FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT | 20 - 100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG: DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE - Österreichische ...

 
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                 FORSCHUNG UND
                 GESELLSCHAFT | 20
                 100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG:
                 DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE
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FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT | 20 - 100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG: DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE - Österreichische ...
100 JAHRE
BUNDES­VER­FASSUNG:
DIE CORONA­KRISE ALS
JUBILÄUMSGABE

PODIUMSDISKUSSION
AM 10. NOVEMBER 2020

           ÖAW         1
FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT | 20 - 100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG: DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE - Österreichische ...
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INHALTSVERZEICHNIS

INHALT
EDITORIAL
Oliver Jens Schmitt ...........................................................................................................................................................................        5

EINLEITUNG
Magdalena Pöschl .............................................................................................................................................................................         7

PODIUMSDISKUSSION

BEGRÜSSUNG
Oliver Jens Schmitt ...........................................................................................................................................................................       17
Alma Zadić ........................................................................................................................................................................................   19

DISKUSSION: 100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG: DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE
Magdalena Pöschl (Moderation) .....................................................................................................................................................                   21
Felix Uhlmann ...................................................................................................................................................................................     22
Elisabeth Holzleithner ......................................................................................................................................................................         23
Gertrude Lübbe-Wolff ......................................................................................................................................................................           25
Clemens Jabloner ..............................................................................................................................................................................       27

RESÜMEE
Magdalena Pöschl .............................................................................................................................................................................        47

                                           ÖAW                                                                                                                                                         3
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EDITORIAL

EDITORIAL
OLIVER JENS SCHMITT

Wissenschaftliches Wissen zu wichti­      in Europa. Magdalena Pöschl, wirk­
gen Fragen der Gesellschaft und der       liches Mitglied der ÖAW, spannt hier
Politik einer breiteren Öffentlichkeit    den Bogen über mehr als 100 Jahre,
zur Verfügung zu stellen, ist eine der    von der Entstehung der Bundesver­
zentralen Aufgaben einer Akademie         fassung über die damals pandemisch
der Wissenschaften. Wir tun dies,         ­grassierende Spanische Grippe bis in
indem wir in gewissen Abständen
­                                          die ­COVID-Pandemie der Gegenwart.
­große Themen aufgreifen. Diese wer­       Nach der Debatte mit führenden Ver­
 den von herausragenden Mitgliedern        treterinnen und Vertretern der Rechts­
 der Gelehrtengesellschaft inhaltlich      wissenschaften wird im Schlusswort
 vorbereitet. Zur Diskussion an der        eine Zusammenfassung sowie Deu­
 Akademie laden wir internationale         tung des Gesagten angeboten.
 Fachleute und Entscheidungsträ­gerin­     Die Akademie der Wissenschaften
                                                                                    Oliver Jens Schmitt ist Professor für Ge-
 nen und Entscheidungsträger ein.          möchte auf diese Weise einer brei­
                                                                                    schichte Südosteuropas an der Universität
 Für die vorliegende Veranstaltung         teren    Öffentlichkeit   Grundlagen
                                                                                    Wien. 2011 wurde er zum wirklichen Mit-
 „100 Jahre Bundesverfassung: Die          für eine informierte, wissenschafts­
                                                                                    glied der ÖAW gewählt. Seit 2017 ist er
 Corona­  krise  als    Jubiläumsgabe“     basierte Er­örterung zur Bundesver­
                                                                                    Präsident der philosophisch-historischen
 konnten wir die österreichische Bun­      fassung und ihrem Stellenwert ge­
                                                                                    Klasse.
 desministerin für Justiz, Dr. Alma        rade auch während einer Krise wie
 Zadić, für eine Grußbotschaft zum         der ­ COVID-19-Pandemie bereit stel­
 Verfassungsjubiläum gewinnen. Die­        len – einer Pandemie, die seit mehr
 sen Beitrag über den besonderen Wert      als einem Jahr weltweit tiefgreifende
 einer krisenfesten Verfassung wol­        Erschütterungen im politischen wie
 len wir den Leserinnen und ­    Lesern    gesellschaftlichen    Zusammenleben
 ebenso zugänglich machen wie die          auslöst und daher einer gut funk­tio­
 fundierte Einführung zu einer der
 ­                                         nierenden Kontrollinstanz wie der
 ­ältesten noch geltenden Verfassungen     Bundesverfassung dringend bedarf.

                           ÖAW                                                                                             5
EDITORIAL

ÖAW               6
EINLEITUNG

EINLEITUNG
MAGDALENA PÖSCHL

„Behördliche Maßregeln werden                       ken zwar sehr viele Menschen, doch
zum Schutze vor der Ausbreitung                     die Sterblichkeit bleibt niedrig;4 nur
der Grippeepidemie kaum etwas                       vereinzelt wird davor gewarnt, die
beitragen können“ – das verkündet                   Krankheit auf die leichte Schulter
ein Gesundheitsamt im Herbst 1918,1                 zu nehmen: Ihr „wahres Gesicht“
als die Spanische Grippe gerade auf                 habe sie noch nicht gezeigt.5 Die
ihren Höhepunkt zusteuert. Diese                    zweite Welle, die im September 1918
Mitteilung ist paradigmatisch für die               beginnt, wütet dann tatsächlich bis
Haltung der österreichischen Behör­                 Ende des Jahres6 und erfasst allein in
den zu einer Seuche, die in vielem
an die Corona-Pandemie erinnert:                        1918 in Österreich (1921) 3, 5; Hörzer/Kunze,
Angeblich aus China kommend,2 tritt                     „Kaum ein Haus in dem nicht Kranke lagen.“
die Spanische Grippe in Österreich                      Die Spanische Grippe in der Steiermark, Wie­
                                                        ner Medizinische Wochenschrift 2012, 148            Magdalena Pöschl ist Professorin für
erstmals im Frühsommer 1918 auf                         (149 f); Salfellner (FN 2) 39, 67 ff, 76.           Staats- und Verwaltungsrecht an der
und flaut zunächst im August wieder
                                                    4   Rosenfeld (FN 3) 5; Salfellner (FN 2) 39, 53, 75.   Universität Wien. 2012 wurde sie zum
ab.3 In dieser ersten Welle erkran­
                                                                                                            wirklichen Mitglied der Österreichischen
                                                    5   So ein Wiener Arzt im Mittagblatt des Neuen
                                                        Wiener Journals (MNWJ), 14.8.1918, 4.               Akademie der Wissenschaften gewählt.
1   Neues Wiener Tagblatt (NWT), 6.10.1918, 12;     6   Am 7. Oktober werden steigende Sterbe­
    Arbeiter-Zeitung (AZ), 6.10.1918, 7.                zahlen gemeldet (Reichspost [RP] 7.10.1918,
2   Diese Ursprungshypothese ist aber keines­           5), am nächsten Tag die laufende Zunahme
    wegs erwiesen: Salfellner, Die Spanische            der Spanischen Grippe (NWB, 8.10.1918, 4),
    Grippe2 (2020) 41, 45, 171; laut WHO (Hrsg.),       am Folgetag stellt der niederösterreichische
    Pandemic Influenza Risk Management (2017)           Landessanitätsrat fest, dass die Spanische
    26, ist der Ursprung unklar.                        Grippe inzwischen ganz Wien erfasst habe
                                                        (NWB, 9.10.1918, 4). 10 Tage später melden
3   Neuigkeits-Welt-Blatt (NWB), 22.6.1918, 5;          die Krankenkassen eine Verdoppelung der
    Rosenfeld, Die Grippeepidemie des Jahres            Krankmeldungen im Vergleich zum Vor­

