BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT - 05/2018 Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen?
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D I S K U R S 05/2018 Karin Büchter BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen?
WISO DISKURS 05 / 2018 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerk- schaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit, um Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden. WISO Diskurs WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische Handlungsempfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich basierten Politikberatung leisten. Über die Autorin dieser Ausgabe Prof. Dr. Karin Büchter ist Professorin für Berufs- und Betriebspädagogik in der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Helmut-Schmidt- Universität Hamburg und forscht zur Geschichte beruflicher Bildung und Weiterbildung, betrieblichen Bildung sowie zum Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung. Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Andreas Wille leitet in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik die Bereiche Arbeit und Qualifizierung.
05 / 2018 WISO DISKURS Karin Büchter BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen? 2 VORWORT 3 ZUSAMMENFASSUNG 4 EINLEITUNG 6 1 BERUFSSCHULE IM SCHULRECHTLICH-ADMINISTRATIVEN UND NEOKORPORATIVEN KONTEXT 8 2 ANFORDERUNGEN AN DIE AUSBILDUNG UND AUFGABEN DER BERUFSSCHULE 8 2.1 Fachkräftesicherung und regionale Ausbildungsmärkte 12 2.2 (Aus-)Bildungsverhalten Jugendlicher und Ausbildungsattraktivität 14 2.3 Integrationskraft dualer Ausbildung und Umgang mit Heterogenität 15 2.4 Digitalisierung 16 2.5 Fazit 17 3 BERUFSSCHULISCHE REFORMEN AUF LANDES- UND REGIONALEBENE 18 3.1 Berufsschulen als regionale Mitspieler 19 3.2 Eigenständigkeit der Berufsschule 20 3.3 Neue ministerielle Steuerungsformen 21 3.4 Regionale Berufsbildungszentren 22 3.5 Fazit 23 4 FLEXIBILISIERUNG BERUFSSCHULISCHER ANGEBOTE 23 4.1 Freie Berufsschulwahl und Gastschulabkommen 24 4.2 Standort- und ausbildungsübergreifender Unterricht 25 4.3 Flexibilisierungsbedarf und Beruflichkeit 26 4.4 Fazit 27 5 BERUFSSCHULISCHE BILDUNGSABSCHLÜSSE 27 5.1 Bildungskompensation, Doppelqualifizierung und Akademisierung 29 5.2 Individualisierung und Differenzierung berufsschulischer Bildungsangebote 30 5.3 „Smart School“ 32 6 AUSBLICK 34 Abbildungsverzeichnis 35 Abkürzungsverzeichnis 36 Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 2 VORWORT Die duale Ausbildung und damit die Sicherstellung der Fach- Die beiden Expertisen stellen jeweils die aktuelle Aus- kräftebasis ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland von gangssituation und den Forschungsstand dar, benennen zentraler Bedeutung. Sie hat traditionell sowohl auf der Ar- Herausforderungen und Veränderungsbedarfe und zeigen beitgeberseite als auch bei den Jugendlichen und Beschäftigten Ansätze, Überlegungen und – soweit vorhanden – konkrete ein hohes Ansehen. Allerdings gerät die duale Ausbildung Alternativen auf. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag in den letzten Jahren zunehmend unter Druck. Nicht allein zu einer vertieften Diskussion zum Thema. Nachdrücklich wird das wachsende Interesse der Jugendlichen an einem Studium außerdem auf Forschungslücken und -bedarfe hingewiesen. wirft Fragen nach der zukünftigen Fachkräftesicherung und In der von Professor Dr. Karin Büchter, Universität Ham- der Attraktivität dieses Bildungsweges auf, auch die existie- burg, erstellten und von der Friedrich-Ebert-Stiftung geför- renden Probleme beim Übergang von Jugendlichen in die derten Expertise „Berufsschulen in der dualen Ausbildung Ausbildung und die trotz der in einigen Berufen und Regionen und regionalen Wirtschaft“ (Working Paper Forschungsför- unbesetzten Ausbildungsplätze nach wie vor hohe Zahl un- derung, Nummer 59 bzw. WISO Diskurs 05/2018) werden versorgter Bewerber_innen sind Herausforderungen, die sich vor dem Hintergrund gegenwärtiger Anforderungen und stellen. Zudem wirft der technologische Wandel (Stichwort Aufgaben der Berufsschule Entwicklungen, Reformen und Industrie 4.0/Arbeit 4.0) Fragen nach einer entsprechend neue Steuerungsformen diskutiert. Dabei steht die Frage im veränderten Ausbildung 4.0 auf. Nicht zuletzt sind Erhalt und Zentrum, wie ihre Position als eigenständiger Partner im Aus- Steigerung der Attraktivität der dualen Berufsausbildung bildungssystem und in der regionalen Wirtschaft gestärkt mit Blick auf die beruflichen Entwicklungschancen und die werden kann. Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit der Einzelnen wichtige Die von Professor Dr. Dietmar Frommberger und Silke Ziele der Berufsbildungspolitik. Lange, Universität Osnabrück, verfasste und von der Hans- Neben einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen Böckler-Stiftung geförderte Expertise „Zur Ausbildung von und Auszubildenden ist das fachliche Niveau der Ausbildung Lehrkräften für berufsbildende Schulen – Befunde und Ent- mitentscheidend für die Innovations- und Wettbewerbsfähig- wicklungsperspektiven“ (Working Paper Forschungsförderung, keit der Unternehmen. Dies betrifft den betrieblichen Teil Nummer 60 bzw. WISO Diskurs 04/2018) thematisiert aus- der Ausbildung in Betrieben des Handwerks, der Industrie gehend von aktuellen fachlichen und pädagogisch-didaktischen und des Dienstleistungsbereichs ebenso wie den schulischen Anforderungen Stand und Entwicklung der Aus- und Weiter- Teil der Ausbildung in der Berufsschule. In den Debatten über bildung von Lehrkräften für berufliche Schulen. Sie diskutiert die Herausforderungen und die zukünftigen Gestaltungs- künftige Einstellungsbedarfe, Aktivitäten zur Behebung des möglichkeiten der dualen Ausbildung steht der betriebliche Lehrkräftemangels und der Reform der Ausbildung. Teil der Ausbildung zumeist im Zentrum. Der Beitrag der Be- Die Expertisen erscheinen in digitaler Form als zwei auf- rufsschulen wird seltener thematisiert. In jüngster Zeit deutet einanderfolgende Working Paper der Forschungsförderung sich hier jedoch ein Wandel an: Die Bedeutung und die zu- der Hans-Böckler-Stiftung und in gedruckter Form in der künftige Rolle der berufsbildenden Schulen rücken zuneh- Reihe WISO Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung. mend ins Blickfeld. Wir bedanken uns bei den Autor_innen sowie bei den Re- Die Hans-Böckler-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung ferent_innen und Diskutant_innen der Expert_innengespräche haben gemeinsam den schulischen Teil der dualen Ausbil- „Berufsschule – der schulische Teil der dualen Ausbildung“ dung thematisiert. In einem Diskussions- und Arbeitsprozess, und wünschen eine angeregte und anregende Lektüre. in den Vertreter_innen aus Wissenschaft, Politik, Gewerk- schaften und Berufsschulen einbezogen waren, wurden rele- vante Fragestellungen zur Situation und zu den Herausfor- DR. MICHAELA KUHNHENNE, Hans-Böckler-Stiftung derungen für Berufsschulen erarbeitet, die in zwei Expertisen RUTH BRANDHERM, Friedrich-Ebert-Stiftung bearbeitet wurden. ANDREAS WILLE, Friedrich-Ebert-Stiftung
