BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT - 05/2018 Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen?

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BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT - 05/2018 Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen?
D I S K U R S

05/2018
Karin Büchter

BERUFSSCHULEN IN DER
DUALEN AUSBILDUNG UND
REGIONALEN WIRTSCHAFT
Gleichberechtigte Partnerschaft
durch Reformen?
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT - 05/2018 Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen?
WISO DISKURS
05 / 2018

Die Friedrich-Ebert-Stiftung
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die
traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis
ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die
Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und
Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerk-
schaften verbunden.
Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch:
– politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft;
– Politikberatung;
– internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern;
– Begabtenförderung;
– das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und
   Bibliothek.

Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
Friedrich-Ebert-Stiftung
Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion
an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit, um
Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und
Sozialpolitik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen
und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog zwischen
Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden.

WISO Diskurs
WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und
politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische
Handlungsempfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich
basierten Politikberatung leisten.

Über die Autorin dieser Ausgabe
Prof. Dr. Karin Büchter ist Professorin für Berufs- und Betriebspädagogik
in der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Helmut-Schmidt-
Universität Hamburg und forscht zur Geschichte beruflicher Bildung und
Weiterbildung, betrieblichen Bildung sowie zum Verhältnis von allgemeiner
und beruflicher Bildung.

Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich
Andreas Wille leitet in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik die
Bereiche Arbeit und Qualifizierung.
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Karin Büchter

BERUFSSCHULEN IN DER
DUALEN AUSBILDUNG UND
REGIONALEN WIRTSCHAFT
Gleichberechtigte Partnerschaft
durch Reformen?

 2          VORWORT

 3          ZUSAMMENFASSUNG

 4          EINLEITUNG

 6   1      BERUFSSCHULE IM SCHULRECHTLICH-ADMINISTRATIVEN
            UND NEOKORPORATIVEN KONTEXT

 8    2     ANFORDERUNGEN AN DIE AUSBILDUNG UND AUFGABEN
            DER BERUFSSCHULE
 8    2.1   Fachkräftesicherung und regionale Ausbildungsmärkte
12    2.2   (Aus-)Bildungsverhalten Jugendlicher und Ausbildungsattraktivität
14    2.3   Integrationskraft dualer Ausbildung und Umgang mit Heterogenität
15    2.4   Digitalisierung
16    2.5   Fazit

17    3     BERUFSSCHULISCHE REFORMEN AUF LANDES- UND
            REGIONALEBENE
18    3.1   Berufsschulen als regionale Mitspieler
19    3.2   Eigenständigkeit der Berufsschule
20    3.3   Neue ministerielle Steuerungsformen
21    3.4   Regionale Berufsbildungszentren
22    3.5   Fazit

23    4     FLEXIBILISIERUNG BERUFSSCHULISCHER ANGEBOTE
23    4.1   Freie Berufsschulwahl und Gastschulabkommen
24    4.2   Standort- und ausbildungsübergreifender Unterricht
25    4.3   Flexibilisierungsbedarf und Beruflichkeit
26    4.4   Fazit

27    5     BERUFSSCHULISCHE BILDUNGSABSCHLÜSSE
27    5.1 Bildungskompensation, Doppelqualifizierung und Akademisierung
29    5.2 Individualisierung und Differenzierung berufsschulischer Bildungsangebote
30    5.3 „Smart School“

32    6     AUSBLICK

34    Abbildungsverzeichnis
35    Abkürzungsverzeichnis
36    Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                      2

VORWORT

Die duale Ausbildung und damit die Sicherstellung der Fach-           Die beiden Expertisen stellen jeweils die aktuelle Aus-
kräftebasis ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland von       gangssituation und den Forschungsstand dar, benennen
zentraler Bedeutung. Sie hat traditionell sowohl auf der Ar-      Herausforderungen und Veränderungsbedarfe und zeigen
beitgeberseite als auch bei den Jugendlichen und Beschäftigten    Ansätze, Überlegungen und – soweit vorhanden – konkrete
ein hohes Ansehen. Allerdings gerät die duale Ausbildung          Alternativen auf. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag
in den letzten Jahren zunehmend unter Druck. Nicht allein         zu einer vertieften Diskussion zum Thema. Nachdrücklich wird
das wachsende Interesse der Jugendlichen an einem Studium         außerdem auf Forschungslücken und -bedarfe hingewiesen.
wirft Fragen nach der zukünftigen Fachkräftesicherung und             In der von Professor Dr. Karin Büchter, Universität Ham-
der Attraktivität dieses Bildungsweges auf, auch die existie-     burg, erstellten und von der Friedrich-Ebert-Stiftung geför-
renden Probleme beim Übergang von Jugendlichen in die             derten Expertise „Berufsschulen in der dualen Ausbildung
Ausbildung und die trotz der in einigen Berufen und Regionen      und regionalen Wirtschaft“ (Working Paper Forschungsför-
unbesetzten Ausbildungsplätze nach wie vor hohe Zahl un-          derung, Nummer 59 bzw. WISO Diskurs 05/2018) werden
versorgter Bewerber_innen sind Herausforderungen, die sich        vor dem Hintergrund gegenwärtiger Anforderungen und
stellen. Zudem wirft der technologische Wandel (Stichwort         Aufgaben der Berufsschule Entwicklungen, Reformen und
Industrie 4.0/Arbeit 4.0) Fragen nach einer entsprechend          neue Steuerungsformen diskutiert. Dabei steht die Frage im
veränderten Ausbildung 4.0 auf. Nicht zuletzt sind Erhalt und     Zentrum, wie ihre Position als eigenständiger Partner im Aus-
Steigerung der Attraktivität der dualen Berufsausbildung          bildungssystem und in der regionalen Wirtschaft gestärkt
mit Blick auf die beruflichen Entwicklungschancen und die         werden kann.
Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit der Einzelnen wichtige          Die von Professor Dr. Dietmar Frommberger und Silke
Ziele der Berufsbildungspolitik.                                  Lange, Universität Osnabrück, verfasste und von der Hans-
    Neben einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen         Böckler-Stiftung geförderte Expertise „Zur Ausbildung von
und Auszubildenden ist das fachliche Niveau der Ausbildung        Lehrkräften für berufsbildende Schulen – Befunde und Ent-
mitentscheidend für die Innovations- und Wettbewerbsfähig-        wicklungsperspektiven“ (Working Paper Forschungsförderung,
keit der Unternehmen. Dies betrifft den betrieblichen Teil        Nummer 60 bzw. WISO Diskurs 04/2018) thematisiert aus-
der Ausbildung in Betrieben des Handwerks, der Industrie          gehend von aktuellen fachlichen und pädagogisch-didaktischen
und des Dienstleistungsbereichs ebenso wie den schulischen        Anforderungen Stand und Entwicklung der Aus- und Weiter-
Teil der Ausbildung in der Berufsschule. In den Debatten über     bildung von Lehrkräften für berufliche Schulen. Sie diskutiert
die Herausforderungen und die zukünftigen Gestaltungs-            künftige Einstellungsbedarfe, Aktivitäten zur Behebung des
möglichkeiten der dualen Ausbildung steht der betriebliche        Lehrkräftemangels und der Reform der Ausbildung.
Teil der Ausbildung zumeist im Zentrum. Der Beitrag der Be-           Die Expertisen erscheinen in digitaler Form als zwei auf-
rufsschulen wird seltener thematisiert. In jüngster Zeit deutet   einanderfolgende Working Paper der Forschungsförderung
sich hier jedoch ein Wandel an: Die Bedeutung und die zu-         der Hans-Böckler-Stiftung und in gedruckter Form in der
künftige Rolle der berufsbildenden Schulen rücken zuneh-          Reihe WISO Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung.
mend ins Blickfeld.                                                   Wir bedanken uns bei den Autor_innen sowie bei den Re-
    Die Hans-Böckler-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung    ferent_innen und Diskutant_innen der Expert_innengespräche
haben gemeinsam den schulischen Teil der dualen Ausbil-           „Berufsschule – der schulische Teil der dualen Ausbildung“
dung thematisiert. In einem Diskussions- und Arbeitsprozess,      und wünschen eine angeregte und anregende Lektüre.
in den Vertreter_innen aus Wissenschaft, Politik, Gewerk-
schaften und Berufsschulen einbezogen waren, wurden rele-
vante Fragestellungen zur Situation und zu den Herausfor-         DR. MICHAELA KUHNHENNE, Hans-Böckler-Stiftung
derungen für Berufsschulen erarbeitet, die in zwei Expertisen     RUTH BRANDHERM, Friedrich-Ebert-Stiftung
bearbeitet wurden.                                                ANDREAS WILLE, Friedrich-Ebert-Stiftung
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT                                WISO DISKURS                 3