                                  ÖAW                                                                                                             7
EINLEITUNG

Wien mindestens ein Zehntel der Be­                sein:7 Die Krankenhäuser sind völlig                   wie sie aufgetreten war.12 Übertra­
völkerung, nach anderen Berechnun­                 überfüllt, die Ärzte heillos über­lastet,              gen wurde die Spanische Grippe
gen soll sogar die Hälfte der öster­               Medikamente       Mangelware,        die               durch Tröpfcheninfek­tion oder Aero­
reichischen Bevölkerung erkrankt                   Sterbe­zahlen schnellen hoch, phasen­                  sole,13 und zwar tücki­    scherweise
                                                   weise fehlen sogar Särge und Gräber,                   schon Tage, bevor den Trägerinnen
                                                   um die vielen Toten zu bestatten.8 Im                  und Trägern ihre Infektion bewusst
                                                   Frühjahr 1919 macht Österreich eine                    war.14 Manchmal verlief die Grippe
                                                   dritte Welle durch9 und im Frühjahr                    nahezu asymptomatisch, oft löste sie
  jahr (NWB, 19.10.1918, 4); das Ministerium       1920 noch eine vierte;10 die Seuche ist                Fieber, Husten, Kopf- und Glieder­
  schätzt am selben Tag die Zahl der Kranken
  in Wien zwischen 60.000 und 100.000 und
                                                   nun zwar immer noch sehr infektiös,                    schmerzen aus, bisweilen trat aber
  meint, der Höhepunkt sei bereits erreicht        verläuft aber seltener letal.11 Schließ­               auch eine Lungenentzündung auf,
  (NWB, 19.10.1918, 4) – ein Optimismus, der       lich verschwindet sie so mysteriös,                    die vielfach tödlich endete.15 Wer die
  nach den Daten der Wiener Gesundheits­                                                                  Krankheit überstand, konnte noch
  behörde nicht angezeigt war: Sie meldet
  in Wien in der zweiten Septemberwoche
                                                                                                          wochenlang an Erschöpfung leiden,
                                                   7    Zu Wien: MNWJ, 10.10.1918, 3; Böhm (FN 6)
  77 Todesfälle wegen Grippe und Lungen­                                                                  manchmal sogar an Depressionen.16
                                                        1974 f; zu ganz Österreich: Rosenfeld (FN 3)
  entzündung, in der dritten Septemberwoche
                                                        54.                                               Der markanteste Unterschied zu
  121, in der vierten Septemberwoche 227, von
                                                                                                          COVID-19 ist, dass die Spanische
                                                                                                          ­
  29.9. bis 5.10. 364 und in der zweiten Okto­     8    Salfellner (FN 2) 105 ff; NWB, 19.10.1918, 4;
  berwoche 814; der Höhepunkt sei noch nicht            Die Neue Zeitung, 23.10.1918, 3.
                                                                                                          Grippe von Beginn an primär ­junge
  erreicht (Neue Freie Presse [NFP], 20.10.1918,                                                          und kräftige Personen befiel.17 In
                                                   9    Salfellner (FN 2) 138 ff; Rosenfeld (FN 3) 55;
  8); für die dritte Oktoberwoche werden                                                                  Österreich erlagen ihr mindestens
  1468 Tote angegeben (Böhm, Zur Epidemio­              für Salzburg Schausberger (FN 6) 50. Über die
  logie der herrschenden Grippeepidemie,                Zählweise der Wellen lässt sich freilich strei­
  Wiener Medizinische Wochenschrift [WMW]               ten, weil die zweite und dritte Welle relativ
  Nr. 45/1918, 1975). In der Provinz nahmen die         nah beisammen lagen, sodass man sie auch
  Infektionen ebenfalls zu (NWB, 19.10.1918, 4;         als eine Welle zählen könnte, siehe schon
  speziell für die Steiermark Hörzer, Die Spani­        ­Rosenfeld (FN 3) 55.                             12   Salfellner (FN 2) 150 f.
  sche Grippe in der Steiermark, Diplomarbeit      10   Bereits am 27. Jänner 1920 zeigt sich die Zu­     13   Salfellner (FN 2) 171; NFP, 6.10.1918, 11; Pester
  [2010] 66; für Salzburg Schausberger, Ähnlich         nahme der Grippe (AZ, 17.2.1920, 6). Die               Lloyd, 4.2.1920, 7.
  und doch ganz anders. Spanische Grippe vor            Genossenschaftskrankenkassen verzeichnen
  100 Jahren und Corona heute [2020] 15). Am            für Jänner 1185 und von 1. bis 11. Februar
                                                                                                          14   AZ, 6.10.1918, 7; NWT, 6.10.1918, 12.
  8. November melden die Behörden, dass die             1521 Krankmeldungen (NFP, 17.2.1920, 8).
  Krankenstände um ein Drittel, die Sterblich­
                                                                                                          15   Salfellner (FN 2) 21 ff, 172 f.
                                                        Am 25. Februar 1920 werden die Erkrankten
  keit um ein Siebentel gesunken sei (NWT,              in Wien mit 8000 beziffert, die Todesfälle von    16   Hörzer (FN 6) 74.
  8.11.1918, 3). Im Dezember steigen die In­            18. bis 24. Februar mit 90 (MNWJ, 25.2.1920,
  fektionen aber neuerlich an (Prager Tagblatt,         3).
                                                                                                          17   Böhm (FN 6) 1975; Ortner, Über die herrschen­
  5.12.1918, 2), möglicherweise weil nun die                                                                   de Grippe-Epidemie (nach eigenen Erfah­
  Soldaten von der Front heimkehren: Salfellner    11   AZ, 17.2.1920, 6; NFP, 17.2.1920, 8; MNWJ,             rungen), WMW Nr. 45/1918, 1975; Salfellner
  (FN 2) 138 ff.                                        25.2.1920, 3; AZ, 5.3.1920, 5.                         (FN 2) 25, 177.

                                 ÖAW                                                                                                                          8
EINLEITUNG