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT WISO DISKURS 3 ZUSAMMENFASSUNG Der Kultusministerkonferenz zufolge ist die Berufsschule ein Bildungsinstitution übersetzen sie diese in eigene berufs- eigenständiger Lernort mit gleichberechtigter Partnerschaft schulische Konzepte, mit denen sie konstruktiv Einfluss auf in der dualen Ausbildung. Trotzdem müssen Berufsschulen die duale Ausbildung nehmen können. diese Position immer wieder neu erkämpfen. Aktuell werden Im zweiten Teil werden bereits erfolgte und laufende sie hierbei durch unterschiedliche berufsbildungspolitische Reformen in den Blick genommen, die mit dem Anspruch Programme und Vereinbarungen unterstützt. So widmen verknüpft sind, die regionale Einbindung, Verantwortung die „Allianz für Aus- und Weiterbildung“, Sozialpartner und und Position berufsbildender Schulen und damit Berufs- die Kultusministerkonferenz der Berufsschule eine zunehmen- schulen zu verbessern. Im Mittelpunkt stehen Reformen auf de Aufmerksamkeit. Mit dem Hinweis auf künftige Heraus- ministerieller und schulorganisatorischer Ebene (Kapitel 3), forderungen im Beschäftigungs- und Bildungssystem soll die auf klassenstruktureller, curricularer und unterrichtsorgani- Bedeutung der Berufsschule für die Qualifizierung und Inte- satorischer Ebene (Kapitel 4) sowie auf der Ebene von Bil- gration von Jugendlichen in Ausbildung und Beschäftigung dungsabschlüssen und Individualisierungskonzepten (Kapi- und über diesen Weg für die regionale Wirtschaft gestärkt tel 5). Hierbei geht es um die Frage, ob und inwieweit diese werden. Konsens besteht darin, dass die Verbesserung der Reformen dazu beitragen können, den Akteurscharakter und infrastrukturellen Ausstattung, der Digitalisierung und der die machtpolitische Position der Berufsschule als gleichbe- Lehrer_innenbildung zentrale Aufgaben der Berufsschulpolitik rechtigte Partnerin der dualen Ausbildung zu stärken. Trotz sein müssen. landesrechtlicher und kultusministerieller Vorgaben und der In der vorliegenden Expertise wird erstens davon ausge- Abhängigkeit vom regionalen Ausbildungsmarktgeschehen gangen, dass nicht allein die Verbesserung von Inputfaktoren, nutzen Berufsschulen schulbürokratische Freiräume und die wie Ausstattung, Digitalisierung und Lehrer_innenbildung Politikhaltigkeit der dualen Ausbildung dazu, um mit eigenen dazu beiträgt, die Berufsschulen in der dualen Ausbildung und Profilen und besonderen Kompetenzen die duale Ausbildung in der regionalen Wirtschaft zu stärken. Ein ergänzender Aspekt in der Region mitzugestalten. Als Bildungsinstitutionen ha- ist die Verbesserung der machtpolitischen Position von Be- ben sie bei der Realisierung des gemeinsamen Bildungsauf- rufsschulen in formellen und informellen regionalen Akteurs- trags zwischen Schule und Betrieb die meiste Expertise und konstellationen der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Bildungs- das größte Gewicht in der dualen Ausbildung und auf dem politik. Um diese diskutierbar zu machen, werden zunächst regionalen Ausbildungsmarkt. Aufgrund der Professionalität die besonderen Merkmale der Berufsschule aufgrund ihrer des Kollegiums können Berufsschulen bei Themen wie Kom- schulrecht-administrativen und neokorporativen Verflochten- petenzentwicklung, Lernförderung, Umgang mit Heterogeni- heit in den Blick genommen (Kapitel 1). tät und Ungleichheit starke und richtungsweisende Positio- Im ersten Teil der Expertise (Kapitel 2) werden äußere nen in regionalen berufsbildungspolitischen Netzwerken Anforderungen an die duale Ausbildung und die damit zu- und Kooperationsbeziehungen einnehmen. sammenhängenden Aufgaben für die Berufsschule beleuchtet. Unter aktuellen Gesichtspunkten wie Fachkräftesicherung, (Aus-)Bildungsverhalten Jugendlicher, Umgang mit Hetero- genität und Digitalisierung wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise Berufsschulen hiervon betroffen sind. Auf Grundlage dieser Untersuchung wird in der Expertise zwei- tens davon ausgegangen, dass Berufsschulen aufgrund ihrer relativen Autonomie gegenüber dem Beschäftigungssystem bzw. dem dualen Ausbildungspartnerbetrieb nicht vollstän- dig durch die aktuellen Herausforderungen auf dem regio- nalen Arbeits- und Ausbildungsmarkt determiniert sind. Als
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 4 EINLEITUNG Die Berufsschule ist eine der Schulformen in berufsbilden- Partner in der dualen Berufsausbildung auszugestalten“ den Schulen. Gemeinsam mit Ausbildungsbetrieben bildet (KMK 2017b: 3). sie die duale Ausbildung, in der Jugendliche sowohl am Lern- Als formal-rechtlich legitimierter Kooperationspartner ort Betrieb als auch in der Berufsschule für einen anerkannten der Ausbildungsbetriebe ist der Lernort Berufsschule im Ver- Ausbildungsberuf nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) oder gleich zu allen anderen Schulformen des berufsbildenden Handwerksordnung (HwO) theoretisch und praktisch ausge- Schulwesens am engsten mit dem Beschäftigungssystem bildet werden. Die duale Ausbildung gilt im internationalen verbunden und am ehesten mit den Anforderungen der re- Vergleich als eine bewährte Form der beruflichen Qualifizie- gionalen Wirtschaft, des Arbeits- und Ausbildungsmarktes rung und Integration Jugendlicher in das Beschäftigungssys konfrontiert. Der Umfang an Fachklassen und das Unterrichts- tem und zugleich als „wesentliche Säule für die Deckung angebot an Berufsschulen richten sich danach aus, wie vie- des Fachkräftebedarfs in Deutschland“ (vgl. KMK 2017a). le Jugendliche für welche Ausbildungsberufe im regionalen Gleichzeitig wird die duale Ausbildung mit dem Hinweis Umfeld eingestellt werden. Diese Abhängigkeit bringt die darauf, dass Ausbildungsplatzangebote ungenutzt bleiben Berufsschule in die Position einer reaktiven Institution oder und Bewerber_innen bei ihrer Suche erfolglos sind, kritisiert. eines Anhängsels an die betriebliche Ausbildung. Trotz des Die Kritik an der dualen Ausbildung richtet sich sowohl an Dualitätsprinzips ist also die eigentliche Aufgabe der Berufs- den betrieblichen als auch den schulischen Teil. Während schulen für die duale Ausbildung und die regionale Wirtschaft Betriebe aufgrund ihres Rückzugs aus der Ausbildung, einer auch aus Sicht der KMK (2015: 2), die betriebliche Ausbil- unzureichenden Ausbildungsqualität und einer fehlenden dung zu unterstützen und ein „die Berufstätigkeit begleiten- Kooperationsbereitschaft in der Ausbildung kritisiert werden des Bildungsangebot bereitzustellen“. (vgl. Mohr et al. 2015; DGB Jugend 2017), richtet sich die Auf Seiten der Wirtschaft, d. h. der Arbeitgeber, ihren an die Berufsschule adressierte Kritik in erster Linie gegen Interessenverbänden und Kammern, besteht ein kontinuier- ihre Unmodernität und ihre untergeordnete Position im dua- liches Interesse daran, die Berufsschule rechtlich und insti- len Ausbildungssystem. tutionell stärker an das Beschäftigungssystem zu binden, Ein Blick in die Geschichte der Berufsschule zeigt, dass bzw. sie „von der Systemperipherie des dualen Systems in ihr unterprivilegierter Status in der dualen Ausbildung his- enge Nähe zum Betrieb“ (Pätzold/Wahle 2003: 479) zu torische Kontinuität hat (vgl. Stratmann/Schlösser 1990), verschieben. Um dies zu erreichen, wurde die Berufsschule ebenso wie Bemühungen, sie von