Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
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www.landeskirche-braunschweig.de Evangelische Perspektiven Das Magazin der Landeskirche Braunschweig 4 |2019 Erste Hilfe für die Seele In der Landeskirche Braunschweig sorgen rund 100 Not- fallseelsorgerinnen und -seelsorger dafür, dass Menschen in Extremsituationen nicht alleine sind.
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, die Kirche kann nicht unpolitisch sein – weder als gesellschaftliche Institution noch als christliche Gemeinschaft. Sie ist Teil unserer demokratischen Öffentlichkeit und ein Akteur des öffentlichen Gesprächs. Sie muss sagen, wofür sie steht. Tut sie es nicht, überlässt sie die Deutungshoheit über ihre Position anderen; im Zweifelsfall denen, die die Kirche für ihre Weltanschauung vereinnahmen. Das aber wäre mit Blick auf den öffentlichen Auftrag der Kirche völlig unangemessen. Schließlich besteht er darin, Gottes Reich zu verkünden, das mit Weihnachten ange- brochen ist und seitdem die Wirklichkeit unserer Welt verändert. Indem Menschen Gottes Geist Hand und Stimme geben: seinem Drängen auf Frieden und Gerechtig- keit, nach Menschlichkeit und Freiheit und einem Leben in Einklang mit der Schöp- Foto: Jens Schulze fung. Weihnachten ist kein rührseliges Konsumfest für Wohlstandsbürger, sondern der Anbruch einer neuen Zeit: Gottes Zeit. Wenn die Kirche bei ihrer Sache ist, bleibt sie der Öffentlichkeit dieses Zeugnis nicht schuldig. Dann ist sie geistesgegenwärtig und beteiligt sich an den Auseinanderset- zungen unserer Zeit. Vor allem dann, wenn es um grundlegende Fragen des Mensch- seins und des menschlichen Miteinanders geht. Wie in den letzten Wochen, als es im Zusammenhang mit dem AfD-Bundesparteitag in Braunschweig notwendig wurde, die Position der Kirche angesichts rechtsextremer Weltsichten deutlich zu machen. Manche warfen der Kirche vor, sie sei dabei zu weit gegangen und habe Menschen im Umfeld der AfD ausgegrenzt. Das aber hat sie nicht getan. Sie hat lediglich ihren Auftrag ernst genommen und versucht, die Geister unserer Zeit zu unterscheiden. Damit Orientierung in christlicher Verantwortung möglich wird. Denn als Christen müssen wir uns stets fragen lassen, ob wir Gott die Ehre geben oder Ideologien folgen, die dem christlichen Menschenbild widerstreiten. Ihnen frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr, Ihr Michael Strauß Impressum Herausgeber Pressestelle der Landeskirche Braunschweig I Redaktion Michael Strauß (mic) I Anschrift Dietrich-Bonhoeffer- Straße 1, 38300 Wolfenbüttel, Tel. 05331-802108, Fax 05331-802700, presse@lk-bs.de, www.landeskirche-braunschweig.de I Layout Dirk Riedstra | Druck MHD Druck und Service GmbH, 29320 Hermannsburg | Titelfoto Agentur Hübner 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 2
Foto: Agentur Hübner Foto: Klaus G. Kohn 10 14 Foto: Agentur Hübner Foto: Agentur Hübner 20 24 In dieser Ausgabe 4 Blickpunkt 18 Dokumentation Klimawandel im Harz Der englische Patient Zwischen Torfhaus und Braunlage mahnen tote Eine Analyse der Lage in Großbritannien am Vorabend Bäume, die Schöpfung zu bewahren. zum Brexit von Nicholas Baines, Bischof von Leeds und Mitglied im House of Lords. 8 Porträt Leidenschaft für die Lehre 20 Reportage Ulrike Kaiser leitet seit Januar 2019 das Seminar für Kindertreff mit Ausstrahlung Evangelische Theologie an der TU Braunschweig. In Calvörde sorgt ein neuer Verein dafür, dass die „Christenlehre“ fortbestehen kann. 10 Titelthema Erste Hilfe für die Seele 24 Hintergrund In der Landeskirche sorgen rund 100 Notfallseel- Schritte in die Zukunft sorgerinnen und -seelsorger dafür, dass niemand in In einer neuen Reihe stellen wir die Kreisstellen der Extremsituationen alleine ist. Diakonie im Braunschweiger Land vor. Diesmal: Helmstedt. 14 Interview Botschafter der Versöhnung sein 26 Rezension Altbischof Christian Krause ist nach wie vor als Bera- Demokratischer Aufbruch ter in internationalen und ökumenischen Angelegen- Dietrich Kuessner hat ein neues Werk über die 150-jäh- heiten gefragt. Im Interview blickt er auf ein bewegtes rige Geschichte der Landessynode verfasst. Dieter Leben zurück. Rammler stellt es vor. 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 3
Foto: Klaus G. Kohn Blickpunkt Klimawandel im Harz Der Nationalpark Harz bietet derzeit apokalyptische Ansichten. Zwischen Torfhaus und Braunlage sowie an vielen anderen Stellen ste- hen hektarweit tote Fichten. Von tro- ckenen Sommern geschwächt, von Stürmen gebeugt und vom Borken- käfer vernichtet. Ob es sich hierbei um ein „Waldsterben“ oder einen „Waldwandel“ handelt, ist umstrit- ten. Wer den Wald Natur sein las- sen kann, mag darauf setzen, dass er sich von alleine erneuert. Wer den Wald bewirtschaftet, sieht das vermutlich anders. Deutlich wird auf jeden Fall, dass der Klimawan- del sichtbare Spuren auch im Harz hinterlässt. Deswegen sind die ster- benden Bäume eine Mahnung, die Bewahrung der Schöpfung als eine zentrale Aufgabe unserer Zeit zu verstehen – und den Klimaschutz beherzt voranzutreiben. 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 4
Kommunikation mit Kirche plant Zukunftsprozess Medien ausbauen Die braunschweigi- Die Landeskirche Braunschweig sche Landessynode sollte ihre medienvermittelte Kom- hat einen Zukunfts- munikation weiter ausbauen und pro- prozess angesto- filieren. Das empfiehlt eine Studie der ßen, der Leitlinien Kommunikationsberatung „aserto“ für die Kirche ange- Foto: Agentur Hübner (Hannover), die Professor Dr. Lars Har- sichts grundlegen- den der Landessynode am 21. Novem- der Veränderungen ber in Goslar vorgestellt hat. entwickeln soll. Sie In der Kommunikation nach außen hat am 22. Novem- seien vor allem eine stärkere Identifizie- ber in Goslar eine Arbeitsgruppe „Strategie und Konzept“ gebeten, Auftrag rung von Zielgruppen sowie eine stär- und Inhalte, Ausrichtung, Ziele und Formen der kirchlichen Arbeit grund- kere inhaltliche Positionierung der Kir- sätzlicher als bisher zu durchdenken, um daraus personalstrategische Kon- che notwendig. Vor allem junge und der sequenzen ziehen zu können. Kirche weniger verbundene Menschen Anlass war eine Diskussion um die Profilierung allgemeinkirchlicher Pfarr- stellen, die bis zum Jahr 2020 auf 28 reduziert werden sollen. Entsprechende Pläne der Kirchenregierung hatten in der Landessynode zu kritischen Rück- fragen geführt, welche Stellen in Zukunft Bestand haben sollten. Landeskirchenrat Jörg Willenbockel betonte in einem Bericht über die Kon- zeption für die allgemeinkirchlichen Stellen, ein Zukunftsprozess sei sinn- Foto: Agentur Hübner voll, um einen neuen strategischen Rahmen für die gesamte künftige kirch- liche Arbeit zu gewinnen. Auch Landesbischof Dr. Christoph Meyns forderte eine inhaltlich-theologische