Feindstrafrecht im Islam? - Philipp Thiée

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Philipp Thiée

                                       Feindstrafrecht im Islam?
                            Die Umma: Ausschluss, Ehre und die
                                   Sehnsucht nach Harmonie1
                             »Eine Millionen Menschen, die gleichzeitig dieselbe
                                Bewegung ausführen, und das ohne jeden Befehl.
                        Das ist unglaublich, aber charakteristisch für den Islam.«
                                                              Ryszard Kapuscinski

                    »Siehe, die Ungläubigen sind euch ein offenkundiger Feind.«
                                                                       Koran 4, 101

                                  I. Einleitung:
                      Die Utopie des Katechon im Angesicht
                           des Höllenfeuers der Feinde

In seinem Roman Haddsch lässt Leon Uris seinen jungen arabischen
Helden zur Erkenntnis der Funktionsweise der arabischen Gesellschaft
kommen. Nachdem er mit Hilfe einer Intrige des Onkels und des Bru-
ders gegen den Vater seine eigene Stellung im Familienverbund ver-
bessert hat, indem er die Intrige zum Nachteil aller drei Verwandten
und zu seinem Vorteil wendete, erklärt er: »So hatte ich, noch bevor
ich neun Jahre alt war, die Grundlage des arabischen Lebens gelernt.
Sie lautete: Ich gegen meinen Bruder; ich und mein Bruder gegen un-
seren Vater; meine Familie gegen meine Vettern und die Sippe; die
Sippe gegen den Stamm; der Stamm gegen die Welt. Und wir alle ge-
gen die Ungläubigen.« (Uris, 1998: 46)
Damit beschreibt er die verschiedenen, sauber getrennten Grenzen, an
denen in islamisch-arabischen Ländern die äußeren und inneren Fein-
de der Gemeinschaft (Umma) bestimmt werden - sowohl die religiösen
als auch jene, die aus gesellschaftlichen Konflikten resultieren. Diesen
Linien soll im Folgenden aus einer rechtstheoretischen Perspektive
nachgegangen werden. Dabei sollen sowohl der Einfluss und die
Struktur der islamischen Rechtsideologie als auch die realpolitischen

1   Für wichtige Hinweise und Anregungen danke ich Benny Schlüter.

                                                                                195
Konfliktfelder innerhalb der arabischen Gesellschaften dargestellt wer-
den. Es ist in Rechnung zu stellen, dass die real existierenden Staaten
in islamisch geprägten Gesellschaften heute alle - außer einigen zwei-
felhaften Demokratien wie der Türkei – entweder halbweltliche oder
theokratische Diktaturen sind.
Daher ist ein Vergleich mit den westlichen Rechtssystemen nicht ohne
weiteres durchführbar. Bei den Kodifikationen dieser Staaten steht als
Ziel die Realisierung von Ordnung und Systemstabilität wesentlich
stärker im Vordergrund, als dass Rechte zum Schutz der Autonomie
der Rechtsunterworfenen abgesichert würden. Der proklamierte Sou-
veränitätsbegriff, von dem her die Rechtsordnungen sich aufbauen, ist
anders gelagert: Im Islam heißt der Souverän Allah, die Diktatur sieht
ihn in der Exekutive, während er in der bürgerlichen Demokratie
durch mehrere Instanzen vermittelt auf den Entscheidungsprozess der
Bevölkerung zurückführbar sein soll.2

Jedoch ist auch im Okzident Theorie, welche im Recht primär Ord-
nungsdenken verankert sieht, nicht unbekannt.3 So geht die System-
theorie in ihrer dezisionistisch geprägten Analyse der Gesellschaft
letztlich von einer Kontingenz des Subjektes für das Bestehen des Gan-
zen aus. Recht realisiert auch hier primär Systemstabilität, Normgel-
tung und für den Einzelnen höchstens die Möglichkeit der leichteren
Entscheidungsakzeptanz wegen der Durchführung eines Verfahrens
(Luhmann,1993a, 1993b). Hier werden Gesetzmäßigkeiten in einer Art
und Weise ontologisiert, die sie dem menschlichen Einfluss enthebt.
Rechte des Einzelnen erscheinen in ihr als Luxus eines stabilen Sys-
temablaufes, der selbst inhaltlich entleert ist.

Aus Perspektive systemischen Denkens ist die Existenz des Strafrechts
also das einschneidendste Mittel, Ordnung und System aufrecht zu
erhalten. Es ist insofern eine Art Katechon, welcher sich vor einen von
chaotischer Gewalt bestimmten Naturzustand stellt. Diesen Zweck soll
wohl letztlich auch die von Jakobs beschriebene Trennung von Feind-
und Bürgerstrafrecht haben (Jakobs, 2000a, 2004a). Seine Theorie er-
scheint also als sinnvolle und brauchbare Deskription von Aspekten
eines konservierenden Verständnisses einer Gesellschaft, die sich
selbst bedroht sieht.

2   Zu den Souveränitätsbegriffen ein guter Überblick: Maus, 2005.
3   S. dazu exemplarisch den 1934 erschienenen Aufsatz von Carl Schmitt Über die drei Arten
    des rechtswissenschaftlichen Denkens, Schmidt, 1993.

196
An diesem Punkt lassen sich bestimmte Parallelen des Ordnungsden-
kens von Okzident und Orient erkennen. Dabei darf aber die grund-
sätzliche Differenz der historischen Konstellationen und Entwicklun-
gen dieser beiden Rechtsräume nicht außer Acht gelassen werden.

Im Folgenden soll gezeigt werden, in welchem Maße sich die existie-
renden muslimischen Ordnungen durch die Exklusion von Feinden
konstituieren: Häretiker, Oppositionelle, Juden und allgemein Un-
gläubige. Dabei wird herausgearbeitet, dass diese Feinderklärungen
eine Notwendigkeit aus dem Zusammenspiel von Herrschaftsmecha-
nismen und islamischer Ideologie innerhalb nahöstlicher Gesellschaf-
ten darstellt. Die ideologisch proklamierte konservative Utopie der
Reinheit und Harmonie, die das Strafrecht absichern soll, ist dabei ein
nicht einzulösendes Versprechen, welches sich an den realen Konflik-
ten antagonistischer Gesellschaftsformationen brechen muss.

Es werden zunächst Elemente der Feindstrafrechtstheorie von Günther
Jakobs einer kritischen Würdigung unterzogen, um sodann herauszu-
arbeiten, inwieweit das Recht des Mittleren Ostens strukturell ein ge-
gen den Feind gerichtetes ist. An den ausgewählten Beispielen der
Glaubensabtrünnigen und der Ungläubigen wird dabei gezeigt, wel-
che Funktion dem Feind bei der Herrschaftsstabilisierung und -legi-
timation durch das islamische Recht eingeräumt wird.

                    II. Das Ende der Bürgerlichkeit:
              Die Feinde unter den üblichen Verdächtigen

Menschliche Ordnung setzt sich immer mit der Gleichheit der Bedürf-
nisstruktur der Einzelnen auseinander. Die aus dem historischen Pro-
zess hervorgegangenen Ordnungen geben auf die gleichen Fragen
jeweils andere Antworten über die Form des Umgangs, wobei durch
die Antworten der vergangenen Generationen das Vermögen der ge-
genwärtigen geprägt wird, die Frage zu formulieren. »Der Kapitalis-
mus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Un-
ruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.«
(Benjamin, 1986: 100)

Die grundsätzliche Frage, wie soziale Ordnung möglich ist, bleibt also
sowohl im säkularen Westen als auch im religiös geprägten Mittleren
Osten vom Prinzip her gleich. In beiden Systemen haben sich in einer

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unterschiedlichen Historie verschiedene politische Standpunkte entwi-
ckelt, die um die Strukturierung der Gesellschaft ringen. Diese sind in
beiden Kulturkreisen im jeweiligen Kontext in konservative und eman-
zipatorische Standpunkte unterteilbar.

