Faschismus und Moderne - Gesellschaftspolitik in Italien und Deutschland 1. Faschismus und Moderne
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CHRISTOF DIPPER Faschismus und Moderne Gesellschaftspolitik in Italien und Deutschland 1. Faschismus und Moderne 1965 provozierte Ralf Dahrendorf das deutsche Publikum mit der paradoxen These, es sei gerade der große Erfolg der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen, der – selbstverständlich unabsichtlich – der Moderne in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vollends die Tür geöffnet habe1. Wenn diese These inzwischen weithin anerkannt ist, so gilt das in erster Linie hinsichtlich ihrer Erklärungskraft für die so auffallende Dynamik der westdeutschen Ge- sellschaft nach 19452. Darum ging es Dahrendorf letzten Endes auch, der gleichwohl Bemerkenswertes zur gesellschaftlichen Entwicklung im NS-Staat zu sagen wußte. Hierin jedoch sind ihm die deutschen Historiker nur zögernd gefolgt, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen finden sie für die von Dah- rendorf behauptete »soziale Revolution« kaum Belege, zum anderen können sie dem Thema Moderne überhaupt wenig abgewinnen. Entsprechend unsicher sind sie daher vielfach bei der Frage nach dem Zusammenhang von Faschismus und Moderne, die sie lieber tabuisieren als sich ernsthaft damit zu befassen. In Italien ist das anders, was nicht nur mit dem unterschiedlichen Ausmaß der von beiden Regimen begangenen Verbrechen zu tun hat. Man benutzt dort den Begriff Moderne viel unbefangener als im deutschen (oder angelsächsi- schen) Sprachraum, seit den achtziger Jahren sogar bei der politischen Linken, wie schon Tim Mason irritiert feststellen mußte3. Als Grund dafür vermutete er das tief verwurzelte Bewußtsein der Italiener, in einem rückständigen Lande zu leben, und man könnte in der Tat darauf verweisen, daß der italienische Nationalstaat seine Existenz von Anfang an mit der Notwendigkeit begründe- 1 Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. Hans- Ulrich Wehler (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 794), der diese The- se ausführlich diskutiert und prüft, spricht am Ende von »fortdauernder Überzeugungskraft«. Dem wird entgegengehalten, daß die wesentlichen Faktoren der Modernisierung gerade aus dem Zusammenbruch des Dritten Reichs hervorgegangen sind: aus Kriegsverlusten namentlich bei den Eliten, Flucht und Vertreibung. Ich danke Ute Schneider (Essen) und Martin Vogt (Darm- stadt) für hilfreichen Rat. Das Manuskript wurde 2006 abgeschlossen. 2 Das gilt aus naheliegenden Gründen auch für Österreich, wird dort aber eher noch weniger diskutiert als hierzulande. Stichworte zur »regressiven Modernisierung«, der sogenannten Ost- mark bei Ernst Hanisch, Von der Opferzählung zum schnellen Moralisieren. Interpretationen des Nationalsozialismus in Österreich, in: GuG 31 (2005), S. 255-265, hier S. 259 ff. 3 Vgl. Tim Mason, Italy and Modernisation: A Montage, in: History Workshop 25 (1988), S. 127- 147, hier S. 128 und S. 131 ff. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
50 Christof Dipper te, diese Rückständigkeit zu überwinden – auch um endlich zu den Großmäch- ten aufzuschließen. Jeder, der dazu beitrug, war willkommen, und wer wollte leugnen, daß dem Italien Mussolinis beides gelungen ist: ein gewaltiger Schritt in die Moderne und die – zumindest partielle – Anerkennung als Großmacht? Der Begriff der Moderne ist anfällig für emphatischen Gebrauch. Dies zeigt seine Bedeutungsgeschichte seit der Aufklärung, und dies ist der entscheiden- de Grund, weshalb so viele von Moderne nicht sprechen wollen, wenn es um den Faschismus geht. Die Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte hat aber gezeigt, daß es nicht nur möglich, sondern sinnvoll, ja geboten ist, Moderne und Faschismus in engem Zusammenhang zu sehen. Dazu hat insbesondere die schmerzliche Einsicht beigetragen, daß der Holocaust in aller seiner Bar- barei durchaus zur Moderne gehört. Im Anschluß an Zygmunt Bauman, der sich dieses Themas besonders angenommen hat, gilt sie heute als unvermeidlich ambivalent4, so daß man von Spielarten der Moderne sprechen kann, von denen die faschistische oder »barbarische« Moderne eine ist. Diese wie- derentdeckte Ambivalenz öffnete den Blick für den Zusammenhang von Krise, Krisenwahrnehmung und Moderne, den es nicht nur im Falle des Faschismus gibt, wo er aber besonders evident ist. Deshalb muß nun von Modernisierung gesprochen werden. Dieses aus den Sozialwissenschaften stammende Konzept postuliert verallgemeinerbare Ent- wicklungsrichtungen der Gesellschaft und versucht, die einzelnen Schritte dieses Prozesses zu beschreiben, zu messen und im Idealfall sogar anzustoßen. Als entwicklungsoptimistischer Theorie fehlt ihr naturgemäß jeglicher Vorbe- halt und erst recht jede Ambivalenz, und das machte sie angreifbar, als der Diskurs über die Moderne seine Naivität abzulegen begann. In Deutschland ließ sich das besonders gut bei dem von Michael Prinz und Rainer Zitelmann verantworteten Sammelband »Nationalsozialismus und Modernisierung« be- obachten, der eine polemische Debatte auslöste, weil die Herausgeber den wertbesetzten Begriff Modernisierung für das Dritte Reich in Anspruch ge- nommen hatten, ohne die üblichen und unverzichtbaren Einschränkungen hinzuzufügen, im Gegenteil5. In diesem Beitrag kommt dagegen ein streng analytischer Begriff von Modernisierung zum Tragen, der außerdem eine po- litische Dimension enthält, indem er Akteure und Intentionen zu benennen und dadurch den mit Recht kritisierten Eindruck zu vermeiden sucht, als sei Modernisierung ein quasi naturgesetzlich verlaufender Prozeß. Der vorliegen- de Aufsatz gilt in erster Linie der politisch gewollten gesellschaftlichen Ho- mogenisierung und der Individualisierung nördlich und südlich der Alpen. Wenn die Moderne ambivalent ist, gibt es kein Hindernis, das Dritte Reich und Mussolinis Italien als modern zu bezeichnen. Das ist schon deshalb ange- 4 Vgl. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, und Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a.M. 1995. 5 Vgl. Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darm- stadt Erstauflage 1991. Die Diskussion rekapituliert ohne Anspruch auf weiterführende Ein- sichten Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003, S. 42 ff. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