Neuorientierung. Kirchen- und Gemeindebilder Professor Dr. Lars Harden. müssten kritisch überprüft werden. Ein weiterer bloßer Umbau von Struk- turen reiche nicht mehr aus. sollten gezielter angesprochen wer- Wie der Zukunftsprozess gestaltet werden kann, soll die Arbeitsgruppe den. Nach innen müsse unter anderem „Strategie und Konzept“ der Landessynode im Mai 2020 erläutern. Kon- eine bessere Vernetzung der kirchlichen krete Ergebnisse sollen dann im November 2021 vorliegen. Akteure sowie mehr Service gegenüber den Mitarbeitenden angestrebt werden. Neue Pfarrer willkommen Dabei, so Harden, sollten die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und Die Landeskirche Braun- der sozialen Medien offensiv genutzt schweig setzt ihr Einstel- werden. Außerdem müsse die Landes- lungsprogramm für Pfar- kirche bereit sein, mehr Ressourcen für rerinnen und Pfarrer bis die medienvermittelte Kommunikation zum Jahr 2030 fort. Das zur Verfügung zu stellen. Anderenfalls hat die Landessynode am verliere sie den Anschluss an den dyna- 23. November in Goslar Foto: Agentur Hübner mischen gesellschaftlichen Wandel. beschlossen. Grundlage Auf Vorschlag des Medienausschus- war eine Evaluation, die ses hat die Landessynode die Presse- Oberlandeskirchenrat Dr. stelle, das Landeskirchenamt und die Mayer vorstellte. Ange- Kirchenregierung gebeten, bis Mai sichts einer positiven Kirchensteuerentwicklung könnten im Jahr 2030 sogar 2020 auf der Grundlage der Studie ein 32 Personen mehr im Pfarrdienst sein als bisher angenommen. Damit gehe Umsetzungskonzept zu erarbeiten. Auf insbesondere das Signal an Theologiestudierende, dass sie weiter unver- diese Weise, so der Vorsitzende des ändert in der Landeskirche willkommen seien. Medienausschusses Thomas Möbius, Das Einstellungsprogramm war von der Landessynode im November 2015 könnten finanzrelevante Vorschläge beschlossen worden. Danach sollen bis zum Jahr 2020 zusätzlich 36 und in die Aufstellung des nächsten lan- bis zum Jahr 2030 weitere 48 Pfarrpersonen zusätzlich eingestellt werden. deskirchlichen Haushalts für die Jahre Ziel ist es, eine zu erwartende Pensionierungswelle ab Mitte der 2020er 2021 und 2022 einfließen. Jahre abzumildern. 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 6
Nachrichten Neues Haushaltsgesetz Die braunschweigische Landessynode hat am 22. November in Goslar ein neues Kirchengesetz über das Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesen beschlossen. Es schafft die rechtlichen Grundlagen für die Einführung eines neuen Finanzsys- tems, der Erweiterten Kameralistik. Damit sollen die kirchlichen Finanzen dem kaufmännischen Rechnungswesen angepasst werden. Mit der Folge, dass in den Haushalten nicht mehr nur Einnahmen und Ausgaben abgebildet werden, sondern auch der Wertezuwachs und Werteverzehr. Außerdem soll eine Bilanz Auskunft über das kirchliche Vermögen geben. Eine Eröffnungsbilanz ist für den 1. Januar 2021 geplant. Ziel der Reform sei eine transparentere Darstellung der wirtschaftlichen Verhält- nisse nach innen und außen, sagte Oberlandeskirchenrat Dr. Jörg Mayer, Finanzre- ferent der Landeskirche. Es gehe vor allem um die Ruhegehaltsverpflichtungen für Pfarrerinnen und Pfarrer sowie die Substanzerhaltung von rund 1500 Gebäuden in Foto: Agentur Hübner der Landeskirche. Auf der Basis von ermittelten Werten könne der Substanzverlust in Form von Abschreibungen errechnet werden, um entsprechende Zuführungen an eine Substanzerhaltungsrücklage vorzunehmen. Dr. Jörg Mayer. Auch Sebastian Ebel, Vorsitzender des Finanzausschusses, betonte die Bedeu- tung des neuen Finanzsystems. Damit könne die Kirche „systematisch Vorsorge betreiben“ und präzise Kenntnisse über ihr Vermögen und ihre Verpflichtungen erhalten. Dadurch entstehe eine bessere Grundlage für Finanzentscheidungen. Außerdem könnten die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kirche bes- ser öffentlich kommuniziert werden. Oberlandeskirchenrat Mayer wies darauf hin, dass die Einführung der Erweiterten Kameralistik zunächst nur für die Landeskirche im engeren Sinne geplant sei. Das Gesetz sehe vor, dass die Kirchengemeinden bis auf weiteres von den Neuerungen ausgenommen seien. Insbesondere aus den Gemeinden waren Sorgen geäußert worden, dass diese durch das neue System und die darin notwendigen Rückstellungen finanziell überfordert werden könnten. Neues Recht für Mitarbeitende Um die Vertretung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche gegenüber ihrem Dienstgeber zu verbessern hat die braunschweigische Landessynode am 22. Novem- ber ein neues Kirchengesetz beschlossen. Es betrifft rund 4000 beruflich Beschäftigte innerhalb der Landeskirche. Insbesondere die Arbeit der Mitarbeitervertretungen soll professionalisiert werden. Heftige Auseinandersetzungen gab es in der Frage, ob Personen in einer Mitar- beitervertretung Mitglied einer christlichen Kirche sein müssen. Durch Entschei- dung des Bundesarbeitsgerichtes im Jahr 2018 sind die Kirchen verpflichtet, auch Mitarbeitende zu beschäftigen, die einer anderen oder keiner Religion angehören, soweit ihr Dienst nicht als verkündigungsnah gilt. Hintergrund dafür ist es, die Dis- kriminierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund plädierten insbesondere der Rechtsausschuss und der Gemeindeausschuss der Synode dafür, auch die Wahl nichtchristlicher Beschäftigter Foto: Agentur Hübner in Mitarbeitervertretungen zu ermöglichen, um nicht Mitarbeitende zweiter Klasse zu schaffen. Auch Synodenpräsident Dr. Peter Abramowski, Jurist und Arbeitsrecht- ler, warnte davor, nichtchristliche Mitarbeitende durch Ausschluss aus Mitarbei- tervertretungen zu diskriminieren. Hier gehe es um organisatorische und soziale Dr. Peter Abramowski. Angelegenheiten, nicht um Bekenntnisfragen. Dagegen hatte die Kirchenregierung die Auffassung vertreten, nur Mitglieder einer christlichen Kirche könnten einen Platz in der Mitarbeitervertretung wahrnehmen. Mitarbeitervertretungen hätten Anteil an der Leitung von Kirche, weshalb nur Christen dort mitwirken dürften. Das Ergebnis der Abstimmung war Ausdruck der kontroversen Debatte: 21 Synodale stimmten für die Öff- nung der Mitarbeitervertretungen für nichtchristliche Beschäftigte, 17 dagegen, ein Synodenmitglied enthielt sich. 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 7
4 | 2015 Evangelische Perspektiven | 8 Foto: Agentur Hübner „Ich fühle mich gut angekommen“, sagt Ulrike Kaiser. 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 8