Der große Unterschied ist die im Okzident sich mehr schlecht als recht
vollzogene Aufklärung, die mit einer Domestizierung der Religion und
einer zumindest ideologischen Betonung und Entdeckung des Indivi-
duums einhergeht.
Im konkreten gesellschaftlichen Kontext ist die Freund/Feind Dicho-
tomie im Mittleren Osten jedoch wesentlich stärker und expliziter
ausgeprägt als im Okzident. Dies lässt sich gerade im Strafrecht zei-
gen, wo erkennbar ist, dass im islamisch geprägten Raum der Kampf
gegen Feinde wesentlich selbstverständlicher und offener in das
Rechtssystem integriert ist, als im Westen, wo es eine wirkungsmäch-
tigere Tradition aufgeklärter Rechtspolitik gibt (bzw. gegeben hat)
(Lüderssen, 1998).

Der reale Widerspruch, auf den eine exekutiv orientierte Politik stößt,
ist jedoch im Okzident größer, das Rechtsystem insofern schon von
sich aus weniger geschlossen. So führt die von der Systemtheorie her
entwickelte Feindstrafrechtstheorie hier bei ihrer öffentlichen Vorstel-
lung immer wieder zu amüsanten Situationen. Wie bspw. die Anmer-
kung von Hamm gegenüber Jakobs auf dem Strafverteidigertag 2004,
das habe er nun also mit seiner Theorie angerichtet, dass ein Bundes-
staatsanwalt, der für Terrorismusbekämpfung zuständig ist, dafür
tosenden Applaus bekäme, dass er sage, das Strafrecht und das gel-
tende traditionelle Prozessrecht, wie es inzwischen geworden sei, sei
ausreichend.4 Während das Staatspersonal regelmäßig liberale Kritiker
des sich neu formierenden Polizeistaates mit einem verständnislosen
Achselzucken als Hysteriker abtut, zucken dessen Vertreter doch auch
vor Schreck zusammen5, wenn ihnen zustimmend erklärt wird was sie
tun: Es sei halt mehr ein Krieg gegen Feinde denn klassisches Straf-
recht, dies sei aber auch notwendig und liege nun einmal in der Natur
der Sache. In einer Zeit in der die größte Ideologie ist, dass es keine
Ideologien mehr gebe, scheint gerade das Preisen des Bestehenden in

4 So Prof. Rainer Hamm auf der Abschlussdiskussion des 29. Strafverteidigertages am
  06.03.2005 in Aachen.
5 So die Situation zwischen Jakobs und einem Mitarbeiter des hessischen Justizministeri-

  ums auf einer Veranstaltung in Frankfurt. Der Ministerialbeamte reagierte erschrocken:
  Das sei ja wie bei Carl Schmitt.

198
klaren Worten die erhoffte harmonische Friedhofsruhe zu stören. Inso-
fern bringt die Feindstrafrechtstheorie frei nach Marx die Verhältnisse
dadurch zum tanzen, dass sie ihnen ihre eigene Melodie vorspielt.

Dabei will sie letztlich doch das Bestehende aus der Einsicht in die
angebliche Notwendigkeit heraus nur erhalten. Jakobs kann auf Grund
dessen zu Recht meinen, dass 98 Prozent seiner Ausführungen de-
skriptiv seien.6 Doch kann aus dieser Perspektive die Wirklichkeit
zwar erkannt werden, aber es können (und dazu besteht auch nicht
der Anspruch) keine Standpunkte entwickelt werden, von denen aus
»Notwehr« gegen diesen Teil der angeblich notwendigen Realität ge-
übt werden könnte. Der apologetische Dreh Jakobs kommt weniger aus
der Erkenntnis und einer einhergehenden emphatischen Bejahung des
Bestehenden, als aus dem zugrunde liegenden Wissenschaftsverständ-
nis (Jensen, 1990: 911) und dem daher eingeschränkten Blick auf den
Untersuchungsgegenstand. Dies wird deutlich, wenn Jakobs Sätze sagt
wie: »Wenn das Geschehen (gemeint ist Guntanamo, Anm. d. Verf.)
notwendig ist - was ich nicht weiß - dann ist es auch richtig.« Damit
sagt er eben nicht, ob dies schön oder wünschenswert ist, sondern er
sagt, dass Rechtssysteme in krisenhaften politischen Situationen, die
wiederum nicht in den Erkenntnisbereich der Rechtswissenschaft fal-
len, einzig diese Möglichkeit der Reaktion zum Systemerhalt haben.

Doch was ist es, das nach der Feindrechtstheorie durch Recht über-
haupt erhalten werden kann? Jakobs selbst schreibt zunächst was es
nicht kann: »Dass einige Begriffe fehlen, die man […] erwarten mag,
etwa Konsens, Diskurs, Intersubjektivität oder Menschenwürde, darf
durchaus als Programm verstanden werden« (Jakobs, 1997b: 5). Dies
geschieht aber nicht aus Boshaftigkeit oder einer Ablehnung von Men-
schenwürde. Recht wird als etwas gesehen, dass Menschenwürde ga-
rantieren kann, aber dies nicht genuin tut. Menschenwürde ist danach
kontingent, Recht ist nur ein über den Dingen stehender Regulations-
modus: »Man hat Kontingenz in ihrer jeweiligen Ausformulierung zu
akzeptieren, kann sich aber eben durch Rechtsänderung helfen.« (Luh-
mann, 1993: 235) Was kontingent ist, das ist auch austauschbar: Man
kann es beachten, es macht aber nicht den Unterschied ums Ganze aus.

Das entscheidende, das Recht (oder besser Norm) hier zu leisten hat,
ist Rechtsgeltung, die Gewährleistung von normativem Vertrauen.

6   Jakobs auf dem 29. Strafverteidigertag, s. Fn 3.

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Normen sollen Vertrauen schaffen und es dem Einzelnen möglich
machen, sich an den Regeln der Gemeinschaft zu orientieren. Daher
müssen in einem weiteren Schritt Normen kognitiv untermauert wer-
den, damit der Bürger davon ausgehen kann, dass er von allen norma-
tiv korrektes Verhalten erwarten kann. Diese kognitive Untermaue-
rung vollzieht sich durch die Strafe, mittels deren Verhängung ver-
deutlicht wird, dass trotz eines einzelnen Bruchs die Norm dennoch
weiterhin verbindlich ist. (Jakobs, 2000a: 47, 50) Alle, die diese kogniti-
ve Sicherheit im Grunde von sich aus bieten, sind in diesem Sinne
Rechtspersonen. An diese richtet sich die Strafe des Bürgerstrafrechts,
da sie selber das Bewusstsein haben, dass ihre Straftat nicht zur allge-
meinen Norm erhoben werden darf. Der Bürger ist kein Feind, son-
dern im Gegensatz zu diesem eine volle Rechtsperson.

Was aber - oder besser: wer - ist hier als Person anzusehen? Die
Rechtsperson konstituiert sich innerhalb dieser Theorie nur in der
Gemeinschaft, durch die Übernahme von Pflichten, die sich aus der
konkreten Ordnung ableiten. Erst von diesen Pflichten werden Rechte
abgeleitet. Jakobs schreibt: »Eine Person entsteht erst, wenn das Be-
dürfnis der Gruppe als sollen auf den Einzelnen übertragen und dieser
damit als notwendiges Element der Gruppe definiert wird - nur wegen
seiner Notwendigkeit erhält er auch die Rechte, die er braucht, um
seinen Pflichten genügen zu können. Mit anderen Worten, das Person-
Sein besteht im Eingepaßt-Sein in eine der Gruppe dienende und in
diesem Sinn objektive Ordnung«. In der Moderne treten »an die Stelle
des Heiligen, also des Verbindenden, […] die Bedingungen eines in-
strumentalen, individuellen Nebeneinanders.« (Jakobs, 1997b: 112)7

Der Kitt, der den Bezug zwischen den Personen nun alleine herstellt,
ist, nachdem die Religion gefallen ist, die Wirtschaft. »Aber die an der
Produktion weder Zukünftig noch in der Vergangenheit in hinrei-
chendem Maße Beteiligten lassen sich in der Ordnung der Wirtschaft
nicht als Personen verstehen. […] kurz und knapp, sie bleiben drau-
ßen.« (Jakobs, 1997b: 118)

7   Wenn Jakobs vom Heiligen als dem Verbindenden spricht, so macht er es sich etwas
    einfach. Das Heilige wirkt nur mittelbar für eine Gemeinschaft verbindend. Zunächst
    stellt die Schaffung einer Sphäre des Heiligen etwas Abtrennendes dar. Bestimmte Kon-
    flikte einer Gemeinschaft werden so, ohne ihre Wurzel aufzulösen, ins außermenschliche
    verschoben. Einher gehen auch Ausschlussmechanismen gegenüber Mitgliedern der
    Gemeinschaft (dazu von einem katholischen Standpunkt aus: Girard, 1996).

