       Dinge verantwortlich ist, gegen die gestimmt wurde.         Wähler für einen Verbleib in der EU gestimmt hat - und
                       Deshalb wird die Operation des Brexit die Krankheit         auch dass die Verbundenheit mit der EU seit dem Refe-
                       nicht heilen oder das Leben der Menschen verbessern.        rendum gewachsen ist. Deutschland und Europa haben
                           Nicht zuletzt hat der Brexit nicht nur das Vertrauen    viele Freunde in Großbritannien und wir brauchen Ihre
                       in unsere Institutionen und Politiker beschädigt. Die       Freundschaft, um eine andere Zukunft zu gestalten.
                       Rechtsstaatlichkeit wurde von einer Regierung bedroht,          Ich denke (aber ich könnte mich irren), dass die Union
                       die vom Supreme Court für schuldig befunden wurde,          nicht lange überleben wird. Alles deutet darauf hin, dass
                       gegen das Gesetz verstoßen zu haben. In der Vergangen-      Schottland jetzt für die Unabhängigkeit stimmen würde;
                       heit hätte dies zu einem Rücktritt geführt. Heute aber      Irland könnte sich vereinen - etwas, was die IRA in vierzig
                       gibt es keine Schande mehr; und Lügen, Manipulation         Jahren Terrorismus und Gewalt nicht erreichen konnte;
                       und falsche Darstellung sind die Merkmale eines poli-       sogar Wales spricht von einer Trennung von England.
                       tischen Spiels geworden. Unser öffentlicher Diskurs         Wir werden mal sehen.
                       wurde korrumpiert. Schlimmer noch, unsere Abgeord-              Niemand kann die Zukunft vorhersagen. Wir erle-
                       neten werden täglich mit Gewalt und Tod bedroht - genau     ben heute im Westen einen großen Konflikt zwischen
                       wie ihre Familienmitglieder.                                dem Liberalismus und anderen Mächten. Der Libera-
                           So werden wir wahrscheinlich die Europäische Union      lismus ist in Zukunft keine Selbstverständlichkeit. Die
                       verlassen, aber wir werden Europa nicht verlassen.          Kirchen müssen Orte der Begegnung, der Debatte und
                       Unsere starken Verbindungen in ganz Europa werden           der Wahrheitsfindung sein, wenn die Welt über Trump
                       in den kommenden Jahren noch wichtiger. Großbritan-         und Johnson, Bolsonaro und Orban weiter verhandelt.
                       nien musste sich seit dem Zweiten Weltkrieg nie damit           Der Illiberalismus wird die Westeuropäer dazu zwin-
                       abfinden, bloß eine kleine Nordatlantikinsel ohne Impe-     gen, die Wurzeln ihrer Annahmen über Menschenrechte
                       rium zu sein.                                               und Verantwortlichkeiten wieder zu entdecken, und das
                           Der Brexit wird das Ende des Mythos vom britischen      könnte letztendlich eine gute Sache sein.
                       Imperium bedeuten. Britische Zeitungen und Politiker
Foto: Agentur Hübner

                       erinnern sich immer wieder daran, wie wir den Krieg
                       (alleine) gewonnen haben. Endlich müssen wir jetzt mit              Den vollständigen Text finden Sie im Internet in
                       der Realität leben und nicht mit romantisierten Erinne-                                       Bischof Baines’ Blog:
                       rungen des letzten Jahrhunderts.                                                https://nickbaines.wordpress.com

                                                                                                4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 19
Kindertreff mit
Ausstrahlung
In Calvörde sorgt ein neuer Verein dafür, dass die „Christenlehre“ fortbestehen kann. In dem
kirchlichen Religionsunterricht, der seine Tradition in der DDR hat, macht Gemeindepädagogin
Beatrice Trüe Kinder mit dem christlichen Glauben vertraut.