ihrem Anhängsel-Status in als Partnerin in der dualen Ausbildung durch das BBiG von der dualen Ausbildung zu befreien. Seit jeher entscheiden 1969 rechtlich festgeschrieben. Durch das „Gemeinsame Ausbildungsbetriebe über die Vergabe von Ausbildungsplät- Ergebnisprotokoll“ (KMK 1972) zwischen Bundesregierung zen und schließen mit den von ihnen ausgewählten Bewerber_ und Kultusministerien wurden das Abstimmungsverfahren innen die Ausbildungsverträge ab. Die Ausbildungsvergütung für Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne und die erfolgt im Rahmen der Tarifverträge, und die Auszubilden- Einführung des Blockunterrichts zugunsten betrieblicher Aus- den verbringen zwei Drittel ihrer wöchentlichen Ausbildungs- bildungszeitregelung beschlossen. Die berufsschulischen Lehr- zeit am Lernort Betrieb und ein Drittel in der Berufsschule. pläne wurden durch die Einführung von Lernfeldern stärker Aufgrund der neokorporativen Steuerung im Rahmen staat- an betriebliche Arbeits- und Geschäftsprozesse herangerückt. licher Gesetzgebung überwachen die Kammern die Durch- Berufsschulen sind aber nicht nur mit dem Beschäftigungs- führung eines großen Teils der Ausbildung. Auch die Prü- system, sondern als Schulform berufsbildender Schulen in fungshoheit liegt bislang bei den Ausbildungsbetrieben bzw. erster Linie mit dem Bildungssystem verbunden. Neben Be- den Kammern, auch wenn die Kultusministerkonferenz (KMK) strebungen, Berufsschulen stärker an das Beschäftigungs- anstrebt, „die Möglichkeit zu schaffen, Ausbildungsabschluss- system zu koppeln, lassen sich auch eine Reihe an Bemühun- prüfungen zu einer gemeinsamen Abschlussprüfung der gen aufzählen, die seit den 1960er Jahren dazu beigetragen
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT WISO DISKURS 5 haben, die Berufsschule als Bildungsinstitution im Sekundar- qualität“ (Altrichter et al. 2016: 111) der Berufsschule sowie bereich II zu stärken. Hierzu gehören die Ausweitung berufs- für die Möglichkeit berufsschulischer Einflussnahme auf die schulischer Curricula auf allgemeinbildende Unterrichtsfächer, duale Ausbildung und die regionale Wirtschaft. Gleichzeitig die Orientierung der Berufsschuldidaktik an bildungs- und steht bei einer solchen Perspektive die Frage im Raum, wie erziehungswissenschaftlichen Standards sowie die Akade- sich jüngere Reformen im berufsbildenden Schulwesen auf misierung der Berufsschullehrerbildung. Mit dem Anspruch, diese relative Autonomie, die Akteursqualität und regionale Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung zu Machtposition der Berufsschule auswirken können. Zu die- realisieren, sind seit Ende der 1970er Jahre durch Beschlüsse sen Reformen gehören Formen neuer ministerieller Steue- der KMK Möglichkeiten des Erwerbs allgemeiner Berechti- rung, wie die Gründung von Landesinstituten für berufliche gungen in Kombination mit dem Berufsschulabschluss ver- Bildung, die sich in regionalen Partizipationsmöglichkeiten bessert worden (vgl. Kell 2006: 165). Trotz dieser bildungs- berufsbildender Schulen in Regionen unterschiedlich nieder- politischen Entwicklungen hat die Berufsschule auch als Teil schlagen können, sowie neue Konzepte der schulorganisa- des Bildungssystems mit Akzeptanzproblemen umzugehen. torischen Steuerung, die einerseits schulische Eigenständig- Nach wie vor sind für Jugendliche allgemeinbildende Ab- keit erweitern sollen, diese aber andererseits durch neue schlüsse mit der Perspektive einer akademischen Laufbahn Auflagen der Effektivierung und Standardisierung der Schul- attraktiver als Berufsabschlüsse unterhalb des Hochschul- entwicklung wieder eingrenzen können. Außerdem werden niveaus. Demzufolge wird die Berufsschule häufig „als Not- klassenstrukturelle, curriculare und unterrichtsbezogene lösung“ für Schüler_innen gesehen, die in weiterführenden Flexibilisierungskonzepte hinsichtlich ihrer Bedeutung für allgemeinbildenden Schulen keine Chance hatten (Spöttl die Stärkung der Berufsschule in der dualen Ausbildung und 2017: 6). der Region in den Blick genommen, ebenso wie Erweiterun- Mit der Absicht, Berufsschulen in der öffentlichen Wahr- gen von Bildungsabschlüssen und Individualisierungskonzepte. nehmung aufzuwerten, erfahren sie in jüngster Zeit eine zu- Die vorliegende Expertise basiert auf einer Recherche nehmende publizistische und programmatische Aufmerksam- und einer Auswertung von aktuellen berufsbildungspoliti- keit. Blaß/Himmelrath (2016) fragen, wie die „Berufsschulen schen Programmatiken des Bundes, der Sozialpartner und auf dem Abstellgleis […] noch zu retten sind“, Spöttl (2017: 6) ihrer Verbände, der KMK zum Thema berufsbildende Schulen fordert einen „radikale[n] Imagewechsel“ und plädiert für bzw. Berufsschulen sowie von Landesprogrammen. Ergän- eine Befreiung aus dem „Nischendasein“. Aktuell wird in un- zend werden aktuelle empirische Daten der Berufsbildungs-, terschiedlichen partei- und interessenpolitischen Program- Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung sowie Studien und men die Bedeutung der Berufsschulen hervorgehoben. In Qualifizierungsarbeiten zu berufsbildenden Schulen in Re- der Erklärung von KMK, Bundesvereinigung der Deutschen gionen herangezogen. Arbeitgeberverbände (BDA) und Deutschem Gewerkschafts- bund (DGB) (2017) heißt es: „Die Berufsschulen sind eine unverzichtbare Säule im System der dualen Ausbildung und geschätzter Partner der Ausbildungsbetriebe. Sie stehen vor großen Herausforderungen […]. Es ist dringend erforderlich, bedarfsgerechte Berufsschulangebote, auch in ländlichen Regionen, zu erhalten.“ Im Folgenden geht es um die Bedeutung der Berufsschule als „gleichberechtigte Partnerin“ (KMK 2015: 2) in der dualen Ausbildung und für die regionale Wirtschaft. Angesichts ihrer zweifachen Zugehörigkeit sowohl zum Beschäftigungs- system als auch zum Bildungssystem, der Tatsache, dass Be- rufsschule und Ausbildungsbetrieb „einen gemeinsamen Bil- dungs- und Erziehungsauftrag“ (KMK 2015: 1) zu erfüllen haben, und die Berufsschule als staatlich organisierte Ein- richtung keiner rechtlichen Weisungs- oder Entscheidungs- befugnis der Wirtschaft unterliegt (vgl. Haase 2016: 138), kann sich die Aufgabe der Berufsschule nicht lediglich auf die Erfüllung wirtschaftlich und betrieblich formulierter An- forderungen reduzieren. Die Aufgabe der Berufsschule als gleichberechtigte Partnerin besteht darin, im Rahmen ihrer doppelten Systemzugehörigkeit, ihres schulischen Selbstver- ständnisses, ihrer Bildungsprinzipien sowie ihrer strukturellen und kapazitären Bedingungen, die Anforderungen an die duale Ausbildung aufzugreifen, für sich zu übersetzen und dazu beizutragen, ihre Bewältigung durch eigene berufs- schulische Konzepte konstruktiv und kooperativ mitzugestal- ten. Eine solche Perspektive löst die Berufsschule von der Zuschreibung eines Anhängsels externer Forderungen und öffnet den Blick für ihre relative Autonomie, für die „Akteurs-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 6 1 BERUFSSCHULE IM SCHULRECHTLICH- ADMINISTRATIVEN UND NEOKORPORATIVEN KONTEXT Die Berufsschule ist neben der schulischen Berufsvorberei- und die kapazitäre Versorgung der Schule festgelegt. Wie tung, den vollzeitschulischen (Aus-)Bildungsgängen