Porträt Leidenschaft für die Lehre Ulrike Kaiser leitet seit Januar 2019 das Seminar für Evangelische Theologie und Religionspä dagogik an der Technischen Universität Braunschweig. In Dresden geboren und in der DDR aufgewachsen, führte sie ihr Weg über Hamburg, Duisburg und Berlin nach Braunschweig. Auf ihrem Berufsweg wandelte Ulrike Kaiser lange Biblische Inhalte als didaktisches Konzept spielerisch zwischen verschiedenen Welten. Ursprünglich mathe- zu erfahren, das könne auch die angehenden Religions- matisch-naturwissenschaftlich orientiert, arbeitete sie lehrerinnen und -lehrer an der TU bereichern. Selbst bei zwischenzeitlich als Gemeindepfarrerin. Doch ihr Herz vielen Studierenden fehlten mittlerweile „Basics“ des schlägt für die theologische Lehre. Seit Januar 2019 christlichen Grundwissens. „Wenn die hier mit mehr Fra- wirkt die geborene Dresdnerin als Professorin für Bib- gen rausgehen, als sie gekommen sind, dann haben sie lische Theologie und ihre Didaktik an der Technischen schon viel verstanden“, meint Ulrike Kaiser lächelnd. Universität (TU) Braunschweig. Dort leitet sie das Semi- Sie selbst war immer dicht dran an der Theologie: nar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik Geboren 1971 in Dresden. Ihr Vater war dort Pfarrer in mit mehr als 400 Studierenden. „Hier herrscht ein sehr der Kreuzkirche. „Kirche in der DDR war ein Ort, freier gutes Miteinander. Ich fühle mich gut angekommen“, zu denken.“ Dann kam die „sehr aufregende“ Wende- resümiert die Professorin freudestrahlend. zeit. Und der Wille, Mathematik „als ideologiefreie Zone zu studieren“. Am Ende fügte sich alles ganz anders: „Wohl auch Spielerisch mit biblischen weil ich so gerne unterrichte“, glaubt die Professorin. Sie Geschichten auseinandersetzen und lernte Koptisch, studierte Theologie, arbeitete als wis- dabei Gott begegnen – ein Ansatz, der senschaftliche Mitarbeiterin an der Uni. Es folgten Pro- motion und Vikariat, Zweites Theologisches Examen und Ulrike Kaiser am Herzen liegt. die Ordination zur Pfarrerin in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Ihre erste Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Her- Stelle in Berlin umfasste jeweils hälftig den Gemein- meneutik und Methodenfragen, Metaphern-Auslegung dedienst und die Dozententätigkeit am Wichern-Kolleg. in der Theologie, Geburts- und Zeugungsmetapho- Ihre wissenschaftliche Karriere mit der Habilitation rik im Neuen Testament, Johannes-Evangelium, Nag- 2016 im Fach Neues Testament führte Ulrike Kaiser über Hammadi- und Gnosis-Forschung und neutestament- die Universitäten Hamburg und Duisburg-Essen schließ- liche Apokryphen. Ein Faible hat die 48-Jährige für den lich nach Braunschweig. Ihr beruflicher Werdegang vom US-Amerikaner Jerome W. Berryman entwickelten bewegte sich zwischen gefühlten Extremen, von „kurz Godly-Play-Ansatz. vor der Verbeamtung“ bis hin zum Hinweis des Arbeits- Dabei können sich Kinder im Spiel und mit bereitlie- amtes, „bei Ihrer spezifischen Qualifikation könnte am genden Materialien wie Sand, Filzunterlagen und Holzfi- Ende auch das Kloputzen stehen“, lacht die Professorin. guren selbsttätig mit biblischen Geschichten und Sym- Unentwegt pendelte die 48-Jährige durch die Republik. bolen auseinandersetzen. Diesen Gott-im-Spiel-Ansatz Auch jetzt noch, denn ihr Mann, ein Pfarrer, und ihre bei- hat Ulrike Kaiser gemeinsam mit Kollegen in Deutsch- den Söhne im Teenager-Alter leben in Berlin. | Michael Siano land weiterentwickelt. Spielmaterialien füllen eine ganze Regalwand in ihrem Büro. www.tu-braunschweig/theologie 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 9
Erste In der Landeskirche Braunschweig sorgen rund 100 Notfallseelsor Hilfe gerinnen und -seelsorger dafür, dass Menschen in Extremsituationen nicht allein sind. Knapp zwei für die Drittel sind Ehrenamtli che. Sie betreuen Opfer und Angehörige bei Un Seele fällen und Katastrophen – und nicht zuletzt die Helfer. Eine Szene, die in Kriminalfilmen selten fehlt, wird meistens so dargestellt: Mit ernsten Gesichtern klingeln zwei Polizeibeamte an der Wohnungstür. Ihr Auftrag: die Über- bringung einer Todesnachricht an die Angehörigen. Diese reagieren – je nach Charakter und Drehbuch – geschockt oder gefasst, hyperaktiv oder apathisch. Die Beamten hätten da noch ein paar Fragen. Kurz darauf sagen sie „tschüss“. Das war’s - und die Angehörigen bleiben allein zurück. „Das ist wenig realistisch dargestellt und vermutlich der Dramaturgie im TV geschul- det“, sagt Pfarrer Maic Zielke. In der Realität würden Poli- zisten in vielen Fällen von Notfallseelsorgenden begleitet. Diese leisteten, wenn die Polizei wieder gehen muss, „erste Hilfe für die Seele“. Kein Mensch reagiert in solch einer Extremsituation gleich. Die Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger sind Foto: Agentur Hübner geschult, einfühlsam auf Betroffene zuzugehen, dem Leid nicht auszuweichen. Das kann durch Gesten des Mitfüh- lens, ein Gebet oder auch durch einfaches Danebensitzen und gemeinsames Schweigen geschehen. Foto: Hansjörg Hörseljau 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 10
Titelthema Mehr zum Thema 3 | 2019 Evangelische Perspektiven | 11
Die Notfallseelsorge-Teams bereiten ihre Einsätze sorgfältig vor. Unterstützt von Pfarrer Olaf Engelbrecht. Notfallseelsorger kommen zum Einsatz bei Unfällen Pfarrer, knapp zwei Drittel Ehrenamtliche. Ehrenamt- mit mehreren Verletzten und beteiligten Personen, Unfäl- lich sind auch Christine Périard und Lina Grube im Ein- len mit Todesfolge oder im Schienenverkehr mit Perso- satz. Die beiden jungen Frauen sind Mitglieder der Not- nenschaden, Androhung von Suiziden oder Betreuung von fallseelsorge Braunschweig. Ihr Notfallseelsorge-Team Angehörigen bei Suiziden, plötzlichem Kindstod oder bei ist gleichzeitig ein Teil der Ortsfeuerwehr Watenbüttel. Großschadenslagen und Evakuierungen. Christine Périard ist schon viele Jahre dabei. Die Sozi- „80 Prozent unserer Einsätze finden im häuslichen alarbeiterin koordiniert als ehrenamtliche Teamleiterin Bereich statt“, sagt Zielke. Ein „Klassiker“: Trotz Einsat- die derzeit 17 aktiven, überwiegend weiblichen Braun- zes der Rettungssanitäter oder des Notarztes bleibt die schweiger Notfallseelsorger. Neun weitere stehen kurz Reanimierung erfolglos, der Patient verstirbt noch in der vor ihrer Qualifikation. Wohnung. Für die Angehörigen ein Schock. Zirka zwei Lina Grube begleitet nach erfolgreicher Ausbildung Stunden dauert der Einsatz eines Notfallseelsorgenden, bereits den Rettungsdienst. „Ich bin durch Zufall dazu zumeist bis zum Eintreffen weiterer Angehöriger oder gekommen“, berichtet die gelernte Speditionskauffrau, auch des Bestatters. die zudem noch ein Studium absolviert. Eine frühere Kol- legin, die selbst als Notfallseelsorgerin aktiv war, habe Die Auswahl ist streng: sie dafür begeistert. Die Auswahlkriterien in der Notfallseelsorge sind „Wir suchen charakterlich gefestigte streng. Im vergangenen Jahr hatten sich zu einführen- Menschen mit Lebenserfahrung.“ den Infoabenden knapp 40 Interessierte gemeldet. „Nach unseren Auswahlgesprächen blieben 13 übrig“, resümiert Maic Zielke wirkt in der Landeskirche Braunschweig Pfarrer Olaf Engelbrecht in seiner Funktion als Seelsor- als Beauftragter für Notfallseelsorge im Rahmen der ger der Feuerwehr und des Rettungsdienstes in Braun- Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersach- schweig. sen, koordiniert und bildet aus. Zugleich betreut er als Ausbildungsvoraussetzungen für die Ehrenamtlichen Seelsorger Polizei- und Zollbeamte, während und nach seien neben einer charakterlichen Eignung unter ande- belastenden Einsätzen sowie durch Unterricht an der rem: die Vollendung des 23. Lebensjahres, eine abge- Polizeiakademie. „Wir haben in der Landeskirche etwa schlossene Berufs- oder (Fach-)Hochschulausbildung 100 ausgebildete Notfallseelsorgende“, berichtet er. und der Führerschein Klasse B. „Wir suchen charakter- Etwas mehr als ein Drittel davon seien Pfarrerinnen und lich gefestigte Menschen mit Lebenserfahrung“, bringt 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 12