                                                                                         Foto: Agentur Hübner

4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 20
Reportage

    Beatrice Trüe lässt sich nicht so leicht aus der
Ruhe bringen. Sie sitzt in der ersten Bank der St.-
Georgs-Kirche in Calvörde und übt voller Geduld mit
einigen Kindern die Geschichte vom Heiligen Martin.
Doch das ist nicht so einfach. „Oje, da hat einer den
Text nicht gelernt“, seufzt die Gemeindepädagogin und
wiederholt eine Passage erneut. Bei anderen Kindern
klappt es umso besser.
    Etwa bei der zehnjährigen Matilda. Sie steht souve-
rän auf der Kanzel und liest ihren Text fast fehlerfrei vor.
Beatrice Trüe ist zufrieden. Die 46-jährige unterrichtet
in dem Ort nordwestlich von Haldensleben in Sachsen-
Anhalt Christenlehre, einen kirchlichen Religionsunter-
richt, der hier seit 1946 angeboten wird und in der ehe-
maligen DDR oft die einzige Alternative zu staatlichen
Angeboten war.
    Doch im November lief die Stelle der Gemeindepäda-
gogin aus, und so haben engagierte Calvörder den „Ver-
ein zur Förderung der gemeindepädagogischen Arbeit
– Christenlehre“ gegründet. Mithilfe von Mitgliedsbeiträ-
gen, mit Spenden und Fördermitteln wollen sie Beatrice
Trüe weiter beschäftigen, zumindest für zehn statt der
bisherigen fast 20 Wochenstunden. Denn die Christen-
lehre ist bei den mehr als 1000 Mitgliedern des Pfarr-
verbandes beliebt – bei den Eltern und den Kindern.
    „Das ist so cool hier, einfach toll“, schwärmt die elf-
jährige Marla, die gemeinsam mit ihren Freundinnen
Juliette, Melina und Arwen auf einem Matratzenlager
im angrenzenden Gemeindehaus rumlümmelt und
Kekse knabbert. Für die Mädchen ist die Christenlehre
ein beliebter Treffpunkt. Sie singen, spielen und basteln
zusammen, sie hören biblische Geschichten und können
das erzählen, was sie bedrückt.

        „Es zählt nicht die Leistung,
         sondern das Miteinander.“
                                                               Fotos (2): Agentur Hübner

   „Bea behält alles für sich“, sagt Melina, „sie hört zu,
wenn man traurig ist.“ Die Seelsorge ist Beatrice Trüe
ganz wichtig. Oft, sagt sie, erzählten die Mädchen und
Jungen erst zwischen Tür und Angel, was sie beküm-
mert. In den Gruppenstunden will die Gemeindepäd-                                          Die Christenlehre – ein beliebter Treffpunkt für Kinder in
agogin christliche Werte vermitteln, die Kinder lernen                                     Calvörde; zum Singen und Spielen, aber auch, um etwas
einander zuzuhören, etwas zu teilen und andere wert-                                       über den christlichen Glauben zu lernen.
zuschätzen.
   Und noch etwas liegt ihr am Herzen: „Hier braucht                                        an drei Tagen pro Woche, für die Erst- und Zweitkläss-
niemand Angst vor schlechten Noten zu haben. Es zählt                                       ler, die Zweit- und Drittklässler und für die Fünft- und
nicht die Leistung, sondern das Miteinander. Und jeder                                      Sechsklässler – unabhängig von der Konfession.
soll sich angenommen fühlen.“                                                                   Zwei Gruppen finden in den Dörfern Uthmöden und
   Rund 60 Kinder besuchen derzeit die Christenlehre in                                     Jeseritz statt. Darüber hinaus sind die Teilnehmer der
Calvörde, allerdings mit einer geringeren Stundenzahl.                                      Christenlehre bei besonderen Ereignissen präsent, bei
Bis November gab es das nach Alter gestaffelte Angebot                                      Familiengottesdiensten, bei den Gottesdiensten für die

                                                                                                          4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 21
Fotos: Agentur Hübner

Mit Begeisterung sind die Kinder bei der Sache: Probe zur
Aufführung eines Anspiels über St. Martin.
Schulanfänger, bei Kinderfesten, beim Martinsumzug          Jochen Meißner-Warnecke, Propsteidiakon in Vorsfelde
und dem Martinsfest und natürlich zu Weihnachten mit        und Vorsitzender des neu gegründeten Vereins. Vakant
einem Krippenspiel.                                         sind jedoch die anderthalb Pfarrstellen für den Pfarr-
   „Es ist ganz wichtig, dass die Arbeit weitergeht“,       verband Calvörde-Uthmöden mit seinen sieben Kirchen
betont Karola Fricke, stellvertretende Vorsitzende des      und einer Predigtstätte in Schloss Dorst.
Vereins und Mutter der neunjährigen Marie, „sonst sind          Für Meißner-Warnecke und den gesamten Vorstand
bald keine Leute mehr in der Kirche.“                       war die Vereinsgründung Neuland. „Wir mussten uns
   Auch für Katrin Gödicke, die gemeinsam mit ihren         komplett in das Thema einarbeiten“, erzählt Nadine
Töchtern Matilda (10) und Leni (7) das Spiel vom Heili-     Rook, die sich ebenfalls für den Verein stark macht.
gen Martin mit einübt, ist die Fortführung ein Herzens-     Nachdem sich bei einer ersten Informationsveranstal-
wunsch: „Wir alle sind mit der Christenlehre groß gewor-    tung 30 Teilnehmer für eine Fortführung der Christen-
den, das hat uns geprägt.“                                  lehre ausgesprochen haben, mussten sich die Initiatoren
                                                            mit Vereinsrecht und Beitragssatzungen auseinander-
     „Die Christenlehre verbindet                           setzen, mussten Förderanträge stellen, Projektbe-
                                                            schreibungen, Finanzierungspläne und Präsentationen
    Menschen untereinander und mit                          erarbeiten, um ihr Anliegen vorzustellen.
              der Kirche.“                                      „Wir strecken unsere Fühler in alle Richtungen aus“,
                                                            sagt Nadine Rook. Darüber hinaus werben die Mitglieder
    Sie erinnert sich an Fahrten und Ferienfreizeiten, an   bei den Calvördern für ihr Anliegen. „Viele sind von unse-
die Zusammengehörigkeit und die Gemeinschaft. „Vor          rem Engagement begeistert“, erzählt Nadine Rook. So
allem in der Pubertät hat die Christenlehre den Jugend-     kommen dem neuen Verein nicht nur Kollekten zugute,
lichen Halt gegeben.“ In der DDR war der Besuch nicht       sondern auch private Spenden.
immer einfach, doch im ländlich strukturierten Calvörde         Und auch die Zahl der Vereinsmitglieder ist auf fast
hätten fast alle Kinder aus Katrin Gödickes Klasse das      50 gestiegen. Beatrice Trüe hat die Hoffnung nicht auf-
kirchliche Angebot wahrgenommen.                            gegeben, dass das Angebot erhalten bleibt: „Ich sehe
    Und die ehemaligen Teilnehmer der Christenlehre         das positiv. Es sind so viele Menschen, die hilfreich und
fühlen sich der Kirche noch heute verbunden. So gibt es     auch betend dabei sind.“ 		                   | Rosemarie Garbe
in Calvörde nicht nur eine Frauenhilfe und einen Frau-
entreff, sondern auch einen Kreis von jüngeren Frauen,
die früher zur Christenlehre gegangen sind, berichtet                                       www.propstei-vorsfelde.de