20.000 Menschen,18 möglicherweise                    das Vorkriegsniveau zurückgewor­                    ten, die das Gesetz oder eine Verord­
sogar doppelt so viele.19 Weltweit                   fen, nicht zuletzt, weil viele Ärzte                nung für „anzeigepflichtig“ erklärt
waren es nach Schätzungen der                        gefallen oder zumindest eingezo­                    hatte – für die Grippe galt das nicht.
WHO zwischen 20 und 50 Millio­                       gen waren.21 Die Volkswirtschaft lag                Das veranlasste den Reichsrat aber
nen,20 jeden­falls deutlich mehr, als im             ohnedies darnieder.                                 nicht etwa, den Katalog der anzeige­
Ersten Weltkrieg umgekommen sind.                    Angesichts dieser Lage wundert man                  pflichtigen Krankheiten zu erweitern
Der Erste Weltkrieg erklärt auch,                    sich fast, dass der Kaiser am Pande­                oder ein eigenes Gesetz für die Spa­
warum die Spanische Grippe in
­                                                    miebeginn noch ein markantes Zei­                   nische Grippe zu erlassen. Das Par­
Öster­reich ganz anders gehandhabt                   chen setzte. Am 30. Juli 1918 ernannte              lament blieb vielmehr bis zur vier­
wurde als die Corona-Pandemie.                       er Iwan Horbaczewski zum Minister                   ten Welle völlig passiv.24 Auch der
Allem voran war der Staat damals                     für Volksgesundheit, übrigens dem                   Gesundheitsminister hielt es nach
kaum mehr handlungsfähig, weil                       ersten in Europa, und betraute ihn                  seinem Amtsantritt nicht für erfor­
er durch eine politische Wendezeit                   u.a. mit der Bekämpfung übertragba­                 derlich, die Spanische Grippe für
wankte: In der ersten Welle war er                   rer Krankheiten22 – eine Aufgabe, die               anzeigepflichtig zu erklären, sondern
im Krieg verfangen, in der zweiten                   nach dem Epidemiegesetz23 bis dahin                 ging zuerst dem Gerücht nach, mit
Welle zerbrach die Monarchie, in der                 dem Innenminister oblag. Dieses Ge­                 der „neuen“ Krankheit sei die Lun­
dritten und vierten Welle versuchte                  setz räumte (nun) dem Gesundheits­                  genpest zurückgekehrt. Ein eigens in
der Kleinstaat (Deutsch-)Österreich,                 minister und den ihm unterstellten                  die Schweiz entsandter Bakteriologe
sich aus den Trümmern der Monar­                     Behörden weitreichende Befugnisse                   konnte rasch beruhigen: Nicht die
chie aufzurichten. Zugleich traf die                 ein, allerdings nur gegen Krankhei­                 Pest grassiere, sondern eine kathari­
Spanische Grippe auf eine leidge­                                                                        sche Infektion, mit allerdings ernsten
prüfte Bevölkerung: Nach vier Jah­                                                                       Konsequenzen.25 Da die erste Welle
ren Krieg war sie entkräftet, verarmt,
                                                     21   Salfellner (FN 2) 105, 181.

abgehärtet und an den Tod gewöhnt.                   22   Wiener Zeitung, 28.11.1917, 1; Gesetz vom
Der Krieg hatte zudem die staatliche                      27. Juli 1918, womit anläßlich der Errich­     24   Erst während der vierten Welle wurde das
                                                          tung des Ministeriums für Volksgesundheit           Epidemiegesetz geringfügig novelliert: Ge­
Gesundheitsversorgung weit hinter
                                                          gesetzliche Bestimmungen über den Wir­              setz vom 17. Februar 1920, betreffend Ände­
                                                          kungskreis einzelner Ministerien abgeändert         rung des Gesetzes über die Verhütung und
18   Rosenfeld (FN 3) 11, dessen Zahlen allerdings        werden, RGBl 1918/277; Kundmachung des              Bekämpfung übertragbarer Krankheiten
     nur eine grobe und tendenziell zu niedrige           Gesamtministeriums vom 8. August 1918, be­          (Epidemiegesetznovelle), StGBl 1920/83.
     Schätzung sein dürfte: Hörzer (FN 6) 101.            treffend die Errichtung des Ministeriums für
                                                          Volksgesundheit, RGBl 1918/297; Salfellner
                                                                                                         25   Darüber berichtete der Minister später auf­
19   Pfoser/Weigl, Die erste Stunde Null. Grün­           (FN 2) 77.                                          grund einer parlamentarischen Anfrage im
     dungsjahre der österreichischen Republik                                                                 Abgeordnetenhaus: StenProtAH 22. Session,
     1918-1922 (2017) 90.
                                                     23   Gesetz vom 14. April 1913, betreffend die           89. Sitzung am 9. Oktober 1918, 4534; Neues
                                                          Verhütung und Übertragung übertragbarer             Wiener Journal (NWJ), 10.10.1918, 4; siehe
20   WHO (FN 2) 26.                                       Krankheiten, RGBl 1913/67.                          auch Salfellner (FN 2) 125 f.

                                   ÖAW                                                                                                                 9
EINLEITUNG

bald wieder abflaute, unternahm der               ­zumutbar29 – vielleicht wollte die                   ziehung von Ärzten und Apothekern
Gesundheitsminister vorerst nichts.26              ­Politik die Infektions- und Sterbezah­              zu verhindern,35 Autos für ärzt­liche
Als die Spanische Grippe im Sep­                    len gar nicht genau kennen, weil sich               Hausbesuche zu organisieren,36 Kran­
tember 1918 in voller Wucht wieder­                 die Krankheit so besser herunterspie­               kenbetten aufzustocken37 und Medi­
kehrte, regte das Wiener Gesund­                    len ließ?30 Die Gesundheitsbehörden                 kamente zu beschaffen,38 was biswei­
heitsamt an, der Minister möge                      mussten die Zahl der Grippetoten nun                len zu außenpolitischen Spannungen
diese Seuche doch zumindest in                      jedenfalls bei den Totenbe­  schauern               führte.39
Wien für anzeigepflichtig erklären.27               eruieren; später wurden ihnen immer­                In das Infektionsgeschehen griffen
Das hätte den Behörden zunächst                     hin die schweren Fälle angezeigt,31                 die Behörden hingegen nur punk­
einen Überblick über die Zahl der                   im Übrigen tappten sie aber lange im                tuell und zaghaft ein: Im Okto-
Erkrankten und Verstorbenen ver­                    Dunkeln,32 denn erst in der vierten                 ber 1918 wurden die Schulen ge­
schafft und sodann erlaubt, jene                    Welle wurde die Anzeigepflicht einge­               schlossen,40 wohl zu spät, wie das
Maßnahmen zu setzen, die das Epi­                   führt.33 Bis dahin versuchten der Mi­
demiegesetz für anzeigepflichtige                   nister und die lokalen Gesundheitsbe­               35   StenProtAH 22. Session, 89. Sitzung am
Krankheiten vorsah. Der Minister                    hörden mehr schlecht als recht,34 die                    9. Oktober 1918, 4534 f; NWJ, 10.10.1918, 4;
lehnte eine Anzeigepflicht für die                  Lücken des kollabierenden Gesund­                        NWT, 10.10.1918, 8; NWB, 19.10.1918, 4; siehe
                                                                                                             auch Hörzer (FN 6) 85 ff.
Spanische Grippe jedoch ab, weil                    heitssystems zu stopfen, also die Ein­
die Diagnose dieser Krankheit                                                                           36   RP 7.10.1918, 5; NWB, 19.10.1918, 4; NFP,
                                                                                                             20.10.1918, 8; siehe auch Hörzer (FN 6) 89, 91;
noch nicht einheitlich erfolge und
                                                  29   NWT, 17.10.1918, 9.                                   Salfellner (FN 2) 106 f.
die völlig überlasteten Ärzte auch
keine Zeit hätten, jeden einzelnen                30   Das geschah gerade für Wien immer wieder,
                                                                                                        37   NWB, 9.10.1918, 4; NWT, 10.10.1918, 8;
                                                       siehe Hörzer (FN 6) 77, 80, 90.                       AZ, 12.10.1918, 6; NWB, 19.10.1918, 4; NFP,
Krankheits- und Sterbefall behörd­                                                                           20.10.1918, 8; NFP, 17.2.1920, 8.
lich anzuzeigen.28 Diese Einschät­                31   Schausberger (FN 6) 15.
                                                                                                        38   NWB, 9.10.1918, 4; NWJ, 10.10.1918, 4; NWT,
zung wurde nicht allseits geteilt, ein            32   Der Leiter des Wiener Gesundheitsamtes                10.10.1918, 8; siehe auch Hörzer (FN 6) 84 ff.
namhafter Arzt hielt etwa die „kleine                  beklagt dies mehrfach: MNWJ, 10.10.1918, 3;
                                                                                                        39   So berichtet der Leiter des Wiener Gesund­
Arbeit“ der Anzeige für durchaus                       NFP, 20.10.1918, 8; ebenso der Wiener Bürger­
                                                       meister NWT, 10.10.1918, 8.                           heitsamtes, dass Deutschland früher mehr
                                                                                                             Medikamente geliefert habe, aber verstimmt
                                                  33   Vollzugsanweisung des Staatsamtes für sozi­           sei, weil Österreich eingeführte Medikamente
                                                       ale Verwaltung (Volksgesundheitsamt) vom              in der Folge als Exportartikel verwendet habe
26   Salfellner (FN 2) 77.                             28. Jänner 1920, betreffend die Anzeigepflicht        (MNWJ, 10.10.1918, 3).
                                                       der Grippe (Influenza), StGBl 1920/36.
27   NFP, 2.10.1918, 8.
                                                                                                        40   Anfang Oktober wurden nur betroffene
                                                  34   Siehe dazu die parlamentarische Anfrage des           Klassen geschlossen (NFP, 2.10.1918, 8),
28   StenProtAH 22. Session, 89. Sitzung am            Abgeordneten Reizes an den Gesundheits­               wenig später aber alle Schulen in Nieder­
                                                                                                             ­
     9. Oktober 1918, 4535; NFP, 18.10.1918, 8;        minister: StenProtAH 22. Session, 88. Sitzung         österreich bis 20. Oktober (RP 7.10.1918, 5;
     NWB, 19.10.1918, 4.                               am 8. Oktober 1918, 4445; NWT, 9.10.1918, 11.         NWT, 10.10.1918, 8; NWJ, 10.10.1918, 4). In

