Fehlgeleitetes Verständnis - Bringt ein - Verband Reale Bildung
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Ausgabe 3/2015 Bringt ein fehlgeleitetes Verständnis von individueller Förderung unsere Schüler um Zukunftschancen? u f ruf! -A VRB n was! tu egen Wir len g nd Schu Hetze u , ! Hass obbing M Realschule plus: Erster Jahrgang erreicht Mittlere Reife Besuch Studienseminar: Ausbildung stärken! Einstellungsperspektiven sichern! Baustelle Schulqualität: Lerndefizite bei Schulabgängern Gerichtsurteil Lehrerarbeitszeit: 23,5 Wochenstunden sind genug KlarText Dienstrechtsänderungsgesetz: Altersgerechte Entlastungen statt neuer Belastungen
Inhalt Inhalt der Ausgabe Oktober 2015 Titelthema Unterrichten – Pädagogik, Didaktik und Methodik Missverständnis „Individuelle Förderung“: Pinnwand …………………………………………………… 37 Bringt ein fehlgeleitetes Verständnis von individueller VRB-Aufruf: Wir tun was! Schulen gegen Hass, Hetze und Förderung unsere Schüler um Zukunftschancen? ………… 5 Mobbing im Cyberspace …………………………………… 38 Bildungspolitik VRB-Bezirke Pinnwand …………………………………………………… 11 Bezirk Neustadt: VRB-Senioren beim Südwestfunk und PfalzMetall-Tag: Wie ticken Jugendliche – Wer sind die Landtag ………………………………………………… 40 Auszubildenden von morgen? ……………………………… 12 VRB-Mitglieder in der Kunsthalle Mannheim: Der Kühle Baustelle Schulqualität: Lerndefizite bei Schulabgängern … 14 Blick – Graphiken der Neuen Sachlichkeit ………………… 41 VRB-Verbandsarbeit Bezirk Koblenz: VRB an der Universität Koblenz: „Fit in den Vorbereitungsdienst!“ ……………………………………… 42 FOS: Ministerium muss für personelle Beständigkeit sorgen 17 VRB-Senioren auf der Festung Ehrenbreitstein ………… 42 VRB: Landesdelegiertentag 2015 …………………………… 18 Nachruf: Peter Nußbaum war der Chefredakteur der VRB-Pressemitteilung: Realschulen plus: Bildungsministerin ersten Stunde ………………………………………………… 43 will Personalausstattung verbessern ………………………… 19 VRB-Pressemitteilung: Generation Realschule plus – erster Kurz notiert: Termine, Service und Internes Durchgang nach der Schulstrukturreform verlässt die Schule. Geburtstagswünsche ……………………………………… …… … 44 VRB: Landesregierung in der Pflicht ………………………… 19 KlarText! VRB-Pressemitteilung: Tag der Berufs- und Studienorien- tierung: Weiterer Baustein der vielfältigen Angebotspalette Altersgerechte Entlastung statt neuer Belastungen! n! … ……… …… 4 46 der Realschule plus ………………………………………… 20 VRB-Pressemitteilung: Realschule plus gewinnt an Bedeutung …………………………………………………… 20 Landeshaupvorstand (LHV) tagte traditionell in der letzten Ferienwoche in Bad Marienberg……………………………… 21 Impressum Schule in Rheinland-Pfalz Herausgeber Redaktion VRB Verband Reale Bildung Michael Eich Kann Inklusion (nur) eine Frage der Haltung sein? ………… 22 Landesverband Rheinland-Pfalz e. V. Trifelsstraße 1a 76751 Jockgrim EFWI-Direktor Dr. Günter Geishardt verabschiedet: Neue Her- Landesvorsitzender Tel: 0 72 71 / 12 92 74 ausforderungen vor Augen ………………………………… 23 Bernd Karst michael.eich@vrb-rlp.de Grolsheimer Weg 5 Stabwechsel in der Schulabteilung der ADD Trier ………… 23 55411 Bingen Layout Tel: 0 67 21 / 99 49 99 Daniela Boudgoust Erster Jahrgang der Realschule plus erreicht Mittlere Reife: bernd.karst@vrb-rlp.de www.bizzdesign.de Perspektiven und Verpflichtungen ………………………… 24 Zentrale Mitgliederkartei und Inkasso Auflage und Druck Wolfgang Seebach 5.000 Stück, Schule und Recht Unterstraße 19 flyeralarm GmbH, Würzburg Pinnwand …………………………………………………… 27 56814 Faid Tel: 0 26 71 / 85 49 VRB-Justiziarin Antonia Dufeu: Heimliche Aufnahmen Fax: 0 32 12 / 965 73 31 vom Unterricht und ihre Verbreitung in sozialen Medien…… 27 schatzmeister@vrb-rlp.de OVG Lüneburg: 23,5 Wochenstunden sind genug! ……… 28 Zuschriften Einsender von Manuskripten, Briefen u. Ä. erklären sich mit redaktioneller Beruf Lehrer Bearbeitung einverstanden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben Pinnwand …………………………………………………… 30 nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder. dbb rheinland-pfalz: Frühjahrstagung des Landesvorstandes 31 Für unverlangt eingesandte Bücher, Schriften oder Arbeitsmittel wird kei- ne Verpflichtung übernommen. Rücksendung erfolgt nur, wenn ausrei- Landesgesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften: chend Rückporto beiliegt. Beiträge, Zuschriften und Besprechungsstücke Anhebung der Pensionsaltersgrenze und andere an die Redaktion erbeten. Nachdruck, auch auszugsweise gerne, aber nur mit Genehmigung. Regelungen für Lehrkräfte ………………………………… 32 Bildmaterial 9. Dienständerungsgesetz: Ein Blick hinter die Kulissen …… 33 Bitte senden Sie uns Ihr Bildmaterial ausschließlich in digitalisierter Form zu und achten Sie auf eine druckfähige Auflösung (300 dpi). Lehrerbildung Anzeigenberatung und -preisliste Besuch Studienseminar: Ausbildung stärken! Einstellungs- Bitte wenden Sie sich an Michael Eich (michael.eich@vrb-rlp.de). Es gilt perspektiven sichern! ……………………………………… 35 die Anzeigenpreisliste vom Mai 2014. 2 Reale Bildung verbindet!