Faschismus und Moderne 51 messen, weil beide Regime ganz anders beschaffen waren und sich anders verhielten als autoritäre Herrschaften vom Schlage Francos oder Dollfuß’, von Militärdiktaturen im Stile Metaxas’ oder Horthys ganz zu schweigen. Man denke nur an die erfolgreiche Massenmobilisierung, die Popularisierung von Radio und Film, die Aufwertung der Jugend, die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den Frauen (was nichts mit Gleichberechtigung zu tun hat), die präzedenzlosen Erweiterungen im Bereich von Freizeit und Urlaub, in Italien die Förderung moderner Malerei und Literatur und anderes mehr6. Auch die Institutionen beider Länder brauchten keinen Vergleich mit fortgeschrittenen Ländern zu scheuen. Zum Verständnis der faschistischen Gesellschaftspolitik ist wichtig, daß Ita- lien und Deutschland im 19. Jahrhundert zwei unterschiedliche Wege in die Moderne wählten. Deutschland entschied sich für den Sozial- und Interventi- onsstaat, während Italien dem westeuropäischen Beispiel folgte und den sozi- alen Ausgleich im wesentlichen den Beteiligten überließ. Die Armut des Lan- des und die Schwäche des bürokratischen Apparats hätte gar nichts anders erlaubt. Allerdings erlebte Italien von allen entwickelten Gesellschaften auch die mit Abstand härtesten Klassenkämpfe, welche die Legitimität der politi- schen Ordnung schon vor dem Ersten Weltkrieg erschütterten. Der italienische Faschismus stand deshalb vor einer komplexen Aufgabe: Er hatte nicht nur das Ende der Klassenkämpfe versprochen, sondern aus Großmachtstreben auch eine neue Gesellschaftsordnung und mußte deshalb in kürzester Zeit zum Modell des Interventionsstaats übergehen. Daß die Experten fehlten, erleich- terte den Faschisten das Geschäft, da sie sich nicht wie die Nationalsozialisten nach 1933 mit den mächtigen Apparaten in Ministerien und Sozialkassen aus- einandersetzen mußten. Doch fehlte neben Erfahrung auch das Geld; selbst unter günstigeren Umständen hätte eine Nationalökonomie wie die italienische die ehrgeizigen Programme nicht finanzieren können. Was der faschistische Staat mit der einen Hand gab, mußte er darum zumeist mit der anderen wieder nehmen. Kostspielige Leistungen wurden so zum Problem. Dennoch wagte sich das Regime an große Projekte, wobei die Jugend-, Mittelstands- und in geringerem Umfang auch Frauenpolitik besser sichtbar waren als die aufwen- dige Familienpolitik. Der Nationalsozialismus mußte den Interventionsstaat nicht erst nach Deutschland bringen, er gab ihm allerdings eine andere Richtung und mußte dazu den Widerstand altgedienter Fachleute überwinden. Wie der italienische Faschismus benötigte er ferner für seine machtpolitischen Ziele eine andere Gesellschaft, in die er entsprechend tief eingriff. Hinzu kamen die rassen- politischen Motive, für die anders als in Italien genügend Experten bereitstan- den – ein weiteres Indiz für die größere Modernität Deutschlands, denn der 6 Umfassend dazu Ruth Ben-Ghiat, Fascist Modernities. Italy 1922-1945, Berkeley u.a. 2001, die sich in ihrer Einleitung mit dem Zusammenhang von Faschismus und Moderne befaßt. Vgl. ferner Bruno Wanrooij, Mobilitazione, modernizzazione, tradizione, in: Giovanni Sabbatucci/ Vittorio Vidotto (Hrsg.), Storia d’Italia, Bd. 4: Guerre e fascismo 1914-1943, Rom/Bari 1997, S. 427 ff. Es fällt auf, daß dieses Problem, soweit es um Italien geht, überwiegend von Autoren aufgegriffen wird, die sich mit der Kulturpolitik des Faschismus befassen. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
52 Christof Dipper Rassismus war ein (angeblich) naturwissenschaftlich fundierter Versuch, die Welt besser als bisher zu erklären und diesen Erkenntnissen entsprechend umzubauen7. Die umfassend angelegten gesellschaftspolitischen Pläne wie überhaupt der Ausbau des Wohlfahrtsstaats waren modern. Nicht nur die Verheerungen des Ersten Weltkriegs legten derartige Initiativen nahe, sondern auch manifeste Ungerechtigkeiten, die in der Not der Weltwirtschaftskrise nur noch besser sichtbar wurden, und nicht zuletzt der biomedizinische Fortschritt. Alle ent- wickelten Länder vollzogen deshalb nach 1918 eine Abkehr vom liberalen Modell des freien Spiels der Kräfte, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Daß die faschistischen Regime die radikalsten Eingriffe unternahmen, machte sie teilweise zu unzweideutigen Vorreitern der Moderne. Mittel und Ziele relativieren jedoch sogleich diesen Befund und liefern ein anschauliches Beispiel für das, was man »barbarische« Moderne nennt. Damit sind die gesellschaftspolitischen Felder dieses Aufsatzes bezeichnet. Wenn es um die Frage faschistischer Modernität geht, sind weniger die klassi- sche Sozial- und Lohnpolitik von Interesse, sondern die Bereiche, in denen damals Neuland betreten wurde. Anders als mit dem einleitenden Hinweis auf Dahrendorf vielleicht suggeriert, interessieren dabei nicht so sehr tatsächliche Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit als vielmehr Dimension und Zielrichtung der Vorhaben. Dies ist nicht zuletzt der Überlegung geschul- det, ob die beiden Faschismen nicht ein feineres Gespür für die von der Ge- sellschaft erwarteten Veränderungen als ihre politischen Konkurrenten besa- ßen, eben weil sie moderner waren als diese. 2. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Wenn es richtig ist, daß sich die beiden Diktaturen zunächst erfolgreicher als die politischen Systeme vor ihnen den Erwartungen der deutschen und italie- nischen Gesellschaft stellten, so hat das damit zu tun, daß der Faschismus als junge, neuartige Bewegung weniger auf Traditionen Rücksicht zu nehmen brauchte. Hinzu kommt, daß in beiden Fällen – allerdings mehr noch in Deutschland – die Klassengesellschaft Auflösungstendenzen zu zeigen und man von der Massengesellschaft zu sprechen begann. Zu den wichtigsten Ka- talysatoren dieses Prozesses zählten neben den Erfahrungen gesellschaftlicher Erosion als Folge des Ersten Weltkriegs die modernen Medien. Neue Vorstel- lungen von sozialer Sicherheit, beruflichem Fortkommen und Konsum kamen auf, die sich eindeutig nicht mehr an den Traditionen des 19. Jahrhunderts orientierten. Aus all dem ergaben sich politische Erwartungen, auf die offenbar 7 Vgl. Ulrich Herbert, Rassismus und rationales Kalkül, in: Wolfgang Schneider (Hrsg.), »Ver- nichtungspolitik«. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991, S. 25-35. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