und den solche Vorgaben oder Impulse des schulrechtlich-adminis Fach(ober)schulen eine der Schulformen an berufsbildenden trativen Kontextes von berufsbildenden Schulen bzw. Be- Schulen bzw. Berufskollegs und gleichzeitig neben dem Aus- rufsschulen rezipiert und ausgelegt werden, hängt von dem bildungsbetrieb ein Lernort im Dualen System der Berufsaus- jeweiligen Innern der berufsschulischen Organisation ab, bildung. Sie ist damit Teil des Bildungssystems und von allen das sich aus Schulleitung, Abteilungsleitung, Lehrer_innen Schulformen berufsbildender Schulen am unmittelbarsten und Fachpersonal, Schüler_innen- und Elternvertretungen mit den Anforderungen des Beschäftigungssystems sowie zusammensetzt, die ebenfalls jeweils unterschiedliche Funk- regionalen Arbeits- und Ausbildungsmarktes konfrontiert. tionen und Aufgaben ausüben, Wahrnehmungen haben, Als Teil berufsbildender Schulen ist sie dem Sekundar- Interessen vertreten und über unterschiedliche Gestaltungs- bereich II des Bildungssystems zugeordnet und unterliegt und Verhinderungsmacht innerhalb der berufsbildenden den Rahmenvorgaben der KMK und den rechtlichen Vorga- Schulen bzw. Berufsschulen verfügen. ben des öffentlichen Schulwesens. Angesichts der föderalen Hinsichtlich ihrer rechtlich-administrativen Steuerung Struktur Deutschlands und der Kulturhoheit der Länder liegt und ihrer inneren Organisation ist die Berufsschule als Teil die Gesetzgebungskompetenz für allgemeinbildende und der berufsbildenden Schulen eine klar definierte Institution berufsbildende Schulen bei den Ländern. Neben den Schul- im Bildungswesen. Auch ihre Teilnehmenden sind in erster gesetzen, die Rechte auf Bildung und Erziehung, Aufbau Linie Schüler_innen, die an einem klar definierten schulischen und Aufgaben des Schulwesens und seiner unterschiedlichen Unterricht teilnehmen, dessen Gestaltung an den Rahmen- Schulformen vorgeben, existieren eine Reihe weiterer Gesetze, vorgaben und dem Rahmenlehrplan der KMK orientiert ist. die die Schulverfassung, Schulorganisation, Schulpflicht und Die Schüler_innen der Berufsschule haben vor Eintritt in Mitwirkungen an allen Schulen regeln. Aufsichtsbehörden die Berufsschule eine allgemeinbildende Schule besucht. (Kultusministerien, Schulbehörden, Schulamt), Schulträger Einige haben zwischen dem Verlassen der allgemeinbilden- (Bundesland, Kommune, Kreise) sowie verschiedene Mitwir- den Schule und dem Eintritt in die Berufsschule an einer kungsorgane (Schülervertretungen, Elternvertretungen), Bei- Berufsorientierung oder Berufsvorbereitung teilgenommen räte und beratende Gremien übernehmen Überwachungs- oder waren erwerbstätig. Sofern sie die zwölfjährige Schul- und Steuerungsfunktionen über Schulen, und damit über pflicht noch nicht erfüllt oder das 18. Lebensjahr noch nicht berufsbildende Schulen wie auch die Berufsschule. Die Schul- erreicht haben, sind sie berufsschulpflichtig. Berufsschulbe- aufsicht verantwortet neben der Fachaufsicht auch die Rechts- rechtigt sind sie, wenn diese Bedingungen gegeben sind. und Dienstaufsicht und wird in der Regel durch Schulräte Nach der „Rahmenvereinbarung über die Berufsschule“ der wahrgenommen. Berufsbildende Schulen und damit die KMK (2015) besteht eine zentrale Aufgabe der Berufsschule Berufsschulen sind also in einem schulrechtlich-administra- darin, den Schüler_innen, die sich in einer beruflichen Erst- tiven Kontext eingebunden, dessen Akteure bzw. Akteurs- ausbildung befinden, „den Erwerb berufsbezogener und konstellationen auf den verschiedenen Ebenen der schulischen berufsübergreifender Kompetenzen unter besonderer Be- Steuerung, Verwaltung und Organisation über unterschied- rücksichtigung der Anforderungen der Berufsausbildung zu liche Befugnisse, Interessen, Beteiligungs- und Einflusschan- ermöglichen. Sie befähigt zur Ausübung eines Berufes und cen verfügen. Auf dieser Basis werden die bildungspolitische zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer, Bedeutung der Berufsschule und ihre Position zwischen dem ökonomischer und ökologischer Verantwortung“ (KMK 2015: 2). Sekundarbereich I und dem Hochschulsektor im Bildungssys- Der Unterricht an der Berufsschule erfolgt in Teilzeitform, tem verhandelt, berufsschulische Reformprogramme ausge- wöchentlich oder in zusammenhängenden Zeitblöcken (Block- macht, Prioritäten und Strategien bei der Umsetzung von unterricht) und beträgt mindestens zwölf Wochenstunden. Reformen vorgeschlagen sowie die finanzielle Unterstützung Er umfasst neben berufsbezogenen Unterricht auch berufs-
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT WISO DISKURS 7 übergreifenden Unterricht mit dem Ziel der Erweiterung der der Selektion, Qualifizierung, Sozialisation und Allokation vorher erworbenen allgemeinen Bildung (vgl. KMK 2015: 4). der Jugend in dualer Ausbildung. Für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule be- Die Konsolidierung des Dualen Systems der Berufsaus- schließt die KMK den Rahmenlehrplan, der mit der entspre- bildung durch die Integration der Berufsschule in den Se- chenden vom Bund verabschiedeten Ausbildungsordnung, kundarbereich II des Bildungssystems und durch das Inkraft- die für die Ausbildung in einem bestimmten Beruf am be- treten des BBiG von 1969 hat die systemischen, rechtlichen, trieblichen Lernort maßgeblich ist, abgestimmt wird. Grund- institutionellen und curricularen Differenzen der beiden Lern- lage hierfür ist das „Gemeinsame Ergebnisprotokoll betref- orte Berufsschule und Betrieb eher gefestigt. Diese führen fend das Verfahren bei der Abstimmung von Ausbildungs- seither zu kontinuierlichen berufsbildungspolitischen und ordnungen und Rahmenlehrplänen im Bereich der beruflichen -praktischen Forderungen nach einer besseren Abstimmung Bildung zwischen der Bundesregierung und den Kultus- und intensiveren Kooperation der beiden Lernorte. Das Haupt- ministern (-senatoren) der Länder“ von 1972 (KMK 1972). ziel dabei ist es, dass sich schulisches und betriebliches Lernen Während die Berufsschule staatlich bzw. kooperativ- sinnvoll ergänzen und aufeinander aufbauen und nicht isoliert föderal geregelt ist, ist die betriebliche Ausbildung neokor- nach eigenen curricularen Maßgaben stattfinden. Im Zusam- porativ, d. h. auf der Basis einer Verflechtung staatlicher, menhang mit solchen Forderungen wird insbesondere aus verbandlicher, sozialpartnerschaftlicher, privatwirtschaftlicher berufs- und wirtschaftspädagogischer Sicht kritisch auf ein Regelungen und Interessen gesteuert. Der Staat gibt die Abstimmungsgefälle bzw. auf das Übergewicht der betrieb- rechtlichen Grundlagen mit den Bundesgesetzen BBiG und lichen Anforderungen im Dualen System der Berufsausbil- HwO vor. Diese legen Rahmenbedingungen und Standards dung hingewiesen. für die Berufsbildung fest. Die Überwachung über die betrieb- Trotz der eindeutigen Zugehörigkeit der Berufsschule zum liche Ausbildung obliegt je nach Ausbildungsberuf den ent- Bildungssystem und der rechtlichen Unabhängigkeit vom sprechenden Kammern. Diese errichten auch einen Berufs- betrieblichen Lernort ist sie gegenüber den regionalen, wirt- bildungsausschuss, dem Beauftragte der Arbeitgeber, der schafts-, arbeits- und ausbildungsmarktpolitischen Entwick- Arbeitnehmer