Titelthema Fotos 3): Agentur Hübner Pfarrer Maic Zielke koordiniert die Ausbildung und Arbeit der Not- fallseelsorgenden. Zwei Drittel von ihnen sind Ehrenamtliche. es Pfarrer Engelbrecht auf den Punkt. Auch die Ausbil- dung, Hausbau, Pflege von Angehörigen. „Manche pau- dung hat es in sich: Die Notfallseelsorger-Qualifizierung sieren und kommen nach Jahren wieder zurück“, weiß in Braunschweig besteht aus fünf Wochenendsemina- Pfarrer Engelbrecht. ren, 17 thematischen Abendmodulen, drei obligatorischen Einzelgesprächen, zwei zwölfstündigen Praktika im Ret- Die Nachsorge von Einsatzkräften tungsdienst, vier begleiteten Notfallsanitäter-Einsätzen oder -Übungen sowie einem erweiterten Erste-Hilfe- stellt eine Herausforderung dar. Lehrgang. Engelbrecht: „Und das ist noch eine Besonderheit der Vor dreieinhalb Jahren hat er die Leitung von seinem Notfallseelsorge in Braunschweig und Salzgitter: Wir Vorgänger Peter Schellberg übernommen. Dieser hatte erwarten von unseren Freiwilligen zusätzlich die erfolg- die Notfallseelsorge in Braunschweig vor 20 Jahren ini- reiche Teilnahme an der Grundausbildung bei einer Frei- tiiert und aufgebaut. Neben der Notfallseelsorge gibt es willigen Feuerwehr.“ noch das Einsatznachsorge-Team (ENT), das sich um die Sinn und Zweck werden schnell klar: „Das befähigt zu Feuerwehrleute und das Rettungsdienstpersonal küm- taktischem Denken. Bei Einsatzabläufen wissen wir Not- mert. „Im ENT Braunschweig sind zurzeit Menschen fallseelsorger dadurch, wie Feuerwehrleute ,ticken‘…“, aktiv, die selbst beruflich im Rettungsdienst tätig sind“, erklärt Christine Périard. Sie achtet darauf, dass es nie- erklärt Pfarrer Engelbrecht. Zum Team gehörten zudem mand mit den ehrenamtlichen Diensten übertreibt: „Etwa eine Traumatherapeutin, ein Notarzt und er selbst. 30 Zwölf-Stunden-Bereitschaftsschichten pro Jahr wer- Die Nachsorge der Einsatzkräfte stelle eine beson- den erwartet, 80 Schichten im Jahr sind die absolut zuläs- dere Herausforderung dar, betont auch Pfarrer Maic sige Obergrenze.“ Dazu kämen Teamwochenenden und Zielke: „Ob Feuer, Amoklauf oder Gewalt – Feuerwehr -trainings, eine Supervision pro Monat und Polizei, das sind Berufe, die ein Funktionieren auch sei obligatorisch. in Extremsituationen erfordern. Sie gehen da rein, wo So stellt die ehrenamtliche Tätig- andere weggehen.“ Danach ein Gespräch zum Auf- keit auch zeitlich eine Herausfor- arbeiten zu suchen, sei kein Zeichen derung dar. Im Schnitt bleiben die von Schwäche, sondern zeuge von Aktiven drei bis vier Jahre dabei. Professionalität und mutiger Dann dominieren oft andere Pri- Selbstvorsorge. oritäten: Karriere, Familiengrün- | Michael Siano 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 13
Botschafter der Versöhnung sein Konflikte zu befrieden, Brücken zu bauen und Möglichkeiten zur Versöhnung zu schaffen ist das Anliegen von Altbischof Christian Krause. Auch im Ruhestand ist er nach wie vor als Berater in internationalen und ökumenischen Zusammenhängen tätig. Im Interview mit den „Evangelischen Perspektiven“ blickt er auf ein bewegtes Leben zurück. Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches gab es für mich kein unpolitisches Deutschland“, sagt Altbischof Krause. Evangelische Perspektiven: Herr Landesbischof, Ihr Dr. h.c Christian Krause Leben ist bis heute von einer großen Internationalität Dr. h.c. Christian Krause war von 1994 bis 2002 geprägt. Wie ist diese Prägung entstanden? Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landes- Landesbischof i.R. Dr. h.c. Christian Krause: Vermut- kirche in Braunschweig und bis 2005 Aufsichtsrats- lich hat das etwas mit der Zeit zu tun, in der ich aufge- vorsitzender des Evangelischen Entwicklungsdienstes wachsen bin. Ich bin im Krieg geboren und habe die Nach- (EED). Von 1997 bis 2003 amtierte er als Präsident des kriegszeit bewusst erlebt. Wir waren Flüchtlinge und in Lutherischen Weltbundes (LWB). Von 1985 bis 1994 Göttingen zwangseingewiesen. Ich erlebte die Enge und war er Generalsekretär des Deutschen Evangelischen entwickelte eine Sehnsucht nach Weite. Das fing schon Kirchentages (DEKT). Davor wirkte er als Oberkirchen- damit an, dass ich 1961 mit meiner Vespa von Göttingen rat bei der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kir- nach Athen gefahren bin. Später habe ich als Student in che Deutschlands (VELKD) sowie in der Leitung des Heidelberg ein Fulbright-Stipendium erhalten, das mich Flüchtlingsdienstes des LWB in Dar-es-Salaam (Tan- 1962 nach Chicago brachte. Vor allem die Zeit in den USA sania). Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehört hat meine Leidenschaft für Internationales und Grenz- der „Orden der Gefährten von Oliver R. Tambo“ (2009), überschreitendes verstärkt. die höchste Ehrung, die Ausländer von der Republik Südafrika erhalten können. Im Jahr 2001 zeichnete Was hat Sie damals besonders fasziniert? ihn Bundespräsident Johannes Rau mit dem Gro- Amerika hat mich stark verändert. Ich habe die Weite ßen Verdienstkreuz mit Stern aus. 1999 verlieh ihm des Landes und die Vielfalt der Kulturen kennengelernt. die Comenius-Universität in Bratislawa (Slowakische Auch die Vielfalt der Religionen und Kirchen. Plötzlich war Republik) die Ehrendoktorwürde. Von katholischer nichts mehr vergleichbar zu meinem vorherigen Leben. Seite wurde er 2006 im Dom zu Aachen mit dem Klaus- Ich wurde externer Dolmetscher für den Ökumenischen Hemmerle-Preis geehrt. Sein 80. Geburtstag ist am 6. Rat der Kirchen (ÖRK) und konnte 1963 erstmals bei einer Januar 2020. Konferenz in Rochester mitarbeiten. Dadurch öffnete sich die Welt für mich noch weiter. Durch die Verbindung zum ÖRK erhielt ich ein Forschungsstipendium in Genf. Dort 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 14