Faschismus und Moderne 53 weder die Rechte noch die Linke angemessen zu reagieren wußten, von den Liberalen ganz zu schweigen. Faschisten und Nationalsozialisten, denen es nicht zufällig erstmals gelang, volksparteiähnliche Organisationen aufzubauen, gingen anders mit diesen Erwartungen um, und sie suchten ihnen besser Rech- nung zu tragen als ihre Gegner. Das blieb oft hinter einer altertümlichen Rhe- torik verborgen, die viel von Volk oder popolo sprach, wenn sie Nation oder Gesellschaft meinte8. Doch die Adressaten störten sich offensichtlich nicht an diesem politisch-sozialen Vokabular, das deutlich hinter der gesellschaftlichen Dynamik zurückblieb, ja sie begrüßten es sogar9. Es muß noch einmal daran erinnert werden, daß die moderne Massengesell- schaft inmitten der Klassengesellschaft entstand und daher in den zwanziger und dreißiger Jahren noch viele Züge jener trug. Dies betraf etwa Einkommens- verteilung und Wohnverhältnisse ebenso wie Daseinsvorsorge oder Aufstiegs- chancen. Aber der Umbruch war nicht zu übersehen. Neu war erstens die Massierung politischer Erfahrungen, die es so und vor allem in dieser Häufung bisher nicht gegeben hatte10. Neu war zweitens der Auftritt zweier Großgrup- pen, die bislang für unmündig gehalten worden waren: die Jugendlichen und die Frauen. Hier hatte man es nicht mit Klassen zu tun, so daß den politischen Repräsentanten einer Klassengesellschaft überzeugende Antworten auf ihre Forderungen fehlten. Sie begriffen auch nicht das dritte Merkmal sozialer Ver- änderungen, die zaghafte Individualisierung, die bisher ein Privileg bürgerlicher Lebensführung war und nur scheinbar im Gegensatz zur Massengesellschaft stand. Verlängerte Adoleszenz, zölibatäre Lebensführung, durch Moden ge- kennzeichnete Gruppenmerkmale und anderes, das den Wunsch nach Befreiung aus bisher allmächtigen Sozialisationsinstanzen erkennen läßt, kam zumindest in den Städten zum Tragen, wo nicht nur die Entfaltungsmöglichkeiten größer waren, sondern auch die Einkommensverteilung ihre hergebrachte Struktur 8 Das scheint besonders erstaunlich für den italienischen Faschismus, der zu einem guten Teil im revolutionären Syndikalismus wurzelte. Den Weg zum sozialen Nationalismus hat schon Erwin von Beckerath (Wesen und Werden des fascistischen Staates, Berlin 1927, Abschnitte IV und V) geschildert. Vgl. Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Itali- en und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 98 ff., und Wolfgang Schieder, Faschis- mus für Deutschland. Erwin von Beckerath und das Italien Mussolinis, jetzt in: ders., Fa- schistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 203-221. Die Antworten der deutschen Soziologie registriert Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 118 ff. 9 Dieses Problem war aber leicht zu beheben, wie man am Wortschatz deutscher Soziologen nachweisen kann, die vor und nach 1945 ihrem Metier nachgegangen sind. Entsprechend be- rechtigt ist die Vermutung, daß die Anfänge der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, von der man in den fünfziger Jahren zu sprechen begann, vor 1945 liegen. Vgl. Hans Braun, Helmut Schelskys Konzept der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und die Bundesrepublik der 50er Jahre, in: AfS 29 (1989), S. 199-223, und Nolte, Ordnung, S. 330 ff. 10 Für die Zeit der Hyperinflation schrieb Sebastian Haffner, der damals 17 Jahre alt war, im Rückblick (Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart/München 92001, S. 61): »Wir hatten das große Kriegsspiel hinter uns, den Schock des Ausgangs, einen sehr desillusionierenden Lehrgang in Revolution und jetzt das tägliche Schauspiel des Zusammen- bruchs aller Lebensregeln und des Bankrotts von Alter und Erfahrung. Wir hatten schon eine ganze Reihe widersprüchlicher Glauben durchgemacht«. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
54 Christof Dipper verlor. Neu war viertens, daß eine wachsende Zahl von Menschen das herr- schende politische und soziale System grundsätzlich als unzeitgemäß ablehnte, und neu waren schließlich fünftens die sich namentlich in den Städten rasch ausbreitenden Konsummuster, die Moderne verhießen und Egalität verspra- chen. Diese Entwicklung war nicht zuletzt den modernen Massenmedien ge- schuldet, zunächst den Illustrierten und dem Stummfilm, dann nach 1930 dem Radio und dem Tonfilm11. Der mediale Einfluß kann schwerlich überschätzt werden, und im Widerstand dagegen waren sich die Gebildeten, die Frommen und die Funktionäre des Proletariats ausnahmsweise einig. Diese Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Es genügt, wenn sie ein Gefühl dafür vermittelt, daß etwas ganz Neuartiges Einzug in die Gesellschaften der Zwischenkriegszeit hielt, auf das die traditionellen politischen Kräfte keine Antwort wußten. Mehr noch: Sie verloren für viele jede Glaubwürdigkeit12. Faschisten und Nationalsozialisten schienen aus anderem Holz geschnitzt und zeigten sich ebenso radikal wie jugendlich. Mussolini war bei seiner Er- nennung zum Ministerpräsidenten im Oktober 1922 39 Jahre alt, von den Quadrumvirn waren Italo Balbo 26, Cesare De Vecchi 38 und Michele Bianchi 39; nur Emilio De Bono, ein ehemaliger hoher Berufsoffizier, stand bereits im 56. Lebensjahr. Dafür zählte Dino Grandi gerade einmal 27 Jahre, während Galeazzo Ciano später mit 32 Propaganda- und mit 33 Jahren Außenminister wurde. Hitler war bei seiner Machtübernahme im Januar 1933 zwar schon 44 Jahre alt, aber mit Abstand der jüngste Regierungschef, den Deutschland bis dahin gehabt hatte. Seine wichtigsten Mitkämpfer waren noch jünger: Göring zählte 40 Jahre, Goebbels 35, Himmler 32. Das Gros der Führungsfiguren im Braun- oder Schwarzhemd repräsentier- te keinesfalls die alte Klassengesellschaft. Sie waren vielmehr sozial Entwur- zelte, und das machte sie politisch nur um so beweglicher. Und sie hatten anders als die traditionellen Regierungseliten vielfach Erfahrungen mit der Not ge- macht. Götz Aly weist darauf hin, daß zu den ersten NS-Gesetzen solche ge- hörten, die die Rechte der Gläubiger zugunsten der Schuldner beschränkten, und er begründet dies damit, daß »viele NSDAP-Führer aus Verhältnissen entstammten, in denen sie selbst mit dem Gerichtsvollzieher Bekanntschaft gemacht hatten«13. Jugend und Außenseiterposition erklären, weshalb kaum 11 Kino und Radio erlebten den Durchbruch zum Massenmedium in Deutschland mitten in der Weltwirtschaftskrise. In Italien blieb der vergleichbare Effekt auf die Städte beschränkt und fand zeitverzögert – um 1935 – statt. 12 »›Wir‹ aber hatten keine andere Partei, keine Fahne, der wir folgen konnten, und keinen Kampf- ruf. Wem hätten wir folgen sollen? Außer den Nazis, den Favoriten, gab es jene zivilisierten bürgerlichen Reaktionäre, die sich um den ›Stahlhelm‹ sammelten, Leute, die sich etwas unklar für das ›Fronterlebnis‹ und die ›Scholle‹ begeisterten und zwar nicht die rasante Pöbelhaftigkeit der Nazis, aber durchaus ebenfalls ihre ganze ressentimentale Dumpfheit und inhärente Lebens- feindschaft besaßen. Es gab die längst vor dem Kampf geschlagenen, vielfach blamierten Sozi- aldemokraten und es gab schließlich die Kommunisten mit ihrem sektiererischen Dogmatikerzug und dem Kometenschweif von Niederlage hinter sich.« Haffner, Geschichte, S. 89 f. 13 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005, S. 20. In Italien gab es bereits für Gehälter Gläubigerschutz, typischerweise jedoch be- schränkt auf Staatsbedienstete und seit dem Konkordat auf Geistliche erweitert. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