                                 ÖAW                                                                                                                     10
EINLEITUNG

Wiener Gesundheitsamt meinte,41                        die Infektionszahlen nicht senken,                 Veranstaltungslokale.50 Diese „allge­
denn die Spanische Grippe befiel                       solange es Menschenansammlungen                    meine Vergnügungssperre“ k   ­ ritisierte
auch Kinder,42 die an dieser Krank­                    im alltäglichen Verkehr – in der                   die Presse beißend mit Grillparzer:
heit nicht selten starben.43 Gegen                     Straßenbahn, Eisenbahn oder beim                   „Auf halben Wegen und zu halber
die Schließung von Kindergärten                        Einkauf von Lebensmitteln – gibt; ihn              Tat, mit halben Mitteln zauderhaft zu
und Horten gab es Bedenken, weil                       auszuschalten, sei aber undenkbar.45               streben. […] Ärzte und Bakteriolo­
man davon zu große soziale Pro­                        Am selben Tag betonte Ober­bezirks­                gen […] scheinen der übrigens auch
bleme erwartete; insoweit wurde nur                    arzt Hasterlik, dass Kinos und Thea­               dem ­ Laien einleuchtenden Ansicht
empfohlen, fiebernde und hustende                      ter, anders als Schulen, von Erwach­               zu sein, daß die Grippebazillen, die
Kinder nach Hause zu schicken.44                       senen freiwillig besucht werden, die               sich noch immer eines beneidens­
Zögerlich verfuhren die Behörden                       das gesundheitliche Risiko folglich                werten Inkognitos erfreuen, ihre
auch mit Theatern und Kinos. Am                        selbst zu erwägen hätten.46 Der                    Masken­ redoute nicht ausschließlich
9. Oktober lehnte der Minister ihre                    niederösterreichische Landessanitäts­              im ­Theater und im Kino veranstalten,
Schließung noch strikt ab: Sie könne                   rat schlug hingegen vor, Kinos und                 daß ihnen die überfüllte Straßenbahn,
                                                       Theater zu sperren, zweifelte aber an              ja sogar irgendein schlichtes Lokal, in
     der Folge wurden die Schließungen in Wien         der rechtlichen Umsetzbarkeit e­ iner              dem die Leute sich dicht aneinander­
     bis 5. November verlängert, im übrigen Nie­       solchen Maßnahme.47 Sechs Tage
     derösterreich den Schulleitungen überlassen       später untersagten die Behörden be­                50   NWT, 20.10.1918, 9; NFP, 20.10.1918, 8. Von
     (NWB, 19.10.1918, 4). Schulschließungen gab
                                                       reits Jugendvorstellungen in Kinos.48                   Beratungen, diese Vergnügungsstätten zu
     es ebenso und zum Teil schon früher in der
     Provinz, siehe z. B. für Salzburg Schausberger    Nach eindringlichen Warnungen                           schließen, wird bereits am 6. Oktober berich­
                                                                                                               tet (AZ, 6.10.1918, 7). Am 21.10.1918 wurden
     (FN 6) 40; für die Steiermark NWJ, 10.10.1918,    von ärztlicher Seite49 wurden kurz
                                                                                                               auch die Vorstellungen der beiden Hoftheater
     4; Grazer Tagblatt 26.10.1918; Hörzer (FN 6)      später alle Veranstaltungslokale in                     eingestellt (NWT, 21.10.1918, 3); kurz darauf
     94 ff; für Tirol NWB, 19.10.1918, 4; für Vor­
                                                       Wien geschlossen – aber nur für                         zudem Musikveranstaltungen in Gastloka­
     arlberg Neues Wiener Abendblatt (NWA),
     3.10.1918, 5.                                     ­wenige Tage und Theater und Kon­                       len und Pferderennen (NFP, 26.10.1918, 8).
                                                                                                               Anfang November wurde die Kultur wieder
                                                        zertsäle wegen des Kartenvorver­
41   NWJ, 10.10.1918, 3; gefordert wurden soforti­                                                             geöffnet (NFP, 31.10.1918, 10; NFP, 1.10.1918,
     ge Schulschließungen schon Anfang Oktober:         kaufs einen Tag später als die anderen                 12). In Graz wurden die Kinos schon am
     NWA, 2.10.1918, 3; NWT, 4.10.1918, 11.                                                                    10. Oktober geschlossen (NWJ, 10.10.1918,
                                                                                                               4), was die Kinobetreiber als Zurücksetzung
42   Salfellner (FN 2) 25, 177.
                                                       45   StenProtAH 22. Session, 89. Sitzung am
                                                                                                               gegenüber den Theatern kritisierten, wäh­
                                                            9. Okto­ber 1918, 4535; NWJ, 10.10.1918, 4.
43   Siehe etwa NWB, 19.10.1918, 4; Rosenfeld                                                                  rend sich ein Kapfenberger Unternehmer da­
     (FN 3) 39; dabei war die Mortalität bei älteren
                                                       46   NWT, 9.10.1918, 10.                                rüber beschwerte, dass viele seiner Arbeiter
     Kindern höher: Knöpfelmacher, Beobachtun­                                                                 erkrankt seien, weil die K
                                                                                                                                        ­ inos dort noch nicht
                                                       47   NWB, 9.10.1918, 4.                                 geschlossen seien; später wurden in Kinos
     gen über die Influenzapandemie an Kindern,
     WMW Nr. 45/1918, 1979.                            48   NWT, 15.10.1918, 9.                                und Theatern die Vorstellungen reduziert
                                                                                                               und Kindervorstellungen untersagt: Hörzer
44   AZ, 12.10.1918, 6.                                49   NWT, 17.10.1918, 9.                                (FN 6) 96 ff.