200
Jakobs heißt dies nicht gut, ist aber wohl glücklich, auf der richtigen
Seite des Zauns geboren zu sein. Da sein ganzes Theoriegebäude letzt-
lich von der die Gemeinschaft konstituierenden Pflicht her konstruiert
ist, kommt hier ein sehr maschinelles und schicksalhaftes Verständnis
von Gesellschaft zum Ausdruck: Gesellschaftliche Ordnung ist etwas
von Widersprüchen gereinigtes. Es kann Störungen im Betriebsablauf
geben, die aber insofern synchronisiert werden können, als allen übri-
gen Rechtschaffenden bestätigt wird, dass sie weitermachen können
wie bisher. Der Mensch erhält seine Sinnbestimmung durch die trans-
zendenten Gesetzmäßigkeiten und Ziele des Systems, die, wenn er sie
grundsätzlich annimmt, ein abweichendes Verbrechen verzeihbar
machen. Nach Jakobs steckt in der Schuld des Bürgers ein bewusster
Widerspruch gegen sich selbst, da er selbst nicht will, dass sich andere
an ihm ein Beispiel nehmen, so dass z.B. derjenige, der seinen Onkel
ermordet, in dem Widerspruch lebt, selbst nicht von seinem Neffen
ermordet werden zu wollen.

Anders ist beim Feind bereits die Selbstwahrnehmung: »Wer als Per-
son behandelt werden will, muss seinerseits eine gewisse kognitive
Garantie dafür geben, dass er sich als Person verhalten wird. Bleibt
diese Garantie aus oder wird sie sogar ausdrücklich verweigert, wan-
delt sich das Strafrecht von einer Reaktion der Gesellschaft auf die Tat
eines ihrer Mitglieder zu einer Reaktion gegen einen Feind. Das muss
nicht heißen, nunmehr sei alles erlaubt, auch eine maßlose Aktion;
vielmehr mag dem Feind eine potenzielle Personalität zugestanden
werden, so dass bei seiner Bekämpfung über das Erforderliche nicht
hinausgegangen werden darf.« (Jakobs, 2000a: 51)
Feind ist also der, der sich den Normen der Gesellschaft ganz verwei-
gert, wobei die Gründe der Verweigerung unterschiedlich sein kön-
nen. Ob islamischer Terrorist oder Drogendealer spielt für den Status
als Feind keine Rolle, wenn die Normen der Gemeinschaft als solche
angegriffen werden. Der Feind ist insofern für den Bestand des Sys-
tems eine Gefahr und von der Art der Gefahr her werden Maßnahmen
gegen diesen ergriffen. Die Maßnahme selbst wird bestimmt von der
selbst gesetzten Identität der Gemeinschaft sowie lang- und kurzfristi-
gen Zweckmäßigkeitsüberlegungen zur Überwindung der vom Feind
verursachten Gefahr.

Daher muss der Feind auch nicht zwangsläufig vollkommen und für
immer ent-personalisiert werden. Er kann, muss aber nicht vernichtet

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werden. Unter Umständen darf er Eigentum, aber keine Bewegungs-
freiheit haben - je nach Schärfe und Art des Konfliktes. Dies ist aber
dann keine Frage des Rechts, sondern eine nach der Aktualität und
dem Grad der Gefahr.
Diese Struktur (Gemeinschaft vs. Feind) ist nach Jakobs ontologisch in
menschlichen Gesellschaften verankert. Daher gelingt es ihm auch
nicht, eine kritische Perspektive zu entwickeln. Aus seiner Perspektive
kann man dies genauso wenig kritisieren, wie den Mond für die Gezei-
ten. Seine Kritik gilt, wenn, dann bloß der konkreten Umsetzung die-
ses Strukturprinzips: Man soll nicht verschleiern, sondern die Normen
sauber trennen, damit jeder weiß woran er ist. Streng juristisch müssen
danach Regel, Ausnahme und eventuelle Gegenausnahme (Rückkehr-
recht für den Feind) als solche bezeichnet werden. Wer Feind ist, ist
dabei keine rechtliche sondern eine politische Frage.

Was Jakobs damit gelingt, ist, Kriminalitätsangst und die damit ver-
knüpfte Tendenz der aktuellen Rechtspolitik auf den Punkt zu brin-
gen. Seine Vorstellung von Gesellschaft ist dabei letztlich die Utopie
eines (vielleicht etwas gestörten) Idylls. Nach diesem Bild basiert die
Gesellschaft nicht auf integralen Widersprüchen, sondern ihr wird von
Abtrünnigen im Inneren oder von Außen Widerspruch entgegenge-
setzt. Da das Subjekt seinen Sinn durch seine Nützlichkeit für das Sys-
tem erhält, ist es dem Subjekt unmöglich, dem System einen Sinn zu
geben, der nicht kontingent wäre, und so die Freund/Feind Dichoto-
mie zu überwinden. Jakobs betreibt eine Metaphysik ohne Gott, indem
er bestimmte Strukturprinzipien annimmt, die den menschlichen Ge-
sellschaftsaufbau prägen, ohne dass auf diese Einfluss geübt werden
könnte. Seine Forderung, diese Regeln des Systems sich ehrlich einzu-
gestehen, indem man neben dem Strafrecht für Bürger ein Feindrecht
schafft, wäre in der Realität erst die Festschreibung des Prinzips als
nicht zu überwindendes Prinzip.

Hier steht die funktionalistische Rechtsauffassung am Scharnier des
Übergangs von liberaler zu autoritärer Staatsauffassung. Sie lehnt die
humanen Grundsätze des Liberalismus nicht ab, zeigt diesem aber in
Zeiten der Krise einen Ausweg aus der Humanität, um der Selbsterhal-
tung der Gemeinschaft willen. Genau dies ist wiederum in eine ständi-
ge und immer wieder neu formulierte Auseinandersetzung innerhalb
des Okzidents einzuordnen. Bereits 1934 schrieb Herbert Marcuse über
die Funktionalisierung der Vernunft in der Staatstheorie: »Entscheidend

202
ist, dass hier vor die Autonomie der Vernunft als ihre prinzipielle
Schranke irrationale Gegebenheiten gelagert werden, von denen die
Vernunft kausal, funktional oder organisch abhängig ist und bleibt.
Gegenüber allen abschwächenden Versuchen kann nicht oft genug
betont werden, dass eine solche Funktionalisierung der Vernunft bzw.
des Menschen als vernünftigen Lebewesen die Kraft und Wirkung der
Vernunft an ihren Wurzeln vernichtet, denn sie führt dazu, die irratio-
nalen Vorgegebenheiten in normative umzudeuten […] (Dies) hat in
der Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft den Sinn, eine rational
nicht mehr zu rechtfertigende Gesellschaft durch irrationale Mächte zu
rechtfertigen« (Marcuse, 1979: 7, 19). Diese Vorgegebenheiten werden
heute im Okzident nicht mehr in einem Gott gesucht.