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, die „Flüchtlingskrise“ steht im Zentrum des öffentlichen Inte- und Absolventen resses; noch nie musste sich die deutsche Gesellschaft einer der Realschulen ähnlich großen Herausforderung stellen. Deutschland ist das plus könnten mit „Hoffnungsland“ dieser Menschen. Auch wenn – bei nüchter- Zuversicht in die ner Betrachtung – nicht alle Hoffnungen erfüllt werden können, Zukunft blicken. sind Hilfe und Unterstützung für in Not geratene Menschen das Dem stimmen wir erste und nicht verhandelbare Gebot der Stunde. Darüber hi- als VRB gerne zu. naus müssen unsere demokratischen Parteien politisch darum Mit großem En- ringen, wie der vorerst nicht nachlassende Zustrom von Kriegs- gagement haben und auch Armutsflüchtlingen dauerhaft bewältigt werden kann. unsere Kollegin- Menschen, die hier bleiben werden, benötigen eine realistische nen und Kollegen Perspektive für eine lebenswerte Zukunft jenseits der staatlichen dazu beigetragen, Unterstützungssysteme. Sprache und Bildung sind hierfür der dass unsere Ab- Schlüssel, und somit kommt der Institution Schule, in Rhein- gänger sich in der land-Pfalz insbesondere der Realschule plus, wieder einmal eine Ausbildung, in den Schlüsselfunktion bei der Bewältigung einer zentralen gesamt- weiterführenden gesellschaftlichen Herausforderung zu. Schulen oder im Fachhochschulstudium gut zurecht finden. Das ist unsere „Kern- Migration ist allerdings auch eine Chance, bildungspolitische aufgabe“, der wir mit Freude nachkommen. Auf der anderen Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre zu korrigieren. Seite ist es aber vor allem die Realschule plus, die sich immer Viele dieser Fehlentwicklungen setzten nach „PISA“ ein. Im neuen Aufgaben stellen muss. Die schulische Bewältigung der Rückblick müssen wir erkennen, dass zu leichtfertig vermeintlich Zuwanderung von Flüchtlingen ist hierfür nur das aktuellste Bei- „innovativen“ und „progressiven“ Lösungsansätzen vertraut spiel. Wenn eine Schulart für ihre gute Arbeit gelobt wird und wurde, nicht selten von gesellschaftlichen Gruppen propagiert wenn man ihr für viele gesellschaftliche Herausforderungen die werden, welche „Schule“ und „Unterricht“ als Mittel zur Ver- Verantwortung überträgt, dann stellt sich die Frage nach einer änderung unserer Gesellschaft nach ihren Vorstellungen verste- angemessenen Unterstützung, die über gute Worte hinausgeht. hen. Gerade die aktuelle Flüchtlingskrise führt uns die negativen Hier sieht der VRB akuten Nachholbedarf; die ausgesprochene Auswirkung einer verfehlten bildungspolitischen Schwerpunkt- Wertschätzung muss endlich auch sicht- und spürbar werden. setzung vor Augen: Während viele junge Zuwanderer oft nicht Liebe Leserinnen und Leser, wir haben Hoffnung, dass Politik viel mehr besitzen als das Vertrauen und die Zuversicht in die und Gesellschaft aus der Vergangenheit die richtigen Lehren eigene Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, beobachten wir bei ziehen. Fehlentwicklungen müssen im Interesse unserer Schü- Kindern, die hier geboren wurden, mit Sorge, dass viele in eine lerinnen und Schüler korrigiert, der Einfluss von schulfernen passive Erwartungs- und Konsumhaltung abdriften. Warum ein Lobbyisten zurückgenommen werden. Wir erwarten zudem, falsch verstandenes Versprechen auf „individuelle Förderung“ in dass uns die Landesregierung bei der schulischen Bewältigung die Unmündigkeit führt und warum wir uns bei der schulischen der Flüchtlingskrise nicht mit ihren ambitionierten Erwartungen Qualitätsarbeit wieder auf den „anspruchsvollen Unterricht“ alleine lässt. Die diesbezüglichen Befürchtungen vieler Kollegin- fokussieren müssen, können Sie im Titelbericht dieser Ausgabe nen und Kollegen sind vor dem Hintergrund der Erfahrungen, nachlesen. die wir bei der Umsetzung von Inklusion machen müssen, nicht Vertreter aus der Wirtschaft und aus den Universitäten stellen unberechtigt. Die Kosten der Integration von Zuwanderern dür- immer lauter die Frage nach der Schulqualität. Beklagt werden fen nicht als Ausrede benutzt werden, unseren Schulen ange- erhebliche Lerndefizite bei den Schulabgängern, die auch durch messene Rahmenbedingungen vorzuenthalten, die wir für unser falsche politische Entscheidungen und Maßnahmen nach „PISA“ „Kerngeschäft“ benötigen, nämlich anspruchsvollen und lern- verursacht wurden. Die politisch Verantwortlichen müssen diese wirksamen Unterricht zu gestalten. Klagen endlich ernstnehmen und die richtigen Konsequenzen Angenehme Lektüre wünscht Ihnen Ihr daraus ziehen. Nicht ohne Grund sehen auch die rheinland-pfäl- zischen Wirtschaftsvertreter Zuwanderung als Chance für den Standort Deutschland, denn für sie sind junge Migranten inzwi- schen die besseren Auszubildenden. Mehr dazu erfahren Sie in dieser Ausgabe von Reale Bildung in Rheinland-Pfalz. Der erste Jahrgang der Realschule plus erreichte im vergangenen Jahr erstmals die Mittlere Reife. Ministerin Vera Reiß nahm das zum Anlass, die Realschule plus als attraktiven Bestandteil des Schulangebots in Rheinland-Pfalz zu loben. Die Absolventinnen 3
Der Landesvorsitzende hat das Wort Ein positives Signal für die Realschule plus! Das notwendige „Gesamtpaket“ ist noch nicht geschnürt Wenn vom Lehrer- Das Zuständigkeits-„Plus“ der Realschule plus beruf die Rede ist, Die Schülerpopulation verändert sich. Die Spannbreite der He- sind Schlagzeilen terogenität ist an keiner Schulart so breit wie an der Realschu- wie „Halbtagsjob“, le plus. Inklusion und Migration sind weitere Aufgabenfelder, „Dauerferien“, die schwerpunktmäßig der Realschule plus übertragen werden. „Unkündbarkeit“ Das sind Belastungen, die sich längst auch bei den Studierenden schon seit gerau- herumgesprochen haben. Wer überhaupt noch Lehrer werden mer Zeit nicht mehr will, entscheidet sich zunehmend für ein anderes Lehramtsstu- so provozierend zu dium. Die Studienseminare für das Lehramt an Realschulen plus vernehmen wie in befürchten Zahleneinbrüche, die Schulen befürchten eine unzu- der Vergangenheit. reichende Unterrichtsversorgung, wenn sich der fachspezifische Lehrkräfte dienen Lehrermangel ausweitet. mittlerweile selte- Latente Unzufriedenheit macht krank ner als Zielscheibe Berufliche Motivation und Freude sind eine wichtige Erfolgsquel- öffentlicher Krän- le sowohl für den einzelnen Lehrer als auch für die Schulqualität kungen. Der allge- generell. Latente Unzufriedenheit macht krank. Dass es nicht nur meine Einstellungs- gute Tage gibt, ist eine Tatsache, die für alle Lebenssituationen wandel hat zahlreiche Ursachen. Darunter wohl auch eine neue, gilt. Dass es aber möglichst viele gute Tage gibt, ist nicht nur allerdings nicht erstrebenswerte Form von „Mitleid“. eine Frage der persönlichen Grundhaltung oder Ausgangslage, Psychosomatische Fachkliniken spezialisieren sich seit längerem sondern auch das Ergebnis verantwortlicher Fürsorge seitens des auf die „Berufsgruppe Lehrer“, die dramatisch zunehmend der Arbeitgebers. Das Institut für Lehrergesundheit (IfL) hat aus den Gefahr ausgesetzt ist, sich zu überfordern und zu erschöpfen. Kontakten zu den Schulen den Eindruck gewonnen, „dass die Selbst schulexterne Beobachter stellen fest: Die Bedingungen in Belastung und Beanspruchung von Bediensteten an Realschulen der Schule sind schwieriger geworden, die Aufgaben im Schul- plus höher ist als bei anderen Schularten.