Interview spannende politische Zeit. Es war die nachkoloniale Phase. Viele afrikanische Länder waren erst in den 1960er Jahren unabhängig geworden. Und Tansania wurde von einem Präsidenten geführt, der für mich ein politisches Idol war: Julius Nyerere. Trotz der großen Armut im Land hatte es unter seiner Führung weder Bürgerkriege noch Korruptionsskandale gegeben. Das sah in anderen Län- dern Afrikas anders aus. Für den Lutherischen Weltbund war ich dort für Flüchtlinge aus den Nachbarländern tätig. Ich musste sowohl mit den Befreiungsbewegungen ver- handeln als auch mit den Regierungen. Da war politi- sches Handeln zwangsläufig, wenn man helfen wollte. Wie sah das konkret aus? Zum Beispiel Nord-Mosambik. Dort brannten die Kolonialmächte die Ernte auf den Feldern nieder, wenn sie in der Gegend Guerillakämpfer vermuteten. Mit der Folge, dass viele Menschen keine ausreichende Versor- „Foto: Klaus G. Kohn gung hatten. Da war es unsere Aufgabe, durch Verhand- lungen zu ermöglichen, dass Saatgut geliefert werden konnte, damit Menschen nicht fliehen mussten, sondern in ihrer Heimat bleiben konnten. Das Entscheidende war stets, die Verhältnisse und die Menschen zu verstehen. Diplomatie bedeutet erst einmal zuhören. Und dann gilt es, unter den jeweiligen politischen Bedingungen das Notwendige und Mögliche zu tun. bin ich später ordiniert worden, obwohl ich im Studium kein besonderes Berufsziel vor Augen hatte. Ich wollte „Ich war entschlossen mitzuhelfen, einfach mehr über Gott wissen. vor dem Ende des Millenniums Schon früh war Ihre theologische eine politische Exis- einen Jahrhunderte alten Streit tenz. Was hat Sie bewogen, diese enge Verbindung von zu beenden.“ Theologie und Politik zu suchen? Nach den Erfahrungen des Krieges und des Dritten Internationalität heißt in kirchlicher Perspektive Öku- Reiches gab es für mich kein unpolitisches Deutschland. mene. Vor allem als Präsident des Lutherischen Welt- Und je länger desto mehr wurde mir klar, dass dieses bundes haben Sie hier Akzente gesetzt. Unter anderem Land, in dem derartige Ungeheuerlichkeiten geschehen vor 20 Jahren bei der Unterzeichnung der Gemeinsamen waren, auch mein Land ist. Außerdem fiel der Aufenthalt Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Welche Bedeutung in Amerika in eine hochpolitische Zeit, geprägt von Ras- messen Sie der Erklärung im Rückblick zu? senunruhen und der Bürgerrechtsbewegung um Martin 1997 wurde ich in Hongkong überraschend zum Präsi- Luther King. Da konnte ich die Bedeutung des Engage- denten des Lutherischen Weltbundes gewählt. Die Öku- ments für Frieden und Gerechtigkeit aus christlicher Ver- mene war für mich stets präsent gewesen im Zusam- antwortung hautnah erleben. So hat die Frage nach Gott menleben mit Christen verschiedener Kirchen. Aber nun für mich schon früh eine hohe gesellschaftliche Rele- hatte ich es mit einer besonderen Frage zu tun, nämlich vanz gehabt. mit dem Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche, zu der ich vorher kaum Kontakt hatte. Was mich auch hier Vor allem Afrika hat für Sie in der Folgezeit eine ent- besonders bewegt hat, war der Versuch, leidvolle Ausei- scheidende Rolle gespielt. 2009 haben Sie den höchsten nandersetzungen zu beenden. Was sich damals eröffnete, Orden erhalten, den die Republik Südafrika Ausländern war eine Chance auf Aussöhnung zwischen den Konfes- verleiht. Wie hat Afrika Sie geprägt? sionen, die Öffnung hin zu einem gemeinsamen Chris- In einem fremden, ganz anderen Umfeld tätig zu wer- tusbekenntnis. Ich war entschlossen, diese Chance nicht den, hat mich gereizt. Außerdem gab es auch hier eine zu verspielen und vor dem Ende des Millenniums mitzu- 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 15
helfen, einen Jahrhunderte alten Streit zu beenden. Die- katholischen Partner. Hinzu kommt, dass Lutheraner und ses Anliegen habe ich mit Papst Johannes Paul II. geteilt. Katholiken eigentlich viel verbindet. Martin Luther war ja Dass es gerade in Deutschland vor allem von evangeli- ein katholischer Theologe. Viele Katholiken betrachten schen Theologen kritisiert wurde, fand ich bedauerlich. ebenso wie Lutheraner die Kirchenspaltung in Folge der Weltweit jedenfalls hat die Gemeinsame Erklärung viel Reformation als Tragik. So spielt gerade der Dialog mit Unterstützung erfahren. den Lutheranern für den Vatikan eine wichtige Rolle. Es ist ja auch bemerkenswert, dass Papst Franziskus 2016 zum 500-jährigen Gedenken an die Reformation nach Lund gereist ist, um dort im Dom, wo der Lutherische Weltbund einst gegründet wurde, einen gemeinsamen Gottesdienst mit den lutherischen Kirchen der Welt zu feiern. Welche Bedeutung messen Sie der lutherischen Stimme im Konzert der anderen ökumenischen Akteure bei? Wenn es um das gemeinsame Bekennen geht, spielt die lutherische Stimme eine erhebliche Rolle. Es stimmt ja nicht, wie gelegentlich vor allem in Deutschland behauptet wird, dass das Bekenntnis abgrenze und den Konfessionalismus fördere. Wenn wir eine ökumenische und internationale Perspektive einnehmen, ist genau das Gegenteil der Fall. Wo stehen wir heute im ökumenischen Gespräch? Wir sind deutlich vorangekommen, nicht zuletzt auf der Ebene der Gemeinden. Hier ist das Miteinander stark gewachsen, was sehr erfreulich ist, weil es in Deutsch- „Foto: Klaus G. Kohn land ja etwa gleich viele Katholiken und Evangelische gibt. Allerdings muss man auch feststellen, dass es im ökume- nischen Dialog nach wie vor Machtfragen gibt. Die sind für die römisch-katholische Kirche schwerer aufzugeben als für die evangelische. Was ich vor allem bedauere, ist, dass es von Seiten der katholischen Kirche kaum Bewe- Welche Wirkung hat sie in den vergangenen 20 Jahren gung in Richtung einer Gastfreundschaft beim Abend- entfaltet? mahl gibt. Als Evangelische sind wir davon überzeugt, Inzwischen haben sich weitere Konfessionsfamilien dass Christus der Gastgeber beim Abendmahl ist und der Gemeinsamen Erklärung angeschlossen: die metho- nicht die Institution Kirche. distische und die anglikanische Weltgemeinschaft, auch die Reformierten. Die Erklärung hat zu einer Neugestal- „Der Kirchentag ist nicht ein Tag der tung der Ökumene geführt. Entscheidend geworden ist der Bezug auf das gemeinsame Bekennen, das im Mit- verfassten Kirche, sondern das telpunkt der Erklärung steht. Wenn irgendetwas nottut Parlament des Kirchenvolkes.“ in unserer Zeit, dann ist es ja genau das, dass sich die Christenheit mit einer Stimme zu Christus bekennt und Von 1985 bis 1994 haben Sie als Generalsekretär den danach handelt. Deswegen ist die gemeinsame Erklärung Deutschen Evangelischen Kirchentag als protestanti- zur Rechtfertigungslehre für mich eine Erfolgsgeschichte. sche Laienbewegung profiliert. In jüngerer Zeit scheint der Schulterschluss zwischen Kirchentag und verfass- Sie pflegen bis heute enge Kontakte zur römisch-katho- ter Kirche größer geworden zu sein. Welche Entwick- lischen Kirche. Welchen Stellenwert misst der Vatikan lung sehen Sie derzeit? dem Gespräch mit den lutherischen Kirchen bei? Der Kirchentag ist in der Tat stark von den Kirchen- In einem Dialog muss jeder wissen, wer er selber leitungen übernommen worden. Gerade in der media- ist. Das lutherische Bekenntnis ist das Erkennungszei- len Öffentlichkeit. Oft wird der Ratsvorsitzende der EKD chen einer weltweiten Kirche. Das schätzen die römisch- eher zu Angelegenheiten des Kirchentages gefragt als die 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 16