ZUSAMMENFASSUNG

Der Kultusministerkonferenz zufolge ist die Berufsschule ein      Bildungsinstitution übersetzen sie diese in eigene berufs-
eigenständiger Lernort mit gleichberechtigter Partnerschaft       schulische Konzepte, mit denen sie konstruktiv Einfluss auf
in der dualen Ausbildung. Trotzdem müssen Berufsschulen           die duale Ausbildung nehmen können.
diese Position immer wieder neu erkämpfen. Aktuell werden             Im zweiten Teil werden bereits erfolgte und laufende
sie hierbei durch unterschiedliche berufsbildungspolitische       Reformen in den Blick genommen, die mit dem Anspruch
Programme und Vereinbarungen unterstützt. So widmen               verknüpft sind, die regionale Einbindung, Verantwortung
die „Allianz für Aus- und Weiterbildung“, Sozialpartner und       und Position berufsbildender Schulen und damit Berufs-
die Kultusministerkonferenz der Berufsschule eine zunehmen-       schulen zu verbessern. Im Mittelpunkt stehen Reformen auf
de Aufmerksamkeit. Mit dem Hinweis auf künftige Heraus-           ministerieller und schulorganisatorischer Ebene (Kapitel 3),
forderungen im Beschäftigungs- und Bildungssystem soll die        auf klassenstruktureller, curricularer und unterrichtsorgani-
Bedeutung der Berufsschule für die Qualifizierung und Inte-       satorischer Ebene (Kapitel 4) sowie auf der Ebene von Bil-
gration von Jugendlichen in Ausbildung und Beschäftigung          dungsabschlüssen und Individualisierungskonzepten (Kapi-
und über diesen Weg für die regionale Wirtschaft gestärkt         tel 5). Hierbei geht es um die Frage, ob und inwieweit diese
werden. Konsens besteht darin, dass die Verbesserung der          Reformen dazu beitragen können, den Akteurscharakter und
infrastrukturellen Ausstattung, der Digitalisierung und der       die machtpolitische Position der Berufsschule als gleichbe-
Lehrer_innenbildung zentrale Aufgaben der Berufsschulpolitik      rechtigte Partnerin der dualen Ausbildung zu stärken. Trotz
sein müssen.                                                      landesrechtlicher und kultusministerieller Vorgaben und der
    In der vorliegenden Expertise wird erstens davon ausge-       Abhängigkeit vom regionalen Ausbildungsmarktgeschehen
gangen, dass nicht allein die Verbesserung von Inputfaktoren,     nutzen Berufsschulen schulbürokratische Freiräume und die
wie Ausstattung, Digitalisierung und Lehrer_innenbildung          Politikhaltigkeit der dualen Ausbildung dazu, um mit eigenen
dazu beiträgt, die Berufsschulen in der dualen Ausbildung und     Profilen und besonderen Kompetenzen die duale Ausbildung
in der regionalen Wirtschaft zu stärken. Ein ergänzender Aspekt   in der Region mitzugestalten. Als Bildungsinstitutionen ha-
ist die Verbesserung der machtpolitischen Position von Be-        ben sie bei der Realisierung des gemeinsamen Bildungsauf-
rufsschulen in formellen und informellen regionalen Akteurs-      trags zwischen Schule und Betrieb die meiste Expertise und
konstellationen der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Bildungs-     das größte Gewicht in der dualen Ausbildung und auf dem
politik. Um diese diskutierbar zu machen, werden zunächst         regionalen Ausbildungsmarkt. Aufgrund der Professionalität
die besonderen Merkmale der Berufsschule aufgrund ihrer           des Kollegiums können Berufsschulen bei Themen wie Kom-
schulrecht-administrativen und neokorporativen Verflochten-       petenzentwicklung, Lernförderung, Umgang mit Heterogeni-
heit in den Blick genommen (Kapitel 1).                           tät und Ungleichheit starke und richtungsweisende Positio-
    Im ersten Teil der Expertise (Kapitel 2) werden äußere        nen in regionalen berufsbildungspolitischen Netzwerken
Anforderungen an die duale Ausbildung und die damit zu-           und Kooperationsbeziehungen einnehmen.
sammenhängenden Aufgaben für die Berufsschule beleuchtet.
Unter aktuellen Gesichtspunkten wie Fachkräftesicherung,
(Aus-)Bildungsverhalten Jugendlicher, Umgang mit Hetero-
genität und Digitalisierung wird der Frage nachgegangen,
in welcher Weise Berufsschulen hiervon betroffen sind. Auf
Grundlage dieser Untersuchung wird in der Expertise zwei-
tens davon ausgegangen, dass Berufsschulen aufgrund ihrer
relativen Autonomie gegenüber dem Beschäftigungssystem
bzw. dem dualen Ausbildungspartnerbetrieb nicht vollstän-
dig durch die aktuellen Herausforderungen auf dem regio-
nalen Arbeits- und Ausbildungsmarkt determiniert sind. Als
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                    4

EINLEITUNG

Die Berufsschule ist eine der Schulformen in berufsbilden-       Partner in der dualen Berufsausbildung auszugestalten“
den Schulen. Gemeinsam mit Ausbildungsbetrieben bildet           (KMK 2017b: 3).
sie die duale Ausbildung, in der Jugendliche sowohl am Lern-         Als formal-rechtlich legitimierter Kooperationspartner
ort Betrieb als auch in der Berufsschule für einen anerkannten   der Ausbildungsbetriebe ist der Lernort Berufsschule im Ver-
Ausbildungsberuf nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) oder           gleich zu allen anderen Schulformen des berufsbildenden
Handwerksordnung (HwO) theoretisch und praktisch ausge-          Schulwesens am engsten mit dem Beschäftigungssystem
bildet werden. Die duale Ausbildung gilt im internationalen      verbunden und am ehesten mit den Anforderungen der re-
Vergleich als eine bewährte Form der beruflichen Qualifizie-     gionalen Wirtschaft, des Arbeits- und Ausbildungsmarktes
rung und Integration Jugendlicher in das Beschäftigungssys­      konfrontiert. Der Umfang an Fachklassen und das Unterrichts-
tem und zugleich als „wesentliche Säule für die Deckung          angebot an Berufsschulen richten sich danach aus, wie vie-
des Fachkräftebedarfs in Deutschland“ (vgl. KMK 2017a).          le Jugendliche für welche Ausbildungsberufe im regionalen
Gleichzeitig wird die duale Ausbildung mit dem Hinweis           Umfeld eingestellt werden. Diese Abhängigkeit bringt die
darauf, dass Ausbildungsplatzangebote ungenutzt bleiben          Berufsschule in die Position einer reaktiven Institution oder
und Bewerber_innen bei ihrer Suche erfolglos sind, kritisiert.   eines Anhängsels an die betriebliche Ausbildung. Trotz des
Die Kritik an der dualen Ausbildung richtet sich sowohl an       Dualitätsprinzips ist also die eigentliche Aufgabe der Berufs-
den betrieblichen als auch den schulischen Teil. Während         schulen für die duale Ausbildung und die regionale Wirtschaft
Betriebe aufgrund ihres Rückzugs aus der Ausbildung, einer       auch aus Sicht der KMK (2015: 2), die betriebliche Ausbil-
unzureichenden Ausbildungsqualität und einer fehlenden           dung zu unterstützen und ein „die Berufstätigkeit begleiten-
Kooperationsbereitschaft in der Ausbildung kritisiert werden     des Bildungsangebot bereitzustellen“.
(vgl. Mohr et al. 2015; DGB Jugend 2017), richtet sich die           Auf Seiten der Wirtschaft, d. h. der Arbeitgeber, ihren
an die Berufsschule adressierte Kritik in erster Linie gegen     Interessenverbänden und Kammern, besteht ein kontinuier-
ihre Unmodernität und ihre untergeordnete Position im dua-       liches Interesse daran, die Berufsschule rechtlich und insti-
len Ausbildungssystem.                                           tutionell stärker an das Beschäftigungssystem zu binden,
    Ein Blick in die Geschichte der Berufsschule zeigt, dass     bzw. sie „von der Systemperipherie des dualen Systems in
ihr unterprivilegierter Status in der dualen Ausbildung his-     enge Nähe zum Betrieb“ (Pätzold/Wahle 2003: 479) zu
torische Kontinuität hat (vgl. Stratmann/Schlösser 1990),        verschieben. Um dies zu erreichen, wurde die Berufsschule
ebenso wie Bemühungen, sie von ihrem Anhängsel-Status in         als Partnerin in der dualen Ausbildung durch das BBiG von
der dualen Ausbildung zu befreien. Seit jeher entscheiden        1969 rechtlich festgeschrieben. Durch das „Gemeinsame
Ausbildungsbetriebe über die Vergabe von Ausbildungsplät-        Ergebnisprotokoll“ (KMK 1972) zwischen Bundesregierung
zen und schließen mit den von ihnen ausgewählten Bewerber_       und Kultusministerien wurden das Abstimmungsverfahren
innen die Ausbildungsverträge ab. Die Ausbildungsvergütung       für Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne und die
erfolgt im Rahmen der Tarifverträge, und die Auszubilden-        Einführung des Blockunterrichts zugunsten betrieblicher Aus-
den verbringen zwei Drittel ihrer wöchentlichen Ausbildungs-     bildungszeitregelung beschlossen. Die berufsschulischen Lehr-
zeit am Lernort Betrieb und ein Drittel in der Berufsschule.     pläne wurden durch die Einführung von Lernfeldern stärker
Aufgrund der neokorporativen Steuerung im Rahmen staat-          an betriebliche Arbeits- und Geschäftsprozesse herangerückt.
licher Gesetzgebung überwachen die Kammern die Durch-                Berufsschulen sind aber nicht nur mit dem Beschäftigungs-
führung eines großen Teils der Ausbildung. Auch die Prü-         system, sondern als Schulform berufsbildender Schulen in
fungshoheit liegt bislang bei den Ausbildungsbetrieben bzw.      erster Linie mit dem Bildungssystem verbunden. Neben Be-
den Kammern, auch wenn die Kultusministerkonferenz (KMK)         strebungen, Berufsschulen stärker an das Beschäftigungs-
anstrebt, „die Möglichkeit zu schaffen, Ausbildungsabschluss-    system zu koppeln, lassen sich auch eine Reihe an Bemühun-
prüfungen zu einer gemeinsamen Abschlussprüfung der              gen aufzählen, die seit den 1960er Jahren dazu beigetragen
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT                                WISO DISKURS                  5