“ (Schreiben des IfL vom alltag haben ständig zugenommen, die Belastungen der Lehre- 22. Juni 2015 an die Schulleiterinnen und Schulleiter). Eine syste- rinnen und Lehrer werden immer größer. matische Untersuchung soll dazu beitragen, „neue Erkenntnisse und darauf aufbauende Beratungskonzepte“ zu gewinnen. Das Die Folgen der Schulstrukturänderung klingt nicht nach einem tiefgreifenden Unterstützungsangebot. Die Schulstrukturänderung hat nicht nur systemische, sondern Mehr allerdings wird das IfL auch nicht versprechen können. Das auch personelle Folgewirkungen. Die Lehrkräfte spüren nach- Institut steht in keiner politischen Verantwortung. Die liegt bei haltig die Veränderungen sogar über den Schulalltag hinausge- der Landesregierung. hend. Die immer schwieriger gewordenen Erziehungsaufgaben fordern ihnen ein Übermaß an Energie ab, das sie nicht mehr Die Realschule plus verdient mehr Unterstützung aufbringen können. Mit gewachsenem Selbstverständnis geben Die Anforderungs- und Belastungsproblematik erfordert ein Eltern immer mehr Erziehungsverantwortung an die Schule ab. Maßnahmenpaket. Veränderte Situationen und veränderte An- Viele versagen ihr gleichzeitig den notwendigen Respekt. sprüche benötigen auch daran angepasste Arbeits- und Rah- menbedingungen. Ein erfreulicher Ansatz ist in Sichtweite: Die Auch die Einstellung zur schulischen Leistungsanforderung und Schaffung einer zusätzlichen Funktionsstelle an der Realschule Leistungsbeurteilung hat sich verändert. Eine geringe Zahl an plus. Ein positives Signal der Ministerin und zugleich die Erkennt- „Sitzenbleibern“ gilt selbst offiziell als ein Gütekriterium für nis, dass diese Schulart mehr Unterstützung benötigt und ver- schulische Qualität. Anforderungen und Leistungen verlieren dient. offensichtlich an Bedeutung oder werden durch andere Inhal- te und Merkmale geprägt. Das bringt Lehrkräfte mit fachlichem Um den zusätzlichen Aufgaben gerecht zu werden, benötigen Anspruch in einen pädagogischen Konflikt. Die gesellschaftli- die Schulen mehr professionelle Unterstützung durch Schulpsy- chen Auswirkungen sind längst bekannt: Mit der allgemeinen chologen und Schulsozialarbeiter sowie eine Ausweitung des Senkung der Anforderungen entstehen ohne sonderliche An- Zeitbudgets der Lehrkräfte im außerunterrichtlichen Bereich. Die strengung „gymnasiale Höchstquoten“ – und dies in der Regel Kolleginnen und Kollegen haben ihre Belastungsgrenzen längst zulasten der Realschule plus. Der dadurch bedingte Mangel an überschritten. Das notwendige „Gesamtpaket“ ist folglich noch Auszubildenden und Fachkräften ist eine logische Konsequenz. längst nicht geschnürt. 4 Reale Bildung verbindet!
Missverständnis „Individuelle Förderung“ X M I S S V E R S T Ä N D N I S „INDIVIDU ELLE FÖRDERU NG“ Bringt ein fehlgeleitetes Verständnis von individueller Förderung unsere Schüler um Zukunftschancen? Mit dem schwachen Abschneiden deutscher „PISA-Katastrophe“ die Hauptverantwor- Schülerinnen und Schüler bei der von der tung zugesprochen wurde, mit Misstrauen. Organisation für wirtschaftliche Zusam- PISA war die Gelegenheit für Schulkritiker menarbeit und Entwicklung (OECD) erho- und Reformer jeglicher Herkunft zur Durch- benen internationalen Schulleistungsstu- setzung eigener Interessen und Wertevor- die „Programme for International Student stellungen. Alles, auch Bewährtes (z. B. Fach- Assessment“ (PISA) wurden tiefgreifende lichkeit oder Leistungsorientierung), stand Veränderungen und Reformen in allen Bun- zur Disposition. Oft genug wurden überhas- desländern begründet und durchgesetzt. tet „neue Akzente“ gesetzt. Die Vorstellung Gleichzeitig begegneten die Kultusminister von den (unbegrenzten) Möglichkeiten indi- ihren Lehrkräften, denen für die sogenannte vidueller Förderung gehört dazu. 5
Missverständnis „Individuelle Förderung“ SCHULSTRUKTURREFORMEN Schulstrukturreform hat den rheinland-pfälzischen Haupt- und Realschullehrern viel abverlangt. Den- BRACHTEN VERUNSICHERUNG noch ist zu konstatieren, dass viele Probleme (z. B. Umgang mit Erziehungsdefiziten und Heterogenität) nicht gelöst werden konnten. Im Gegenteil: Durch Obwohl die Pisa-Studien gezeigt haben, dass Schulst- bildungspolitische Akzentverschiebungen, z. B. bei rukturen für die Leistung weniger wichtig sind, führ- der einseitigen Delegation der Verantwortlichkeit für ten nahezu alle Bundesländer Schulstrukturreformen Lernerfolg an uns Lehrkräfte, haben sich viele Pro- durch. Die Überwindung der Dreigliedrigkeit wurde bleme verschärft. Die bildungspolitisch Verantwort- dabei allerdings allenfalls halbherzig ausgerufen; das lichen müssen sich die Frage stellen, ob ihnen nach Gymnasium blieb unangetastet, denn keine Partei PISA nicht der Kompass für nachhaltige Schul- und wollte und will sich den Unwillen gymnasialorientier- Unterrichtsentwicklung verloren gegangen ist und ter Eltern zuziehen. In Rheinland-Pfalz entstanden ob sie sich bei der „individuellen Förderung“ auf ei- durch die Fusion von Haupt- und Realschule neue nen fragwürdigen Kurs haben führen lassen. Realschulen plus oder Integrierte Gesamtschulen. Die Kritisch hinterfragt werden muss vor allem, wel- BERUF LEHRER: VOM chen tatsächlichen und nicht nur behaupteten Stel- lenwert uns Lehrkräften und unserer Kernaufgabe, WISSENSVERMITTLER ZUM dem Unterrichten, noch beigemessen wird. Fatal ist FÖRDERER INDIVIDUELLER die Entwicklung (siehe Beitrag auf Seite 28), dass sich inzwischen ein Missverhältnis zwischen Zeit für DISPOSITIONEN Unterricht und Zeit für außerunterrichtliche oder er- zieherische Tätigkeiten abzeichnet, von denen viele der individuellen Förderung der Schüler dienen sol- sogenannten „Input-Orientierung“ (u. a. Steuerung len (z. B. Erstellung von Förderplänen, Kooperationen durch Lehrerausbildung, Curricula und Stundenta- mit außerschulischen Partnern). Es droht die Gefahr, feln) zur „Output-Orientierung“ (Lernwirksamkeit) dass der Unterricht, dessen Anspruch und Niveau für war ein richtiger und wichtiger Schritt. Der Bildungs- den Lernerfolg eine Schlüsselfunktion hat, zu einer wissenschaftler und Unterrichtsforscher Andreas „Randerscheinung“ des pädagogischen und schu- Helmke, der auch am Konzept des Orientierungs- lischen Arbeitens wird. Nach PISA gab es durchaus rahmenplans Schulqualität maßgeblich mitgewirkt reflektierte Ansätze, wie guter und moderner Unter- hat, fasste das, was guten Unterricht ausmacht, wie richt aussehen muss und welche Verantwortung uns folgt zusammen: „Die Qualität (…) des Unterrichts Lehrkräften dabei zukommt. Der Wechsel von der bemisst sich konsequenterweise primär daran, ob auf Seiten der Schüler Lernprozesse initiiert werden und wie nachhaltig diese sind. „Guter“ Unterricht hieße Lehrer anno 2015: demnach „lernwirksamer“ Unterricht“ (HELMKE, Andreas 2009 2, S. 20). Diese schlichte Feststellung hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. )EWWenW^erKE_Ier Methodentrainer Von unterschiedlich motivierten „Profiteuren“ der Nach-PISA-Krise wurde die Vorstellung von gutem Unterricht zum Teil mit unterrichtsfremden und eher a3hIehrer gesellschaftspolitischen Aspekten und Ansprüchen Lern2e>Ieiter (siehe „Bildungsideal Gleichheit“ weiter unten) über- frachtet. Deren negative Auswirkungen spüren wir eYaIter ^on roFeGten immer deutlicher. Da wurden beispielsweise offene Unterrichtsformen als demokratisch gefeiert und der Ɨrderer indi^idUeIIer Frontalunterricht bzw. der klar instruierende Unter- richt als autoritär und undemokratisch verdächtigt. Dispositionen Sitzenbleiben und überhaupt Noten sollten als In- strumente der sozialen Selektion und Unterdrü- ckung abgeschafft, verbale Beurteilungen und indi- 6 Reale Bildung verbindet!