                                     ÖAW                                                                                                                    11
EINLEITUNG

gepreßt um ein Lebensmittel drän-                   Auch Freizügigkeitsbeschränkungen                     dieser Lage wohl gar nicht mehr er­
gen, ebenso lieb und sympathisch                    verhängten die Behörden praktisch                     forderlich. Die Isolierung erkrankter
ist. Auch wird der Zweifel laut, ob                 nicht: Die Staatsgrenzen wurden im                    Menschen wäre hingegen dringend
diese Sperrungsidee am Ende nicht                   Krieg naturgemäß überschritten, und                   notwendig gewesen; die Behörden
einen jener ausgezeichneten Einfälle                nach dem Krieg wurden sie schon                       hielten sie aber für aussichtslos, weil
bedeutet, um den unser altes Öster­                 deshalb nicht gesperrt, weil die                      es bereits zu viele Infizierte gab, die
reich […] regelmäßig zu spät kam.                   öster­reichischen Soldaten von der                    zudem schon ansteckend waren, be­
[…] Genau genommen, bedeutet die                    Front zurückkehrten – oft genug be­                   vor sie um ihre Infektion wussten.59
statthalterische Fürsorgeaktion kaum                gleitet von der Spanischen ­Grippe.55                 So riefen die Behörden Erkrankte nur
etwas anderes als eine Zeiserlwagen­                Innerstaatliche Reisen waren faktisch                 auf, sich aus dem Verkehr zu ziehen,
fahrt in den Vormärz“.51                            erschwert: Viele Zugverbindungen                      und Gesunden war geraten, sich von
Weiteren Anlass für derartige Kritik                fielen aus, weil das Bahnpersonal                     Kranken fern zu halten.60 Auch sonst
lieferten die Behörden nicht, weil sie              erkrankt war;56 verkehrte die Eisen­                  beschränkten sich die Behörden 1918
praktisch nichts mehr unternahmen.                  bahn doch, wurde sie oft nicht be­                    auf unverbindliche „Maßregeln“
Zwar mussten viele Betriebe faktisch                heizt,57 sodass das Reisen „zur An­-                  zum Selbstschutz, die recht vertraut
schließen, nachdem die Spanische                    ge­legenheit der wirklichsten Not­                    klingen, so etwa: Man achte auf
Grippe ihre Belegschaft lahmge­                     wendigkeit“ ­wurde: „jeder sehe dazu,                ­Hygiene,61 meide Menschenansamm­
legt hatte.52 Behördlich wurde der                  wie er das Reisen vermeiden kann“.58                  lungen, insbesondere in geschlosse­
Handel aber nicht untersagt, weil                   Behördliche Reiseverbote waren in                     nen Räumen,62 lüfte das Büro,63 halte
man die sozialen und wirtschaft­
lichen Risiken solcher Schließungen
für bedeutend höher hielt als ihren                      der Grippe, Landes-Gesetz- und Verordnungs­     59   NFP, 2.10.1918, 8; AZ, 6.10.1918, 7; MNWJ,
                                                         blatt für das Erzherzogtum Österreich unter          25.2.1920, 2; AZ, 5.3.1920, 5.
Nutzen. Gleiches galt für die Gastro­
                                                         der Enns LIII. 1918/219; NFP, 20.10.1918, 8.
nomie,53 die nur verpflichtet wurde,                                                                     60   AZ, 6.10.1918, 7; NWT, 6.10.1918, 12; RP
                                                    55   Z. B. NWT, 8.11.1918, 3. Eine lokale Sperre          7.10.1918, 5; NWB, 8.10.1918, 4; MNWJ,
ihre Lokale regelmäßig zu lüften.54
                                                         zwischen Vorarlberg und der (von der Grippe          10.10.1918, 3, Gebot 9; AZ, 12.10.1918, 6.
                                                         stark betroffenen) Schweiz wurde aus wirt­
                                                         schaftlichen Gründen rasch wieder aufge­
                                                                                                         61   MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 1 (gurgeln am
51   NFP, 20.10.1918, 7.                                 hoben: Vorarlberger Volksblatt, 15.9.1918, 3.        Morgen), Gebot 4 (mittags Hände waschen,
                                                                                                              Mund ausspülen, kein fremdes Geschirr
52   Salfellner (FN 2) 101.                         56   MNWJ, 10.10.1918, 3; NWJ, 10.10.1918, 4; Wie­        und Besteck verwenden), Gebot 10 (vor dem
                                                         ner Allgemeine Zeitung (WAZ), 11.10.1918, 3.         Schlafengehen waschen, Mund ausspülen,
53   NWJ, 10.10.1918, 4.                                                                                      gurgeln); NWB, 19.10.1918, 4.
                                                    57   WAZ, 11.10.1918, 3.
54   Verordnung des k.k. Statthalters im Erzher­                                                         62   NFP, 2.10.1918, 8; MNWJ, 10.10.1918, 3, Ge­
     zogtume Österreich unter der Enns vom          58   WAZ, 11.10.1918, 3; siehe schon zuvor NWT,           bot 6 und 8; NWB, 19.10.1918, 4.
     19. Oktober 1918, Z Ia-1454, betreffend Maß­        1.10.1918, 9, wo vom Reisen dringend abgera­
     nahmen zur Eindämmung der Verbrei­      tung        ten wird.                                       63   NFP, 2.10.1918, 8; MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 3.

                                   ÖAW                                                                                                                     12
EINLEITUNG