haben, die Berufsschule als Bildungsinstitution im Sekundar-      qualität“ (Altrichter et al. 2016: 111) der Berufsschule sowie
bereich II zu stärken. Hierzu gehören die Ausweitung berufs-      für die Möglichkeit berufsschulischer Einflussnahme auf die
schulischer Curricula auf allgemeinbildende Unterrichtsfächer,    duale Ausbildung und die regionale Wirtschaft. Gleichzeitig
die Orientierung der Berufsschuldidaktik an bildungs- und         steht bei einer solchen Perspektive die Frage im Raum, wie
erziehungswissenschaftlichen Standards sowie die Akade-           sich jüngere Reformen im berufsbildenden Schulwesen auf
misierung der Berufsschullehrerbildung. Mit dem Anspruch,         diese relative Autonomie, die Akteursqualität und regionale
Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung zu           Machtposition der Berufsschule auswirken können. Zu die-
realisieren, sind seit Ende der 1970er Jahre durch Beschlüsse     sen Reformen gehören Formen neuer ministerieller Steue-
der KMK Möglichkeiten des Erwerbs allgemeiner Berechti-           rung, wie die Gründung von Landesinstituten für berufliche
gungen in Kombination mit dem Berufsschulabschluss ver-           Bildung, die sich in regionalen Partizipationsmöglichkeiten
bessert worden (vgl. Kell 2006: 165). Trotz dieser bildungs-      berufsbildender Schulen in Regionen unterschiedlich nieder-
politischen Entwicklungen hat die Berufsschule auch als Teil      schlagen können, sowie neue Konzepte der schulorganisa-
des Bildungssystems mit Akzeptanzproblemen umzugehen.             torischen Steuerung, die einerseits schulische Eigenständig-
Nach wie vor sind für Jugendliche allgemeinbildende Ab-           keit erweitern sollen, diese aber andererseits durch neue
schlüsse mit der Perspektive einer akademischen Laufbahn          Auflagen der Effektivierung und Standardisierung der Schul-
attraktiver als Berufsabschlüsse unterhalb des Hochschul-         entwicklung wieder eingrenzen können. Außerdem werden
niveaus. Demzufolge wird die Berufsschule häufig „als Not-        klassenstrukturelle, curriculare und unterrichtsbezogene
lösung“ für Schüler_innen gesehen, die in weiterführenden         Flexibilisierungskonzepte hinsichtlich ihrer Bedeutung für
allgemeinbildenden Schulen keine Chance hatten (Spöttl            die Stärkung der Berufsschule in der dualen Ausbildung und
2017: 6).                                                         der Region in den Blick genommen, ebenso wie Erweiterun-
    Mit der Absicht, Berufsschulen in der öffentlichen Wahr-      gen von Bildungsabschlüssen und Individualisierungskonzepte.
nehmung aufzuwerten, erfahren sie in jüngster Zeit eine zu-           Die vorliegende Expertise basiert auf einer Recherche
nehmende publizistische und programmatische Aufmerksam-           und einer Auswertung von aktuellen berufsbildungspoliti-
keit. Blaß/Himmelrath (2016) fragen, wie die „Berufsschulen       schen Programmatiken des Bundes, der Sozialpartner und
auf dem Abstellgleis […] noch zu retten sind“, Spöttl (2017: 6)   ihrer Verbände, der KMK zum Thema berufsbildende Schulen
fordert einen „radikale[n] Imagewechsel“ und plädiert für         bzw. Berufsschulen sowie von Landesprogrammen. Ergän-
eine Befreiung aus dem „Nischendasein“. Aktuell wird in un-       zend werden aktuelle empirische Daten der Berufsbildungs-,
terschiedlichen partei- und interessenpolitischen Program-        Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung sowie Studien und
men die Bedeutung der Berufsschulen hervorgehoben. In             Qualifizierungsarbeiten zu berufsbildenden Schulen in Re-
der Erklärung von KMK, Bundesvereinigung der Deutschen            gionen herangezogen.
Arbeitgeberverbände (BDA) und Deutschem Gewerkschafts-
bund (DGB) (2017) heißt es: „Die Berufsschulen sind eine
unverzichtbare Säule im System der dualen Ausbildung und
geschätzter Partner der Ausbildungsbetriebe. Sie stehen vor
großen Herausforderungen […]. Es ist dringend erforderlich,
bedarfsgerechte Berufsschulangebote, auch in ländlichen
Regionen, zu erhalten.“
    Im Folgenden geht es um die Bedeutung der Berufsschule
als „gleichberechtigte Partnerin“ (KMK 2015: 2) in der dualen
Ausbildung und für die regionale Wirtschaft. Angesichts
ihrer zweifachen Zugehörigkeit sowohl zum Beschäftigungs-
system als auch zum Bildungssystem, der Tatsache, dass Be-
rufsschule und Ausbildungsbetrieb „einen gemeinsamen Bil-
dungs- und Erziehungsauftrag“ (KMK 2015: 1) zu erfüllen
haben, und die Berufsschule als staatlich organisierte Ein-
richtung keiner rechtlichen Weisungs- oder Entscheidungs-
befugnis der Wirtschaft unterliegt (vgl. Haase 2016: 138),
kann sich die Aufgabe der Berufsschule nicht lediglich auf
die Erfüllung wirtschaftlich und betrieblich formulierter An-
forderungen reduzieren. Die Aufgabe der Berufsschule als
gleichberechtigte Partnerin besteht darin, im Rahmen ihrer
doppelten Systemzugehörigkeit, ihres schulischen Selbstver-
ständnisses, ihrer Bildungsprinzipien sowie ihrer strukturellen
und kapazitären Bedingungen, die Anforderungen an die
duale Ausbildung aufzugreifen, für sich zu übersetzen und
dazu beizutragen, ihre Bewältigung durch eigene berufs-
schulische Konzepte konstruktiv und kooperativ mitzugestal-
ten. Eine solche Perspektive löst die Berufsschule von der
Zuschreibung eines Anhängsels externer Forderungen und
öffnet den Blick für ihre relative Autonomie, für die „Akteurs-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                    6