                          III. Die Wüste lebt:
                    Das Rechtsverständnis des Islam

Der Islam dagegen begründet sich unmittelbar aus den Worten Gottes.
Dabei kann man heute nicht ohne weiteres von islamischem Recht
reden. Wenn man sich nämlich die Staats- und Gesellschaftsordnun-
gen des Mittleren Ostens ansieht, so kann man nicht von einem ein-
heitlich harmonischen Rechtsraum sprechen. Während Tunesien in
seiner Verfassung keinen Bezug zur Scharia herstellt, gilt diese in Sau-
di Arabien unmittelbar und ist im Iran Grundlage aller Kodifikationen.
Insgesamt lässt sich aber seit einigen Jahren im Mittleren Osten eine
Re-Islamisierung der Rechtsordnungen feststellen lässt. (Tibi, 1998: 21)

Der Islam ist zunächst nur eine Ideologie innerhalb eines sozialen Span-
nungsgeflechtes, die aber den geographischen Raum des Mittleren Os-
tens zutiefst geprägt hat. Innerhalb des islamischen Ideengebäudes sind
die Rechtsbestimmungen, d.h. die Regelungen zur Lebensführung des
Einzelnen, ein Kernbestandteil des Glaubens. Gegenüber dem Begriff
islamisches Recht für das theoretische Konzept von Recht ist es präziser
von muslimischem Recht zu sprechen, wenn man über die konkreten
Rechtsordnungen redet, welche von Anhängern des Islams geschaffen
wurden. (McNeil) Die geltenden Rechts- bzw. Ordnungssysteme im
Mittleren Osten werden durch verschiedenste Herrschaftsinteressen
weltlicher und religiöser Eliten aber auch von Volksbewegungen - wie
z.B. der Muslimbruderschaft (Küntzel, 2001, Kandil, 1998: 403) - be-
stimmt und geformt.

                                                                     203
Dabei wird als Handlungslegitimation in verschiedener Weise auf den
Islam als religiösem Bild von der Welt Bezug genommen. So erscheint
es zunächst sinnvoll, sich die Genese und Struktur der islamischen
Rechtsvorstellung anzusehen. Erst dann ist es möglich, sich der Bedeu-
tung des Feindes im muslimischen Rechtsraum anzunehmen.

Bei der Beschäftigung mit dem Islam stößt man auf die Schwierigkeit,
dass sich die europäische Forschung häufig in Einzeluntersuchungen
verliert, von denen aus es kaum möglich ist, ein Gesamtbild der Be-
deutung dieser Religion in den heutigen Gesellschaftsformationen zu
erlangen. (Raddatz, 2004) Diese für eine Gesamtschau unzureichenden
Untersuchungen bewegen sich meist um die Pole einer entweder ro-
mantisierenden Beschwichtigung, die in einer kulturrelativistisch be-
stärkten Apologie des scheinbar exotischen enden kann, oder einer
xenophoben Hysterie, welche sich selten die Mühe macht, die gesell-
schaftlichen Widersprüche innerhalb der muslimischen Staaten ausrei-
chend nachzuvollziehen. Demgegenüber gilt es, den Islam als histori-
sche Erscheinung ernst zu nehmen, indem man den Koran als histori-
sches Dokument in seiner Entstehung und Wirkungsgeschichte einord-
net und dies dann in Zusammenhang stellt mit den gesellschaftlichen
Widersprüchen des Mittleren Ostens.

a) Der Koran – Eine historische Autobiographie
Nach Joseph Schacht ist das islamische Recht »das Mark des islami-
schen Denkens […] der Kern und das Wesen […] des Islams selbst. […]
es ist unmöglich den Islam zu begreifen, ohne das islamische Recht zu
verstehen« (Schacht, 2000: 87). Wenn von islamischem Recht gespro-
chen wird, so wird die Scharia genannt. Scharia bedeutet übersetzt der
»Weg zur Tränke« und Islam bedeutet »Unterwerfung unter den Wil-
len Gottes«. Die Scharia ist keine eigene Schrift, sondern ein Ideen-
werk, welches von islamischen Predigern mit verschiedenen Metho-
den aus den Überlieferungen des Propheten Mohammed abgeleitet
wird. Die vier Quellen sind: Der Koran, die Sunna, der Konsens der
Gelehrten und (umstrittener) die Analogie.

Die Primärquelle der Scharia ist der Koran, der nach islamischem Ver-
ständnis die unmittelbaren Worte Gottes enthält, die dem Analphabe-
ten Mohammed durch den Erzengel Gabriel in Mekka und später in
Medina diktiert wurden. Der Koran ist danach die endgültige, letzte
Offenbarung Gottes, welche die von menschlicher Übertragung freie

204
und daher unverfälschte Wahrheit enthält. Die Thora, die Psalmen
usw. gelten im Islam zwar auch als Offenbarungstexte, die aber nach
menschlichem Gutdünken verfälscht wurden. Die Offenbarung des
Korans ist demnach eine Bestätigung und Berichtigung alter Offenba-
rungen, die alle hinter den endgültig letzten Worten Gottes zurücktre-
ten müssen (El Baradie, 1983: 33).

Zum Zweiten wird die Scharia aus der Sunna abgeleitet, den Überliefe-
rungen der Aussprüche und Taten Mohammeds. Diese Überlieferungen
sind in verschiedenen Sammlungen enthalten und werden aus den Ha-
diths - den Erzählun-gen über Mohammed – abgeleitet (El Baradie, 1983:
22 ff.). Islamische Rechtsschulen beschäftigen sich daher im Wesentli-
chen mit den Methodiken, durch die in den genannten Schriften der
einzig wahre Wille Gottes erkannt und formuliert werden kann Dass der
Koran eine unmittelbare Offenbarung ist, wird nicht in Frage gestellt.

Nur über den Wahrheitsgehalt der Hadiths wird insofern gestritten, als
in den Überlieferungen über den Propheten und Herrscher Mohammed
die berichtenden Zeugen eigene Interessen und Irrtümer eingebracht
haben könnten. Ein beachtlicher Teil der islamischen Rechtsforschung
besteht daher aus Authentizitätsüberprüfungen, ob also die Berichte
über den Propheten als Wahr gelten können oder nicht.

Wenn man sich dagegen dem Koran aus einer historisch-kritischen Per-
spektive nähert, erkennt man in ihm ein Buch, das sowohl den persönli-
chen Lebensweg der historischen Gestalt des Propheten und späteren
Herrschers Mohammed als auch die soziopolitischen Problemlagen sei-
ner Zeit widerspiegelt. Nach der islamischen Mythologie wurde Mo-
hammed das Wort Allahs zu zwei sehr unterschiedlichen Zeitpunkten
offenbart: zuerst in Mekka, wo die sich formierenden Muslims gegenüber
den alten Eliten in der Minderheit waren, dann in Medina, wo die neue
Religionsgemeinschaft schnell hegemonial wurde und dann auch weltli-
che Macht inne hatte. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Stoß-
richtungen des Buches. Ein Teil des Korans ist also aus einer Position der
Schwäche, ein anderer aus einer Position der Stärke heraus entstanden.
(Kartal, 2003: 382, 395; Heller, 1998: 347, 349; Neuwirth, 1998: 69, 74).

Mohammed soll im Jahre 570 N.C. geboren worden sein. Er wuchs im
Grunde ohne Eltern auf und arbeitete als Kamelhirte für seinen Onkel.
Er soll sich im Alter von 40 Jahren in eine Höhle bei Mekka zur Medita-
tion zurückgezogen haben, wo er dann sein erstes Offenbarungserlebnis
hatte. Mekka war zu dieser Zeit ein bedeutender Warenumschlagsplatz,

                                                                      205
so dass hier verschiedene kulturelle Einflüsse aufeinander trafen: Mo-
notheistische und polytheistische, beduinische Stammesgesellschaft,
Christen, Juden und Götzenanbeter. Mit seiner Kaaba war Mekka ein
Pilgerplatz, an dem Gläubige schon in vorislamischer Zeit sowohl
Götzenbildern als auch einem schwarzen Stein huldigten. Die Ein-
wohner Mekkas profitierten von den Pilgern, so dass Mohammed mit
seiner neuen Offenbarung auf Ablehnung stieß und nur wenige nicht
einflussreiche Anhänger um sich scharen konnte.