Faschismus und Moderne 55 einer der Parteiführer zuvor eine andere Karriere hinter sich gebracht hatte. Mussolini war in dieser Hinsicht zwar die große Ausnahme, aber der Inbegriff eines Funktionärs der Arbeiterbewegung, selbst einer wie der italienischen, war er gewiß nicht. Leute dieses Schlages mußten sich daher zumeist nicht erst von frühen Sozialisationen oder Denkschulen lösen. Und sie führten auch ihre Mitarbeiter und Stäbe anders als Parteiführer alten Typs. Die Nationalsoziali- sten, namentlich Hitler selbst, suchten dies nach der Machtübernahme auf die verachteten Bürokratien auszudehnen. Dienst nach Vorschrift, Aktenreferat, Instanzenzug wurden so gut es ging zurückgedrängt und durch ein Prinzip ersetzt, das man als sozialdarwinistisches Konkurrenzideal bezeichnen könn- te. Viele begrüßten die neue Bewegungsfreiheit und wußten sie auch zu nutzen. Belohnt wurden jedenfalls mehr als bisher Eigeninitiative und vorauseilender Gehorsam. »Es ist des Führers Wunsch...« wurde zur Zauberformel für jeden, der sich durch Radikalität profilieren wollte. Es versteht sich, daß dieses Ver- fahren unkonventionelle Vorschläge und extreme Lösungen begünstigte. Mus- solini stützte sich dagegen stärker auf die Ministerialbürokratie, gegen die Farinacci als Generalsekretär des PNF einen freilich vergeblichen Kampf führ- te. Die Radikalisierung vollzog sich deshalb in Italien noch stärker als in Deutschland außerhalb der Sphäre des traditionellen Staatsapparats. Damit sind einige Rahmenbedingungen umschrieben, die erklären sollen, weshalb für Faschismus und Nationalsozialismus neuartige politische Mög- lichkeiten bestanden und warum Projekte verfolgt wurden, die weder allein auf den diktatorischen Charakter der Regime zurückgeführt werden können noch ausschließlich verbrecherischen Zwecken dienten. Fraglos war das wich- tigste Ziel der Eroberungskrieg. Aber um diesen erfolgreich führen zu können, mußte unbedingt verhindert werden, daß sich »Caporetto« oder »Dolchstoß« wiederholten. Dafür sollte aus den unorganisierten »Massen« eine geschlosse- ne Volksgemeinschaft gebildet werden, und es war klar, daß dies nicht nur durch faschistische Erziehung, militärische Ertüchtigung und rassische Ausle- se geschehen konnte, sondern auch durch Wohltaten. Dabei kam die für den Faschismus typische Kombination von Repression und Neuordnung zum Zuge, das heißt, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung wurde begleitet vom Aufbau korporatistischer Organisationen, der Förderung der Familie stand die Ausgrenzung und Verfolgung rassisch Unerwünschter gegenüber, zum Lei- stungslohn gehörte die Einweisung von »Bummelanten« und »Arbeitsscheu- en« in Lager et cetera. Der Faschismus wollte nichts weniger als eine – radikale – Reform der Ge- sellschaft, obgleich dieser Begriff nicht zu seinem Wortschatz gehörte; man sprach statt dessen von Volkspolitik14. Auch in dieser Hinsicht zeigte sich der Faschismus als Bestandteil der Moderne, allerdings in der für ihn typischen Brechung. Beides, Begriff und Sache, waren damals neu. Sie wurden in den zwanziger Jahren von jenen Kräften geprägt, die den herrschenden Kapitalis- 14 Dazu gehörten nach Theodor Geiger »alle Maßnahmen [...], die bewußt einer Steuerung und Veränderung der volklichen Lebensordnung und des Volksaufbaus dienen«. Brief an Hans Speier vom 21.8.1933, abgedruckt in: Hans Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialis- mus, Göttingen 1977, S. 163. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
56 Christof Dipper mus wie manche Katholiken15 und Sozialromantiker durch die wiederzubele- benden Stände überwinden wollten. Die Gesellschaft als ganzes durch staatli- ches Einwirken umzubauen, galt bislang als unvorstellbar. Mussolinis stato totalitario hat erstmals – sieht man von der Sowjetunion einmal ab – den Gedanken umfassender staatlicher Intervention in die Tat umzusetzen begonnen, und sein (angeblich) vollständiger Umbau der Wirt- schaftsordnung nach korporatistischem Muster erregte namentlich in Deutsch- land nicht nur das Interesse der Fachleute16. Neu war auch das Plädoyer von sozial denkenden Katholiken und Ständeromantikern für den Einsatz des Staa- tes zum Schutze der Familie als dessen Urzelle17. Für die Faschisten führte der Weg zur Gesellschaftsreform gleichfalls über die Familie, deren drohenden Untergang die Eugeniker aller Richtungen und Länder schon seit der Jahrhun- dertwende beklagten. Ein Ziel faschistischer Familienpolitik war die Steige- rung der Geburtenrate und folglich auch der Eheschließungen, ein anderes die ›biologische Qualitätssteigerung‹ des Nachwuchses und ein drittes schließlich die finanzielle Entlastung beziehungsweise Förderung der Familie. Die Faschi- sten hatten jedoch kein Monopol auf diese Themen, die von San Francisco bis Stockholm diskutiert wurden18. Faschistisch war dagegen wie so oft die Praxis. 3. Beispiele für gesellschaftspolitische Interventionsversuche a) Familien und Frauen Italien war der Vorreiter und demonstrierte als erstes Land, daß faschistische Wohlfahrtspolitik die Auswanderungs-, Ernährungs-, Familien-, Frauen- und ab 1936/38 schließlich auch die Rassenfrage als Einheit betrachtete. Unterstüt- zende und repressive Strategien gehörten daher zusammen. Noch vor der von 15 Die lehramtliche Sanktionierung erfolgte in der Enzyklika »Quadragesimo anno« von 1931. Vgl. Christof Dipper, Sozialreform. Geschichte eines umstrittenen Begriffs, in AfS 32 (1992), S. 323-351, hier S. 347 f. 16 Vgl. Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik. Einige deutsche Interpretationen, in: QFIAB 55/56 (1976), S. 315-360, sowie Wolfgang Schieder, Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, jetzt in: ders., Faschistische Diktaturen, S. 149-184. 17 Es gibt daneben noch die andere Tradition, in der Demokratie und Big Business zusammenfan- den und früher als in Italien oder Deutschland zu Regelungen gelangten. Vgl. Susan Pedersen, Family, Dependence, and the Origins of the Welfare State. Britain and France 1914-1945, Cam- bridge 21995. 18 Zu San Francisco Christina Cogdell, Eugenic Design. Streamlining America in the 1930s, Phi- ladelphia 2004. Die Unterstützung der Rockefeller-Stiftung für das KWI-Institut für Anthro- phologie und andere Forschungsinstitute bis 1940 belegt Edwin Black, War against the Weak. Eugenics and America’s Campaign to Create a Master Race, New York/London 2003. Skandi- navien vor und nach dem 2. Weltkrieg behandeln Gunnar Broberg/Nils Roll-Hansen (Hrsg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway and Finland, East Lansing/Mich. 1996. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