Interview Kirchentagsleute selber. Das ist nach meinem Dafürhalten eine Lose-lose-Situation für beide Seiten. Inwiefern? Der deutsche Protestan- tismus braucht eine starke Laienbewegung für den öffentlichen Diskurs. Es müssen nicht ständig Kir- chenfunktionäre auftreten, um die Lage zu beurteilen. Über den Schlussgottes- dienst 2017 in Wittenberg war ich in dieser Hinsicht etwas erschrocken. Dort waren fast nur Bischöfe am Werk. Der Kirchentag ist aber nicht ein Tag der verfassten Kirche, sondern der Kirchentag ist „Foto: Klaus G. Kohn das Parlament des Kirchen- volkes. Dahin sollte er stär- ker zurückfinden. Welche Bedeutung messen Sie den kirchlichen Institutionen bei? hingegen für vieles geeignet, aber kaum für Reformen, Wir sollten viel stärker lernen, unseren Glauben viel- sofern wir an geistliche Aufbrüche oder inhaltliche Fra- gestaltig zu leben. Das Christsein ist nicht mehr durch gen der Neugestaltung denken. Die Institution hat andere irgendwelche Institutionen einzufangen. Die Kirchen Aufgaben: Sie kann vor allem die Kontinuität wahren und müssen ihre Rolle für Deutschland und Europa und im die Infrastruktur für freies christliches Leben bereithal- globalen Zusammenhang neu definieren. Es reicht nicht ten. mehr, immer wieder nur auf sinkende Mitgliederzahlen zu starren und Strukturen um- und abzubauen. Wir müs- Zeitansage aus christlicher Perspektive gehörte stets zu sen stärker darüber nachdenken, was die Institutionen Ihrem Kennzeichen. Welche Herausforderungen sehen sinnvollerweise leisten können und was nicht und wie Sie heute im Jahr 2019? die vielfältigen geistlichen Laienbewegungen neue Auf- Wir haben es noch immer nicht geschafft, den fun- brüche ermöglichen. damentalen Umbruch von 1989 ausreichend zu gestal- ten. Das merken wir gerade in dieser Zeit 30 Jahre nach Welche Erfahrungen haben Sie als Landesbischof in dem Mauerfall. Wir stellen fest, dass viele auf der Stre- Braunschweig bei der Umgestaltung der Institution cke geblieben sind und sich nicht ausreichend beachtet Kirche gesammelt? fühlen. Wir lernen, dass es eben nicht nur um das neue Eines ist meines Erachtens sicher: Es wird sich alles Auto geht und fühlen uns an die Christusfrage erinnert: radikal und dramatisch verändern. In wenigen Jahren Ist das Leben nicht mehr? Deswegen halte ich es für ent- wird die Welt völlig anders aussehen. Auch hier bei uns scheidend, dass wir uns um Versöhnung kümmern, um in Deutschland und auch in der Kirche. Sowohl durch die eine versöhnte Verschiedenheit im öffentlichen Leben der technischen als auch die gesellschaftlichen Entwicklun- vielen Kulturen. Wir müssen aufeinander zugehen, die gen. Wir sollten uns darauf einstellen, dass Menschen Räume öffnen, einander einladen. Dabei können die Kir- sich zunehmend in Gruppierungen zusammentun und chen einen entscheidenden Punkt christlicher Verkündi- darin auch geistliche Gemeinschaft finden. Die positive gung zur Sprache bringen, indem sie der Ermutigung des Mitgliederentwicklung vieler Freikirchen zeigt ja auch in Apostels Paulus aus dem zweiten Korintherbrief folgen: eine solche Richtung. Sie sind in der Lage, der Sehnsucht So seid ihr nun Botschafter der Versöhnung an Christi vieler Menschen zu entsprechen. Die Landeskirchen sind statt! | mic 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 17
Der englische Patient Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union könnte zum Zerfall des Vereinigten Königreiches führen, sagt Nicholas Baines, Bischof von Leeds und Mitglied im House of Lords. Die Abstimmung für den Brexit habe wenig mit der EU, aber viel mit innerbritischen Konflikten zu tun. Wir dokumentieren zentrale Passagen seiner Rede, die er beim Parlamentarischen Abend der Kon föderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen am 24. Oktober in Hannover gehalten hat. und der „Wille des Volkes“ befolgt werde. Erst als das Ergebnis in die “falsche” Richtung lief, wurde den Men- schen klar, dass in einem parlamentarischen System ein Referendum nur beratend sein kann und die Antwort auf die Frage keinen Hinweis darauf gibt, was „Verlassen der EU“ in der Praxis bedeuten könnte. Das Parlament hat die Verantwortung, nach bestem Wissen und Gewissen Gesetze im besten Interesse des Landes zu erlassen. Aber was passiert, wenn dies der im Referendum getroffenen Wahl widerspricht? Deshalb sind wir in einem Durcheinander. Es ist wichtig zu erkennen, dass der Brexit im Wesent- lichen ein englisches und kein britisches Problem ist. Ein berühmter englischer Journalist schrieb vor zwan- zig Jahren ein Buch mit dem Titel „The English“. Jeremy Paxman erklärt an einer Stelle, dass ein wesentliches Element der irischen oder schottischen oder walisischen Identität darin bestehe, dass ich „nicht englisch“ bin. Aber es ist sinnlos, wenn ein Engländer sagt: „Ich bin kein Schotte.“ Die Schotten haben ein Parlament, die Waliser eine Versammlung, die Iren auch eine Ver- Foto: epd-bild/Friedrich Stark sammlung. Und die Engländer? Nur Westminster. Die letzten drei Jahre haben den Walisern, Schotten und Iren gezeigt, dass die Engländer sich nicht um sie kümmern. Umfragen zeigen, dass die Brexiteers bereit sind, das Ende der Union als geringen Preis für den Brexit zu „Der Brexit hat tiefe Spaltungen in der britischen Gesellschaft sehen. Es ist durchaus möglich, dass der Brexit zu einem aufgedeckt“, sagt Nicholas Baines, Bischof von Leeds. vereinigten Irland und einem unabhängigen Schottland führen wird. Außerdem war der Brexit immer ein Versuch der Konservativen Partei, ein internes Problem zu lösen. Die britische Demokratie wird in einem System parla- Die EU-Frage hat die Partei jahrzehntelang geteilt, und mentarischer Demokratie ausgeübt. Dieses System hat keine der beiden Hauptparteien hat sich jemals für die keinen Platz für Volksabstimmungen. Es ist problema- EU eingesetzt. tisch, dass Politiker aller Parteien vor dem Referendum Es gibt das Argument, dass die EU als eine politi- im Juni 2016 versprachen, dass das Ergebnis gewürdigt sche Union in Großbritannien niemals ehrlich anerkannt 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 18