Mohammed verkündete seine Lehre in Mekka in einer von sozialen
Widersprüchen und Krisenerscheinungen geprägten Oasengesellschaft
(Krauss, 2003: 189). Der Zusammenprall verschiedener Weltbilder
hatte in Mekka scheinbar zu einer geistig-moralischen Desorientierung
geführt, gegen die Mohammed eine Verbindung jüdischer Religion
und arabischer Traditionen setzte. Dabei schuf er nicht etwas genuin
Neuartiges, sondern er verband Vorgefundenes zu etwas Neuem. Der
Erfolg des Islams beruhte darauf, dass Mohammed es verstand, die
blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen zu beenden.
Allerdings gelang dies nur um den Preis, dass Stammesstrukturen und
-prinzipien inkulturiert wurden. Insbesondere das Ehrkonzept und
das hierarchische Prinzip von Familie und Gesellschaft wurden von
der Stammes- in die islamische Kultur übernommen. Dies führte u.a.
dazu, dass die Selbstwahrnehmung im Islam bereits früh stark von
Abgrenzungs- bzw. Einbindungsaspekten gegenüber dem Anderen
geprägt wurde, während eine innere Ich-Stärke des Subjekts in den
Hintergrund trat (Hirsi Ali, 2005: 57.; Pryce Jonce, 1989: 35). In diesem
Kontext erscheint Mohammed mehr als Reformator denn als Religi-
onsstifter (NZZ 20.08.05; Geiger, 2005 [1902]:29), denn er verwarf nicht
Judentum oder Christentum als solche, sondern sah in ihnen Verfor-
mungen des früher offenbarten. Es gibt folgerichtig in den einzelnen
Geschichten und Überlieferungen der monotheistischen Religionen
viele Übereinstimmungen und Parallelen. So lässt Mohammed z.B. die
aus dem Judentum stammende Prophetenreihe bestehen. Allerdings
seien die durch Menschen niedergeschriebenen Offenbarungen älterer
Religionen mit der Zeit und durch Menschen verfälscht worden und
hätten sich so von ihrer göttlichen Substanz gelöst. Dagegen zieht der
Islam seine Stärke aus dem Glauben an das unmittelbare, auf Arabisch8

8   Daher auch das oft zur Selbstrechtfertigung von Muslimen gebrachte Argument, es sei
    nicht möglich den Koran zu übersetzen, da dies automatisch eine Verfälschung des gött-
    lichen Wortes sei.

206
gesprochene Wort Gottes. Dieser reformatorische Teil in der Entste-
hung des Islam in Mekka ist von der Forderung nach Toleranz ge-
prägt. Angesichts von Partikularisierung und moralischem Zerfall in
der dynamischen Oasengesellschaft trat der Reformator hier als demü-
tiger Warner vor dem Irrglauben und gegen die etablierten Hierar-
chien auf.

Um aber als Reformator wirken zu können, musste Mohammed
zugleich mit der Übernahme unterschiedlicher Traditionen deren Ur-
sprung negieren. Mit der Reinigung des Glaubens durch Mohammed
wurden die alten Glaubensriten als unrein denunziert, insbesondere
die des Judentums, das zu dieser Zeit wie keine andere Gemeinschaft
auf die genaue Erfüllung der eigenen Glaubensvorschriften beharrte
und so eine ernsthafte konzeptionelle Konkurrenz darstellte. Zwar legt
das Judentum als einzige der monotheistischen Religionen generell
keinen missionarischen Eifer an den Tag9, jedoch führte die einflussrei-
che Stellung des jüdischen Klerus in Mekka dazu, dass gerade durch
ihn eine angeblich neue Offenbarung abgelehnt wurde. Angesichts
dessen, dass Mohammed nicht der Einzige war, der versuchte, im
Gewand des Propheten die zersplitterten Weltbilder seiner Zeit zu
reformieren, wurde der neue Glaube in Mekka nicht als wirkliche Be-
drohung wahrgenommen. Dies könnte die im Grundsatz ablehnende
Haltung Mohammeds gegenüber dem Judentum erklären (Geiger,
2005 [1902]: 194 ff.). So lassen sich im Koran viele Stellen finden, an
denen die Juden als Feinde der Muslims dargestellt werden (z.B. Ko-
ran 5, 85). (Geiger, 2005 [1902]: 196)

Die entscheidende Wende begann mit dem Auszug Mohammeds und
seiner Anhängerschaft nach Medina, von wo aus der vorherige Hirte
und Prediger auch als Staatsmann und Feldherr agierte, um ein islami-
sches Reich zu schaffen. Ab diesem Zeitpunkt änderte sich auch der
Umgangston des Korans gegenüber Abweichlern, Ungläubigen und
Frauen.

Um diese einzelnen Regelungsmaterien zu verstehen bedarf es zunächst
einer Erläuterung der inneren Struktur und Methodik der Scharia.

9   Darin ist wohl auch eine Wurzel des Antisemitismus zu sehen, da es Aus der Sicht eines
    Missionars wohl eine ungemeine Kränkung ist, wenn er einem religiösem begegnet der
    keine Mühe an den Tag legt ihn zu bekehren, dazu: Adorno, Theodor W./ Horkheimer,
    Max, Elemente des Antisemitismus, in: Dies. Dialektik der Aufklärung, 13. Aufl. Frank-
    furt 2001.

                                                                                       207
b ) Die Scharia – Rechtsgebäude des Islam
Dem Islam ist aus seiner inneren Logik heraus eine Trennung von
Staat und Religion fremd, da er den Anspruch erhebt, den Menschen
in allen seinen Lebensäußerungen durch seine Glaubenspraxis mit
Gott im Jenseits zu versöhnen. Die Scharia regelt primär das Verhältnis
des Menschen zu Gott und gibt Richtlinien zum moralischen, ethi-
schen und rechtlichen Verhalten der Menschen untereinander vor.
Diese Bestimmungen haben eine objektive, von Willen und Lebenssi-
tuation des Menschen unabhängige Geltung. Als rechtliches Korrelat
zu dieser moralischen Anweisung gibt es die Figh, die konkrete Lehre
der Rechtsgelehrten, welche das Resultat der Schariaforschung und
des menschlichen Verständnisses von dieser ist. (Petersohn, 1999:25; El
Baradie, 1983: 44) Die Figh beschäftigt sich mit dem nach außen sicht-
baren Verhalten des Menschen, über das andere Menschen urteilen
können.

Die endgültige Gerichtsbarkeit eines schariakonformen Lebens liegt
immer bei dem als allwissend definierten Allah. Menschlicher Gerichts-
barkeit unterliegt das Verhalten eines Einzelnen jedoch insofern, als es
für die Gemeinschaft der Muslime schädlich ist. Der ägyptische Rechts-
wissenschaftler Naguib Hosni schreibt: »Wenn die Scharia den Men-
schen eine Reihe von Verhaltensweisen verbietet, so nicht, um sie einzu-
engen, nicht aus Willkür oder Tyrannei, sondern vielmehr in der Ab-
sicht, Interessen der Gesellschaft zu schützen, die durch diese Verhal-
tensweisen verletzt würden.« (Hosni, 1985: 609 f.) Kernelement der mus-
limischen Rechtsvorstellung ist also die Gemeinschaft (Umma). Für diese
bestimmt die Scharia das Gemeinwohl, welches eine zeitlose Gültigkeit
hat und unabhängig des Kenntnisstandes und der Situation des Einzel-
nen oder einer konkreten Gemeinschaft existiert. Gott bindet den Men-
schen mittels der Scharia an die Vernunft, die in ihr zum Ausdruck
kommt (Nagel, 2001: 257).