Faschismus und Moderne 57 Mussolini am Himmelfahrtstag 1927 verkündeten battaglia demografica19 gründete man die Opera Nazionale Maternità ed Infanzia20. Die ONMI war eine halbstaatliche Behörde zur Unterstützung vor allem von Schwangeren, Wöchnerinnen und Neugeborenen sowie von Kindern bis zu drei Jahren; sie betrieb aber auch Vaterschaftsklagen und sollte Minderjährige – etwa bei der Stellensuche – unterstützen. Zum ersten Mal kümmerte sich der Staat und nicht die Kommunen um die Familien, was vor allem auf dem Land einen Durch- bruch bedeutete, wo zusätzlich von der Frauenorganisation des PNF aus- gewählte ambulante visitatrici – junge Frauen aus der Mittel- und Oberschicht – Kinderpflege und allgemeine hygienische Standards unterrichteten. Auch wenn faktisch die Mehrzahl der bedürftigen Italienerinnen nicht in den Genuß der versprochenen materiellen Leistungen kam und die Kindersterblichkeit hoch blieb, bedeutete die ONMI in zweifacher Hinsicht eine Errungenschaft, da nicht nur die Familien als solche Zugang zu neuen Leistungen erhielten, sondern weil die Wohltaten den Frauen und Kindern direkt zugute kamen und nicht über die Familienväter vermittelt wurden. Daran hielt das Land auch nach dem Ende des Faschismus fest, und so existierte dieses System bis zu den gro- ßen wohlfahrtsstaatlichen Reformen der siebziger Jahre. Die 1927 vom Staat dekretierte zehnprozentige Lohnkürzung bedrohte das bevölkerungspolitische Projekt. Der Staat hielt es daher für geraten, kinderrei- chen Familien, also solchen mit mehr als zehn Kindern, unter die Arme zu greifen. Diese Unterstützung der Familienväter wurde mit der kurz zuvor eingeführten Sondersteuer für ledige Männer finanziert21. Zwei Jahre später dehnte die Regierung den seit 1911 existierenden, aber auf wenige Berufs- kategorien beschränkten Mutterschutz22 auf alle bedürftigen Arbeiterinnen 19 Die sogenannte Himmelfahrtsrede hielt Mussolini in Wirklichkeit am 26.3.1927 in der Kammer; abgedruckt in: Benito Mussolini, Opera omnia, hrsg. von Edoardo und Duilio Susmel, Bd. 22, Florenz 1957, S. 2 f. 20 Das folgende nach Chiara Saraceno, Redefining Maternity and Paternity: Gender, Pronatalism and Social Policies in Fascist Italy, in: Gisela Bock/Pat Thane (Hrsg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of the European Welfare States, 1880s-1950s, London/New York 1991, S. 196-212. Zur Einordnung insgesamt Victoria de Grazia, Die Radikalisierung der Be- völkerungspolitik im faschistischen Italien: Mussolinis »Rassenstaat«, in: GuG 25 (2000), S. 219-254. 21 Geistliche waren befreit. Die in der Folge mehrfach erhöhte Sondersteuer erlaubte erstmals direkte Transferleistungen im Sozialbereich. 1939 erbrachte sie 230 Millionen Lire, während der Staat an Heirats- und Geburtszuschüssen, Darlehen und Steuerabschlägen 260 Millionen auf- wenden mußte (vgl. Saraceno, Redefining, in: Bock/Thane (Hrsg.), Maternity and Gender Policies, S. 204). Diese Novität hatte allerdings die unbeabsichtigte Folge, daß sie mitverdienen- de Söhne zwang, die Heirat hinauszuschieben, weil sie die Sparmöglichkeiten empfindlich einschränkte. Die Zahl steuerpflichtiger Lediger stieg zwischen 1927 und 1939 von rund 800.000 auf etwa 1,3 Millionen. Vgl. Dietrich von Delhaes-Guenther, Die Bevölkerungspolitik des Fa- schismus, in: QFIAB 59 (1979), S. 392-420, hier S. 397. Hier finden sich auch weitere Zahlen zum Saldo aus Ledigensteuer und familienpolitischen Zusatzausgaben. 22 Trägerin war die sich aus Arbeitgeber- und Arbeiterinnenbeiträgen sowie geringen Staatszu- schüssen speisende Cassa Nazionale di Maternità für Fabrikarbeiterinnen. 1907 waren die Reispflückerinnen, 1917 die Telefonistinnen hinzugekommen – eine Anerkennung des weibli- chen Kriegseinsatzes. Versichert waren vier Wochen Verdienstausfall sowie die Kosten für Geburt oder Fehlgeburt. Seit 1917 hatten Frauen auch Zutritt zum Verwaltungsrat, lange vor Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
58 Christof Dipper aus. Wirksamer noch war der gleichzeitige Auftrag an die ONMI, für die Er- holung bedürftiger Kinder zu sorgen. Binnen kurzem überzog das Hilfswerk die Halbinsel mit Ferienkolonien in den Bergen und am Meer, die zu einem großen Teil bis heute existieren. Weil es dem Faschismus um die Steigerung der Geburtenrate ging, vertrugen sich diese Wohltaten seiner Meinung nach mit der gleichzeitigen Propaganda- welle gegen Frauenarbeit, der sich der Papst 1930 mit seiner Enzyklika »Casti connubii« anschloß. Daß neue drastische Lohnkürzungen, die zum Januar 1931 wirksam wurden, den freiwilligen Rückzug der Frauen aus dem Berufs- leben utopisch machten, konnte unter den herrschenden politischen Bedingun- gen nicht diskutiert werden. Auch war der Widerspruch zwischen Parteipro- gramm und politischer Praxis mit der Festlegung von Beschäftigungsquoten von Frauen im öffentlichen Dienst nicht aus der Welt zu schaffen, beruhigte aber die Staatsangestellten und Lehrer, welche die weibliche Konkurrenz am meisten fürchteten23. Über diese Gruppen ergoß sich auch die Masse der nach und nach eingeführten Familienvergünstigungen, unter ihnen die 1934 dekre- tierten assegni familiari, die als Direktzahlungen an die Familienvorstände wiederum an die Männer adressiert waren. Zusätzlich steigerten die Faschisten die Diskriminierung von Frauen durch eine Verordnung, die die Spreizung der Löhne zwischen den Geschlechtern verschärfte. Die Fasci femminili, von Ausnahmen abgesehen24 politisch ohne Einfluß, hatten gegen diese Maßnahmen um so weniger einzuwenden, als sie bis Mitte der dreißiger Jahre fast nur Frauen aus der Mittel- und Oberschicht organi- sierten, für