Missverständnis „Individuelle Förderung“ viduelle Förderpläne stattdessen als gerechte Instru- lehrer zum Lernbegleiter, vom Gestalter von Lern- mente eingeführt werden. Guter Unterricht wurde arrangements (oder Projekten) zum Förderer indivi- dann so verstanden, dass wir Lehrkräfte durch den dueller Dispositionen. Und da das Misstrauen der po- Einsatz bestimmter Unterrichtsmethoden individu- litisch Verantwortlichen uns Lehrkräften gegenüber elle Förderung leisten und damit erst individuelle tief saß und sitzt, sollte mittels externer Evaluation si- Lernfortschritte der Schüler ermöglichen. Anstren- chergestellt werden, dass dem zentralen Auftrag der gungsbereitschaft, Eigenverantwortlichkeit sowie individuellen Förderung auch nachgekommen wird. Anspruchs- bzw. Leistungsorientierung verloren nach Dabei haben leider die Ansprüche, die mit individu- dieser Lesart an Relevanz für den Lernerfolg. Auch die eller Förderung verbunden werden, eine problemati- Auslegung der Lehrerrolle wechselt permanent: Vom sche Eigendynamik entwickelt. Wissensvermittler zum Methodentrainer, vom Fach- In Paragraph 10 Satz 1 des rheinland-pfälzischen INDIVIDUELLE FÖRDERUNG: Schulgesetzes heißt es: „Jede Schulart und jede Schule ist der individuellen Förderung der Schülerin- EIN MEHR UND MEHR nen und Schüler verpflichtet“. Ein Auftrag, der in- UNERFÜLLBARES VERSPRECHEN zwischen so selbstverständlich geworden ist, dass er nicht (laut) in Frage gestellt wird, obwohl wir dessen Auslegung mehr und mehr als unerfüllbares Ver- dernden im Dunkeln (…). Es ist zudem ein weiteres sprechen erfahren. Viele Schülerinnen und Schüler, Argument gewonnen, Misserfolge von Schülerinnen Eltern, Politiker und Interessengruppen interpretieren und Schülern den Lehrkräften anzulasten“ (KUNZE, dieses Satz nämlich so: Die Schulen und Lehrkräfte Ingrid 2010, Seite 23). Die Berufsunzufriedenheit sind allein- oder zumindest hauptverantwortlich für vieler Lehrkräfte hängt auch damit zusammen, dass den Bildungserfolg ihrer Schülerinnen und Schüler, wir seitens der Bildungspolitik einen diffusen und für sie müssen auf deren individuelle Voraussetzungen Fehlinterpretationen anfälligen Auftrag zur individu- eingehen und für jeden einzelnen ein individuelles ellen Förderung erhalten, der enorme Zeitressourcen Lernangebot erstellen, damit das individuelle Poten- bindet, an dessen Umsetzung wir uns messen lassen zial optimal abrufen werden kann. Hat eine Schülerin müssen und der noch nicht annähernd verlässlich zu bzw. ein Schüler schlechte Noten und ist lernunwil- den propagierten Erfolgen führt. Es mehren sich die lig oder unmotiviert, hat die Schule und haben seine Indizien und Beweise dafür, dass trotz individueller Lehrkräfte versagt. Förderung die Fähigkeiten und Kompetenzen un- In der Bildungswissenschaft wird der Begriff der „För- serer Schulabsolventen in zentralen Bereichen eher derung“ schon länger kritisch hinterfragt, denn er schlechter geworden sind, obschon unsere Schüler betont „einseitig die Tätigkeit des Fördernden und nachweislich immer bessere Abschlüsse und Noten lässt die Tätigkeit und Mitverantwortung des zu För- erzielen. DAS BILDUNGSIDEAL oder eher für das, was wir auf unsere Kinder projizie- ren, hat sich eine merkwürdige Formel durchgesetzt: „GLEICHHEIT“ BRINGT Je weniger Anstrengung, desto mehr Gleichheit (…). UNSERE KINDER UM So wird zum Beispiel die Tatsache, dass nicht alle auf- grund unterschiedlicher Begabungen dieselben Leis- ZUKUNFSTCHANCEN tungen erzielen können, bereits als Ergebnis sozialer Ungleichheit gewertet – und die Ursache hierfür in einem Zuviel an Anstrengung, Konzentration und Komplexität vermutet. Ursächlich für die Verselbstständigung des Verständ- nisses von individueller Förderung ist auch ein ge- Auf diese Weise kann nur Einfachheit zu der ge- sellschaftlicher Wertewandel, der, so die Politologin wünschten Gleichheit führen“ (BETHKE, Hannah Dr. Hannah Bethke, in dem neuen Bildungsideal der 2015). In der Bildungspolitik wird der Begriff der „Gleichheit“ seinen Niederschlag findet: „In unseren „Einfachheit“ vermieden, stattdessen wird das Ver- Vorstellungen davon, was gut ist für unsere Kinder sprechen der „individuellen Förderung“ gegeben. 7
Missverständnis „Individuelle Förderung“ Lehrerinnen und Lehrer müssen es ihren Schülern ben an die unbegrenzten Möglichkeiten der passiv durch individuelle Förderung „einfach“ machen, ihr erfahrbaren, individuellen Förderung. Anders formu- Potenzial abzurufen und Lernerfolge zu erzielen – so liert: Für meinen Erfolg sind immer andere verant- das Missverständnis. Da aber die individuelle Förde- wortlich. Die zunehmend lauter werdenden Klagen rung bei einer passiven Erwartungshaltung der zu der Ausbildungsbetriebe und Universitäten über die Fördernden nicht funktioniert, kommt es zu Niveau- mangelnde Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft nivellierungen bei gleichzeitig immer besseren Noten. ihrer Azubis und Studierenden (siehe Beitrag auf Damit ist vordergründig jedem gedient: Die Bildungs- Seite 14) stehen mit dieser Fehlentwicklung in ei- administration kann auf „schöne“ Zahlen verweisen nem engen Zusammenhang. Wir „fördern“ unseren (weniger Schulabbrecher, mehr Abiturienten), die El- Kindern Chancen auf ein eigenverantwortliches und tern freuen sich über die „guten“ Bildungsabschlüsse selbstbestimmtes Leben ab und „befördern“ sie, un- ihrer Kinder und die Schulen und Lehrkräfte umge- ter dem Mantel der Gleichheit, in ökonomische und hen ihr „Versagen“ bei der individuellen Förderung soziale Abhängigkeiten. Eine Abkehr von dem fehl- angesichts des hohen Erfolgs- und Rechtfertigungs- geleiteten Bildungsideal „Gleichheit“ und von einer drucks mit der Akzeptanz des Niveauverlustes. Es falschen Vorstellung von den Möglichkeiten individu- gibt nur einen Verlierer, und das sind eben unsere eller Förderung ist nicht erkennbar, weil deren Ver- Schülerinnen und Schüler: Die Zuversicht aufgrund fechter enormen moralischen Druck aufbauen. Das des eigenen Leistungsvermögen aktiv etwas errei- lässt sich am Beispiel „Inklusion“ zeigen. chen zu können, weicht mehr und mehr dem Glau- EIN „BEGRENZTES“ INKLUSIONS- chen Bildungspolitiker schließen, die ein Versprechen auf umfassende individuelle Förderung erteilt haben, VERSTÄNDNIS BERUHT AUF EINEM gerade weil Inklusion, zumindest so wie sie den „UNBEGRENZTEN“ GLAUBEN AN Begriff auslegen, ansonsten nicht funktioniert. Ein weiteres Beispiel dafür, wie empfindlich die politisch INDIVIDUELLE FÖRDERUNG Verantwortlichen darauf reagieren, wenn ihre Inklu- sionsversprechen von der Inklusionsrealität eingeholt werden, ist die Reaktion des