1

BERUFSSCHULE IM SCHULRECHTLICH-
ADMINISTRATIVEN UND
NEOKORPORATIVEN KONTEXT
Die Berufsschule ist neben der schulischen Berufsvorberei-      und die kapazitäre Versorgung der Schule festgelegt. Wie
tung, den vollzeitschulischen (Aus-)Bildungsgängen und den      solche Vorgaben oder Impulse des schulrechtlich-adminis­
Fach(ober)schulen eine der Schulformen an berufsbildenden       trativen Kontextes von berufsbildenden Schulen bzw. Be-
Schulen bzw. Berufskollegs und gleichzeitig neben dem Aus-      rufsschulen rezipiert und ausgelegt werden, hängt von dem
bildungsbetrieb ein Lernort im Dualen System der Berufsaus-     jeweiligen Innern der berufsschulischen Organisation ab,
bildung. Sie ist damit Teil des Bildungssystems und von allen   das sich aus Schulleitung, Abteilungsleitung, Lehrer_innen
Schulformen berufsbildender Schulen am unmittelbarsten          und Fachpersonal, Schüler_innen- und Elternvertretungen
mit den Anforderungen des Beschäftigungssystems sowie           zusammensetzt, die ebenfalls jeweils unterschiedliche Funk-
regionalen Arbeits- und Ausbildungsmarktes konfrontiert.        tionen und Aufgaben ausüben, Wahrnehmungen haben,
    Als Teil berufsbildender Schulen ist sie dem Sekundar-      Interessen vertreten und über unterschiedliche Gestaltungs-
bereich II des Bildungssystems zugeordnet und unterliegt        und Verhinderungsmacht innerhalb der berufsbildenden
den Rahmenvorgaben der KMK und den rechtlichen Vorga-           Schulen bzw. Berufsschulen verfügen.
ben des öffentlichen Schulwesens. Angesichts der föderalen          Hinsichtlich ihrer rechtlich-administrativen Steuerung
Struktur Deutschlands und der Kulturhoheit der Länder liegt     und ihrer inneren Organisation ist die Berufsschule als Teil
die Gesetzgebungskompetenz für allgemeinbildende und            der berufsbildenden Schulen eine klar definierte Institution
berufsbildende Schulen bei den Ländern. Neben den Schul-        im Bildungswesen. Auch ihre Teilnehmenden sind in erster
gesetzen, die Rechte auf Bildung und Erziehung, Aufbau          Linie Schüler_innen, die an einem klar definierten schulischen
und Aufgaben des Schulwesens und seiner unterschiedlichen       Unterricht teilnehmen, dessen Gestaltung an den Rahmen-
Schulformen vorgeben, existieren eine Reihe weiterer Gesetze,   vorgaben und dem Rahmenlehrplan der KMK orientiert ist.
die die Schulverfassung, Schulorganisation, Schulpflicht und        Die Schüler_innen der Berufsschule haben vor Eintritt in
Mitwirkungen an allen Schulen regeln. Aufsichtsbehörden         die Berufsschule eine allgemeinbildende Schule besucht.
(Kultusministerien, Schulbehörden, Schulamt), Schulträger       Einige haben zwischen dem Verlassen der allgemeinbilden-
(Bundesland, Kommune, Kreise) sowie verschiedene Mitwir-        den Schule und dem Eintritt in die Berufsschule an einer
kungsorgane (Schülervertretungen, Elternvertretungen), Bei-     Berufsorientierung oder Berufsvorbereitung teilgenommen
räte und beratende Gremien übernehmen Überwachungs-             oder waren erwerbstätig. Sofern sie die zwölfjährige Schul-
und Steuerungsfunktionen über Schulen, und damit über           pflicht noch nicht erfüllt oder das 18. Lebensjahr noch nicht
berufsbildende Schulen wie auch die Berufsschule. Die Schul-    erreicht haben, sind sie berufsschulpflichtig. Berufsschulbe-
aufsicht verantwortet neben der Fachaufsicht auch die Rechts-   rechtigt sind sie, wenn diese Bedingungen gegeben sind.
und Dienstaufsicht und wird in der Regel durch Schulräte        Nach der „Rahmenvereinbarung über die Berufsschule“ der
wahrgenommen. Berufsbildende Schulen und damit die              KMK (2015) besteht eine zentrale Aufgabe der Berufsschule
Berufsschulen sind also in einem schulrechtlich-administra-     darin, den Schüler_innen, die sich in einer beruflichen Erst-
tiven Kontext eingebunden, dessen Akteure bzw. Akteurs-         ausbildung befinden, „den Erwerb berufsbezogener und
konstellationen auf den verschiedenen Ebenen der schulischen    berufsübergreifender Kompetenzen unter besonderer Be-
Steuerung, Verwaltung und Organisation über unterschied-        rücksichtigung der Anforderungen der Berufsausbildung zu
liche Befugnisse, Interessen, Beteiligungs- und Einflusschan-   ermöglichen. Sie befähigt zur Ausübung eines Berufes und
cen verfügen. Auf dieser Basis werden die bildungspolitische    zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer,
Bedeutung der Berufsschule und ihre Position zwischen dem       ökonomischer und ökologischer Verantwortung“ (KMK 2015: 2).
Sekundarbereich I und dem Hochschulsektor im Bildungssys-       Der Unterricht an der Berufsschule erfolgt in Teilzeitform,
tem verhandelt, berufsschulische Reformprogramme ausge-         wöchentlich oder in zusammenhängenden Zeitblöcken (Block-
macht, Prioritäten und Strategien bei der Umsetzung von         unterricht) und beträgt mindestens zwölf Wochenstunden.
Reformen vorgeschlagen sowie die finanzielle Unterstützung      Er umfasst neben berufsbezogenen Unterricht auch berufs-
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT                                   WISO DISKURS                   7

übergreifenden Unterricht mit dem Ziel der Erweiterung der         der Selektion, Qualifizierung, Sozialisation und Allokation
vorher erworbenen allgemeinen Bildung (vgl. KMK 2015: 4).          der Jugend in dualer Ausbildung.
Für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule be-             Die Konsolidierung des Dualen Systems der Berufsaus-
schließt die KMK den Rahmenlehrplan, der mit der entspre-          bildung durch die Integration der Berufsschule in den Se-
chenden vom Bund verabschiedeten Ausbildungsordnung,               kundarbereich II des Bildungssystems und durch das Inkraft-
die für die Ausbildung in einem bestimmten Beruf am be-            treten des BBiG von 1969 hat die systemischen, rechtlichen,
trieblichen Lernort maßgeblich ist, abgestimmt wird. Grund-        institutionellen und curricularen Differenzen der beiden Lern-
lage hierfür ist das „Gemeinsame Ergebnisprotokoll betref-         orte Berufsschule und Betrieb eher gefestigt. Diese führen
fend das Verfahren bei der Abstimmung von Ausbildungs-             seither zu kontinuierlichen berufsbildungspolitischen und
ordnungen und Rahmenlehrplänen im Bereich der beruflichen          -praktischen Forderungen nach einer besseren Abstimmung
Bildung zwischen der Bundesregierung und den Kultus-               und intensiveren Kooperation der beiden Lernorte. Das Haupt-
ministern (-senatoren) der Länder“ von 1972 (KMK 1972).            ziel dabei ist es, dass sich schulisches und betriebliches Lernen
     Während die Berufsschule staatlich bzw. kooperativ-           sinnvoll ergänzen und aufeinander aufbauen und nicht isoliert
föderal geregelt ist, ist die betriebliche Ausbildung neokor-      nach eigenen curricularen Maßgaben stattfinden. Im Zusam-
porativ, d. h. auf der Basis einer Verflechtung staatlicher,       menhang mit solchen Forderungen wird insbesondere aus
verbandlicher, sozialpartnerschaftlicher, privatwirtschaftlicher   berufs- und wirtschaftspädagogischer Sicht kritisch auf ein
Regelungen und Interessen gesteuert. Der Staat gibt die            Abstimmungsgefälle bzw. auf das Übergewicht der betrieb-
rechtlichen Grundlagen mit den Bundesgesetzen BBiG und             lichen Anforderungen im Dualen System der Berufsausbil-
HwO vor. Diese legen Rahmenbedingungen und Standards               dung hingewiesen.
für die Berufsbildung fest. Die Überwachung über die betrieb-          Trotz der eindeutigen Zugehörigkeit der Berufsschule zum
liche Ausbildung obliegt je nach Ausbildungsberuf den ent-         Bildungssystem und der rechtlichen Unabhängigkeit vom
sprechenden Kammern. Diese errichten auch einen Berufs-            betrieblichen Lernort ist sie gegenüber den regionalen, wirt-
bildungsausschuss, dem Beauftragte der Arbeitgeber, der            schafts-, arbeits- und ausbildungsmarktpolitischen Entwick-
Arbeitnehmer und nur mit beratender Stimme Lehrkräfte              lungen nicht vollständig autonom. Strategien, Interessen
an berufsbildenden Schulen angehören. Die Ausbildungs-             und Unterstützungsmöglichkeiten von Ausbildungsbetrieben,
ordnungen werden in Abstimmungen zwischen Staat und                aber auch die Nachfrage der Jugendlichen auf dem regionalen
Sozialpartnern festgelegt und gemeinsam mit den Sachver-           Ausbildungsmarkt beeinflussen die berufsschulischen Bedin-
ständigen der Länder mit den berufsschulischen Rahmen-             gungen, Strukturen und Prozesse. Obwohl Ausbildungsbe-
lehrplänen verhandelt.                                             triebe und ihre Vertretungen also keine rechtlich legitimierte
     Aufgrund ihrer unterschiedlichen systemischen Zugehö-         Interventionsbefugnis auf berufsschulische Entscheidungen
rigkeiten – der Lernort Berufsschule ist Teil des Bildungs-        haben, können sie aufgrund ihrer regional-, arbeitsmarkt- und
systems, der betriebliche Lernort Teil des Beschäftigungs-         ausbildungspolitischen Macht eine „pointierte [...] ‚Pressure-
systems –, ihrer institutionellen und rechtlich-administrativen    Politik‘ für und gegen bestimmte berufsbildungspolitische
Trennung und ihrer unterschiedlichen Interessengebunden-           Reformvorhaben“ (Hilbert et al. 1990: 12) ausüben.
heit folgen die für beide Lernorte maßgeblichen Curricula              Insgesamt sind Berufsschulen also in komplexer Weise
unterschiedlichen Logiken. Der berufsschulische Rahmenlehr-        mit ihrem bildungspolitischen, schulrechtlich-administrativen
plan ist vor allem nach pädagogischen und wissenssystema­          Kontext verwoben, durch eine schulische Funktions- und
tischen Gesichtspunkten aufgebaut. Hier geht es in erster          Aufgabenstruktur intern organisiert und als Teil des Dualen
Linie um die Förderung „beruflicher Handlungskompetenz“,           Systems hinsichtlich der beruflichen Schwerpunktsetzung
die Fachkompetenz, Humankompetenz und Sozialkompetenz              und Fachklassenbildung von den Entscheidungen und Ent-
einschließt (vgl. KMK 2007: 10). In der betrieblichen Aus-         wicklungen auf dem regionalen Ausbildungsmarkt abhängig.
bildung steht die fachliche Vorbereitung auf eine Berufstätig-     Und nicht zuletzt auch davon, wie und in welcher Hinsicht auf
keit im Vordergrund. Nach § 1 des Berufsbildungsgesetzes           ministerieller und behördlicher Ebene schul- und wirtschafts-
(BBiG 2005) geht es hier nur um die Förderung einer eng            politische Interessen und Entscheidungen ineinandergreifen.
an Arbeit ausgerichteten „beruflichen Handlungsfähigkeit“              Für die Berufsschuldiskussion offene Fragen sind: Unter
mit dem Ziel der Ausübung „einer qualifizierten beruflichen        welchen (mikro-)politischen Bedingungen sind Berufsschulen
Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt“. Diese um-         starke und gleichberechtigte Partner im Dualen System, und
fasst berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten.         unter welchen Voraussetzungen können sie gestaltend Ein-
     Für die Ausbildung im Dualen System sind Berufe mit ih-       fluss auf die duale Ausbildung und das regionale (Aus-)Bil-
ren Ausbildungsordnungen ein zentraler Bezugspunkt. Der-           dungsgeschehen nehmen?
zeit liegt die Zahl der anerkannten oder als anerkannt gel-
tenden Ausbildungsberufe bei 327 (BIBB 2017: 2). Auch die
Berufsschulen und ihre Fachklassen sind nach Berufsfeldern
oder Fachrichtungen gegliedert. Die Gewichtungen nach Fach-
richtungen und die beruflichen Schwerpunkte an einer Be-
rufsschule richten sich nach dem jeweiligen betrieblichen
Angebot des regionalen Ausbildungsmarktes und der Zahl
der Neuzugänge zu Ausbildungsberufen. Abgesehen davon,
dass der Beruf die curriculare Architektur des Dualen Systems
ist, sind Ausbildungsbetriebe die dominanten Akteure bei
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                                         8