Umma ist als eine Art universaler Rechtsbegriff zu verstehen. Er bezeich-
net ursprünglich die Gemeinschaft aller gläubigen Muslime, wobei er
sich nicht an den Grenzen souveräner Staaten orientiert. Unterworfen
sind die Mitglieder der Umma unter die Jurisprudenz Gottes, nicht der
einer menschlichen Ordnung. Aus Sicht der Umma al Islam sind auch
nicht muslimische Araber Ausländer bzw. Ungläubige (Tibi, 2000: 60 ff.).
Vergleichbar ist die Konzeption von Umma daher eher mit dem ius

208
sanguini der deutschen Rechtstradition, denn mit dem ius sol der franzö-
sischen und angelsächsischen - das die Gemeinschaft verbindende Ele-
ment ist nicht verwaltungstechnisch, sondern kulturell definiert. (Künt-
zel, 2003: 34; Lewis, 1987: 173)

In Anbetracht des Stellenwertes der Gemeinschaft ist auch die dritte
unumstrittene Quelle der Scharia zu sehen: Der Konsens der Rechtsge-
lehrten (idschma). Der Konsens als Quelle gibt die Möglichkeit, die
Scharia innerhalb ihrer Logik und Dogmatik neuen Gegebenheiten
anzupassen. Allerdings ist dies keine Form der Rechtsfortbildung,
sondern es ist neue Erkenntnis über den Inhalt der Offenbarung. Dabei
ist der aus der Offenbarung gewonnene Konsens den expliziten Aus-
sagen des Korans und der Sunna gegenüber subsidiär (Hakeri, 2002:
6). Bei der Herstellung des Konsenses wird davon ausgegangen, dass
niemals die gesamte Umma einen Irrtum begehen kann. Diese Rechts-
quelle beruht auf dem Ausspruch Mohammeds: »Meine Gemeinde
wird niemals in einem Irrtum übereinstimmen«.

Um den Konsens zu erreichen bedarf es der so genannten Idschtihad.
Dies ist die individuelle Anstrengung oder auch der Gebrauch der
individuellen Vernunft. Im 10. Jhd. kam im sunnitischen Islam jedoch
die Auffassung auf, dass es niemandem mehr erlaubt sei, die Idschtihad
zu gebrauchen, da man davon ausging, dass alle Fragen geklärt wor-
den seien. (Petersohn, 1999: 30) Jeder weitergehende Versuch der indi-
viduellen Anstrengung würde den Anspruch erheben, Gottes Wort zu
ergänzen, und sei damit ein Abfall vom Glauben. Bis in die heutige
Zeit werden Rechtsmeinungen daher an die Stellungnahmen mittelal-
terlicher Autoren gebunden. (Dilger, 1972: 1311, 1316) Dies steht auch
heute noch einer Evolution islamischen Rechtsdenkens entgegen, denn
erst im 19. Jhd. wurde die »Schließung der Tore« des Idschtihad über-
haupt wieder in Frage gestellt.

Aus dem Selbstverständnis der Scharia heraus kann daher eine Ent-
wicklungsfähigkeit nur insoweit gegeben sein, als dass das gesell-
schaftliche Verständnis der Muslime bisher hinter der eigentlichen
Intention der Offenbarung zurück geblieben ist. (Petersohn, 1999: 20)
Erst aus einer neuerlichen Anstrengung der Vernunft heraus könnte
die wahre Offenbarung aus einer reformerischen Per-spektive erkannt
werden, die dann auch Menschenrechte mit einbeziehen könnte. Isla-
mische Theologen und Rechtsgelehrte behaupten, dass die Scharia die
menschliche Vernunft herausfordere und fördere, da die Vernunft ein

                                                                    209
Erkenntnismittel zur Exegese des Offenbarungstextes sei - wobei vor-
ausgesetzt wird, dass der Koran sozusagen die Quintessenz allen ver-
nünftigen Denkens darstellt.

Trotz dieses aus der inneren Struktur islamischen Denkens angelegten
Problems mit abweichenden Meinungen ist der Islam nicht einheitlich.
Allein im sunnitischen Islam haben sich vier relevante Rechtsschulen
herausgebildet. (Falaturi, 1998; 93, 99; Nagel, 2001: 241) Diese vier
verschiedenen Rechtsschulen unterscheiden sich hauptsächlich in der
Gewichtung der Methoden mittels derer die vorausgesetzte Vernunft
aus den Schriften herausgearbeitet wird. Dabei wurden letztlich her-
meneutische und systematische Vorgehensweisen entwickelt, die de-
nen der europäischen Wissenschaft zumindest ähneln. Allerdings ist
nie das Tabu angetastet worden, die Scharia offen zu umgehen oder in
Frage zu stellen, weil damit der Bestand der Umma infrage gestellt
würde. (Petersohn, 1999: 37)

Das Recht mit seinen verschiedenen Sanktionsmechanismen ist primär
zum Schutze der Umma errichtet, der Schutz des Individuums ist nur
sekundär intendiert. Im Kern der muslimischen Rechtslehre steht folg-
lich die Pflicht gegenüber Gott und seiner rechtgläubigen Umma; d.h.
die Frage nach erlaubt und verboten, halal und haram. So ist folgendes
Bittgebet überliefert: »Oh Allah, mach uns frei durch Dein Halal von
Deinem Haram und durch Gehorsam Dir gegenüber vom Ungehorsam
Dir gegenüber und durch Deine Güte von allem anderen außer Dir«
(Al-Qaradawi, 2003: 491). Das Verbot beruht dabei auf Unreinheit. Ziel
ist es, den Menschen und damit die rechtgläubige Umma rein zu hal-
ten (Al-Qaradawi, 2003: 43). Da Rechte immer nur in der Verbindung
mit Pflichten gesehen werden, erscheint auch der als rechtlos, der den
Pflichten nicht nachkommt. So neigen muslimische Theoretiker in
erster Linie gegenüber den Muslimen selbst zu einem totalitären Vo-
luntarismus, welcher auf die Formung eines nach den Maßstäben der
Scharia gottkonformen Menschen abzielt. (Mayer, 1991: 62 f.; Warraq,
2004: 253 ff.)

c ) Der Überraschungsei-Effekt der Scharia: Drei Strafrechte auf einmal
Den engsten Raum zwischen Gemeinschaft und Individuum stellt im-
mer das Strafrecht dar, da es den vermeintlichen Verbrecher mit der
stärksten organisierten Gewalt der Gemeinschaft konfrontiert. Die Scha-
ria ist kein reines Strafrecht, sondern umfasst mit seiner Kategorisierung

210
in Halal und Haram alle Bereiche des menschlichen Lebens. Im Fol-
genden soll das Strafsystem der Scharia umrissen werden.
Dabei ist zu beachten, dass rein islamisches Strafrecht in der muslimi-
schen Strafgesetzgebung nur in wenigen Ländern direkt gilt, obwohl
in den meisten islamischen Ländern dessen Konzeption in die Gesetz-
gebung einfließt. Allerdings ist in der ganzen muslimischen Welt eine
Re-Islamisierung der Rechtsordnungen zu beobachten. Dadurch ge-
winnt auch das islamische Strafrecht in den Gesetzgebungen zuneh-
mend an Bedeutung, das vor allem für seine drakonischen Strafen
bekannt ist. Gerade hier stellt sich die heute häufig aufgeworfene Fra-
ge, wie flexibel die Scharia sein kann und ob das Konzept der univer-
sellen Menschenrechte mit ihrer Ordnung vereinbar ist. An den inne-
ren Ausgestaltungsmöglichkeiten der Figh - als Kontrollinstanz des
objektiven Verhaltens eines Muslims - lässt sich die aktuell von Isla-
misten und so genannten Reformern umkämpfte Frage nach der Ent-
wicklungsfähigkeit der Scharia entscheiden.

Bei genauerer Betrachtung des Schariastrafrechts stellt sich heraus,
dass die islamische Strafrechtslehre nicht ein Strafrechtssystem aus der
Scharia ableitet, sondern drei verschiedene: Hadd- Qisas- und
Ta´zirstrafen. Diese unterscheiden sich nach der Art des Deliktes, den
zu schützenden Rechtsgütern und den zu verhängenden Strafen. Sie
beruhen jeweils auf verschiedenen Prinzipien und beinhalten unter-
schiedliche Verfahrensformen (Hosni, 1997: 609, 611). Das grundsätzli-
che Unterscheidungskriterium ist, ob es sich bei der Straftat um eine
Verletzung des Rechtes von Gott oder eine Verletzung der Rechte der
Menschen handelt.