Hamburger Bildungsse- „Kultusminister Andreas Stoch verklagt die FAZ“, nators Ties Rabe auf die Kritik an der Umsetzung der lautet der Titel der Stuttgarter Zeitung vom 2. Sep- Inklusion in der Hansestadt: „Mit der Inklusion werde tember 2015. Hintergrund ist der Vorwurf der Frank- endlich ein differenzierter Unterricht mit unterschied- furter Allgemeinen Zeitung, das Kultusministerium lichen Herausforderungen notwendig (…) Inklusion halte ein angeblich „vernichtendes Gutachten“ zur ist eine große Idee, die wir uns nicht kaputtreden las- Gemeinschaftsschule unter Verschluss. FAZ-Redak- sen sollten“ (news4teachers). Auch dieser Fall macht teurin Heike Schmoll schlussfolgert in ihrem Beitrag deutlich, dass die Politik es sich viel zu einfach macht, „Schwäbisches Himmelfahrtskommando“ aus dem indem sie sich selbst und der Öffentlichkeit einredet, ihr vorliegenden Gutachten: „Danach gelingt we- wir Lehrkräfte müssten zum Gelingen von Inklusion der die neue Unterrichtsform des selbstständigen nur einen individuell fördernden und darum differen- Lernens mit Lehrern als Lernbegleitern noch die In- zierten „Unterricht mit unterschiedlichen Herausfor- klusion oder die besondere Förderung der Schwächs- derungen“ anbieten. Die Problematik dieser Unter- ten und Stärksten. Auch die Leistungsbeurteilung ist stellung liegt eben darin, dass – wie bereits skizziert mehr als fragwürdig.“ Laut des Tübinger Erziehungs- – individuelle Förderung nicht Lernwirksamkeit und wissenschaftlers Thorsten Bohl ist das auch darauf Lernerfolg garantiert, sondern im Gegenteil die zurückzuführen, dass es „überhaupt noch keine For- große Gefahr besteht, dass die Schüler in eine passive schungen zum individuellen Lernen“ gebe. Der skiz- Konsum- und Erwartungshaltung abgleiten. zierte Fall lässt auf große Nervosität der verantwortli- Es kommt natürlich nicht von ungefähr, dass sich in der Politik Nervosität breitmacht und Inklusion VOM MORALISCHEN bzw. individuelle Förderung andere Herausforde- DRUCK AGGRESSIVER rungen wie Unterrichtsqualität und Wertigkeit von Schulabschlüssen überlagern. Unzählige Aktivisten, GRUPPEN FREIMACHEN 8 Reale Bildung verbindet!
Missverständnis „Individuelle Förderung“ Gewerkschaftsvertreter, Initiativen und Vereine mi- teilhaben lassen wollen. Und es ist nur mit gefühlter schen beim Thema Inklusion mit und tragen mit ihrer „moralischer Überlegenheit“ erklärbar, wenn eine „Lobbyarbeit“, die mehrheitlich von gesellschafts- Bildungsjournalistin sich nicht davor scheut, einen politischen Motiven und Wertvorstellungen deter- Zusammenhang zwischen der Arbeit heutiger Son- miniert ist, dazu bei, dass es unabhängig von wis- derpädagogen und dem Nationalsozialismus zu kon- senschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen aus struieren: „Damals wuchs unter dem Nationalsozia- der Praxis zu „Verschiebungen“ kommt, was unter lismus mit dem Gesetz „Zur Verhütung erbkranken gutem Unterricht und nachhaltigem Lehren und Ler- Nachwuchses“ die Bedeutung der Hilfsschullehrer, nen verstanden wird. „Im Deutschland der Gegen- während heute die Bedeutung der Sonderpädago- wart bestimmen Verteilungskämpfe zwischen den gen mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechts- verschiedensten Gruppierungen die Agenda, und im konvention in Schulen zunimmt. Mit dem Bedeu- Ringen um Macht und Einfluss berufen sich alle auf tungszuwachs wuchs unter der politischen Vorgabe die Moral. Als moralisch gilt, was gerecht erscheint“, der verschärften Selektion mit Hilfe der Hilfsschulleh- konstatiert der Wirtschaftsjournalist Günter Ogger rer auch die Zahl der „schwachsinnigen“ Hilfsschul- in seinem Buch „Die Diktatur der Moral“ (OGGER, kinder, heute steigt mit Hilfe der Sonderpädagogen Günter 2015, Seite 50f.) und kritisiert: „Immer wird unter der politischen Vorgabe der Inklusion die Zahl dem jeweils anderen die Moral ab- und sich selber der Kinder mit Lern-und Entwicklungsproblemen, die zugesprochen“ (ebd. Seite 35). von der Sonderpädagogik als „behindert“ behauptet werden“ (SCHUMANN 2014). Problematisch ist, dass Es verwundert deshalb kaum, wenn aus Mainz zu diese Stimmen durchaus Einfluss auf die Bildungspo- hören ist, dass bestimmte Gruppierungen auf die litik nehmen, schon deshalb, weil kein Politiker gerne Landesregierung Druck ausüben und verlangen, – und schon gar nicht medienwirksam – an den mo- dass Eltern, die ihr behindertes Kind an einer Förder- ralischen Pranger gestellt wird, weil er sich gegen die schule anmelden wollen, sich zukünftig schriftlich Abschaffung der Förderschulen oder gegen das Ende rechtfertigen sollen, warum sie ihr Kind nicht am der Sonderpädagogik ausspricht. „inklusiven Unterricht“ an einer Schwerpunktschule Es ist aus dem Blick geraten, was bei realistischer Be- GUTER UNTERRICHT IST trachtung und unter Berücksichtigung wissenschaft- licher Erkenntnisse unter individueller Förderung FORDERNDER UND DAMIT verstanden werden kann bzw. was mit individueller LERNWIRKSAMER UNTERRICHT Förderung erreicht werden kann. Bei der aktuellen Überfrachtung von Schule und Lehrkräften mit kaum erfüllbaren Aufgaben, Ansprüchen und Erwartungen droht immer weniger Berücksichtigung zu finden, was die „Kernaufgabe“ von Schule und Lehrkräften ist, nämlich „lernwirksamen“ Unterricht zu ermög- lichen. Der Bildungsforscher John Hattie, der Indikatoren für Lernwirksamkeit untersuchte, sieht in den Lehrkräf- ten und ihrem unterrichtlichen Tun einen der größ- ten Einflussfaktoren auf den Lernerfolg: „Diejenigen Lehrpersonen, die bestimmte Unterrichtsmethoden verwenden, die hohe Erwartungen an alle Lernenden stellen und die positive Lehrer-Schüler-Beziehungen aufbauen, haben mit einer hohen Wahrscheinlichkeit überdurchschnittliche Effekte auf die Schülerleistun- gen“ (HATTIE, John 2013, S. 151). Wenn nun aber die Lehrkräfte keine hohen Erwartungen mehr an ihre Schüler haben (können), weil sie u.a. den Fo- kus gar nicht mehr auf hohen Anspruch und hohe der Erziehungswissenschaftler Professor Hans Wer- Erwartungen legen können, dann befinden wir uns ner Heymann, „die versuchen ihren Schülern die in einer gefährlichen Abwärtsspirale. „Lehrer“, so Anstrengungen des Lernens durch eine äußerliche 9