2

ANFORDERUNGEN AN DIE AUSBILDUNG UND
AUFGABEN DER BERUFSSCHULE

Zu den von der „Allianz für Aus- und Weiterbildung 2015                              sondern auch auf der „mittleren Qualifikationsebene, also
bis 2018“ genannten Anforderungen an die duale Ausbil-                               auf Ebene der Fachkräfte mit abgeschlossener dualer Aus-
dung gehören vor allem Fachkräftesicherung, Beseitigung                              bildung, zu Fachkräfteengpässen“ kommt. Ein Indikator für
von „Passungsproblemen“ auf dem Ausbildungsmarkt und                                 diese Engpässe ist die kontinuierlich rückläufige Zahl an
Steigerung der Attraktivität und Integrationsfähigkeit der                           Neuzugängen in der dualen Ausbildung (2009: 564.306;
Ausbildung für Jugendliche. Diese Anforderungen werden                               2012: 551.259; 2015: 520.332) (BIBB 2017a: 33). Parallel
im Folgenden näher beleuchtet, verbunden mit der Frage                               zur rückläufigen Zahl an neu abgeschlossenen Ausbildungs-
nach den Aufgaben für die Berufsschule und ihren Mitgestal-                          verträgen ist auch die Zahl der Schüler_innen an Berufs-
tungsmöglichkeiten.                                                                  schulen bundesweit seit 2009 gesunken (Abbildung 1).
                                                                                     Allerdings zeigt sich andererseits anhand der jüngsten Daten,
                                                                                     dass in einigen Bundesländern, in Baden-Württemberg (BW),
2.1 FACHKRÄFTESICHERUNG UND                                                          Bayern (BY), Berlin (BE), Hamburg (HH), Nordrhein-West-
REGIONALE AUSBILDUNGSMÄRKTE                                                          falen (NW), Sachsen (SN) und Schleswig-Holstein (SH), die
                                                                                     Zahl der Schüler_innen an öffentlichen Teilzeit-Berufsschulen
Dass die Frage der Fachkräftesicherung die duale Ausbil-                             wieder ganz leicht zugenommen hat.
dung direkt betrifft, zeigt der aktuelle Berufsbildungsbericht                           Aufgrund des Zusammenhangs zwischen dem Ausbil-
(BMBF 2017a: 8), demzufolge es nicht nur auf der höheren,                            dungsmarktgeschehen und der Entwicklung der Zahl der

 Abbildung 1
 Schüler_innen an öffentlichen Teilzeit-Berufsschulen, nach Bundesländern, Schuljahr 2009/10 – 2016/17
 (für die Bundesländer Bremen und Saarland lagen keine bzw. keine aktuellen Daten vor)

        400.000
                                                                                                                     BW: Baden-Württemberg
                                                                                                                     BY: Bayern
        350.000                                                                                                      BE: Berlin
                                                                                                                     BB: Brandenburg
                                                                                                                     HB: Bremen
        300.000                                                                                                      HH: Hamburg
                                                                                                                     HE: Hessen
                                                                                                                     MV: Mecklenburg-Vorpommern
        250.000
                                                                                                                     NI: Niedersachsen
                                                                                                                     NW: Nordrhein-Westfalen
        200.000                                                                                                      RP: Rheinland-Pfalz
                                                                                                                     SL: Saarland
                                                                                                                     SN: Sachsen
        150.000                                                                                                      ST: Sachsen-Anhalt
                                                                                                                     SH: Schleswig-Holstein
                                                                                                                     TH: Thüringen
        100.000

          50.000

                  0
                          BW           BY          BE          BB   HB    HH    HE      MV    NI    NW          RP   SN    ST     SH      TH

                                                                         2009    2012        2015        2016
 Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2017, E7.1
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT                                           WISO DISKURS                9

Schüler_innen an Berufsschulen wirken sich auch „Passungs-                  heißt, Probleme bei der Besetzung von Ausbildungsstellen
probleme“ auf den Umfang des Zugangs von Schüler_innen                      manifestieren sich nicht nur in bestimmten Berufen und
zu Berufsschulklassen aus. Anzahl an Fachklassen und Breite                 Betriebsgrößenordnungen, sie variieren auch nach Regionen.
des Unterrichtsangebots in der Berufsschule variieren dem-                  In ihrer Qualifikations- und Berufsfeldprojektion bis 2035
nach mit der quantitativen Entwicklung besetzter betrieblicher              (Abbildung 3) kommen Zika et al. (2017: 4) zu dem Ergebnis,
Ausbildungsplätze.                                                          dass gewachsene regionale Wirtschaftsstrukturen auch künf-
    In den letzten Jahren sind die Zahlen nicht besetzter Aus-              tig das Angebot auf dem regionalen Arbeits- und damit
bildungsstellen bundesweit kontinuierlich gestiegen (2009:                  Ausbildungsmarkt beeinflussen werden. Demzufolge wird
17.564, 2012: 34.051, 2016: 43.478) (vgl. Matthes et al.                    es in Norddeutschland eine starke Konzentration auf Land-
2017: 19). Die größten Besetzungsprobleme hat das Handwerk                  und Forstwirtschaft, Fischerei, Fahrzeugbau, Verkehr und
zu verzeichnen. Hier liegt der Anteil der unbesetzten Ausbil-               Lager geben, in der Mitte Deutschlands eher auf die Bereiche
dungsstellen bei 9,4 Prozent (14.041). Im Zuständigkeitsbereich             unternehmensnaher Dienstleistungen, Finanz-, Versicherungs-
von Industrie und Handel liegt der Anteil bei 7,7 Prozent (24.621)          wesen, Verkehr und Lagerei, im Osten Deutschlands vor
(vgl. Matthes et al. 2017: 21). Die 15 am stärksten von Be-                 allem auf unterschiedliche Dienstleistungen und das Gesund-
setzungsproblemen betroffenen Ausbildungsberufe sind der                    heitswesen und im Süden des Landes weiterhin auf Industrie
Gastronomie und dem Handwerk zuzuordnen (Abbildung 2).                      und Dienstleistungen.
    Von Besetzungsproblemen sind besonders Klein- und                           Insbesondere in den ost- und süddeutschen Regionen
Kleinstbetriebe betroffen. So konnte 2016 „jeder zweite                     konnte in 2016 ein hoher Anteil der angebotenen Ausbil-
Kleinstbetrieb mit weniger als 20 Beschäftigten seine ange-                 dungsplätze nicht besetzt werden: „Die höchsten Anteile
botenen Ausbildungsstellen nicht vollständig besetzen“                      unbesetzter betrieblicher Ausbildungsplatzangebote wurden
(BIBB 2017b: 233). Aber auch unter den mittelständischen                    2016 in Greifswald (26,2 Prozent) und Potsdam (20,7 Pro-
Betrieben nimmt das Problem der Nachwuchs- bzw. Fach-                       zent) gemeldet. Insgesamt blieben in Ostdeutschland 10,3 Pro-
kräftesicherung zu, während mit steigender Betriebsgröße                    zent aller betrieblichen Ausbildungsplatzangebote unbe-
Ausbildungsstellen häufiger erfolgreich besetzt werden                      setzt […]. Kaum betroffen von Besetzungsproblemen waren
können (vgl. BIBB 2017b: 231).                                              hingegen z. B. Kassel (1,1 Prozent), Dortmund (1,1 Prozent),
    Zudem können von Besetzungsproblemen je nach Region                     Stendal (1,4 Prozent) und Hannover (1,6 Prozent)“ (Matthes
ganz andere Ausbildungsberufe betroffen sein können. Das                    et al. 2017: 19).