in der Straßenbahn ein Taschentuch                   fach dementierten.68 Noch in der                      auch an der Armut der Menschen:73
vor den Mund,64 lasse sich nicht an­                 vierten Welle wiesen die Behörden                     Das Abstandsgebot war etwa für vie­
husten, schließe den Mund und (auch                  zudem die kolportierten Zahlen der                    le nicht durchzuhalten, weil sie, um
ein allgemeiner Rat) man ­    wende                  Grippe­kranken als völlig übertrieben                 zuhause Kohle zu sparen, Gastlokale
sich von Menschen ab, die erregt                     zurück.69 Neben Sorge gab es aber                     aufsuchten; da auch die Gaststuben
schreien.65 Empfohlen wurde 1918                     auch große Sorglosigkeit: Selbst in                   nur spärlich beheizt waren, saßen
aber auch, was im Frühjahr 2020 nur                  der zweiten Welle wird beklagt, dass                  die Menschen dort dicht gedrängt
wider­willig zugestanden wurde: Man                  die Menschen die Maßregeln zum                        und bei schlechter Belüftung zu­
bewege sich genug an der frischen                    Selbstschutz überhaupt nicht beach­                   sammen.74 Ähnlich wirkten sich die
Luft und tanke Sonne.66                              ten;70 sogar der Oberstadtphysicus                    Schulschließungen auf Kinder armer
Die Menschen reagierten auf diese                    von Wien ging trotz Grippe ins Büro,                  Leute aus: Sie hielten es in den kalten
Maßregeln und die Pandemie sehr                      um „seinen vermehrten Dienstpflich­                   Wohnungen nicht aus und suchten
unterschiedlich: Zunächst kursier­                   ten nachzukommen“, wie die Presse                     Zuflucht in Wärmestuben und sozia­
ten die wildesten Spekulationen                      ehrfürchtig berichtet.71 In der vier­                 len Einrichtungen, wo ihre Gesund­
über die Herkunft der Seuche;67 zum                  ten Welle ist in Zeitungen gar von                    heit erst recht gefährdet war.75
Teil herrschte auch große Angst, die                 Faschingsfesten zu lesen, bei denen                   Der Umgang mit der Spanischen
selbst durch Fakten nicht zu nehmen                  alle Hygieneregeln in den Wind ge­                    Grippe zeigt teils vertraute Pro­
war. So hielt sich das Gerücht von                   schlagen werden, und von „Tanzepi­                    bleme der Pandemiebekämpfung:
der Lungenpest hartnäckig, obwohl                    demien“, die die Infektionszahlen                     eine Politik, die Maßnahmen zuerst
Behörden und Experten es mehr­                       hochtreiben.72 Zum Teil scheiterte                    ablehnt, um sie wenig später doch
                                                     die Befolgung der Maßregeln aber                      zu setzen; eine Öffentlichkeit, die
                                                                                                           Maßnahmen im selben Atemzug als
64   Gesichtsmasken haben sich in Österreich hin­                                                          Bevormundung und als zu spät ge­
     gegen nicht durchgesetzt, obwohl die Zeitun­    68   AZ, 6.10.1918, 7; NWT, 6.10.1918, 12 f;
     gen immer wieder berichteten, dass solche            NWB, 8.10.1918, 4; AZ, 12.10.1918, 6; NWB,
     Masken in anderen Ländern mit Erfolg ein­            19.10.1918, 4; Hörzer (FN 6) 68 ff; Salfellner
     gesetzt wurden, etwa in Skandinavien (Frem­
                                                                                                           73   Ironisch verarbeitet im Grazer Tagblatt,
                                                          (FN 2) 126 f.                                         16.10.1918, 7, das einen Herrn einer Dame
     den-Blatt, 13.8.1918, 7) oder in der Schweiz
     (WAZ, 28.9.1918, 7); anders in den USA, wo      69   AZ, 17.2.1920, 6; AZ, 5.3.1920, 5.                    lauter gute Ratschläge gegen die Grippe ge­
     Schutzmasken im öffentlichen Raum ver­                                                                     ben und sie am Ende sagen lässt: „‘Danke
     pflichtend zu tragen waren: Salfellner (FN 2)
                                                     70   MNWJ, 10.10.1918, 3.                                  Ihnen schönstens‘ gab ich zur Antwort und
     33.                                                                                                        rechnete dabei aus, dass der gewiegteste De­
                                                     71   NWT, 9.10.1918, 10. Drei Tage zuvor hatte             tektiv eigentlich billiger kommt als solch ein
65   MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 2.                        dasselbe Blatt noch amtliche Maßregeln u­ nter        Selbstschutz.“
                                                          der Überschrift „Selbstschutz – Zu Hause
66   MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 5.                        bleiben!“ publiziert (NWT, 6.10.1918, 12).       74   MNWJ, 25.2.1920, 2.
67   Näher Hörzer (FN 6) 66 ff.                      72   MNWJ, 25.2.1920, 3.                              75   Salfellner (FN 2) 103.

                                     ÖAW                                                                                                                   13
EINLEITUNG

setzt kritisiert; Maßnahmen, die in       So schob man die Seuche auch bei­                     – dass hier eine Pandemie umging,
sich nicht konsistent sind; wilde Seu­    seite, als im Herbst 1918 die Monar­                  möchte man kaum glauben.
chengerüchte, gegen die Fakten nicht      chie zerbrach: Am 21. Oktober, also                   Sichtlich hatten die Menschen noch
ankommen; eine Bevölkerung, die           mitten in der zweiten Welle, tra-                     größere Sorgen: Nicht nur gezeichnet
zwischen Angst und Sorglosigkeit          ten die Reichstagsabgeordneten der                    von der Krankheit, sondern vor allem
schwankt, und schließlich die be­         deutschen Gebiete der Monarchie                       vom verlorenen Krieg, von unzähli­
sondere Härte, mit der die Pandemie       zusammen und konstituierten sich                      gen Toten und Versehrten, von Hun­
Arme trifft. Zugleich zeigen sich aber    als „provisorische Nationalversamm­                   ger und Armut, gründeten sie einen
auch markante Unterschiede: Wäh­          lung des selbständigen deutsch­                       Staat, den kaum jemand für überle­
rend man heute versucht, das Infek­       österreichischen Staates“. Als dann                   bensfähig hielt. Die Hoffnung vieler,
tionsgeschehen mit verschiedensten        am 12. November 1918 die Erste                        sich an Deutschland anschließen zu
Zwangsmaßnahmen zu steuern, hielt         ­Republik ausgerufen wurde, ström­                    können, sollte sich bald zerschlagen.
sich der Staat bei der Spanischen          ten über hunderttausend Menschen                     So blieb nichts anderes, als Österreich
Grippe mit Verboten zurück, nicht zu­      zum Parlamentsgebäude, um diesen                     aus den Trümmern der Monarchie
letzt, weil ihm die Mittel fehlten, um     historischen Moment mitzuerleben.                    zu errichten, und zwar durchaus im
harte Maßnahmen abzufedern, aber           Beide Ereignisse sind durch Bilder                   wörtlichen Sinn: Man übernahm aus
auch um sie durchzusetzen. So trat er      eindrucksvoll dokumentiert:76 Auf                    der Monarchie, was man brauchen
nicht primär befehlend und strafend        dem einen sieht man im Sitzungs­                     konnte und was sich bewährt hatte –
auf, sondern empfehlend, warnend           zimmer des damaligen Niederöster­                    die mustergültigen Grundrechte und
und bisweilen auch beschwichti­            reichischen Landhauses 208 Reichs­                   den fortschrittlichen Rechtsstaat, der
gend. Entsprechend unterschiedlich         tagsabgeordnete, allesamt in dunk­lem                durch die Verfassungsgerichtsbarkeit
reagier­ten auch die ­ Medien: Infor­      Anzug und mit ernster Miene, dicht                   noch perfektioniert wurde. Zugleich
mieren sie heute pausenlos und pri­        nebeneinander sitzen und hinter                      war aber auch klar, dass das kleine
oritär über Corona, so berichteten sie     ­ihnen eine prall gefüllte Zuschauer­                Österreich nach dem Versagen der
über die Spanische Grippe eher bei­         galerie; das zweite Bild zeigt die                  Monarchie nur eine Republik sein
läufig und nie am Titel­blatt. Denn die     Ringstraße vor dem Parlamentsge­                    konnte. Feststand ebenso, dass Öster­
Seuche war damals – neuerlich an­           bäude, berstend voll mit Menschen                   reich eine Demokratie werden müs­
ders als heute – nicht das zentrale Er­                                                         se, denn – wie Staatskanzler Renner
eignis, das die Welt in Atem hielt. Sie                                                         am 12. November 1918 unter stürmi­
war ein Übel von vielen und jeden­                                                              schem Beifall formulierte – „unser
falls in Österreich überschattet von      76   Zu sehen z. B. unter https://news.orf.at/        Volk kann nur wiederhergestellt und
der politischen Wende, durch die das           vstories/dieunterschaetzterepublik. Zur Iko­     unsere Volkswirtschaft aufgebaut
                                               nographie der Gründung der Ersten Republik
Land taumelte.                                 Uhl, die Republik, die nicht an einem Tag ent­
                                                                                                werden, wenn alle Kräfte in freier
                                               stand, Die Presse, 10.11.2018.                   Zusammenarbeit zusammengefasst