die Lohnarbeit nicht in Frage kam. Ihre Lebensentwürfe waren, zumindest schien es so, ganz auf ihre reproduktive Funktion festgelegt. Ein modernes Weiblichkeitsmodell war allenfalls in den Jugendorganisationen der Partei zu finden, von denen sich viele an den Turnlehrerinnen der 1932 ge- gründeten Akademie von Orvieto ein Beispiel nahmen. Die Accademiste re- präsentierten ein Frauenbild, das offizielle Propaganda und Kirche als deka- dent und westlich verpönten, das man aber in jedem Film, nicht nur aus Hollywood, zu sehen bekam: dezent muskulös, schlank, gepflegt25. Diese Minderheit war auch weniger im Visier italienischer Erbgesundheitsspeziali- sten als die zahllosen Frauen aus ärmeren Schichten, die einer strikten Kon- trolle und Erziehung unterworfen wurden. Dies zeigt, daß der italienische der Einführung des Wahlrechts für Frauen. Vgl. Annarita Buttafuoco, Motherhood as a Politi- cal Strategy: The Role of the Italian Women’s Movement in the Creation of the Cassa Nazionale di Maternità, in: Bock/Thane (Hrsg.), Maternity and Gender Policies, S. 178-195. 23 Das im September 1938 verabschiedete Gesetz wurde bereits 1940 wegen des Kriegs wieder aufgehoben. 1933 hatte man bereits Frauen aus Ämtern mit Hoheitsbefugnissen entfernt. 1919 war ein solcher Vorstoß noch im Parlament gescheitert. 24 Zum Engagement der Faschistinnen gegen die Sanktionen des Völkerbunds vgl. Petra Terhoe- ven, Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der italienischen Gold- und Eheringsammlung 1935/36, Tübingen 2003. 25 Mehr dazu (samt vielen Fotografien aus dem Besitz der Leiterin Elisa Lombardi) bei Lucia Motti/Marilena Rossi Caponeri (Hrsg.), Accademiste a Orvieto. Donne ed educazione fisica nell’Italia fascista 1932-1943, Ponte San Giovanni 1996; Gigliola Gori, Italian Fascism and the Female Body. Sport, Submissive Women and Strong Mothers, London/New York 2004. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
Faschismus und Moderne 59 Faschismus entgegen seinen familienpolitischen Beteuerungen die überliefer- te Klassengesellschaft kaum veränderte. Die von Mussolini ausgegebene Pa- role le donne a casa änderte, abgesehen vom öffentlichen Dienst, kaum etwas am Ausmaß weiblicher Berufsarbeit, weil die einen sowieso keinem Broter- werb nachgingen und es sich die anderen nicht leisten konnten, diesen aufzu- geben. Im Gegenteil, es wurde für Unternehmen nach den 1927 verordneten Lohnspreizungen nur attraktiver, Frauen zu beschäftigen – auf Kosten der teureren Männer. Als die italienische Politik deshalb Anfang 1937 den Fehlschlag aller bevöl- kerungspolitischen Maßnahmen feststellen mußte26 – und das zu einem Zeit- punkt, als das gerade ausgerufene Impero in großem Stil kolonisiert werden sollte –, reagierte sie mit einer ganzen Serie institutioneller und wohlfahrts- staatlicher Maßnahmen. Im Februar erhielten die Staatsbediensteten Son- derurlaub für Heirat und Gehaltszulagen schon für die Geburt des ersten Sohnes. Im März wurden die Familienbeihilfen auf Handel, Banken und Land- wirtschaft ausgedehnt. Lohn- und Rentenerhöhungen folgten im Juni. Im Au- gust schließlich führte die Regierung Ehestandsdarlehen nach deutschem Mu- ster ein: Wer jünger war als 26, heiratete und nicht mehr als 12.000 Lire jährlich verdiente, bekam einen zinslosen Kredit mit geringer Rückzahlungspflicht; für jedes Kind erhielten die Paare nebst Zahlungsaufschub einen (steigenden) Nachlaß. Jedes sechste Hochzeitspaar machte von diesem Angebot Gebrauch27. Wie sich diese Maßnahme mittelfristig ausgewirkt hätte, läßt sich nicht sagen, da sich mit der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs die Rahmenbedingungen grundlegend verschoben. Bis 1939 jedenfalls waren mehr Heiraten und Gebur- ten zu verzeichnen, und auch 1940 lagen beide Kennziffern noch über denen von 1937. Am negativen Gesamttrend änderte sich freilich nichts28. Im Staats- dienst wurden nur noch Verheiratete befördert, was die Entschlossenheit der pronatalistischen Politik der Geburtensteigerung ebenso beweist wie das 1939 anstelle der bisherigen Fördermaßnahmen eingeführte allgemeine Kindergeld. Wie schon die Bezeichnung premio di natalità verrät, war dieses nicht für werdende Mütter gedacht, sondern für lebend geborene Kinder; die Zahlungen stiegen mit jedem Kind. Unter den institutionellen Maßnahmen ist die Gründung des Demographi- schen Zentralamts im Jahr 1937 die wichtigste, da so Bevölkerungswissen- schaftler in politische Schaltstellen kamen. Die einflußreichsten unter ihnen hatten inzwischen freilich die populationistische Wohlfahrts- mit der Rassen- politik vertauscht, und schon 1938 bekam das Amt als Direzione generale 26 1936 erreichte die Geburtenrate mit 22,4 pro 1000 Einwohner den bis dahin tiefsten Stand in der faschistischen Ära. Die Geburtenrate stieg dann bis 1940 leicht an (23,4), um während des Kriegs drastisch abzufallen. Vgl. Peter Flora/Franz Kraus/Winfried Pfenning, State, Economy, and Society in Western Europe 1815-1975. A Data Handbook, Bd. 2, Frankfurt a.M. u.a. 1987, S. 63. 27 Vgl. Martina Salvante, I prestiti matrimoniali: una misura pronatalista nella Germania nazista e nell’Italia fascista, in: Passato e Presente 60 (2003), S. 39-58. 28 Daß die Bevölkerung Italiens deutlich wuchs, lag an der stark zurückgehenden Auswanderung, nicht an der faschistischen Geburtenförderung. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
60 Christof Dipper della demografia e razza einen neuen Zuschnitt. Eine rassistische Komponen- te hatte die italienische Familienpolitik allerdings bereits 1936 im Kolonial- reich erlangt, wo unter lautstarker Zustimmung der faschistischen wie der ungleich größeren katholischen Frauenverbände die Apartheid eingeführt wurde29. Diese Politik erfuhr 1938 mit der Entrechtung der jüdischen Min- derheit im Mutterland ihre Fortsetzung. Wer jedoch in Italien lebte und nicht ›jüdisch versippt‹ war – und das galt für nahezu 100 Prozent der Bevölkerung –, blieb von rassenpolitischen Repressalien verschont. Eine Politik der Zwangssterilisation lehnte Mussolini ab, von der Ermordung Kranker ganz zu schweigen. Wenn die Italiener über die Familienpolitik des Faschismus keine Begeisterung erkennen ließen, so lag das daran, daß sie diese als Versuch durchschauten, ihre verschlechterte Einkommenslage zu kompensieren. Da- mit kam das Regime – vom öffentlichen Dienst einmal abgesehen – nicht weit, wie sich schon vor dem Krieg und erst recht nach 1939/40 zeigte. Die für eine Gesellschaft wie die italienische eminent modernen familienpolitischen