Missverständnis „Individuelle Förderung“ Aktivierung zu erleichtern oder gar zu ersparen, hel- fen ihnen in der Regel nicht (…). Lehrer, denen es ge- lingt, ihre Schüler kognitiv zu aktivieren, bieten ihnen die Chance auf ein verstehendes und vernetzendes Lernen. Schüleraktivierung ohne damit verbundene kognitive Aktivierung läuft Gefahr, in Leerlauf zu münden “ (HEYMANN, Hans Werner 2015, S. 7). Wir müssen uns also die Frage stellen, ob wir Lehrkräfte nicht zu viel Zeit für Aktivitäten aufwenden, die nicht zielführend sind. UNTERRICHT IST KEIN Fazit: Rheinland-Pfalz befindet sich am Scheideweg. RANDASPEKT DER Auch hierzulande steht inzwischen in Pressemittei- lungen, dass „Inklusion eine Frage der Haltung“ ist. SCHULENTWICKLUNG Natürlich ist das so, aber mit dem Verweis darauf können im Interesse unserer Schülerinnen und Schü- ler, unserer Kolleginnen und Kollegen unrealistische Vorstellungen und Fehlentwicklungen nicht einfach ausgeblendet werden. Die rheinland-pfälzische Lan- desregierung trägt die Verantwortung für die Rah- menbedingungen, die lernwirksamen Unterricht ermöglichen. Wenn Mainz auch aufgrund des mora- Literaturangaben: lischen Drucks, mit der außerschulische Akteure ihre Interessen und Vorstellungen einer „besseren“ Ge- BETHKE, Hannah: Bildungsideal „Gleichheit“ sellschaft über das Bildungssystem durchsetzen wol- Einfalt statt Vielfalt; in FAZ, 14.07.2015. len, Schule und Lehrkräfte unerfüllbaren und auch DEUTSCHES INSTITUT FÜR MENSCHENRECHTE (2011): kontraproduktiven Ansprüchen aussetzen, dann wird Stellungnahme der Monitoringstelle. Eckpunkte zur Mainz seiner Verantwortung nicht gerecht. Es ist Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems (Primar- nicht hinnehmbar, dass gerade die Schwächsten der stufe und Sekundarstufen I und II). Empfehlungen an die Gesellschaft um Zukunftschancen gebracht werden, Länder, die Kultusministerkonferenz (KMK) und den Bund. weil die politisch Verantwortlichen unreflektiert ein HATTIE, John (2013): Lernen sichtbar machen; Schneider Verständnis von Förderung und Unterricht propagie- Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler. ren, das junge Menschen in die Unmündigkeit führt. HELMKE, Andreas (20092): Unterrichtsqualität und Lehrer- Es wäre ein verspäteter PISA-Segen, wenn wir Lehr- professionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung kräfte nicht weiter mit unterrichtsfernen Aufgaben des Unterrichts; Klett/Kallmeyer, Seelze-Velber. überfrachtet würden. Nicht von ungefähr fordert der VRB beharrlich (siehe auch Vorwort des Landesvor- HEYMANN, Hans Werner (2015): Warum sollte Unterricht sitzenden), dass den Schulen für bestimmte außer- „kognitiv aktivieren“?; in PÄDAGOGIK „Kognitiv aktivie- unterrichtliche und erzieherische Aufgaben profes- ren“, 67. Jahrgang, Heft 5/Mai 2015. sionelle Unterstützung (z. B. Schulsozialarbeiter und KUNZE, Ingrid 2010, Seite 23: Begründung und Prob- Schulpsychologen) ermöglicht werden muss. Unter- lembereiche individueller Förderung in der Schule, in: richt ist nicht ein Randaspekt der Schulentwicklung, KUNZE, Ingrid/ SOLZBACHER, Claudia (20103): Individuelle es ist ihr zentraler Dreh- und Angelpunkt. Hier sind Förderung in der Sekundarstufe I und II, Schneider-Verlag, wir Lehrkräfte in der Pflicht und in der Verantwor- Seite 23. tung, und genau dieser Verantwortung wollen wir MÜLLER, Andreas: Kultusminister Andreas Stoch verklagt auch gerecht werden (können). die FAZ; in Stuttgarter-Zeitung.de, 02.09.2015. OGGER, Günter (2015): Die Diktatur der Moral. Wie „das Gute“ unsere Gesellschaft blockiert. Deutscher Taschen- buch Verlag, München. SCHUMANN, Brigitte (2014): Wissenschaftliche Forschung Michael Eich widerlegt Geschichtskonstruktionen der Sonderpädagogik; michael.eich@vrb-rlp.de Gastbeitrag auf bildungsklick.de, 08.12.2014. 10 Reale Bildung verbindet!
Bildungspolitik X N I V E AU U N T E R S C H IEDE IN DEN BU NDESLÄ NDERN: Abitur ohne Wert? FAZ-Redakteurin Heike Schmoll attes- desländer mit einem leistungsstarken ben, ist es eben nichts mehr wert“. tiert in ihrem Kommentar „Abitur ohne Bildungssystem bei einer Angleichung Es zeigt sich wieder einmal, dass die Wert“ (04.07.2015) der Allgemeinen mit Niveauverlusten rechnen und dass einseitige Fixierung auf Abitur und Hochschulreife eine Entwertung. Beim Bundesländer mit niedrigen Ansprü- universitäres Studium eine individuelle Vergleich der in den Bundesländern chen einen Anstieg der Durchfallquo- und vor allem auch eine gesellschaft- uneinheitlich festgelegten Bewertungs- ten befürchten müssen. Die aus diesem liche Sackgasse werden kann. Der VRB und Benotungskriterien kommt sie zu Grund von der Kultusministerkonferenz fordert aus diesem Grund die Stärkung dem Schluss, dass hier eine eklatante (KMK) getroffene Vereinbarung von derjenigen Schularten und -formen, die Ungleichbehandlung der Abiturienten Bildungsstandards und Aufgabenpools reale Bildungsinhalte vermitteln und zu vorliegt. Eine Folge dieser Fehlentwick- für die Abiturprüfungen sind für Heike Bildungsabschlüssen führen, die vielen lung ist die nicht vorhandene Studier- Schmoll allerdings nur „Beschwichti- jungen Menschen die Teilhabe am wirt- reife eines hohen Prozentsatzes der gungen“ und „Scheinlösungen“. „Die schaftlichen Wohlstand ermöglichen. Abiturienten. Zu einer Lösung, z. B. Kultusminister müssen sich auch ein- einer bundesweiten Angleichung der gestehen, dass eine Abiturientenquote Michael Eich/Quelle: SCHMOLL, Oberstufenregelungen, konnten sich von 50 bis 70 Prozent bei einem an- Heike: „Abitur ohne Wert“; ein die Bundesländer bislang nicht durch- spruchsvollen Niveau nicht zu halten Kommentar in FAZ, 4.7.2015) ringen. Das liegt u. a. daran, dass Bun- ist. Wenn am Ende alle das Abitur ha- X DAU ERST RESS MACH T DEPRES S I V Jeder fünfte Student hat psychische Probleme Nach Umfragen und Auswertungen der Techniker Kranken- Die Ursachen für die Überlastung sind neben gesellschaftli- kasse (TK) hatten laut ärztlicher Diagnosen 30 Prozent der chem Druck und finanziellen Problemen wohl auch Fehlent- Studentinnen psychische Probleme, unter den männlichen scheidungen bei der Karriereplanung. Auffällig ist, dass die Kommilitonen waren es 15 Prozent. Dauerstress macht an psychischen Störungen bei den über 30-jährigen Studieren- deutschen Hochschulen viele Studenten so mürbe, dass sie den besonders hoch sind. In diesem Alter sollte allerdings die psychotherapeutische Hilfe suchen. Jeder Vierte (27 Prozent) Berufsausbildung längst abgeschlossen sein. gab in einer Umfrage an, der Druck sei schon mal so hoch Hr / Quelle: wiwo.de, 20.7.15 gewesen, dass ihm mit den üblichen Entspannungsstrategien nicht mehr beizukommen war. 11