                           ÖAW                                                                                                       14
EINLEITUNG

werden. Die Bedingung dafür ist                     ganz anders konstituierten Staat,
die volle Demokratie.“77 Da die zer­                aber auch auf eine völlig anders ver­
fallende Monarchie wesentlich von                   fasste Bevölkerung: Sie ist nicht von
den Ländern getragen war, sollte                    einem verlorenen Krieg leidgeprüft,
Österreich zudem ein Bundesstaat                    sondern lebt nach langen Jahren des
werden, den man „in das schon Be­                   Friedens im Wohlstand, erwartet
stehende und Bewährte gleichsam                     vom Staat Schutz und besteht zu­
einzubauen“78 versuchte. Aus die­                   gleich auf ihrer Freiheit. Zweifellos
sen Elementen erarbeitete man zwi­                  stellt die Corona-Pandemie unsere
schen Mai 1919 und September 1920,                  Verfassung vor eine weitere Bewäh­
also nach der dritten und über die                  rungsprobe. Das bildete den Anlass,
vierte Welle der Spanischen Grippe                  mit Vertreterinnen und Vertretern
hinweg, eine neue Konstitution. Am                  der Staatsrechtslehre und der Rechts­
1. Oktober 1920 wurde schließlich das               philosophie rechtsvergleichend zu
Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) be­                 diskutieren: Vor welche Herausfor­
schlossen. 1925 und 1929 novelliert,                derungen stellt die Corona-Pande­
1934 außer Kraft gesetzt, seit 1945                 mie den demokratischen Rechts­
wieder in Geltung, ist das B-VG heute               staat, aber auch den Bundesstaat in
– wider alle Erwartungen – die älteste              Deutschland, Österreich und in der
republikanische Verfassung Europas.                 Schweiz? Wie geht die Politik in den
Die Spanische Grippe hat im B-VG                    drei Staaten mit diesen Problemen
1920 erstaunlicherweise keinerlei                   um? Und (wie) bewähren sich unsere
Spuren hinterlassen, so wie sie an­                 Verfassungen in dieser Krise?
scheinend auch aus dem kollektiven
Gedächtnis rasch verschwand. Doch
just im 100. Jubiläumsjahr des B-VG
sucht die Welt neuerlich eine Seuche
heim. Sie trifft in Österreich auf ­einen

77   StenProtProvNV, 3. Sitzung am 12.11.1918,
     65.
78   So der Architekt des B-VG, Kelsen, Österrei­
     chisches Staatsrecht. Ein Grundriß entwick­
     lungsgeschichtlich dargestellt (1923) 161.

                                   ÖAW                                                                   15
EINLEITUNG

ÖAW                16
BEGRÜSSUNG

BEGRÜSSUNG
OLIVER JENS SCHMITT

Herzlich willkommen zu einer               ist das Verständnis für die Um­stände,       Ich möchte nun die Teilnehmerinnen
Podiums­  diskussion der besonderen        unter denen eine Verfassung entsteht,        und Teilnehmer der heutigen Veran­
Art unter besonderen Bedingungen!          für die Prinzi­pien und Grundmecha­          staltung in alphabetischer Reihen­
Unser heutiges Thema „100 Jahre            nismen, denen sie folgt.                     folge vorstellen.
Bundesverfassung: Die Coronakrise          Die Österreichische Akademie der             Elisabeth Holzleithner, Universitäts­
als Jubiläumsgabe“ erinnert an die         Wissenschaften, die diese Veran­             professorin für Rechtsphilosophie
Zeit um den 1. Oktober 1920, als in        staltung durchführt, ist der größte          und Legal Gender Studies in Wien,
der tiefen politischen Krise nach dem      außer­universitäre Forschungsträger          ist seit 2013 Disziplinaranwältin
Zusammenbruch der österreichisch-­         in Österreich. Sie ist gegliedert in drei    im Bundesministerium für Wissen­
ungarischen Monarchie und der gras­        Teile und betreibt 25 Forschungs­            schaft und Forschung und seit 2014
sierenden Pandemie der Spanischen          institute. Verpflichtet einer von            Vorständin des Instituts für Rechts­
Grippe das Bundes-Verfassungsge­           Neugier getriebenen Grundlagen­              philosophie, Religions- und Kultur­
setz verabschiedet wurde. Das hun­         forschung, widmet sie sich einem             recht. Sie ist auch Vize-Studienpro­
dertjährige Jubiläum feiern wir mit        weiten wissenschaftlichen Spektrum           grammleiterin und stellvertretende
einer Diskussion führender Vertre­         von den Naturwissenschaften zu den           Doktoratsstudien-Programmleiterin
terinnen und Vertreter der Rechts­         Geistes-, Sozial- und Kulturwissen­          der Rechtswissenschaftlichen Fakul­
wissenschaften. Das Thema ist von          schaften. Ihre Gelehrtengesellschaft         tät in Wien.
besonderer Bedeutung. Auch heute           umfasst rund 760 Mitglieder aus              Clemens Jabloner bekleidete nach dem
ist die Verfassung einem Stresstest        ­aller Welt. Einige von ihnen werden         Studium der Rechtswissenschaften an
ausgesetzt. Die Gesellschaft, aber          an der heutigen Debatte teilnehmen.         der Universität Wien wichtige Funk­
auch die Institutionen des Staates lei­     Als wesentliche Forschungsförderin          tionen in der ­Republik. Zwischen 1993
den unter der Belastung durch eine          bietet sie wichtige Unterstützungen         und 2013 war er Präsident des Ver­
Pandemie, aber auch an dem jüngst           für junge Wissenschaftlerinnen und          waltungsgerichtshofes und von 1998
in Wien erfolgten Terroranschlag. In        Wissenschaftler an, insbesondere auf        bis 2003 Vorsitzender der Historiker­
dieser Situation ist ein starker Verfas­    der Stufe von Doktorat und Post­            kommission der ­Republik Österreich.
sungsstaat wichtig. Ebenso wichtig          doktorat.                                   Als Mitglied des Österreich-Konvents

                           ÖAW                                                                                              17
BEGRÜSSUNG

2003 bis 2005 erarbeitete er Vor­schläge   Öffentlichen Rechts und ist auch als
für eine grundlegende Staats- und          Gutachter tätig. Er führt Prozesse vor
Verfassungsreform. Bis 2019 hatte er       dem Bundesgericht, dem Bundesver­
die Hans Kelsen-Professur am Insti­tut     waltungsgericht und den kantonalen
für Rechtsphilosophie der Universität      Verwaltungsgerichten.
Wien inne. 2018 diente er im ­Kabinett     Durch den heutigen Abend führen
von Bundeskanzlerin ­Brigitte ­Bierlein    wird Sie Magdalena Pöschl, wirk­
als Bundesminister für Verfassung,         liches Mitglied unserer Akademie
Reformen, Deregulierung und ­Justiz        und seit 2012 Professorin am Insti­
und als Vizekanzler der Republik           tut für Staats- und Verwaltungsrecht
­Österreich. Clemens Jabloner ist seit     in Wien. Nach Studien in Innsbruck
 2009 Ehrenmitglied der philoso­           und Wien habilitierte sie 2004 in
 phisch-historischen ­Klasse der ÖAW.      Innsbruck. Danach war sie Professo­
 Gertrude      Lübbe-Wolff     studierte   rin für Öffentliches Recht in Salzburg
 Rechtswissenschaften in Bielefeld         und Graz, Mitglied der Bioethik­
 und Freiburg sowie an der Harvard         kommission und Ersatzmitglied des
 Law School und habilitierte im Be­        Bundeskommunikationssenates.
 reich Öffentliches Recht, Rechtsphi­      Schließlich ist es mir eine beson­dere
 losophie und Verfassungsgeschichte        Freude, die amtierende Bundes­
 der Neuzeit. Mehrere Jahre diente sie     ministerin für Justiz, Dr. Alma Zadić,
 als Stadtverwaltungsdirektorin und        willkommen zu heißen, die sich in
 Leiterin des Umweltamtes der Stadt        einer Videobotschaft mit Grußwor­
                                           ­
 Bielefeld. Seit 1992 hat sie den Lehr­    ten an uns wenden wird.
 stuhl für Öffentliches Recht an der
 Universität Bielefeld inne. Von 2002
 bis 2014 war sie Richterin des Bun­
 desverfassungsgerichtes.
 Felix Uhlmann ist Professor für
 Staats- und Verwaltungsrecht sowie
 Rechtsetzungslehre an der Universi­
 tät Zürich. In dieser Funktion berät er
 das Gemeinwesen – Bund, ­Kantone
 und Gemeinden – in der Schweiz,
 aber auch Private in Fragen des