4 | 2019   Evangelische Perspektiven | 22
Nachgefragt

„Was ändert sich
 für die Kirche
 bei der Umsatzsteuer?“
                Eine Antwort von Jonas Babke, Projektleiter Umsatzsteuer,
                Referat Gemeindefinanzen, Landeskirchenamt Wolfenbüttel

                   Die kirchlichen Körperschaften (Kirchengemeinden, Propsteien, Kirchengemeinde-
                verbände, Kirchenverbände, Propsteiverbände und die Landeskirche) wurden bisher
                nur im Rahmen ihrer Betriebe gewerblicher Art (zum Beispiel kirch­liche Friedhofs-
                gärtnereien oder Dritte-Welt-Läden) als umsatzsteuerpflichtiger Unternehmer ange-
                sehen. Jedoch waren auch kirchliche Betriebe gewerblicher Art mit Umsätzen unter
                35.000 Euro jährlich von der Umsatzsteuerpflicht befreit.
                   Diese Möglichkeit besteht aufgrund europarechtlicher Vorgaben ab dem Jahr 2021
                nicht mehr. Künftig sollen Wettbewerbsver­zerrungen in Bezug auf Leistungen, die
Fotos: Privat

                auch von privaten Unternehmern erfolgen, vermieden werden. Sofern kirchliche Kör-
                perschaften Einnahmen auf privatrechtlicher Grundlage erzielen – unabhängig davon,
                ob sie damit einen Gewinn erwirtschaften –, gelten sie als Unternehmer und müssen
                ihre Umsätze den Regelungen des Umsatzsteuergesetzes unterwerfen.
                   Die Neuregelung bedeu­tet, dass in vielen Bereichen künftig die eigentliche Leis-
                tung (Bratwurst-, Kaffee- und Kuchenverkauf beim Gemeindefest oder der Verkauf
                von Handarbeiten beim Adventsbasar) zusätzlich mit der Um­satzsteuer kalkuliert,
                erbracht und an das Finanzamt abgeführt werden muss.
                   Näheres kann einer Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
                zur Neuregelung der Umsatzbesteuerung entnommen werden (siehe Internetadresse
                unten). Darin werden viele kir­chenspezifische Fallkonstellationen beispielhaft darge-
                stellt, an denen erkennbar wird, wo die Neu­regelungen die kirchlichen Körperschaf-
                ten betreffen.
                   Im Landeskirchenamt Wolfenbüttel prüfen Mitarbeitende besondere Fall­
                konstellationen der braunschweigischen Landeskirche. Außerdem werden in Zusam-
                menarbeit mit den Verwaltungsstellen Verfahren abgestimmt, um in einigen Bereichen
                die Umsatzsteuer gegebenenfalls vermeiden zu können.
                   Positiv stimmt, dass zahlreiche kirchliche Rechtsträger von der sogenannten Klein-
                unternehmerregelung Gebrauch machen können, wonach eine Körperschaft, deren
                Jahresumsätze unter 17.500 Euro liegen, sich dem Finanzamt gegenüber erklä­ren,
                die Steuer aber nicht abführen muss.

                            www.kirchenfinan­zen.de/download/Handreichung-paragraf-2b-UStG.pdf

                                                              4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 23
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