Dokumentation Reportage wurde - was zu wachsendem Ressentiment und nach- Nach 1945 mussten sich die Deutschen mit ihrer lassendem Vertrauen unter Politikern und Institutio- Geschichte, Identität und ihren Fehlern auseinander- nen geführt hat. Aber es bleibt wahr, dass viele Men- setzen. Die Briten mussten das noch nie. Wir werden es schen in Großbritannien glauben, dass der Brexit eine jetzt tun müssen. Ich stimme mit der Philosophin Susan Tory-Lösung für ein Tory-Problem ist, um den Tories zu Neiman überein, die in ihrem neuen Buch „Learning ermöglichen, an der Macht festzuhalten. from the Germans“ (Von den Deutschen lernen) schreibt: Darüber hinaus hat der Brexit tiefe Spaltungen in der „Nostalgische Sehnsüchte nach Imperium und Senti- britischen Gesellschaft aufgedeckt. Der Brexit hat sie mentalismus im Zusammenhang mit dem Zweiten Welt- aber nicht erschaffen. Der neoliberale Globalisierungs- krieg weisen nicht nur auf außergewöhnliche Mängel traum ließ viele Gebiete des Landes und viele Akteure des öffentlichen Gedächtnisses in Großbritannien hin, mit dem Gefühl zurück, dass sie übersehen, vergessen sondern auch auf die Unfähigkeit, mit der Geschichte reif oder ignoriert seien. Die ärmsten Gebiete des Verei- zu rechnen.” Neil MacGregor hat gesagt: „Die Deutschen nigten Königreichs haben für den Austritt aus der EU nutzen ihre Geschichte, um über die Zukunft nachzu- gestimmt, obwohl sie über vier Jahrzehnte hinweg in denken, während die Briten ihre Geschichte nutzen, um hohem Maße von EU-Subventionen und Projektfinan- sich zu trösten“. zierungen profitiert haben. Warum? Einige sagen, dass das Leben für sie nicht schlimmer werden kann. Warum also nicht die Gele- „Deutschland und Europa haben viele genheit ergreifen, gegen die Politiker zu treten? Dies Freunde in Großbritannien und wir wurde von denjenigen ausgenutzt, die sich als „gegen die Eliten und gegen das Establishment“ positionieren brauchen ihre Freundschaft, um eine - obwohl die meisten von ihnen wohlhabend, privilegiert andere Zukunft zu gestalten.“ und von keinem durch den Brexit verursachten Schaden betroffen werden. Das Problem besteht darin, dass die EU nicht für die Die Europäer sollten sehen, dass fast die Hälfte der Dinge verantwortlich ist, gegen die gestimmt wurde. Wähler für einen Verbleib in der EU gestimmt hat - und Deshalb wird die Operation des Brexit die Krankheit auch dass die Verbundenheit mit der EU seit dem Refe- nicht heilen oder das Leben der Menschen verbessern. rendum gewachsen ist. Deutschland und Europa haben Nicht zuletzt hat der Brexit nicht nur das Vertrauen viele Freunde in Großbritannien und wir brauchen Ihre in unsere Institutionen und Politiker beschädigt. Die Freundschaft, um eine andere Zukunft zu gestalten. Rechtsstaatlichkeit wurde von einer Regierung bedroht, Ich denke (aber ich könnte mich irren), dass die Union die vom Supreme Court für schuldig befunden wurde, nicht lange überleben wird. Alles deutet darauf hin, dass gegen das Gesetz verstoßen zu haben. In der Vergangen- Schottland jetzt für die Unabhängigkeit stimmen würde; heit hätte dies zu einem Rücktritt geführt. Heute aber Irland könnte sich vereinen - etwas, was die IRA in vierzig gibt es keine Schande mehr; und Lügen, Manipulation Jahren Terrorismus und Gewalt nicht erreichen konnte; und falsche Darstellung sind die Merkmale eines poli- sogar Wales spricht von einer Trennung von England. tischen Spiels geworden. Unser öffentlicher Diskurs Wir werden mal sehen. wurde korrumpiert. Schlimmer noch, unsere Abgeord- Niemand kann die Zukunft vorhersagen. Wir erle- neten werden täglich mit Gewalt und Tod bedroht - genau ben heute im Westen einen großen Konflikt zwischen wie ihre Familienmitglieder. dem Liberalismus und anderen Mächten. Der Libera- So werden wir wahrscheinlich die Europäische Union lismus ist in Zukunft keine Selbstverständlichkeit. Die verlassen, aber wir werden Europa nicht verlassen. Kirchen müssen Orte der Begegnung, der Debatte und Unsere starken Verbindungen in ganz Europa werden der Wahrheitsfindung sein, wenn die Welt über Trump in den kommenden Jahren noch wichtiger. Großbritan- und Johnson, Bolsonaro und Orban weiter verhandelt. nien musste sich seit dem Zweiten Weltkrieg nie damit Der Illiberalismus wird die Westeuropäer dazu zwin- abfinden, bloß eine kleine Nordatlantikinsel ohne Impe- gen, die Wurzeln ihrer Annahmen über Menschenrechte rium zu sein. und Verantwortlichkeiten wieder zu entdecken, und das Der Brexit wird das Ende des Mythos vom britischen könnte letztendlich eine gute Sache sein. Imperium bedeuten. Britische Zeitungen und Politiker Foto: Agentur Hübner erinnern sich immer wieder daran, wie wir den Krieg (alleine) gewonnen haben. Endlich müssen wir jetzt mit Den vollständigen Text finden Sie im Internet in der Realität leben und nicht mit romantisierten Erinne- Bischof Baines’ Blog: rungen des letzten Jahrhunderts. https://nickbaines.wordpress.com 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 19
Kindertreff mit Ausstrahlung In Calvörde sorgt ein neuer Verein dafür, dass die „Christenlehre“ fortbestehen kann. In dem kirchlichen Religionsunterricht, der seine Tradition in der DDR hat, macht Gemeindepädagogin Beatrice Trüe Kinder mit dem christlichen Glauben vertraut. Foto: Agentur Hübner 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 20
Reportage Beatrice Trüe lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Sie sitzt in der ersten Bank der St.- Georgs-Kirche in Calvörde und übt voller Geduld mit einigen Kindern die Geschichte vom Heiligen Martin. Doch das ist nicht so einfach. „Oje, da hat einer den Text nicht gelernt“, seufzt die Gemeindepädagogin und wiederholt eine Passage erneut. Bei anderen Kindern klappt es umso besser. Etwa bei der zehnjährigen Matilda. Sie steht souve- rän auf der Kanzel und liest ihren Text fast fehlerfrei vor. Beatrice Trüe ist zufrieden. Die 46-jährige unterrichtet in dem Ort nordwestlich von Haldensleben in Sachsen- Anhalt Christenlehre, einen kirchlichen Religionsunter- richt, der hier seit 1946 angeboten wird und in der ehe- maligen DDR oft die einzige Alternative zu staatlichen Angeboten war. Doch im November lief die Stelle der Gemeindepäda- gogin aus, und so haben engagierte Calvörder den „Ver- ein zur Förderung der gemeindepädagogischen Arbeit – Christenlehre“ gegründet. Mithilfe von Mitgliedsbeiträ- gen, mit Spenden und Fördermitteln wollen sie Beatrice Trüe weiter beschäftigen, zumindest für zehn statt der bisherigen fast 20 Wochenstunden. Denn die Christen- lehre ist bei den mehr als 1000 Mitgliedern des Pfarr- verbandes beliebt – bei den Eltern und den Kindern. „Das ist so cool hier, einfach toll“, schwärmt die elf- jährige Marla, die gemeinsam mit ihren Freundinnen Juliette, Melina und Arwen auf einem Matratzenlager im angrenzenden Gemeindehaus rumlümmelt und Kekse knabbert. Für die Mädchen ist die Christenlehre ein beliebter Treffpunkt. Sie singen, spielen und basteln zusammen, sie hören biblische Geschichten und können das erzählen, was sie bedrückt. „Es zählt nicht die Leistung, sondern das Miteinander.