Bildungspolitik X PFA L Z M E TA L L - TAG 2015 „Wie ticken Jugendliche – Wer sind die Auszubildenden von morgen?“ Der PfalzMetall-Tag des Verbandes der pfälzischen Metall- und Elektroindustrie findet jedes Jahr im Frühsommer in Neustadt an der Weinstraße statt. Geladene Gäste aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft kommen an diesem Tag zusammen, tauschen sich aus und hören einen Vortrag zu einem aktuellen gesellschaftlichen Thema. Für den VRB nahm in diesem Jahr der stellvertretende Landesvorsitzende Wolfgang Wünschel teil. Malu Dreyer betonte die Gleichwertigkeit von Du- aler Ausbildung und Abitur: „In der Strategie der Berufsvorbereitung haben wir uns noch viel vorge- nommen.“ Julia Klöckner sieht in der Bildung einen Standortfak- tor und fordert eine Weichenstellung hin zur realen Bildung: „Wir müssen Alternativen zum Abitur för- dern!“ Hauptredner des PfalzMetall-Tages 2015 war Peter Martin Thomas, Leiter der Heidelberger SINUS- Aka- demie, der zum Thema „Wie ticken Jugendliche – Wer sind die Auszubildenden von morgen?“ sprach. Der Referent beschrieb die milieuabhängigen Merk- male jugendlicher Lebenswelten und zeigte mit Blick auf die Werbung für eine Duale Ausbildung auf, welche Erwartungen Jugendliche an den Beruf und an die Unternehmen haben. Grundlage seiner Aus- führungen war eine Zielgruppenstudie des SINUS- Die Stiftung PfalzMetall fördert Projekte, die die Neugier für Instituts für die Industrie- und Handelskammern in den MINT-Bereich schon im Vorschulbereich wecken Baden-Württemberg. Erwartungen an den Beruf (Beispiele) Nach der Rede des PfalzMetall-Präsidenten Johannes UÊ Jugendliche und junge Erwachsene blicken über- Heger („Wir sind das Herz der Wirtschaft – und wir wiegend optimistisch in ihre berufliche Zukunft. wollen es bleiben!“) überbrachten Ministerpräsiden- UÊ Die Berufswahl wird bei den meisten Jugendlichen tin Malu Dreyer und Julia Klöckner, CDU Landes-und und jungen Erwachsenen maßgeblich durch in- Fraktionsvorsitzende, Grußworte. Beide rückten bil- trinsische Motivationen gesteuert. Für 85 % der dungspolitische Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Jugendlichen ist der Faktor Spaß besonders wich- Ausführungen. 12 Reale Bildung verbindet!
Bildungspolitik tig. Für zwei Drittel sollte der Beruf den eigenen Neigungen und Fähigkeiten entsprechen. UÊ Die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung (48 %) wird ähnlich häufig in die Top 5 der wichtigsten Berufskriterien gewählt wie ein hohes Einkommen (51 %) und gute Karrierechancen (47 %). UÊ Das Kriterium der Krisensicherheit ist immerhin für jeden dritten Jugendlichen und jungen Erwachse- nen wichtig. Erwartungen an die Unternehmen (Beispiele) Bei den Erwartungen an Unternehmen sind den Ju- gendlichen und jungen Erwachsenen die „weichen“ Faktoren wichtiger als finanzielle Aspekte: UÊ Ein gutes Verhältnis zwischen Mitarbeitern und ih- ren Vorgesetzten sowie die Stimmung unter den Kollegen. UÊ Betriebliche Rahmenbedingungen, die eine bes- sere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben be- günstigen. Peter Martin Thomas, Leiter der Heidelberger SINUS-Akademie: Jungen Menschen sind UÊ Eine regelmäßige Leistungsbewertung und die „weiche Faktoren“ wichtiger als finanzielle Aspekte Möglichkeit zum Erwerb von Zusatzqualifikatio- nen. be ist simpel: Mit Hilfe beliebiger Materialien soll Der Verbandstag bot auch die Gelegenheit aufzuzei- ein Auto gebaut werden, das möglichst weit fährt. gen, wie vielfältig sich Pfalzmetall in verschiedenen Einzige Energiequelle ist eine handelsübliche Mau- Bildungsprojekten engagiert. sefalle. Großes Finale ist der „Grand Prix“, bei dem Pfalzmetall fördert Projekte aus dem Bereich „Bil- die zurückgelegte Strecke zählt. Mitmachen können dung und Erziehung“ Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klassen aller Pfalzmetall engagiert sich in zahlreichen Bildungspro- Schulformen in Teams aus drei bis zehn Personen. jekten und stärkt damit den Fachkräftenachwuchs Pro Schule kann sich ein Team anmelden. Die Stif- von der Kita an, über die Grundschulen bis hin zu tung PfalzMetall lädt die pfälzischen Schulen jeweils den weiterführenden Schulen. Wie sehr Neugier und nach den Sommerferien zur „Formel M“ ein. Begeisterung für den MINT-Bereich schon bei Kin- dern im Vorschulalter geweckt werden können, zeig- te eine Kindergartengruppe aus Neustadt. Projekte für die Sekundarstufe I Mint-EXPERimenTE: Naturwissenschaftlich-techni- sche Experimente für Schülerinnen und Schüler der Klassen 5 und 6 bietet das Projekt „Mint-EXPERi- menTE“ in drei unterschiedlichen Workshops an. Zwei Referenten besuchen dazu Schulen vor Ort und gestalten an einem Vormittag den NaWi-Unterricht einer Klasse. Je nach Wahl des Workshops variiert dabei der Zeitbedarf. Das von den Schülern benötig- te Experimentiermaterial wird von der Stiftung Pfalz- Metall ebenso gestellt wie die beiden Referenten. Ihrer Schule entstehen keine Kosten. Interessierte Lehrerinnen und Lehrer können ihre Klasse einfach anmelden. Formel M: Der jährliche Schüler-Wettbewerb „Formel Fotos: Wünschel M“ verbindet Technik und Konstruktion mit Spaß, Fantasie und Kreativität. In Teamarbeit konstruieren Wolfgang Wünschel wolfgang.wuenschel@ Jugendliche einen Mausefallen-Boliden. Die Aufga- vrb-rlp.de 13
Bildungspolitik X BAU S T E L L E S C H U LQUA LIT Ä T Lerndefizite bei Schulabgängern Sind die rheinland-pfälzischen Qualitäts- sicherungsmaßnahmen ausreichend? SSeit eit it JJahren ahren h wird wird d das as TThema hema „S „Schulqualität“, Sch hullquali litä tät“ t“, h haupt- auptt- sächlich nach Veröffentlichungen von Studienergeb- nissen, in der Öffentlichkeit immer wieder aufgegrif- fen. Bildungspolitiker sind bemüht, die Öffentlichkeit zu beruhigen, kleine Erfolge groß zu reden und bei of- fensichtlichen Mängeln zu beschwichtigen und Besse- rung in Aussicht zu stellen. Externe Evaluation heißt seit Jahren das Zauberwort der Bildungspolitiker in allen Bundesländern, das Schulen auf die Sprünge zur mehr Schulqualität verhelfen soll. Umso mehr ver- wundert es, dass die Landesregierung die Agentur für Qualitätssicherung (AQS), die mit großem Aufwand und hohen Erwartungen eingerichtet wurde, kurzer- hand schließt. Qualitätssicherung hat offenbar an Bedeutung verloren. Vermutlich will man es gar nicht mehr so genau wissen. Unzufriedenheit über Schulleistungen der Abschlussschüler wächst Rückmeldungen zu den in den Abschlusszeugnissen der Sekun- darstufen dokumentierten schulischen Leistungen zeigen immer wieder die Unzufriedenheit der Abnehmer schulischer Bildung auf. Dies gilt für die betriebliche Ausbildung wie auch für das wissenschaftliche Studium gleichermaßen. Die Hinweise auf schulische Qualitätsmängel, die auch Landespolitiker in ihren Wahlkreisen in den Gesprächen mit den Kammern und Betrie- ben wie auch an den Universitäten zu hören bekommen dürf- ten, scheinen kaum Wirkungen auf die Landespolitik entfalten zu können. Insbesondere die Abgeordneten der Regierungspar- 14 Reale Bildung verbindet!