und nur mit beratender Stimme Lehrkräfte lungen nicht vollständig autonom. Strategien, Interessen an berufsbildenden Schulen angehören. Die Ausbildungs- und Unterstützungsmöglichkeiten von Ausbildungsbetrieben, ordnungen werden in Abstimmungen zwischen Staat und aber auch die Nachfrage der Jugendlichen auf dem regionalen Sozialpartnern festgelegt und gemeinsam mit den Sachver- Ausbildungsmarkt beeinflussen die berufsschulischen Bedin- ständigen der Länder mit den berufsschulischen Rahmen- gungen, Strukturen und Prozesse. Obwohl Ausbildungsbe- lehrplänen verhandelt. triebe und ihre Vertretungen also keine rechtlich legitimierte Aufgrund ihrer unterschiedlichen systemischen Zugehö- Interventionsbefugnis auf berufsschulische Entscheidungen rigkeiten – der Lernort Berufsschule ist Teil des Bildungs- haben, können sie aufgrund ihrer regional-, arbeitsmarkt- und systems, der betriebliche Lernort Teil des Beschäftigungs- ausbildungspolitischen Macht eine „pointierte [...] ‚Pressure- systems –, ihrer institutionellen und rechtlich-administrativen Politik‘ für und gegen bestimmte berufsbildungspolitische Trennung und ihrer unterschiedlichen Interessengebunden- Reformvorhaben“ (Hilbert et al. 1990: 12) ausüben. heit folgen die für beide Lernorte maßgeblichen Curricula Insgesamt sind Berufsschulen also in komplexer Weise unterschiedlichen Logiken. Der berufsschulische Rahmenlehr- mit ihrem bildungspolitischen, schulrechtlich-administrativen plan ist vor allem nach pädagogischen und wissenssystema Kontext verwoben, durch eine schulische Funktions- und tischen Gesichtspunkten aufgebaut. Hier geht es in erster Aufgabenstruktur intern organisiert und als Teil des Dualen Linie um die Förderung „beruflicher Handlungskompetenz“, Systems hinsichtlich der beruflichen Schwerpunktsetzung die Fachkompetenz, Humankompetenz und Sozialkompetenz und Fachklassenbildung von den Entscheidungen und Ent- einschließt (vgl. KMK 2007: 10). In der betrieblichen Aus- wicklungen auf dem regionalen Ausbildungsmarkt abhängig. bildung steht die fachliche Vorbereitung auf eine Berufstätig- Und nicht zuletzt auch davon, wie und in welcher Hinsicht auf keit im Vordergrund. Nach § 1 des Berufsbildungsgesetzes ministerieller und behördlicher Ebene schul- und wirtschafts- (BBiG 2005) geht es hier nur um die Förderung einer eng politische Interessen und Entscheidungen ineinandergreifen. an Arbeit ausgerichteten „beruflichen Handlungsfähigkeit“ Für die Berufsschuldiskussion offene Fragen sind: Unter mit dem Ziel der Ausübung „einer qualifizierten beruflichen welchen (mikro-)politischen Bedingungen sind Berufsschulen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt“. Diese um- starke und gleichberechtigte Partner im Dualen System, und fasst berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten. unter welchen Voraussetzungen können sie gestaltend Ein- Für die Ausbildung im Dualen System sind Berufe mit ih- fluss auf die duale Ausbildung und das regionale (Aus-)Bil- ren Ausbildungsordnungen ein zentraler Bezugspunkt. Der- dungsgeschehen nehmen? zeit liegt die Zahl der anerkannten oder als anerkannt gel- tenden Ausbildungsberufe bei 327 (BIBB 2017: 2). Auch die Berufsschulen und ihre Fachklassen sind nach Berufsfeldern oder Fachrichtungen gegliedert. Die Gewichtungen nach Fach- richtungen und die beruflichen Schwerpunkte an einer Be- rufsschule richten sich nach dem jeweiligen betrieblichen Angebot des regionalen Ausbildungsmarktes und der Zahl der Neuzugänge zu Ausbildungsberufen. Abgesehen davon, dass der Beruf die curriculare Architektur des Dualen Systems ist, sind Ausbildungsbetriebe die dominanten Akteure bei
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 8 2 ANFORDERUNGEN AN DIE AUSBILDUNG UND AUFGABEN DER BERUFSSCHULE Zu den von der „Allianz für Aus- und Weiterbildung 2015 sondern auch auf der „mittleren Qualifikationsebene, also bis 2018“ genannten Anforderungen an die duale Ausbil- auf Ebene der Fachkräfte mit abgeschlossener dualer Aus- dung gehören vor allem Fachkräftesicherung, Beseitigung bildung, zu Fachkräfteengpässen“ kommt. Ein Indikator für von „Passungsproblemen“ auf dem Ausbildungsmarkt und diese Engpässe ist die kontinuierlich rückläufige Zahl an Steigerung der Attraktivität und Integrationsfähigkeit der Neuzugängen in der dualen Ausbildung (2009: 564.306; Ausbildung für Jugendliche. Diese Anforderungen werden 2012: 551.259; 2015: 520.332) (BIBB 2017a: 33). Parallel im Folgenden näher beleuchtet, verbunden mit der Frage zur rückläufigen Zahl an neu abgeschlossenen Ausbildungs- nach den Aufgaben für die Berufsschule und ihren Mitgestal- verträgen ist auch die Zahl der Schüler_innen an Berufs- tungsmöglichkeiten. schulen bundesweit seit 2009 gesunken (Abbildung 1). Allerdings zeigt sich andererseits anhand der jüngsten Daten, dass in einigen Bundesländern, in Baden-Württemberg (BW), 2.1 FACHKRÄFTESICHERUNG UND Bayern (BY), Berlin (BE), Hamburg (HH), Nordrhein-West- REGIONALE AUSBILDUNGSMÄRKTE falen (NW), Sachsen (SN) und Schleswig-Holstein (SH), die Zahl der Schüler_innen an öffentlichen Teilzeit-Berufsschulen Dass die Frage der Fachkräftesicherung die duale Ausbil- wieder ganz leicht zugenommen hat. dung direkt betrifft, zeigt der aktuelle Berufsbildungsbericht Aufgrund des Zusammenhangs zwischen dem Ausbil- (BMBF 2017a: 8), demzufolge es nicht nur auf der höheren, dungsmarktgeschehen und der Entwicklung der Zahl der Abbildung 1 Schüler_innen an öffentlichen Teilzeit-Berufsschulen, nach Bundesländern, Schuljahr 2009/10 – 2016/17 (für die Bundesländer Bremen und Saarland lagen keine bzw. keine aktuellen Daten vor) 400.000 BW: Baden-Württemberg BY: Bayern 350.000 BE: Berlin BB: Brandenburg HB: Bremen 300.000 HH: Hamburg HE: Hessen MV: Mecklenburg-Vorpommern 250.000 NI: Niedersachsen NW: Nordrhein-Westfalen 200.000 RP: Rheinland-Pfalz SL: Saarland SN: Sachsen 150.000 ST: Sachsen-Anhalt SH: Schleswig-Holstein TH: Thüringen 100.000 50.000 0 BW BY BE BB HB HH HE MV NI NW RP SN ST SH TH 2009 2012 2015 2016 Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2017, E7.1
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT WISO DISKURS 9 Schüler_innen an Berufsschulen wirken sich auch „Passungs- heißt, Probleme bei der Besetzung von Ausbildungsstellen probleme“ auf den Umfang des Zugangs von Schüler_innen manifestieren sich nicht nur in bestimmten Berufen und zu Berufsschulklassen aus. Anzahl an Fachklassen und Breite Betriebsgrößenordnungen, sie variieren auch nach Regionen. des Unterrichtsangebots in der Berufsschule variieren dem- In ihrer Qualifikations- und Berufsfeldprojektion bis 2035 nach mit der quantitativen Entwicklung besetzter betrieblicher (Abbildung 3) kommen Zika et al. (2017: 4) zu dem Ergebnis, Ausbildungsplätze. dass gewachsene regionale Wirtschaftsstrukturen auch künf- In den letzten Jahren sind die Zahlen nicht besetzter Aus- tig das Angebot auf dem regionalen Arbeits- und damit bildungsstellen bundesweit kontinuierlich gestiegen (2009: Ausbildungsmarkt beeinflussen werden. Demzufolge wird 17.564, 2012: 34.051, 2016: 43.478) (vgl. Matthes et al. es in Norddeutschland eine starke Konzentration auf Land- 2017: 19). Die größten Besetzungsprobleme hat das Handwerk und