 Abbildung 2
 Die 15 am stärksten von Besetzungsproblemen betroffenen Ausbildungsberufe nach Anteil unbesetzter Plätze am betrieblichen
 Angebot, 2016 (in %)

                                                      Glaser_in

                                                    Tierwirt_in

                                                  Koch/Köchin

                             Steinmetz_in und Steinbildhauer_in

     Fachkraft für Möbel-, Küchen- und Umzugsservice

                                            Gebäudereiniger_in

                                          Hotelkaufmann/-frau

                                                Gerüstbauer_in

                                Beton- und Stahlbetonbauer_in

                                                     Bäcker_in

                                                  Klempner_in

                     Fachmann/-frau für Systemgastronomie

               Fachverkäufer_in im Lebensmittelhandwerk

                                                    Fleischer_in

                                     Restaurantfachmann/-frau

                                                                   0   5   10       15       20       25       30         35      40
 Quelle: BIBB 2017b, S. 25
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                                                                   10

 Abbildung 3
 Regionale Quoten unbesetzter betrieblicher Ausbildungsangebote im Jahr 2016 (in %)

                                                                                                                         Quote in %                     Zahl der Regionen
                                                                                                                         unter 5 %                                   30
                                                                                                                         5 % bis unter 10 %                          80
                                                                                                                         10 % bis unter 15 %                         32
                                                                                                                         15 % bis unter 20 %                         10
                                                                                                                         20 % und mehr                               2

 Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung, Erhebung zum 30. September; Bundesagentur für Arbeit, Ausbildungsmarktstatistik zum 30. September (Sonderauswertung zur
         Vorbereitung des Berufsbildungsberichts); Bundesinstitut für Berufsbildung, eigene Berechnungen des BIBB-Arbeitsbereichs 2.1

Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt                                                  zungsprobleme auf die weiteren Bildungsangebote der berufs-
gehören zu den Bundesländern, die vergleichsweise stark                                                 bildenden Schulen aus, da dann durch Berufsvorbereitung
mit Besetzungsproblemen auf dem Ausbildungsmarkt um-                                                    oder berufsfachschulische Angebote diejenigen Jugendlichen
zugehen haben. In den Jahren zwischen 2009 und 2012 ist                                                 aufgefangen werden, die keinen Ausbildungsplatz bekom-
es hier zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Schüler_                                              men haben.
innen an Berufsschulen gekommen, während sich in jüngster                                                    Wenn die Entwicklung von Berufsschulen im Zusammen-
Zeit dieser Trend jedoch wieder etwas abschwächt.                                                       hang mit dem regionalen Ausbildungsmarktgeschehen, be-
    In einigen Regionen überwiegt eine umgekehrte Proble-                                               trieblichen Ausbildungsengagement und Ausbildungsinteresse
matik. Passungsprobleme sind hier nicht auf Besetzungs-                                                 der Jugendlichen steht, ist zu fragen, wodurch diese beein-
probleme auf dem Ausbildungsmarkt, sondern auf Versor-                                                  flusst werden. Das betriebliche Ausbildungsengagement, so
gungsprobleme zurückzuführen. Das heißt, dass ausbildungs-                                              eine landläufige These, unterliegt dem Prinzip konkurrenz-
platzsuchende Jugendliche nicht mit einem ihren Wünschen                                                bewussten Wirtschaftens. Demzufolge sind in erster Linie
entsprechenden Ausbildungsplatz versorgt werden können                                                  negative Kosten-Nutzen-Bilanzierungen bzw. Verwertungs­
(Abbildung 4). Versorgungsprobleme betreffen vor allem                                                  aspekte entscheidend für betriebliche Ausbildungsabstinenz.
Ausbildungsberufe in den Bereichen Marketing und Medien.                                                Ein zentrales Motiv betrieblicher Ausbildung besteht dann
Diese Berufe sind im Hinblick auf Anforderungen, Qualität                                               im eigenen Bedarf an selbst ausgebildeten Fachkräften. Dies
und Bezahlung für viele Jugendliche attraktiv.                                                          bestätigt der jüngste Datenreport zum Berufsbildungsbericht
    Inwieweit sich Versorgungsprobleme auf Berufsschulen                                                (BIBB 2017b: 231): „Ausschlaggebend für Betriebe, sich an
auswirken, ist nicht eindeutig. So können Fachklassenstärken                                            der Ausbildung Jugendlicher zu beteiligen, ist vor allem der
dennoch erreicht werden, gleichzeitig kann sich hierdurch                                               Zusatz- und Ersatzbedarf an Beschäftigten im mittleren Quali-
aber auch die Zahl der Schüler_innen reduzieren. Versorgungs-                                           fikationssegment und hier insbesondere bei den Beschäftigten
probleme auf dem regionalen Ausbildungsmarkt müssen                                                     mit einer betrieblichen Berufsausbildung.“ Durch die Inves-
nicht zwangsläufig den Druck auf Betriebe erhöhen, künftig                                              tition in eigene Ausbildung können sich Betriebe vom exter-
mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Ob und inwieweit Ver-                                               nen regionalen Arbeitsmarkt unabhängig machen. „Ausbil-
sorgungsprobleme dazu führen, dass die Bereitschaft von                                                 dungskosten werden bis zu einem bestimmten Maß in Kauf
Betrieben zunimmt, auch in neuen Berufsfeldern, in denen                                                genommen, da durch die Übernahme der Ausbildungsabsol-
sie bislang nicht ausgebildet haben, auszubilden, ist offen.                                            ventinnen und Ausbildungsabsolventen mittel- und langfristig
Fraglich ist auch, inwieweit die fachliche Ausrichtung, die                                             wirksame Erträge entstehen“ (Schönfeld et al. 2016: 13).
Aufnahmekapazitäten und die Voraussetzungen für Ange-                                                   Auch das Motiv auszubilden, um Auszubildende als billige
botserweiterungen der in der jeweiligen Region ansässigen                                               Arbeitskräfte einzusetzen, spielt nach wie vor eine Rolle.
Berufsschule hierbei eine Rolle spielen. Versorgungsprobleme                                            „Bei Betrieben, die nach dem Produktionsmotiv ausbilden,
auf dem Ausbildungsmarkt wirken sich ebenso wie Beset-                                                  stehen die produktiven Leistungen der Auszubildenden im
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT                                            WISO DISKURS                  11

 Abbildung 4
 Die 15 am stärksten von Versorgungsproblemen betroffenen Ausbildungsberufe nach Anteil noch Suchender an der Nachfrage, 2016 (in %)

                                   Veranstaltungskaufmann/-frau

                                                         Florist_in

  Fachangestellte/-r für Medien- und Informationsdienste

                             Tiermedizinische/-r Fachangestellte/-r

                    Kaufmann/-frau für Tourismus und Freizeit

                                               Chemielaborant_in

                                                   Buchhändler_in

                                                       Fotograf_in

                                               Biologielaborant_in

                         Mediengestalter_in in Digital und Print

   Informations- und Telekommunikations-Elektroniker_in

                                Sport- und Fitnesskaufmann/-frau

                               Mediengestalter_in in Bild und Ton

                              Gestalter_in für visuelles Marketing

                                                    Tierpfleger_in

                                                                      0   5   10       15       20        25       30       35       40
 Quelle: BIBB 2017b, S. 25