Maß- nahmen trugen daher zu dem für das Regime lebensnotwendigen Konsens weitaus weniger bei als erhofft. Dies wurde allerdings durch den Umstand relativiert, daß sie im großen und ganzen das katholische Familienbild nicht in Frage stellten30, und dies wiederum erklärt ihr Fortleben nach dem Ende des Faschismus. Die Nationalsozialisten setzen die Akzente ihrer demographischen Politik deutlich anders. Die Erbgesundheit war ihnen entschieden wichtiger und der Rassismus begleitete ihre Politik von Anfang an. Deshalb waren sie zu aktiver Unterstützung der Familien bereit und legten außerehelicher Zeugung keine Steine in den Weg, verhinderten aber gewaltsam unerwünschte Geburten. Das bedeutete einen deutlich höheren Grad an Frauenfeindlichkeit als in Italien, und insoweit kann man von einem regelrechten Antinatalismus sprechen, obgleich natürlich die Propaganda genau das Gegenteil verkündete31. Dafür fehlte vollständig – und das hatte enorme Auswirkungen auf den Konsens gegenüber dem Regime – die Armenfeindlichkeit32. Insgesamt brachten die nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Wohlfahrtspolitiker eine weltweit 29 Im internationalen Vergleich war Italien auch auf diesem Feld ein latecomer. Andere Kolonial- staaten benötigten zu Rassentrennung und Eheverboten keinen Faschismus, der, was Italien betrifft, folglich selbst auf diesem Gebiet als erfolgreicher Bekämpfer der »Rückständigkeit« auftrat. Näheres bei Gabriele Schneider, Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien, Köln 2000. 30 Ebensowenig wie eugenische Eingriffe kam für den italienischen Faschismus eine Politik der Kinderzeugung außerhalb der Ehe in Frage. Mit dem Katholizismus traf sich der Faschismus auch im Familienbild asymmetrischer Mann-Frau-Beziehungen um den alleinverdienenden Familienvater als Mittelpunkt, aber das war letztlich ein gemeineuropäisches bürgerliches Mo- dell aus dem 19. Jahrhundert. 31 Vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986. 32 Sie betraf in Deutschland nur Randgruppen wie Alkoholiker, das sogenannte Verbrechermilieu, Prostituierte und natürlich die »Asozialen«, also Personen, die von der Masse der Deutschen deutlich geschieden waren. Das erleichterte den Nationalsozialisten die Repression ungemein. Vergleichbares galt für die Zigeuner. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
Faschismus und Moderne 61 einmalige Kombination von Rassismus und Familienpolitik hervor33, die dar- um nach 1945 keinerlei Chancen auf Fortsetzung hatte. Frauenarbeit war natürlich auch in Deutschland nicht wenigen Männern unwillkommen. Vor allem die Arbeitslosen lehnten sie ab, unter denen sich überdurchschnittlich viele Mitglieder der NSDAP befanden. Dennoch ent- schieden Partei und Regierung schon im Herbst 1933, keine direkten Maß- nahmen zu ergreifen, auch nicht gegen verheiratete Frauen, die der noch stär- kerer Kritik ausgesetzten Kategorie der Doppelverdiener angehörten34. Die Nationalsozialisten wählten stattdessen einen Umweg, der sie mehreren vor- dringlichen Zielen auf einmal nahebringen sollte. Schon im Sommer 1933 lei- teten sie eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Wende ein. Sie verknüpften die Beseitigung der Arbeitslosigkeit mit einem Konjunkturprogramm für die Möbelbranche und mit Geburtenförderung im Zeichen von »Erbgesundheit« und »Rassenpflege«. Ehestandsdarlehen bekam man nämlich nur, wenn die Frau nach der Hochzeit ihren Beruf aufgab. Sie betrugen im Durchschnitt das Vier- bis Fünffache eines Arbeitermonatslohnes, also nicht eben wenig35. Hin- zu kamen Einrichtungszuschüsse in Gestalt von Warengutscheinen. Diese be- trächtlichen Zuwendungen brauchte nicht zurückzuzahlen, wer Kinder be- kam. Das aber war nur denen erlaubt, die die Gesundheitsprüfungen des fast gleichzeitig erlassenen »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erfolgreich bestanden. Wirklich bedroht mußte sich davon nur eine Minderheit fühlen36, die Mehrheit der Bevölkerung stimmte nach allem, was wir wissen37, dieser Kontrollmaßnahme zu. Zur Finanzierung des Programms diente die nach italienischem Vorbild erhobene Ledigensteuer, die einen steigenden Anteil der Kosten einbrachte, nachdem die Regierung wegen der großen Nachfrage die Höhe der Darlehen auf 800 RM begrenzt hatte. Von Erfolg zu sprechen, verlangt Differenzierung. Die Frauenarbeit nahm nicht ab, denn die ausscheidenden Heiratswilligen wurden von Unverheirate- 33 Vgl. Gisela Bock, Antinatalism, Maternity and Paternity in National Socialist Racism, in: dies./ Thane (Hrsg.), Maternity and Gender Policies, S. 233-255, hier S. 246. Einblick in die Alltags- probleme, die diese Politik bei Müttern, Kindern und Behörden verursachte, bietet Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk. Weimar and Nazi Family Policy, 1918-1945, Washington D.C./Cambridge 2007. 34 Dörte Winkler, Frauenarbeit im »Dritten Reich«, Hamburg 1977, S. 45. 35 Während in Italien, wo die Darlehen ebenso hoch waren, die Masse der Bevölkerung keinen Zugang zu diesen Angeboten hatte, nahmen in Deutschland ca. 40 Prozent der Paare das Ehe- standsdarlehen in Anspruch. Vgl. Salvante, Prestiti, Tabelle 2. 36 Gisela Bock (Gleichheit und Differenz in der nationalsozialistischen Rassenpolitik, in: GuG 19 (1993), S. 277-310, hier S. 287) spricht von 400.000 Sterilisationsopfern, ungefähr je zur Hälfte Männer und Frauen. So ungeheuerlich diese Zahl ist, die Erwartungen der NS-Führung lag um ein Vielfaches höher. Reichsinnenminister Wilhelm Frick sprach 1933 von 20 Prozent der Be- völkerung, die in bezug auf Mutter- oder Vaterschaft als unerwünscht galten; das wären etwa 12 Millionen Menschen gewesen. Ebenda, S. 294. 37 Die Forschung konnte nachweisen, daß sozialdarwinistische und eugenische Lehren schon in der Weimarer Zeit eine erhebliche Zahl von Anhängern gefunden hatten. Vgl. Jochen-Christoph Kaiser/Kurt Nowak/Michael Schwartz, Eugenik, Sterilisation, »Euthanasie«. Politische Biolo- gie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1995, Kapitel B. Eugenik hatte damals wenig mit Rechtsradikalismus zu tun, auch Vertreter der Linken traten dafür ein, weil sie die Hoffnung der Moderne auf Verbesserung des menschlichen Erbguts zu erfüllen schien. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