Forstwirtschaft, Fischerei, Fahrzeugbau, Verkehr und zu verzeichnen. Hier liegt der Anteil der unbesetzten Ausbil- Lager geben, in der Mitte Deutschlands eher auf die Bereiche dungsstellen bei 9,4 Prozent (14.041). Im Zuständigkeitsbereich unternehmensnaher Dienstleistungen, Finanz-, Versicherungs- von Industrie und Handel liegt der Anteil bei 7,7 Prozent (24.621) wesen, Verkehr und Lagerei, im Osten Deutschlands vor (vgl. Matthes et al. 2017: 21). Die 15 am stärksten von Be- allem auf unterschiedliche Dienstleistungen und das Gesund- setzungsproblemen betroffenen Ausbildungsberufe sind der heitswesen und im Süden des Landes weiterhin auf Industrie Gastronomie und dem Handwerk zuzuordnen (Abbildung 2). und Dienstleistungen. Von Besetzungsproblemen sind besonders Klein- und Insbesondere in den ost- und süddeutschen Regionen Kleinstbetriebe betroffen. So konnte 2016 „jeder zweite konnte in 2016 ein hoher Anteil der angebotenen Ausbil- Kleinstbetrieb mit weniger als 20 Beschäftigten seine ange- dungsplätze nicht besetzt werden: „Die höchsten Anteile botenen Ausbildungsstellen nicht vollständig besetzen“ unbesetzter betrieblicher Ausbildungsplatzangebote wurden (BIBB 2017b: 233). Aber auch unter den mittelständischen 2016 in Greifswald (26,2 Prozent) und Potsdam (20,7 Pro- Betrieben nimmt das Problem der Nachwuchs- bzw. Fach- zent) gemeldet. Insgesamt blieben in Ostdeutschland 10,3 Pro- kräftesicherung zu, während mit steigender Betriebsgröße zent aller betrieblichen Ausbildungsplatzangebote unbe- Ausbildungsstellen häufiger erfolgreich besetzt werden setzt […]. Kaum betroffen von Besetzungsproblemen waren können (vgl. BIBB 2017b: 231). hingegen z. B. Kassel (1,1 Prozent), Dortmund (1,1 Prozent), Zudem können von Besetzungsproblemen je nach Region Stendal (1,4 Prozent) und Hannover (1,6 Prozent)“ (Matthes ganz andere Ausbildungsberufe betroffen sein können. Das et al. 2017: 19). Abbildung 2 Die 15 am stärksten von Besetzungsproblemen betroffenen Ausbildungsberufe nach Anteil unbesetzter Plätze am betrieblichen Angebot, 2016 (in %) Glaser_in Tierwirt_in Koch/Köchin Steinmetz_in und Steinbildhauer_in Fachkraft für Möbel-, Küchen- und Umzugsservice Gebäudereiniger_in Hotelkaufmann/-frau Gerüstbauer_in Beton- und Stahlbetonbauer_in Bäcker_in Klempner_in Fachmann/-frau für Systemgastronomie Fachverkäufer_in im Lebensmittelhandwerk Fleischer_in Restaurantfachmann/-frau 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Quelle: BIBB 2017b, S. 25
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 10 Abbildung 3 Regionale Quoten unbesetzter betrieblicher Ausbildungsangebote im Jahr 2016 (in %) Quote in % Zahl der Regionen unter 5 % 30 5 % bis unter 10 % 80 10 % bis unter 15 % 32 15 % bis unter 20 % 10 20 % und mehr 2 Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung, Erhebung zum 30. September; Bundesagentur für Arbeit, Ausbildungsmarktstatistik zum 30. September (Sonderauswertung zur Vorbereitung des Berufsbildungsberichts); Bundesinstitut für Berufsbildung, eigene Berechnungen des BIBB-Arbeitsbereichs 2.1 Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt zungsprobleme auf die weiteren Bildungsangebote der berufs- gehören zu den Bundesländern, die vergleichsweise stark bildenden Schulen aus, da dann durch Berufsvorbereitung mit Besetzungsproblemen auf dem Ausbildungsmarkt um- oder berufsfachschulische Angebote diejenigen Jugendlichen zugehen haben. In den Jahren zwischen 2009 und 2012 ist aufgefangen werden, die keinen Ausbildungsplatz bekom- es hier zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Schüler_ men haben. innen an Berufsschulen gekommen, während sich in jüngster Wenn die Entwicklung von Berufsschulen im Zusammen- Zeit dieser Trend jedoch wieder etwas abschwächt. hang mit dem regionalen Ausbildungsmarktgeschehen, be- In einigen Regionen überwiegt eine umgekehrte Proble- trieblichen Ausbildungsengagement und Ausbildungsinteresse matik. Passungsprobleme sind hier nicht auf Besetzungs- der Jugendlichen steht, ist zu fragen, wodurch diese beein- probleme auf dem Ausbildungsmarkt, sondern auf Versor- flusst werden. Das betriebliche Ausbildungsengagement, so gungsprobleme zurückzuführen. Das heißt, dass ausbildungs- eine landläufige These, unterliegt dem Prinzip konkurrenz- platzsuchende Jugendliche nicht mit einem ihren Wünschen bewussten Wirtschaftens. Demzufolge sind in erster Linie entsprechenden Ausbildungsplatz versorgt werden können negative Kosten-Nutzen-Bilanzierungen bzw. Verwertungs (Abbildung 4). Versorgungsprobleme betreffen vor allem aspekte entscheidend für betriebliche Ausbildungsabstinenz. Ausbildungsberufe in den Bereichen Marketing und Medien. Ein zentrales Motiv betrieblicher Ausbildung besteht dann Diese Berufe sind im Hinblick auf Anforderungen, Qualität im eigenen Bedarf an selbst ausgebildeten Fachkräften. Dies und Bezahlung für viele Jugendliche attraktiv. bestätigt der jüngste Datenreport zum Berufsbildungsbericht Inwieweit sich Versorgungsprobleme auf Berufsschulen (BIBB 2017b: 231): „Ausschlaggebend für Betriebe, sich an auswirken, ist nicht eindeutig. So können Fachklassenstärken der Ausbildung Jugendlicher zu beteiligen, ist vor allem der dennoch erreicht werden, gleichzeitig kann sich hierdurch Zusatz- und Ersatzbedarf an Beschäftigten im mittleren Quali- aber auch die Zahl der Schüler_innen reduzieren. Versorgungs- fikationssegment und hier insbesondere bei den Beschäftigten probleme auf dem regionalen Ausbildungsmarkt müssen mit einer betrieblichen Berufsausbildung.“ Durch die Inves- nicht zwangsläufig den Druck auf Betriebe erhöhen, künftig tition in eigene Ausbildung können sich Betriebe vom exter- mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Ob und inwieweit Ver- nen regionalen Arbeitsmarkt unabhängig machen. „Ausbil- sorgungsprobleme dazu führen, dass die Bereitschaft von dungskosten werden bis zu einem bestimmten Maß in Kauf Betrieben zunimmt, auch in neuen Berufsfeldern, in denen genommen, da durch die Übernahme der Ausbildungsabsol- sie bislang nicht ausgebildet haben, auszubilden, ist offen. ventinnen und Ausbildungsabsolventen mittel- und langfristig Fraglich ist auch, inwieweit die fachliche Ausrichtung, die wirksame Erträge entstehen“ (Schönfeld et al. 2016: 13). Aufnahmekapazitäten und die Voraussetzungen für Ange- Auch das Motiv auszubilden, um Auszubildende als billige botserweiterungen der in der jeweiligen Region ansässigen Arbeitskräfte einzusetzen, spielt nach wie vor eine Rolle. Berufsschule hierbei eine Rolle spielen. Versorgungsprobleme „Bei Betrieben, die nach dem Produktionsmotiv ausbilden, auf dem Ausbildungsmarkt wirken sich ebenso wie Beset- stehen die produktiven Leistungen der Auszubildenden im