Hadd - oder im Plural Hudud – hat die Bedeutung von Grenze, Hinder-
nis, Schranke oder Bestimmung. Die Hududstraftaten sind Verbrechen,
die direkt gegen die von Gott den Muslimen gesetzten Grenzen versto-
ßen. Sie sind die schwersten Verbrechen die das islamische Recht kennt
(El Baradie, 1983: 96), in sie stellen eine direkte Auflehnung gegen Gott
dar. Die zu verhängenden Strafen sind absolut, scharf und lassen dem
Richter keinen Ermessensspielraum. Die sieben Straftatbestände dieses
Strafsystems sind (1.) der Diebstahl (bei dem die Amputation der Hand
droht), (2.) Wegelagerei (worauf je nach Begehungsart die Todesstrafe,
die Kreuzigung, die Amputation von Hand und Fuß oder die Verban-
nung folgt), (3.) außerehelicher Sex (bedeutet für den verheirateten Täter
die Steinigung und für den unverheirateten die Auspeitschung), (4.)
falsche Beschuldigung einer Person, außerehelichen Sex begangen zu

                                                                       211
haben (Auspeitschung), (5.) das Weintrinken (Auspeitschung), (6.) der
Abfall vom Glauben (die so genannte Apostasie wird mit dem Tod be-
straft) und (7.) der Aufruhr gegen den legitimen weltlichen Herrscher
(wird ebenfalls mit dem Tod bestraft). (El Baradie,1983; Seifert, 1999: 235,
238)

Diese absoluten Strafandrohungen werden jedoch durch restriktive
Beweisregeln eingeschränkt. So wird z.B. die Todesstrafe wegen au-
ßerehelichem Sex nur verhängt, wenn vier Zeugen diesen bestätigen
können (Dilger, 1972: 485, 494). Nach Auskunft saudischer Juristen
würde dies bedeuten, der Geschlechtsverkehr wäre nahezu öffentlich
vollzogen worden, was auch im Westen - nach ihrem Bild von ihm - zu
einem Lynchmord führen würde (Dilger, 1998: 115, 126). Die sehr sel-
tene Vollstreckung der Körperstrafen diene daher nur einer abstrakten
Abschreckung, um die Gottesfurcht zu erhalten. Diese kann auch
durch die Reue zum Ausdruck gebracht werden, was zu einer Ab-
wendung der Strafe führen kann. Da es im Hadd-System primär um
eine Störung im Verhältnis zwischen Gott und Sünder geht, kann diese
geheilt werden. Zweck dieses Strafsystems ist die Reinigung des Sün-
ders vor Gott.
Jedoch rückte in den Auslegungen der Figh immer mehr die Reinigung
des islamischen Gebietes in den Vordergrund, da die Gemeinde der
Muslime schon früh mehr war als ein bloßer religiöser Kult. Mit der
Eroberung und Missionierung der arabischen Halbinsel wurden die
Muslime zu einer Gemeinschaft mit Sicherheits- und Verteidigungsin-
teressen (El Baradie, 1983: 237).

Naguib Hosni erläutert die Hudud-Delikte wiefolgt: »Dabei geht die
Sari’a davon aus, dass gewisse Straftaten den Bestand der menschli-
chen Gesellschaft bedrohen und die notwendige Elemente der Kultur
in Gefahr bringen. Die Inkriminierung und Bestrafung dieser Delikte
darf daher nicht von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden sein. […]
(Die Hudud-Verbrechen) sind Taten von höchster Gefährlichkeit, weil
sie den Bestand der islamischen Gesellschaft oder grundlegender Men-
schenrechte bedrohen.« (Hosni, 1985: 609, 624)

Das zweite in der Scharia enthaltene Strafrechtssystem ist das Qisas-
System. Dieses umfasst die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte.
Damit ist es in erster Linie menschliches Recht, da es nicht das Verhält-
nis zwischen Gott und dem Einzelnen regelt, sondern die Interessen der
Menschen im direkten Umgang miteinander. Qisas bedeutet Ausgleich

212
oder Gleichheit; d.h. dieses Strafsystem ist auch als Wiedervergeltungs-
strafrecht zu bezeichnen.
Wie bei der Verletzung von Gottesrecht sind die Strafen drakonisch und
absolut angedroht, so dass auch hier dem Richter selbst kein Ermessens-
spielraum eingeräumt ist, wenn der Tatbestand feststeht. Jedoch liegt ihr
Zweck primär in der Befriedigung des Rachebedürfnisses des Opfers
bzw. der Angehörigen. Daher ist es dem Opfer gestattet, die Strafe zu
vollstrecken, aber auch von ihr abzusehen und statt der Tötung oder
Verletzung des Täters ein Blutgeld zu fordern (Hakeri, 2002: 10). Das
Recht der Vergeltung, welche sich gemäß der Begehungsweise des
Verbrechens in Maßen halten soll, soll den Verwandten des Opfers die
Möglichkeit geben, die Schande von der Familie zu nehmen (El Baradie,
1983: 227). Der Richter und der eigentliche Henker haben bei der Voll-
streckung des Urteils nur die Funktion, die Exekution zu überwachen.
Hier ist zu erkennen, dass dem islamischen Recht mit seinem zentralen
Ehrbegriff, dessen Träger nicht nur das Individuum, sondern vor allem
der Familienverband ist, sich aus Stammesstrukturen heraus entwickelt
hat. Diese tribalen Wurzeln wurden niemals kritisch in Frage gestellt.

Das dritte Strafsystem des islamischen Rechts sind die Ta´zirstrafen. Aus
diesem heraus darf der Richter auch strafen, wenn das Opfer auf eine
Widervergeltungsstrafe verzichtet hat. Die Ta´zirstrafen umfassen die
meisten Straftaten, wie z.B. Betrug, Falschaussage oder Urkundenfäl-
schung. Sie sind somit das am häufigsten anzuwendende Recht. Auf sie
wird auch subsidiär zurückgegriffen, wenn es nach den strengen Be-
weisregeln der ersten beiden Systeme nicht gelingt, ein Delikt nachzu-
weisen. Ta´zirdelikte stehen nicht explizit in den für den Islam heiligen
Schriften, sondern sie wurden durch die Figh entwickelt. Das Strafsys-
tem ist wesentlich milder: Als Strafe kommen in Betracht Tadel, Haft
oder Schläge (Hakeri, 2002). Da die direkten strafrechtlichen Gebote in
Koran und Sunna sehr spärlich gehalten sind, dauerte es, bis durch Kon-
sens die zahlreichen Gesetzeslücken geschlossen wurden. Dabei war für
die Kasuistik der Ta´zirdelikte der Grundsatz ein entscheidendes Prin-
zip, dass Hudd-Strafen wegen ihrer Absolutheit zu vermeiden seien. Wo
die Beweisregeln und Tatbestandsmerkmale im göttlichen Strafsystem
eng gehalten wurden, da wurden sie im Ta´zirsystem geöffnet (El Baradie,
1983: 146). Aufgrund dessen, dass dieses dritte Strafsystem nicht direkt
aus den Schriften abgeleitet werden konnte, variierte sein konkretes Er-
scheinungsbild je nach Zeit, Ort oder nach den Umständen der Islami-
schen Gemeinde (Tellenbach, 1989: 28, 29).

                                                                      213
d ) Despotien des Mittleren Osten – Islamisches Recht und
muslimische Ordnungen
Nun waren die geschichtlichen Umstände meist nicht so, dass Musli-
me wirklich unter rein islamischen Rechtsordnungen leben mussten.
Sowohl zwischen Theorie und Praxis als auch zwischen Konzeption
und ordnungspolitischer Wirklichkeit klaffte stets eine Lücke. Den von
Theoretikern und Missionaren des Islams vorausgesetzten Idealstaat
wird es höchstens zu der Zeit des Propheten in Medina gegeben ha-
ben, wobei es sich wohl auch dabei eher um die Projektion einer uto-
pisch-harmonischen Ordnung in die Vergangenheit handeln dürfte, als
um eine Beschreibung der damaligen sozialen Realität. Durch ihren
utopischen Charakter eignete sich die Scharia zugleich aber dazu, für
weite Teile der muslimischen Bevölkerung ein Symbol für die Hoff-
nung auf eine strenge, gerechte Ordnung und einen neuen Aufstieg
der muslimischen Welt nach dem Scheitern des arabischen Nationa-
lismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts abzugeben. In diesem Zu-
sammenhang erhielten islamische Bewegungen und mit ihnen die
Scharia als »Feindrecht« eine neuerliche Bedeutung.