Bildungspolitik teien vertrauen mehr auf die Aussagen der Bildungspolitiker aus Analysen der aktuellen Ausbildungssituation ihren Reihen, die den Erfolg ihrer Schulpolitik hauptsächlich an zur Qualitätssicherung nutzen den Quoten der Schulabschlüsse und an der rückläufigen Zahl Angesichts des demographischen Wandels zeigt sich die Wirt- der Sitzenbleiber gemessen sehen wollen. Eine zu verändernde schaft besorgt, qualifizierte Nachwuchskräfte für die duale Unterrichtspraxis und entsprechend angepasste Leistungsmes- Ausbildung zu finden. Die vorliegenden Zahlen zur dualen Aus- sung werden als Garanten von Schulqualität erklärt und an den bildung geben keinen Anlass zu Optimismus. Claudia Sturm, Schulen über die Agenturen, die die externe Evaluation durch- Landesvorsitzende von DIE FAMILIENUNTERNEHMER in Rhein- führen, implementiert. land-Pfalz, startete in den Sommerferien einen öffentlichen Weckruf. Die Rheinzeitung berichtete darüber 3). Für Claudia Sturm ist besonders schlimm, dass sich die wenigen Jugendli- „Die Bildungsdiskussion der vergangenen chen, die sich für eine Ausbildung gewinnen lassen, nicht be- Jahre wurde in Deutschland häufig sonders leitungsstark zeigen. In ihrem Betrieb in der Baubran- mit einem völlig irrationalen Blick auf die che, blieben fünf Stellen unbesetzt, weil die Schulabgänger die Quote von Universitäts- und Fach- Eignungstests nicht bestanden und die Grundrechenarten und die Grammatik nicht beherrschten. Ihre eigenen Erfahrungen hochschulabsolventen geführt, obwohl würden nach ihrer Darstellung durch eine bundesweite Umfra- diese Quote an sich überhaupt nichts aussagt.“ ge der Familienunternehmer unter 665 Firmen bestätigt. Mehr als ein Drittel der Firmen fänden keine geeigneten Bewerber. 57 Familienunternehmer zur Bildungspolitik 1) Prozent der Unternehmer gaben die schlechte Vorbildung der Bewerber als Grund an. 38 Prozent erklärten, dass sie gar keine Bewerber haben. Die Familienunternehmer stehen mit ihren Einschätzungen nicht Den Orientierungsrahmen Schulqualität alleine dar. Die IHK Koblenz kommt in der Auswertung 2015 in allen Feldern berücksichtigen ihrer Ausbildungsumfrage in ihrem Kammerbezirk zu ähnlichen Die kritischen Stimmen aus Wirtschaft und Wissenschaft zur Ergebnissen: „Die Gründe, warum die Ausbildungsstellen bisher Qualität schulischer Bildung werden in unserem Bundesland nicht besetzt werden konnten, sind nach Auffassung der Unter- (noch) nicht genügend ernstgenommen. Diese passen scheinbar nehmen eine Frage der Qualität und der Quantität: 70 Prozent nicht ins bildungspolitische Weltbild der für die Bildung verant- der befragten Betriebe haben bisher keine oder zu wenige ge- wortlichen Landespolitiker. Dabei hat nicht nur das rheinland- eignete Bewerbungen erhalten. 20 Prozent der insgesamt 586 pfälzische Bildungsministerium einen Orientierungsrahmen befragten Unternehmen lagen bisher gar keine Bewerbungen Schulqualität herausgegeben, der als wesentliches Qualitätsfeld vor. 16 Prozent geben an, dass Ausbildungsverträge wieder ge- neben den Rahmenbedingungen und den schulischen und un- löst worden sind“ 4). terrichtlichen Prozessen auch die Ergebnisse und Wirkungen benennt. Diesem Qualitätsfeld sind als Bereiche die Kompeten- zen, Abschlüsse, Bildungs- und Berufslaufbahnen wie auch die „Unternehmen müssen sich darauf verlassen Zufriedenheit der abnehmenden Einrichtungen und Betriebe zugeordnet. Allerdings spielt dieses Qualitätsfeld bei den rhein- können, dass Elternhaus und Schule eine land-pfälzischen Qualitätssicherungsmaßnahmen im Gegensatz stabile Grundlage schaffen, auf der die Ausbil- zu den anderen Bundesländern momentan kaum eine Rolle. dung aufbauen kann.“ Rheinland-Pfalz glaubt, auf das Qualitätsinstrument der Ab- schlussprüfungen verzichten zu können, und nimmt dabei eine Erwartungen der IHKs und HWKs Rheinland-Pfalz Sonderstellung im Kreis der Bundesländer ein. und Saarlands 5) Betriebe mit den Lerndefiziten nicht alleine lassen „Unter den Leistungsüberprüfungen haben Diese Zahlen verwundern die Schulpraktiker nicht. Seit Jahren diese zentralen Überprüfungen eine klagen die Ausbildungsbetriebe über fehlende Ausbildungsrei- herausragende Bedeutung, weil mit ihnen fe der Schulabgänger. Angesichts der großen Herausforderung, Fachkräfte zu sichern, sehen sich Betriebe gezwungen, initiativ die Vergabe von Abschlüssen und Berech- zu werden. 50 % der von der IHK befragten Unternehmen re- tigungen verbunden ist. Sie ermöglichen agieren auf mangelnde Ausbildungsreife mit innerbetrieblicher Rückschlüsse auf Schul- und Unterrichtsqualität Nachhilfe. Es verwundert nicht, wenn Claudia Sturm die Zuwan- und wirken in hohem Maße orientierend für derungen nach Deutschland als Chance für den Wirtschafts- Schüler, Eltern und Lehrer.“ standort Deutschlands sieht: „Migranten sind inzwischen die besseren Auszubildenden, weil sie eine Ausbildung in Deutsch- Sächsisches Staatsministerium für Kultus2) land als Privileg ansehen“. Auch die IHK Koblenz benennt in ihrer Auswertung 2015 die Schwachstelle: „Fehlende Disziplin, 15
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