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT WISO DISKURS 11 Abbildung 4 Die 15 am stärksten von Versorgungsproblemen betroffenen Ausbildungsberufe nach Anteil noch Suchender an der Nachfrage, 2016 (in %) Veranstaltungskaufmann/-frau Florist_in Fachangestellte/-r für Medien- und Informationsdienste Tiermedizinische/-r Fachangestellte/-r Kaufmann/-frau für Tourismus und Freizeit Chemielaborant_in Buchhändler_in Fotograf_in Biologielaborant_in Mediengestalter_in in Digital und Print Informations- und Telekommunikations-Elektroniker_in Sport- und Fitnesskaufmann/-frau Mediengestalter_in in Bild und Ton Gestalter_in für visuelles Marketing Tierpfleger_in 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Quelle: BIBB 2017b, S. 25 Vordergrund. Die Auszubildenden erstellen bereits während Kalküls ausbilden. „Neben den eher betriebswirtschaftlichen der Ausbildung monetär verwertbare Produkte und Dienst- Motiven gibt es auch immer Betriebe, die sich in der sozialen leistungen für den Betrieb und tragen so zum Geschäftser- Verantwortung sehen, jungen Menschen die Möglichkeit zu folg bei“ (Schönfeld et al. 2016: 13). geben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und gleichzeitig Für die betriebliche Zurückhaltung in der Ausbildung sind den Fachkräftebedarf in der Region und der Branche zu im Rahmen des Kosten-Nutzen-Kalküls die unzureichende sichern“ (Schönfeld et al. 2010: 15). In dörflich-ländlichen betriebliche Ausbildungsinfrastruktur, zu hoher Betreuungs- Regionen leisten Betriebe durch die Aufnahme von Auszu- aufwand vor dem Hintergrund von Auftragsdruck sowie bildenden mitunter Verwandtschafts-, Freundschafts-, Nach- Abwanderungsgefahr der fertig ausgebildeten Jugendlichen barschaftsdienste. Auch Ausbildungskampagnen und mora- als Gründe für mangelndes betriebliches Ausbildungsenga- lische Aufforderungen von Innungen oder Kammern können gement entscheidend (vgl. Mohr et al. 2015). Besetzungs- Betriebe dazu veranlassen auszubilden, ebenso wie das be- probleme werden vonseiten der Betriebe häufig individualisiert, triebliche Interesse am Erhalt einer nahegelegenen Berufs- d. h. auf Persönlichkeitsmerkmale und Verhalten der Jugend- schule, zu der eine gewachsene Kooperationsbeziehung lichen zurückgeführt, auf ihr rückläufiges Interesse an Aus- besteht, und deren Existenz Betrieben zumindest immer bildung, auf das gestiegene Anspruchsniveau geeigneter die Option offenlässt, wenn sie sich eines Tages wieder für Ausbildungsplatzbewerber_innen, auf unzureichende Vor- Ausbildung entscheiden sollten, die Jugendlichen ortsnah bildung ausbildungsinteressierter Bewerber_innen, auf einen beschulen zu können. So gesehen sind nicht nur regional- hohen Aufwand bei der Betreuung und Unterstützung der ökonomische und betriebswirtschaftliche Motive, sondern Auszubildenden, auf zu wenig produktive Einsatzmöglichkei- auch soziokulturell gewachsene Kontexte, soziale Ereignisse ten der Auszubildenden im Betriebsalltag, auf betriebliche und bestimmte formelle und informelle regionale Akteurs- Erfahrungen mit vorzeitigen Vertragslösungen und auf zu konstellationen mitverantwortlich für das Ausbildungsmarkt- geringe Unterstützung durch die Eltern und die Berufsschule geschehen in den Regionen. Die Frage ist, welche Bedeutung (vgl. Pahnke et al. 2014; Protsch 2014; Mohr et al. 2015). und welchen Einfluss Berufsschulen in diesen Akteurskonstel Betriebliche Ausbildungsentscheidungen folgen aber lationen haben, und ob sie hierüber regionales Ausbildungs- nicht grundsätzlich solchen Begründungspfaden. So finden geschehen mit steuern können. sich beispielsweise auch Betriebe, die jenseits ökonomischen
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 12 2.2 (AUS-)BILDUNGSVERHALTEN JUGEND- nach Bundesland der Anteil der Jugendlichen mit und ohne LICHER UND AUSBILDUNGSATTRAKTIVITÄT Hauptschulabschluss und Studienberechtigung mitunter erheblich (Abbildung 5). Nicht nur das betriebliche Ausbildungsplatzangebot und In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen- das Ausbildungsverhalten sind entscheidende Faktoren für Anhalt ist der Anteil der in Ausbildung einmündenden Ju- die regionale Wirtschaft, den regionalen Arbeits- und Aus- gendlichen ohne Hauptschulabschluss noch relativ hoch. In bildungsmarkt, sondern auch das (Aus-)Bildungsverhalten Bayern, Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Schleswig-Hol- Jugendlicher, die Ausbildungsattraktivität und -qualität aus stein liegt der Anteil Jugendlicher mit Hauptschulabschluss der Sicht (potenzieller) Auszubildender. über dem Bundesdurchschnitt. In den Stadtstaaten Berlin, In den letzten Jahren ist die Ausbildungsplatznachfrage Bremen und Hamburg sowie in den Bundesländern Hessen, der Jugendlichen kontinuierlich zurückgegangen (2009: Nordrhein-Westfalen und im Saarland liegt der Anteil der 652.947, 2012: 627.378, 2016: 600.933) (vgl. Matthes et al. Jugendlichen mit Studienberechtigung inzwischen weit über 2017: 15). Als Gründe hierfür werden ein Rückgang der Zahl dem Bundesdurchschnitt. der Schulabgänger_innen, eine strukturelle Verschiebung Gleichzeitig wird deutlich, dass die klassische Segmenta- in den Schulabschlüssen zugunsten des Abiturs und eine tion bestehen bleibt, nach der ausbildungsbezogene Berufs- gestiegene Studierneigung genannt. Die Verschiebung in bildung überwiegend von Jugendlichen mit mittlerer und den Schulabschlüssen zugunsten eines mittleren Abschlusses höherer schulischer Vorbildung besucht wird, während Ju- und der Studienberechtigung geht nicht nur zulasten der gendliche mit maximal Hauptschulabschluss geringe Chancen Zahl der Neuzugänge in die duale Ausbildung, sondern führt haben, am Berufsschulunterricht teilzunehmen, weil ihnen innerhalb der dualen Ausbildung zur Verschiebung in der in geringerem Umfang ein Ausbildungsplatzangebot zur Vorbildung der Schüler_innen/Auszubildenden. So ist das Verfügung steht. Je nach schulischer Vorbildung verteilen Vorbildungsniveau an den berufsbildenden Schulen, damit sich die Jugendlichen auf unterschiedliche Segmente von an Berufsschulen, und in der schulischen Berufsvorbereitung Ausbildungsberufen. Jugendliche ohne Hauptschulabschluss unterhalb der dualen Ausbildung kontinuierlich gestiegen. beginnen häufig eine Ausbildung in den Berufen des Einzel- Dementsprechend ist der Anteil der Jugendlichen ohne handels (Verkäufer_in), der Hauswirtschaft, im Gartenbau Hauptschulabschluss, die eine duale Ausbildung aufnehmen, oder als Friseur_in, Maler_in und Lackierer_in, als Koch/ in den letzten Jahren bundesweit gesunken (2009: 3,5 Pro- Köchin, Fachlagerist_in oder Fachpraktiker_in der Küche zent, 2015: 2,8 Prozent) (vgl. BIBB 2017b: 142). Auch der (vgl. BIBB 2017b: 147). Jugendliche mit Hauptschulabschluss Anteil der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss hat konti- nehmen überdurchschnittlich häufig eine Ausbildung im nuierlich abgenommen (2009: 33,1 Prozent, 2015: 26,7 Pro- Handwerk, in der Hauswirtschaft oder Landwirtschaft auf. zent). Jugendliche mit Realschulabschluss bilden nach wie Jugendliche mit Realschulabschluss sind besonders in den vor die größte Gruppe unter den Neuanfänger_innen einer freien Berufen (Medizinische_r Fachangestellte_r, Zahnme- dualen Ausbildung (2009: 43 Prozent, 2012: 42,3 Prozent, dizinische_r Fachangestellte_r) vertreten. Auch in den Technik- 2015: 42,7 Prozent). Der Anteil der Jugendlichen mit Studien- berufen (Kraftfahrzeugmechatroniker_in, Industriemecha- berechtigung ist größer geworden (2009: 20,3 Prozent, niker_in) werden sehr viele Realschulabsolvent_innen aus- 2012: 24 Prozent, 2015: 27,7 Prozent). Allerdings variiert je gebildet, ebenso wie in den kaufmännischen Berufen (Kauf- Abbildung 5 Auszubildende mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag nach höchstem allgemeinbildenden Schulabschluss und Bundesland, 2015 (in %) 60 50 40 30 20 10 0 BW BY BE BB HB HH HE MV NI NW RP SL SN ST SH TH Bund ohne Hauptschulabschluss Hauptschulabschluss Realschulabschluss Studienberechtigung Quelle: BIBB 2017b, S. 143