62 Christof Dipper ten mehr als ersetzt; ab 1937 mußte die Frau ihren Beruf nicht mehr aufgeben. Die Darlehen wurden über die Maßen nachgefragt, vor allem von einfachen Leuten: 1938 machten Hausgehilfinnen und Fabrikarbeiter drei Viertel der Begünstigten aus38. Die Heiraten nahmen zu, und das staatliche Geld war ein willkommenes Zubrot, das aber vor allem in den Städten durch die hohen Mieten rasch aufgezehrt wurde. Die Geburtenziffern stiegen zwar leicht39, enttäuschten die Bevölkerungspolitiker jedoch, zumal die Zahl der Kinder pro Ehepaar weiterhin sank40. Das repressive Begleitprogramm – rigoroses Abtrei- bungsverbot, eventuelle Zwangssterilisation, Ausschluß der Juden von Ehe- standsdarlehen und anderen Vergünstigungen – erreichte nur selten den Alltag der gewöhnlichen »Volksgenossen«. Während sich also die Wohltaten poten- tiell über so gut wie alle Deutschen ergießen konnten, spürten die Nachteile nur soziale und ethnische Minderheiten. Das galt naturgemäß auch für die übrigen familienpolitischen Hilfen, die ansonsten selbst bei kritischer Würdigung durchaus den Vergleich mit demo- kratischen Staaten der damaligen Zeit aushalten41. Nach italienischem Vorbild entstand 1934 das Hilfswerk Mutter und Kind zur Unterstützung und Betreu- ung bedürftiger Familien, die den rassischen Kriterien des Regimes entsprachen. Im selben Jahr bescherte eine Einkommensteuerreform Freibeträge für Ver- heiratete und Kinder, die, wie in solchen Fällen üblich, in erster Linie den Besserverdienenden zugute kamen. Kindergeld ab dem fünften Kind führte das Reich zum Januar 1936 ein, ab dem vierten ein Jahr später, selbstredend nur dann, wenn die Eltern politisch und rassisch einwandfrei waren. 1937 änderte man die Beamten- und Lehrerbesoldung »zur Förderung der Frühehe«, 1938 führte man Ausbildungsbeihilfen für Begabte aus kinderreichen Familien ein. Ebenfalls seit 1938 gab es nach französischem, bereits 1920 eingeführten Vor- bild das Mutterkreuz; der geplante Ehrensold für die Ordensträgerinnen konn- te wegen knapper Kassen jedoch nicht gezahlt werden. Das mochte verschmer- zen, wer in einer Gemeinde wohnte, die Kinderreichen Mietbeihilfen gewährte und die Gebühren für Gas, Wasser und Strom senkte, oder Mitglied einer berufsständischen Krankenkasse war, von denen einige schon für das erste Kind Beihilfen zahlten42. Daß wie in Italien und Spanien sämtliche Gelder in die Taschen der Verdie- nenden, also der Väter flossen43, unterscheidet diese Politik klar von derjeni- 38 Errechnet nach Salvante, Prestiti, Tabelle 1. 39 Vgl. Flora/Kraus/Pfenning, State, Bd. 2, S. 57. 40 NS-Demographen hatten das Ziel von vier Kindern pro Paar verkündet, das aber noch nicht einmal in der nationalsozialistischen Führungsschicht erreicht wurde. Vgl. Bock, Antinatalism, in: dies./Thane (Hrsg.), Maternity and Gender Policies, S. 246. 41 Vgl. ebenda, S. 233. 42 Mehr dazu bei Karin Magnussen, Rassen- und bevölkerungspolitisches Rüstzeug. Zahlen, Ge- setze und Verordnungen, München/Berlin 21939. Als Mitarbeiterin des Rassenpolitischen Amts der NSDAP machte die Autorin unentwegt auf den Zusammenhang von Rassen- und Wohl- fahrtspolitik aufmerksam. 43 Anders als dort aber erhielten alleinerziehende Mütter Kindergeld nur, sofern der Vater den Behörden bekannt war. Und erst recht war es eine deutsche Besonderheit, daß ledige Mütter mit mehr als einem Kind die Zwangssterilisierung riskierten. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
Faschismus und Moderne 63 gen in Deutschlands demokratischen Nachbarstaaten, und dies war keines- wegs Zufall. Vielmehr verlangten Parteifunktionäre unentwegt die »selbstlose« Mutterliebe und lehnten eine Belohnung für Mutterschaft aus- drücklich ab44. Andererseits belohnte der Nationalsozialismus werdende Mütter, ja Mütter überhaupt, mehr als jeder andere Staat, wenn es um das Thema Frau am Arbeitsplatz ging. Dies hatte gravierende Auswirkungen auf die Arbeitskräftemobilisierung im Krieg, da Frauen von der 1939 angeordne- ten Dienstverpflichtung befreit wurden, wenn sie Mütter waren und nicht schon bisher arbeiteten oder wenn sie schwanger wurden. Das ging zunächst auf Kosten derer, die sich den Rückzug vom Arbeitsplatz als schlecht bezahl- te Arbeitskräfte oder unbezahlte mithelfende Familienangehörige nicht leisten konnten, später, als die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt noch dramatischer wurden, auf Kosten weiblicher Zwangsarbeiter. Dies und der Umstand, daß es nicht um die Frauen, sondern um volkswirtschaftliche Erfordernisse ging, läßt die exzeptionelle Ausweitung des Mutterschutzgesetzes im Frühjahr 1942 »in einem fragwürdigen Licht erscheinen«45. Die weltweit einmaligen Schutz- bestimmungen sahen jetzt den vollen Lohnersatz während 12 Wochen vor, garantierten den Arbeitsplatz bis vier Monate nach der Entbindung, führten zur Einrichtung von Stillstuben, Säuglingskrippen und Kinderhorten in vielen Betrieben und schlossen erstmals auch die Arbeitskräfte in der Land- und Hauswirtschaft ein. Die von Ley gewünschte Ausdehnung auf alle Frauen, die ein ganz anderes, mit den Traditionen deutscher Sozialpolitik brechendes Gesetz nötig gemacht hätte, scheiterte am Widerstand der deutschnationalen Fachleute des Reichsarbeitsministeriums und des OKW. Hitler, Ley und sein sozialpolitischer Planungsstab entwarfen deshalb für die Zeit nach dem Krie- ge ein System der Volksversicherung, das im Hinblick auf die Leistungen den Vergleich mit dem britischen Beveridge-Plan von 1942 nicht zu fürchten brauchte, um so mehr jedoch, was Finanzierung, weltanschauliche Motivation und rassistische Grundierung betraf. Gleichwohl ist mit Ute Frevert festzu- halten, daß »die meisten Frauen [...] keinen Grund« hatten, die NS-Zeit als »Erniedrigung und Rückschritt zu empfinden« – vorausgesetzt sie entspra- chen »den rassischen Gütekriterien des Nationalsozialismus«46. Sie sahen wohl auch deshalb keinen Grund zur Klage, weil ihnen kein politisches Sy- stem zuvor auch nur annähernd so viel öffentlichen Raum einräumte. Politisch spielten sie zwar eine viel marginalere Rolle als noch in der Weimarer Repu- blik, aber das konnten sie mit anderen Funktionen und Möglichkeiten kom- pensieren, die hier außer Betracht bleiben müssen47. 44 Ein beispielhaftes Zitat des Chefs der NS-Volkswohlfahrt, Erich Hilgenfeldt, bei Bock, Gleich- heit und Differenz, S. 295. 45 Winkler, Frauenarbeit, S. 157. 46 Ute Frevert, Frauen, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopä- die des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 220-234, hier S. 233. 47 Vgl. Gudrun Brockhaus, Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, Kapitel 5. Christof Dipper - 9783657765478 Downloaded from Schoeningh.de10/27/2021 02:10:55PM via free access
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