Vordergrund. Die Auszubildenden erstellen bereits während                     Kalküls ausbilden. „Neben den eher betriebswirtschaftlichen
der Ausbildung monetär verwertbare Produkte und Dienst-                       Motiven gibt es auch immer Betriebe, die sich in der sozialen
leistungen für den Betrieb und tragen so zum Geschäftser-                     Verantwortung sehen, jungen Menschen die Möglichkeit zu
folg bei“ (Schönfeld et al. 2016: 13).                                        geben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und gleichzeitig
    Für die betriebliche Zurückhaltung in der Ausbildung sind                 den Fachkräftebedarf in der Region und der Branche zu
im Rahmen des Kosten-Nutzen-Kalküls die unzureichende                         sichern“ (Schönfeld et al. 2010: 15). In dörflich-ländlichen
betriebliche Ausbildungsinfrastruktur, zu hoher Betreuungs-                   Regionen leisten Betriebe durch die Aufnahme von Auszu-
aufwand vor dem Hintergrund von Auftragsdruck sowie                           bildenden mitunter Verwandtschafts-, Freundschafts-, Nach-
Abwanderungsgefahr der fertig ausgebildeten Jugendlichen                      barschaftsdienste. Auch Ausbildungskampagnen und mora-
als Gründe für mangelndes betriebliches Ausbildungsenga-                      lische Aufforderungen von Innungen oder Kammern können
gement entscheidend (vgl. Mohr et al. 2015). Besetzungs-                      Betriebe dazu veranlassen auszubilden, ebenso wie das be-
probleme werden vonseiten der Betriebe häufig individualisiert,               triebliche Interesse am Erhalt einer nahegelegenen Berufs-
d. h. auf Persönlichkeitsmerkmale und Verhalten der Jugend-                   schule, zu der eine gewachsene Kooperationsbeziehung
lichen zurückgeführt, auf ihr rückläufiges Interesse an Aus-                  besteht, und deren Existenz Betrieben zumindest immer
bildung, auf das gestiegene Anspruchsniveau geeigneter                        die Option offenlässt, wenn sie sich eines Tages wieder für
Ausbildungsplatzbewerber_innen, auf unzureichende Vor-                        Ausbildung entscheiden sollten, die Jugendlichen ortsnah
bildung ausbildungsinteressierter Bewerber_innen, auf einen                   beschulen zu können. So gesehen sind nicht nur regional-
hohen Aufwand bei der Betreuung und Unterstützung der                         ökonomische und betriebswirtschaftliche Motive, sondern
Auszubildenden, auf zu wenig produktive Einsatzmöglichkei-                    auch soziokulturell gewachsene Kontexte, soziale Ereignisse
ten der Auszubildenden im Betriebsalltag, auf betriebliche                    und bestimmte formelle und informelle regionale Akteurs-
Erfahrungen mit vorzeitigen Vertragslösungen und auf zu                       konstellationen mitverantwortlich für das Ausbildungsmarkt-
geringe Unterstützung durch die Eltern und die Berufsschule                   geschehen in den Regionen. Die Frage ist, welche Bedeutung
(vgl. Pahnke et al. 2014; Protsch 2014; Mohr et al. 2015).                    und welchen Einfluss Berufsschulen in diesen Akteurskonstel­
    Betriebliche Ausbildungsentscheidungen folgen aber                        lationen haben, und ob sie hierüber regionales Ausbildungs-
nicht grundsätzlich solchen Begründungspfaden. So finden                      geschehen mit steuern können.
sich beispielsweise auch Betriebe, die jenseits ökonomischen
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                                          12

2.2 (AUS-)BILDUNGSVERHALTEN JUGEND-                                                 nach Bundesland der Anteil der Jugendlichen mit und ohne
LICHER UND AUSBILDUNGSATTRAKTIVITÄT                                                 Hauptschulabschluss und Studienberechtigung mitunter
                                                                                    erheblich (Abbildung 5).
Nicht nur das betriebliche Ausbildungsplatzangebot und                                  In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-
das Ausbildungsverhalten sind entscheidende Faktoren für                            Anhalt ist der Anteil der in Ausbildung einmündenden Ju-
die regionale Wirtschaft, den regionalen Arbeits- und Aus-                          gendlichen ohne Hauptschulabschluss noch relativ hoch. In
bildungsmarkt, sondern auch das (Aus-)Bildungsverhalten                             Bayern, Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Schleswig-Hol-
Jugendlicher, die Ausbildungsattraktivität und -qualität aus                        stein liegt der Anteil Jugendlicher mit Hauptschulabschluss
der Sicht (potenzieller) Auszubildender.                                            über dem Bundesdurchschnitt. In den Stadtstaaten Berlin,
    In den letzten Jahren ist die Ausbildungsplatznachfrage                         Bremen und Hamburg sowie in den Bundesländern Hessen,
der Jugendlichen kontinuierlich zurückgegangen (2009:                               Nordrhein-Westfalen und im Saarland liegt der Anteil der
652.947, 2012: 627.378, 2016: 600.933) (vgl. Matthes et al.                         Jugendlichen mit Studienberechtigung inzwischen weit über
2017: 15). Als Gründe hierfür werden ein Rückgang der Zahl                          dem Bundesdurchschnitt.
der Schulabgänger_innen, eine strukturelle Verschiebung                                 Gleichzeitig wird deutlich, dass die klassische Segmenta-
in den Schulabschlüssen zugunsten des Abiturs und eine                              tion bestehen bleibt, nach der ausbildungsbezogene Berufs-
gestiegene Studierneigung genannt. Die Verschiebung in                              bildung überwiegend von Jugendlichen mit mittlerer und
den Schulabschlüssen zugunsten eines mittleren Abschlusses                          höherer schulischer Vorbildung besucht wird, während Ju-
und der Studienberechtigung geht nicht nur zulasten der                             gendliche mit maximal Hauptschulabschluss geringe Chancen
Zahl der Neuzugänge in die duale Ausbildung, sondern führt                          haben, am Berufsschulunterricht teilzunehmen, weil ihnen
innerhalb der dualen Ausbildung zur Verschiebung in der                             in geringerem Umfang ein Ausbildungsplatzangebot zur
Vorbildung der Schüler_innen/Auszubildenden. So ist das                             Verfügung steht. Je nach schulischer Vorbildung verteilen
Vorbildungsniveau an den berufsbildenden Schulen, damit                             sich die Jugendlichen auf unterschiedliche Segmente von
an Berufsschulen, und in der schulischen Berufsvorbereitung                         Ausbildungsberufen. Jugendliche ohne Hauptschulabschluss
unterhalb der dualen Ausbildung kontinuierlich gestiegen.                           beginnen häufig eine Ausbildung in den Berufen des Einzel-
    Dementsprechend ist der Anteil der Jugendlichen ohne                            handels (Verkäufer_in), der Hauswirtschaft, im Gartenbau
Hauptschulabschluss, die eine duale Ausbildung aufnehmen,                           oder als Friseur_in, Maler_in und Lackierer_in, als Koch/
in den letzten Jahren bundesweit gesunken (2009: 3,5 Pro-                           Köchin, Fachlagerist_in oder Fachpraktiker_in der Küche
zent, 2015: 2,8 Prozent) (vgl. BIBB 2017b: 142). Auch der                           (vgl. BIBB 2017b: 147). Jugendliche mit Hauptschulabschluss
Anteil der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss hat konti-                          nehmen überdurchschnittlich häufig eine Ausbildung im
nuierlich abgenommen (2009: 33,1 Prozent, 2015: 26,7 Pro-                           Handwerk, in der Hauswirtschaft oder Landwirtschaft auf.
zent). Jugendliche mit Realschulabschluss bilden nach wie                           Jugendliche mit Realschulabschluss sind besonders in den
vor die größte Gruppe unter den Neuanfänger_innen einer                             freien Berufen (Medizinische_r Fachangestellte_r, Zahnme-
dualen Ausbildung (2009: 43 Prozent, 2012: 42,3 Prozent,                            dizinische_r Fachangestellte_r) vertreten. Auch in den Technik-
2015: 42,7 Prozent). Der Anteil der Jugendlichen mit Studien-                       berufen (Kraftfahrzeugmechatroniker_in, Industriemecha-
berechtigung ist größer geworden (2009: 20,3 Prozent,                               niker_in) werden sehr viele Realschulabsolvent_innen aus-
2012: 24 Prozent, 2015: 27,7 Prozent). Allerdings variiert je                       gebildet, ebenso wie in den kaufmännischen Berufen (Kauf-

 Abbildung 5
 Auszubildende mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag nach höchstem allgemeinbildenden Schulabschluss und Bundesland, 2015 (in %)