In der Selbstwahrnehmung islamischer Bewegungen ist der Fehlschlag
des eigenen Dominanzanspruches wesentlich einem Verrat an islami-
schen Idealen geschuldet, eine Wahrnehmung, die sich zum Teil mit
der vorherrschenden Erklärung der zumeist autoritären Staaten des
Mittleren Ostens für die strukturellen Defizite sowohl bei der ökono-
misch-sozialen, als auch bei der Entwicklung von Individualrechten
deckt10. Die einseitige Verlagerung der Schuld für politische und sozia-
le Fehlentwicklungen nach Außen (auf den US-Imperialismus, den
Kolonialismus und den Zionismus) durch säkulare, arabisch-natio-
nalistische Staaten, wird gewissermaßen islamisiert, wobei der Freund-
Feind-Bestimmung erneut eine außergesellschaftliche Dimension ge-
geben wird. Gilles Kepel hat die Bedeutung islamischer Bewegungen
für die Formulierung eigener Entwicklungsinteressen vor allem der
unteren Mittelschicht innerhalb der politischen Freund-Feind-Para-
digmen solcher Staaten wie Ägypten herausgearbeitet (Kepel, 2002).
Es ist beinahe zu einem Gemeinplatz geworden, dass die soziale und

10   Einen Einblick in diese Entwicklungsdefizite gewährt der jährlich erscheinende »Human
     Development Report« des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) für
     die arabische Welt.

214
politische Realität im Mittleren Osten sich in den vergangenen zwei
Jahrzehnten trister und zugleich unerschütterlicher dargestellt hat, als
je zuvor. In keinem der mehrheitlich muslimischen Staaten der Region
sind bürgerliche Individual- und politische Freiheitsrechte verwirk-
licht, eine reale politische Opposition existiert praktisch nicht, in allen
diesen Staaten wird gefoltert, werden ethnisch-kulturelle oder religiöse
Minoritäten an der politischen Partizipation gehindert. In den meisten
dieser Staaten hat die Regierung nicht einmal personell gewechselt: In
Saudi-Arabien regiert die Familie Saud, in Kuwait die Al-Sabagh Dy-
nastie seit dem Ende der Kolonialzeit; in Syrien wurde die Präsident-
schaft Hafez al-Assads an den Sohn Bashir weitergereicht, in Ägypten
hält sich Hosni Mubarak als einsamer und allmächtiger Präsident seit
drei Jahrzehnten an der Macht. »What was taking place in the Middle
East, then, was not much a confrontation of civilisations as something
far simpler and quite common in world history: the determination of
elites and systems to survive ‚oppositionists’ efforts to seize power for
themselfes, and reactionary hatred and fear of what others called ‚pro-
gress’.« (Rubin, 2002: 10) »Eben weil sie die Modernisierung der Regi-
on mit der Bewahrung überkommener Eliten verschmolz, hat sich die
panarabische und panislamische Idee bis hinein in die oppositionellen
Bewegungen vieler nahöstlicher Staaten als eine manichäische Welt-
sicht sedimentieren können, in der die Gemeinschaft gegenüber dem
vermeintlichen Feind die positive Bezugnahme auf die von den arabi-
schen Führern beschworene Einheit ersetzt hat.« (Uwer, 2003)
Dagegen lautet ein islamischer Ausspruch: Der Islam herrscht, er wird
nicht beherrscht (Al-Quaradawi, 2003).11 Der Widerspruch in der
Selbstwahrnehmung der Umma zwischen gesellschaftlicher Stagnation
auf der einen Seite, ihrem eigenen Unfehlbarkeitsanspruch auf der
anderen, wird aufgelöst durch eine Schuldverschiebung nach Außen -
zumeist gegen Israel, das derartig dämonisch erscheint, dass es z.T.
sogar als Verursacher des Tsunamis in Thailand gilt - und nach Innen -
gegen den Verräter, welcher mal im Ungläubigen, mal im korrupten
Herrscher oder im Abtrünnigen gesehen wird.

Innerhalb der internen Auseinandersetzungen um gesellschaftliche
Macht und Kontrolle spielt das islamische Rechtsideal die Rolle des

11   Dieses Buch ist eine von der Universität Mekka herausgegebene Lebensanleitung für
     Muslime, die unter der Dominanz Ungläubiger leben. Al-Quaradawi gilt als einer der
     Einflussreichsten geistigen Köpfe des Islamismus; zur Person s. Brunner, 2005: 8, 9; seine
     Internetseite unter: www.Qaradawi.net.

                                                                                           215
argumentativ umkreisten Zentrums zur Selbstlegitimation der ver-
schiedenen Standpunkte. Von der Scharia aus versuchen sowohl die
reformmuslimische und die wesentlich bedeutendere fundamentalisti-
sche Opposition als auch die Staatsapparate selbst ihr Handeln zu
legitimieren. Für letztere ist als Beispiel der oft als säkular wahrge-
nommene Staat Saddam Husseins zu nennen, der sich in den 1990er
Jahren eine islamische Prägung gab, das Glaubensbekenntnis »Alla-
hu-akbar« in die Nationalfahne aufnahm und an das islamische Recht
angelegte Körperstrafen (wie die Amputation von Gliedmaßen) in das
Strafrecht aufnahm.

Teile der muslimischen Bevölkerung sehen in der Scharia ein Symbol
von Ordnung, die ein Ende von Korruption und Misswirtschaft ver-
spricht. So wurde z.B. in Nord-Nigeria erst auf Druck der muslimi-
schen Bevölkerung die Scharia als Gesetz eingeführt, was fatale Kon-
sequenzen für die bedeutende christliche Minderheit hatte und zu
einer politischen Spaltung Nigerias führte. (Peters, 2004: 9; Becker,
1997: 157 ff.; L Adamu, 2004; Harneit-Sievers, 2003) Die Scharia gilt
hier auch als Symbol für den Kampf gegen den europäischen Kolonia-
lismus, der viele arabische Rechtsordnungen mit der Einführung von
französischem oder englischem Recht prägte.

Doch war die Übertragung europäischen Rechts in den Mittleren Os-
ten insofern problematisch, als sich hier - im Gegensatz zu Europa -
gegenüber der zentralen Staatsgewalt kein handlungsmächtiges Rechts-
subjekt heraus gebildet hat. Den Staatsapparaten des Mittleren Ostens
ist eine Zentralisierung gelungen, von welcher die untergegangenen
absolutistischen Herrscher Europas nur träumen konnten.12 Aufgrund
der unumschränkten Macht der Obrigkeit und der nach wie vor be-
deutsamen und auf dem Prinzip Ehre fußenden patriarchalen Famili-
enstrukturen ist Öffentlichkeit üblicherweise kein Forum zum Austra-
gen politischer Diskurse, sieht man einmal von Massenakklamationen
ab. Kritik, Diskussionen und auch politische Programme werden nicht
öffentlich, sondern innerhalb kleingliedriger und (aufgrund des mitun-
ter beträchtlichen Verfolgungsdrucks durch den Staatsapparat) abge-
schlossener Gemeinschaften entwickelt, wofür auch die große Bedeu-
tung spricht, die politische Verschwörungen (meist aus dem Militär) in
der Geschichte der Region spielten. Nicht der griechische Versamm-
lungsort der Polis, fasste Hannah Arendt zusammen, ist das Ideal von

12   Zum Verhältnis von Subjekt und Staat in der muslimischen Welt: Thiée/2005/187, 190.

216
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