BERUFSSCHULEN IN DER DUALEN AUSBILDUNG UND REGIONALEN WIRTSCHAFT WISO DISKURS 13 mann/-frau im Einzelhandel, Kaufmann/-frau für Büromana- Ausbildung in einer Maßnahme des Übergangsbereichs wa- gement, Kaufmann/-frau im Groß- und Einzelhandel) (vgl. ren, ist mit 9,2 Prozent an allen Neuzugängen insgesamt BIBB 2017b: 149). Auszubildende mit Studienberechtigung gering (vgl. BIBB 2017b: 155). bevorzugen die kaufmännischen Ausbildungsberufe (Indus- Das betriebliche Ausbildungsverhalten zugunsten von triekaufmann/-frau, Kaufmann/-frau für Büromanagement, Jugendlichen mit geringer Vorbildung bietet den Jugendli- Bankkaufmann/-frau, Kaufmann/-frau im Groß-Außenhan- chen nicht nur die Chance auf einen Ausbildungsabschluss, del) (vgl. BIBB 2017b: 150). sondern zudem auch die Möglichkeit, den allgemeinen Schul- Betriebe sind gefordert, die oberen Ausbildungsberufs- abschluss in der Berufsschule nachzuholen oder zu erweitern. segmente für Jugendliche, die über einen niedrigen Schul- Inwieweit das betriebliche Ausbildungsverhalten dadurch be- abschluss verfügen, zu öffnen. Für eine Öffnung der oberen einflusst werden kann, dass den Berufsschulen mehr Möglich- Ausbildungssegmente für Jugendliche mit einem niedrigen keiten zur Verfügung gestellt werden, durch ergänzende Schulabschluss schlägt die Autorengruppe Bildungsbericht- Bildungsangebote versäumte Bildungschancen von Jugend- erstattung (2016: 122) die „Anhebung kognitiver Kompe- lichen zu kompensieren, damit diese eine duale Ausbildung tenzen“ der benachteiligten Jugendlichen vor. „Dabei muss erfolgreich absolvieren, ist selten untersucht worden. die Anhebung nicht für den Beginn einer Ausbildung Voraus- In den letzten Jahren ist für die duale Ausbildung auch setzung sein; sie kann auch noch in der Ausbildung erfolgen. die Gruppe der Studienberechtigten interessant geworden. Dies allerdings setzt voraus, dass sich die Betriebe auch ver- Diese, so die (berufs-)bildungspolitische Hoffnung, sollten stärkt zu einem allgemeinen Bildungsauftrag bekennen“ und stärker für Ausbildungsplätze angeworben werden, um so sich in diesem Zusammenhang auf eine intensivere Koopera- Besetzungsprobleme lösen und um die Gewichtsverlagerung tion mit den Berufsschulen einlassen, um individuelle Förder- von der dualen Ausbildung hin zum Hochschulstudium wieder strategien an beiden Lernorten zu unterstützen. ausgleichen zu können. Tatsächlich konnten in 2016 erst- Ein Unterstützungsbedarf für Jugendliche in der dualen malig mehr Ausbildungsplatzbewerber_innen mit Studien- Ausbildung, die über eine geringe Vorbildung verfügen, kann berechtigung (148.200) als mit Hauptschulabschluss (145.200) auch an der Vertragslösungsquote abgelesen werden. Die registriert werden (vgl. Matthes et al. 2017: 16). Allerdings Vertragslösungsquote in der Ausbildung liegt bundesweit gab es auch unter den Studienberechtigten erfolglose Be- bei 24,9 Prozent (vgl. BIBB 2017b: 164). Sie nimmt mit der werber_innen. Die Zahl erfolgloser Bewerber_innen mit Stu- schulischen Vorbildung ab, d. h. je geringer die schulische dienberechtigung ist inzwischen fast genauso hoch (22.344) Vorbildung der Auszubildenden, umso höher ist die Lösungs- wie die der erfolglosen Bewerber_innen mit Hauptschulab- quote. So liegt sie bei Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss schluss (22.742) (vgl. BIBB 2017a: 22). bei 37,1 Prozent, mit Hauptschulabschluss bei 36,4 Prozent, Allerdings weisen Studien darauf hin, dass ein Großteil mit Realschulabschluss bei 22,3 Prozent und mit Studienbe- der Jugendlichen mit Studienberechtigung, für die eine duale rechtigung bei 14,2 Prozent. Im Handwerk ist die Vertrags- Ausbildung zunächst durchaus eine Option darstellt, „sich lösungsquote besonders hoch (33,5 Prozent), auch in Ost- am Ende doch für ein Studium [entscheiden], das im Ver- deutschland liegt sie über dem Durchschnitt (31,2 Prozent). gleich mit einer dualen Ausbildung eine Reihe von Vorteilen Vertragslösungen in der Ausbildung bedeuten, dass die bietet, nämlich eine spätere Statuspassage, mehr Berufs- Schüler_innen auch die Berufsschulen verlassen müssen. optionen, bessere Aussichten auf ein höheres Einkommen Darüber, wie neben befristeten Angeboten der Jugendberufs- und eine Führungsposition sowie ein deutlich geringeres hilfe auch durch noch intensivere und kontinuierlichere Lern- Arbeitslosigkeitsrisiko“ (BIBB 2014: 3). Die meisten Ausbil- ortkooperation und konstante projektunabhängige, präventive dungsberufe mit Besetzungsproblemen sind für viele Jugend- und flexible berufsschulische Angebote unfreiwillige Vertrags- liche unattraktiv. So lassen sich Defizite hinsichtlich der At- lösungen vermieden werden können, liegen kaum systematisch traktivität vor allem bei Ausbildungsberufen nachweisen, dokumentierte Erfahrungsberichte vor. Dies ist wichtig zu „die eine hohe Zahl an unbesetzten Plätzen vorweisen. Es diskutieren, weil „der Zugang zur beruflichen Erstausbildung ist daher von einem nach Branchen und Berufsfeldern dif- mehr denn je einen Weichencharakter für die Verteilung von ferenzierten Gestaltungsbedarf auszugehen, um die Attrak- Lebenschancen im Lebenslauf besitzt“ (Konietzka/Hensel tivität der dualen Ausbildung zu steigern“ (BIBB 2014: 3). 2017: 304). Unter dem Aspekt Attraktivität der dualen Ausbildung Im Übergangsbereich befindet sich derzeit weit über eine für Studienberechtigte werden mit Blick auf Berufsschulen Viertel Millionen Jugendlicher (298.800) (vgl. BIBB 2017a: 10). Möglichkeiten der Verbindung dualer Ausbildung mit dualen Die Zahl der erfolglosen Bewerber_innen ist insgesamt relativ Studiengängen sowie „Möglichkeiten des Übergangs von hoch (2012: 76.119, 2016: 80.600) und liegt weit über der den oberen Stufen der beruflichen Bildung (mit Abschluss Zahl unbesetzter Ausbildungsstellen (2016: 43.500) (vgl. in einem anerkannten Ausbildungsberuf) in den tertiären Matthes et al. 2017: 22; BIBB 2017a: 20). Der Anteil aller Bereich des (Fach)Hochschulsektors“ (BIBB 2014: 22) dis- erfolglosen Bewerbungen an der Nachfrage insgesamt liegt kutiert, insbesondere auch im Zusammenhang mit Projekten, aktuell bei 13,4 Prozent. Von allen Anfänger_innen im Über- die eine Lösung für die Kompensation der hohen Studien- gangsbereich haben immer weniger Jugendliche keinen abbruchquote an Hochschulen sowie für die Verringerung Schulabschluss (25,7 Prozent), die meisten Jugendlichen der Fachkräfteengpässe suchen, indem sie Studienabbrecher_ verfügen über einen Hauptschulabschluss (42,6 Prozent), innen für die duale Ausbildung zu gewinnen versuchen. aber auch der Anteil der Jugendlichen mit einem mittleren Hamburg hat ein vom Bundesministerium für Bildung und Abschluss ist mit 22,7 Prozent relativ hoch (25,7 Prozent). Forschung (BMBF) gefördertes „Leuchtturmprojekt zur ver- Der Anteil der Jugendlichen, die vor der Aufnahme einer netzten Beratung, Vermittlung und Begleitung von Studien-
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