   60

   50

   40

   30

   20

   10

     0
             BW          BY       BE      BB      HB     HH       HE     MV         NI    NW      RP       SL   SN     ST     SH       TH   Bund

                              ohne Hauptschulabschluss        Hauptschulabschluss         Realschulabschluss     Studienberechtigung
 Quelle: BIBB 2017b, S. 143
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT                                 WISO DISKURS                 13

mann/-frau im Einzelhandel, Kaufmann/-frau für Büromana-          Ausbildung in einer Maßnahme des Übergangsbereichs wa-
gement, Kaufmann/-frau im Groß- und Einzelhandel) (vgl.           ren, ist mit 9,2 Prozent an allen Neuzugängen insgesamt
BIBB 2017b: 149). Auszubildende mit Studienberechtigung           gering (vgl. BIBB 2017b: 155).
bevorzugen die kaufmännischen Ausbildungsberufe (Indus-                Das betriebliche Ausbildungsverhalten zugunsten von
triekaufmann/-frau, Kaufmann/-frau für Büromanagement,            Jugendlichen mit geringer Vorbildung bietet den Jugendli-
Bankkaufmann/-frau, Kaufmann/-frau im Groß-Außenhan-              chen nicht nur die Chance auf einen Ausbildungsabschluss,
del) (vgl. BIBB 2017b: 150).                                      sondern zudem auch die Möglichkeit, den allgemeinen Schul-
    Betriebe sind gefordert, die oberen Ausbildungsberufs-        abschluss in der Berufsschule nachzuholen oder zu erweitern.
segmente für Jugendliche, die über einen niedrigen Schul-         Inwieweit das betriebliche Ausbildungsverhalten dadurch be-
abschluss verfügen, zu öffnen. Für eine Öffnung der oberen        einflusst werden kann, dass den Berufsschulen mehr Möglich-
Ausbildungssegmente für Jugendliche mit einem niedrigen           keiten zur Verfügung gestellt werden, durch ergänzende
Schulabschluss schlägt die Autorengruppe Bildungsbericht-         Bildungsangebote versäumte Bildungschancen von Jugend-
erstattung (2016: 122) die „Anhebung kognitiver Kompe-            lichen zu kompensieren, damit diese eine duale Ausbildung
tenzen“ der benachteiligten Jugendlichen vor. „Dabei muss         erfolgreich absolvieren, ist selten untersucht worden.
die Anhebung nicht für den Beginn einer Ausbildung Voraus-             In den letzten Jahren ist für die duale Ausbildung auch
setzung sein; sie kann auch noch in der Ausbildung erfolgen.      die Gruppe der Studienberechtigten interessant geworden.
Dies allerdings setzt voraus, dass sich die Betriebe auch ver-    Diese, so die (berufs-)bildungspolitische Hoffnung, sollten
stärkt zu einem allgemeinen Bildungsauftrag bekennen“ und         stärker für Ausbildungsplätze angeworben werden, um so
sich in diesem Zusammenhang auf eine intensivere Koopera-         Besetzungsprobleme lösen und um die Gewichtsverlagerung
tion mit den Berufsschulen einlassen, um individuelle Förder-     von der dualen Ausbildung hin zum Hochschulstudium wieder
strategien an beiden Lernorten zu unterstützen.                   ausgleichen zu können. Tatsächlich konnten in 2016 erst-
    Ein Unterstützungsbedarf für Jugendliche in der dualen        malig mehr Ausbildungsplatzbewerber_innen mit Studien-
Ausbildung, die über eine geringe Vorbildung verfügen, kann       berechtigung (148.200) als mit Hauptschulabschluss (145.200)
auch an der Vertragslösungsquote abgelesen werden. Die            registriert werden (vgl. Matthes et al. 2017: 16). Allerdings
Vertragslösungsquote in der Ausbildung liegt bundesweit           gab es auch unter den Studienberechtigten erfolglose Be-
bei 24,9 Prozent (vgl. BIBB 2017b: 164). Sie nimmt mit der        werber_innen. Die Zahl erfolgloser Bewerber_innen mit Stu-
schulischen Vorbildung ab, d. h. je geringer die schulische       dienberechtigung ist inzwischen fast genauso hoch (22.344)
Vorbildung der Auszubildenden, umso höher ist die Lösungs-        wie die der erfolglosen Bewerber_innen mit Hauptschulab-
quote. So liegt sie bei Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss     schluss (22.742) (vgl. BIBB 2017a: 22).
bei 37,1 Prozent, mit Hauptschulabschluss bei 36,4 Prozent,            Allerdings weisen Studien darauf hin, dass ein Großteil
mit Realschulabschluss bei 22,3 Prozent und mit Studienbe-        der Jugendlichen mit Studienberechtigung, für die eine duale
rechtigung bei 14,2 Prozent. Im Handwerk ist die Vertrags-        Ausbildung zunächst durchaus eine Option darstellt, „sich
lösungsquote besonders hoch (33,5 Prozent), auch in Ost-          am Ende doch für ein Studium [entscheiden], das im Ver-
deutschland liegt sie über dem Durchschnitt (31,2 Prozent).       gleich mit einer dualen Ausbildung eine Reihe von Vorteilen
Vertragslösungen in der Ausbildung bedeuten, dass die             bietet, nämlich eine spätere Statuspassage, mehr Berufs-
Schüler_innen auch die Berufsschulen verlassen müssen.            optionen, bessere Aussichten auf ein höheres Einkommen
Darüber, wie neben befristeten Angeboten der Jugendberufs-        und eine Führungsposition sowie ein deutlich geringeres
hilfe auch durch noch intensivere und kontinuierlichere Lern-     Arbeitslosigkeitsrisiko“ (BIBB 2014: 3). Die meisten Ausbil-
ortkooperation und konstante projektunabhängige, präventive       dungsberufe mit Besetzungsproblemen sind für viele Jugend-
und flexible berufsschulische Angebote unfreiwillige Vertrags-    liche unattraktiv. So lassen sich Defizite hinsichtlich der At-
lösungen vermieden werden können, liegen kaum systematisch        traktivität vor allem bei Ausbildungsberufen nachweisen,
dokumentierte Erfahrungsberichte vor. Dies ist wichtig zu         „die eine hohe Zahl an unbesetzten Plätzen vorweisen. Es
diskutieren, weil „der Zugang zur beruflichen Erstausbildung      ist daher von einem nach Branchen und Berufsfeldern dif-
mehr denn je einen Weichencharakter für die Verteilung von        ferenzierten Gestaltungsbedarf auszugehen, um die Attrak-
Lebenschancen im Lebenslauf besitzt“ (Konietzka/Hensel            tivität der dualen Ausbildung zu steigern“ (BIBB 2014: 3).
2017: 304).                                                            Unter dem Aspekt Attraktivität der dualen Ausbildung
    Im Übergangsbereich befindet sich derzeit weit über eine      für Studienberechtigte werden mit Blick auf Berufsschulen
Viertel Millionen Jugendlicher (298.800) (vgl. BIBB 2017a: 10).   Möglichkeiten der Verbindung dualer Ausbildung mit dualen
Die Zahl der erfolglosen Bewerber_innen ist insgesamt relativ     Studiengängen sowie „Möglichkeiten des Übergangs von
hoch (2012: 76.119, 2016: 80.600) und liegt weit über der         den oberen Stufen der beruflichen Bildung (mit Abschluss
Zahl unbesetzter Ausbildungsstellen (2016: 43.500) (vgl.          in einem anerkannten Ausbildungsberuf) in den tertiären
Matthes et al. 2017: 22; BIBB 2017a: 20). Der Anteil aller        Bereich des (Fach)Hochschulsektors“ (BIBB 2014: 22) dis-
erfolglosen Bewerbungen an der Nachfrage insgesamt liegt          kutiert, insbesondere auch im Zusammenhang mit Projekten,
aktuell bei 13,4 Prozent. Von allen Anfänger_innen im Über-       die eine Lösung für die Kompensation der hohen Studien-
gangsbereich haben immer weniger Jugendliche keinen               abbruchquote an Hochschulen sowie für die Verringerung
Schulabschluss (25,7 Prozent), die meisten Jugendlichen           der Fachkräfteengpässe suchen, indem sie Studienabbrecher_
verfügen über einen Hauptschulabschluss (42,6 Prozent),           innen für die duale Ausbildung zu gewinnen versuchen.
aber auch der Anteil der Jugendlichen mit einem mittleren         Hamburg hat ein vom Bundesministerium für Bildung und
Abschluss ist mit 22,7 Prozent relativ hoch (25,7 Prozent).       Forschung (BMBF) gefördertes „Leuchtturmprojekt zur ver-
Der Anteil der Jugendlichen, die vor der Aufnahme einer           netzten Beratung, Vermittlung und Begleitung von Studien-
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