“ Fotos (2): Agentur Hübner „Bea behält alles für sich“, sagt Melina, „sie hört zu, wenn man traurig ist.“ Die Seelsorge ist Beatrice Trüe ganz wichtig. Oft, sagt sie, erzählten die Mädchen und Jungen erst zwischen Tür und Angel, was sie beküm- mert. In den Gruppenstunden will die Gemeindepäd- Die Christenlehre – ein beliebter Treffpunkt für Kinder in agogin christliche Werte vermitteln, die Kinder lernen Calvörde; zum Singen und Spielen, aber auch, um etwas einander zuzuhören, etwas zu teilen und andere wert- über den christlichen Glauben zu lernen. zuschätzen. Und noch etwas liegt ihr am Herzen: „Hier braucht an drei Tagen pro Woche, für die Erst- und Zweitkläss- niemand Angst vor schlechten Noten zu haben. Es zählt ler, die Zweit- und Drittklässler und für die Fünft- und nicht die Leistung, sondern das Miteinander. Und jeder Sechsklässler – unabhängig von der Konfession. soll sich angenommen fühlen.“ Zwei Gruppen finden in den Dörfern Uthmöden und Rund 60 Kinder besuchen derzeit die Christenlehre in Jeseritz statt. Darüber hinaus sind die Teilnehmer der Calvörde, allerdings mit einer geringeren Stundenzahl. Christenlehre bei besonderen Ereignissen präsent, bei Bis November gab es das nach Alter gestaffelte Angebot Familiengottesdiensten, bei den Gottesdiensten für die 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 21
Fotos: Agentur Hübner Mit Begeisterung sind die Kinder bei der Sache: Probe zur Aufführung eines Anspiels über St. Martin. Schulanfänger, bei Kinderfesten, beim Martinsumzug Jochen Meißner-Warnecke, Propsteidiakon in Vorsfelde und dem Martinsfest und natürlich zu Weihnachten mit und Vorsitzender des neu gegründeten Vereins. Vakant einem Krippenspiel. sind jedoch die anderthalb Pfarrstellen für den Pfarr- „Es ist ganz wichtig, dass die Arbeit weitergeht“, verband Calvörde-Uthmöden mit seinen sieben Kirchen betont Karola Fricke, stellvertretende Vorsitzende des und einer Predigtstätte in Schloss Dorst. Vereins und Mutter der neunjährigen Marie, „sonst sind Für Meißner-Warnecke und den gesamten Vorstand bald keine Leute mehr in der Kirche.“ war die Vereinsgründung Neuland. „Wir mussten uns Auch für Katrin Gödicke, die gemeinsam mit ihren komplett in das Thema einarbeiten“, erzählt Nadine Töchtern Matilda (10) und Leni (7) das Spiel vom Heili- Rook, die sich ebenfalls für den Verein stark macht. gen Martin mit einübt, ist die Fortführung ein Herzens- Nachdem sich bei einer ersten Informationsveranstal- wunsch: „Wir alle sind mit der Christenlehre groß gewor- tung 30 Teilnehmer für eine Fortführung der Christen- den, das hat uns geprägt.“ lehre ausgesprochen haben, mussten sich die Initiatoren mit Vereinsrecht und Beitragssatzungen auseinander- „Die Christenlehre verbindet setzen, mussten Förderanträge stellen, Projektbe- schreibungen, Finanzierungspläne und Präsentationen Menschen untereinander und mit erarbeiten, um ihr Anliegen vorzustellen. der Kirche.“ „Wir strecken unsere Fühler in alle Richtungen aus“, sagt Nadine Rook. Darüber hinaus werben die Mitglieder Sie erinnert sich an Fahrten und Ferienfreizeiten, an bei den Calvördern für ihr Anliegen. „Viele sind von unse- die Zusammengehörigkeit und die Gemeinschaft. „Vor rem Engagement begeistert“, erzählt Nadine Rook. So allem in der Pubertät hat die Christenlehre den Jugend- kommen dem neuen Verein nicht nur Kollekten zugute, lichen Halt gegeben.“ In der DDR war der Besuch nicht sondern auch private Spenden. immer einfach, doch im ländlich strukturierten Calvörde Und auch die Zahl der Vereinsmitglieder ist auf fast hätten fast alle Kinder aus Katrin Gödickes Klasse das 50 gestiegen. Beatrice Trüe hat die Hoffnung nicht auf- kirchliche Angebot wahrgenommen. gegeben, dass das Angebot erhalten bleibt: „Ich sehe Und die ehemaligen Teilnehmer der Christenlehre das positiv. Es sind so viele Menschen, die hilfreich und fühlen sich der Kirche noch heute verbunden. So gibt es auch betend dabei sind.“ | Rosemarie Garbe in Calvörde nicht nur eine Frauenhilfe und einen Frau- entreff, sondern auch einen Kreis von jüngeren Frauen, die früher zur Christenlehre gegangen sind, berichtet www.propstei-vorsfelde.de 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 22
Nachgefragt „Was ändert sich für die Kirche bei der Umsatzsteuer?“ Eine Antwort von Jonas Babke, Projektleiter Umsatzsteuer, Referat Gemeindefinanzen, Landeskirchenamt Wolfenbüttel Die kirchlichen Körperschaften (Kirchengemeinden, Propsteien, Kirchengemeinde- verbände, Kirchenverbände, Propsteiverbände und die Landeskirche) wurden bisher nur im Rahmen ihrer Betriebe gewerblicher Art (zum Beispiel kirchliche Friedhofs- gärtnereien oder Dritte-Welt-Läden) als umsatzsteuerpflichtiger Unternehmer ange- sehen. Jedoch waren auch kirchliche Betriebe gewerblicher Art mit Umsätzen unter 35.000 Euro jährlich von der Umsatzsteuerpflicht befreit. Diese Möglichkeit besteht aufgrund europarechtlicher Vorgaben ab dem Jahr 2021 nicht mehr. Künftig sollen Wettbewerbsverzerrungen in Bezug auf Leistungen, die Fotos: Privat auch von privaten Unternehmern erfolgen, vermieden werden. Sofern kirchliche Kör- perschaften Einnahmen auf privatrechtlicher Grundlage erzielen – unabhängig davon, ob sie damit einen Gewinn erwirtschaften –, gelten sie als Unternehmer und müssen ihre Umsätze den Regelungen des Umsatzsteuergesetzes unterwerfen. Die Neuregelung bedeutet, dass in vielen Bereichen künftig die eigentliche Leis- tung (Bratwurst-, Kaffee- und Kuchenverkauf beim Gemeindefest oder der Verkauf von Handarbeiten beim Adventsbasar) zusätzlich mit der Umsatzsteuer kalkuliert, erbracht und an das Finanzamt abgeführt werden muss. Näheres kann einer Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Neuregelung der Umsatzbesteuerung entnommen werden (siehe Internetadresse unten). Darin werden viele kirchenspezifische Fallkonstellationen beispielhaft darge- stellt, an denen erkennbar wird, wo die Neuregelungen die kirchlichen Körperschaf- ten betreffen. Im Landeskirchenamt Wolfenbüttel prüfen Mitarbeitende besondere Fall konstellationen der braunschweigischen Landeskirche. Außerdem werden in Zusam- menarbeit mit den Verwaltungsstellen Verfahren abgestimmt, um in einigen Bereichen die Umsatzsteuer gegebenenfalls vermeiden zu können. Positiv stimmt, dass zahlreiche kirchliche Rechtsträger von der sogenannten Klein- unternehmerregelung Gebrauch machen können, wonach eine Körperschaft, deren Jahresumsätze unter 17.500 Euro liegen, sich dem Finanzamt gegenüber erklären, die Steuer aber nicht abführen muss. www.kirchenfinanzen.de/download/Handreichung-paragraf-2b-UStG.pdf 4 | 2019 Evangelische Perspektiven | 23
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