                            ÖAW                                                                  18
BEGRÜSSUNG

ALMA ZADIĆ
Das vergangene Jahr markierte das       werden. Gleichzeitig zeigte sich an
100-jährige Jubiläum des Österreichi­   der Rechtsprechung des Verfassungs­
schen Bundes-Verfassungsgesetzes.       gerichtshofes deutlich, wie effektiv
Damit können wir auf lange Erfah­       die Kontrollmechanismen in unse­
rung mit einer der ältesten noch in     rer Verfassung funktionieren. Auch
Geltung stehenden Verfassungen in       die rechtsstaatlichen Anforderungen
Europa zurückblicken. Die Heraus­       an die obersten Organe des Bundes
forderungen der letzten Jahre zeig­     wurden keineswegs geschmälert.
ten, wie es unser Bundespräsident       ­Einer der wesentlichen Aufgaben des
so schön formuliert hat, die Eleganz     Rechtsstaates, der nachgeordneten
unserer Verfassung. Die COVID-Pan­       Prüfung des Gesetzes und des Ver­
demie versetzte ganz Österreich in       ordnungsgebers durch ein unabhän­
eine Ausnahmesituation. Wir Politi­      giges Höchstgericht, kam der Verfas­
kerinnen und Politiker waren gefor­      sungsgerichtshof äußerst rasch nach.
dert, rasch Lösungen unter Wahrung       Es zeigte sich: Unsere Verfassung,
der demokratischen und rechtsstaat­      unsere Demokratie und unser
lichen Grundsätze zu finden. Zum         Rechtsstaat funktionieren auch in
Schutz der Gesundheit und des Le­        der Krise. Damit dieses Attest auch
                                                                                 Dr. Alma Zadić, LL.M ist Bundesminis-
bens aller musste nicht nur in unsere    für die nächsten hundert Jahre gel­
                                                                                 terin für Justiz der Republik Österreich.
täglichen Gewohnheiten eingegrif­        ten kann, müssen wir uns jeden Tag
                                                                                 Zuvor war sie als Abgeordnete zum öster-
fen werden, sondern auch in unsere       aufs Neue für den Rechtsstaat und
                                                                                 reichischen Nationalrat sowie als Rechts-
Rechte. Dabei war es von größter         unsere offene und demokratische Ge­
                                                                                 anwältin in Wien tätig. Sie absolvierte das
Wichtigkeit, auch in dieser heraus­      sellschaft einsetzen. Im Zentrum des
                                                                                 Doktoratsstudium der Rechtswissenschaf-
fordernden Situation unsere verfas­      Rechtsstaates stehen die Grund- und
                                                                                 ten an der Universität Wien sowie ein
sungsrechtlich garantierten Grund-       Freiheitsrechte. Ich wünsche eine
                                                                                 Postgraduales Studium (LL.M.) an der
und Freiheitsrechte und das Prinzip      inspirierende Lektüre des vorliegen­
                                                                                 Columbia University in New York, USA.
der Verhältnismäßigkeit zu wahren        den Bandes. Möge uns die Österrei­
und zu achten. Darüber hinaus konn­      chische Bundesverfassung auch die
ten unter Einhaltung der demokrati­      nächsten hundert Jahre so wichtige
schen Grundsätze innerhalb kürzes­       und zuverlässige Dienste leisten.
ter Zeit neue Gesetze beschlossen

                          ÖAW                                                                                            19
BEGRÜSSUNG

ÖAW                20
PODIUMSDISKUSSION

PODIUMS­
DISKUSSION
MAGDALENA PÖSCHL                           s­ ogenannten Spanischen Grippe.           ebene erfolgt; erörterungsbedürftig
                                            Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)       ist ebenso, wie diese beiden Ebenen
Als wir diese Veranstaltung konzi­          wurde 1920 am 1. Oktober beschlos­        miteinander kooperieren. Massiv
piert haben, dachten wir, dass wir          sen, an dem regelmäßig Feiern zur         betroffen sind durch die Coronakri­
den 100. Geburtstag unserer Verfas­         Verfassung abgehalten werden. We­         se die Grundrechte, die gravierend
sung in Ruhe und Würde begehen,             niger bekannt, aber ebenso wichtig        beschränkt werden, und zwar durch
die lange Zeit ihrer Geltung Revue          ist, dass das B-VG am 10. November,       Regelungen, die meist nur kurzfristig
passieren lassen, Lob aussprechen           also heute vor 100 Jahren in Kraft ge­    gelten. Das wirft wiederum Rechts­
und über Verbesserungsmöglichkei­           treten ist. Das wollen wir zum Anlass     schutzprobleme auf: Wie sollen die
ten diskutieren werden können. Doch         nehmen, um gemeinsam mit einer            Gerichte diese sich permanent än­
2020 ist zu einem Jahr der Heim­            Verfassungsjuristin aus Deutsch­          dernde Flut an Regelungen effektiv
suchungen geworden. Österreich              land, einem Verfassungsjuristen aus       kontrollieren? Gerade am Boden der
befindet sich im zweiten Lockdown,          der Schweiz und zwei Angehörigen          Akademie der Wissenschaften stellt
der – zumindest derzeit – noch sanf­        der Wiener Rechtswissenschaftlichen       sich weiters die Frage, wie der Staat
ter ist als im Frühjahr, erneut ist aber    Fakul­  tät zu diskutieren, wie sich      das Expertenwissen generiert, das er
der Ausgang beschränkt, nun aller­          ­unsere Verfassungen in der Krise be­     zur Krisenbewältigung benötigt. Dis­
dings nur in der Nacht. Das macht            währen.                                  kutabel ist schließlich, wie der Staat
besonders Wien zu einer stillen Stadt,       Herausforderungen gibt es wahrlich       seine Entscheidungen den Bürgerin­
aus vielen Gründen, die schon ange­          genug – zunächst für die Demokratie,     nen und Bürgern kommuniziert.
sprochen wurden. In der Tat ist es ein       denn in Krisen wechselt die Macht        Über diese Themen wollen wir in
seltsamer Zufall, dass das ­Jubiläum         typischerweise, und so auch hier, von    den nächsten 90 Minuten sprechen –
unserer Verfassung mit ­    einer Pan­       der Legislative auf die Exeku­   tive.   das ist kein ganz kleines Programm,
demie zusammentrifft. Denn unsere            Sodann ist der Bundesstaat gefor­        deshalb komme ich gleich zur
Verfassung ist 1920 auch vor dem             dert, weil keineswegs auf der Hand       Sache. Felix Uhlmann sagt in seinem
Hintergrund einer gerade überstan­           liegt, ob die Krisenbekämpfung bes­      Statement auf unserem Programm:
denen Pandemie entstanden, der               ser auf Bundes- oder auf Landes­         „Krisen sind Zeiten der Exekutive.“

                            ÖAW                                                                                           21
PODIUMSDISKUSSION

                                          Tatsächlich wechselte die Macht in       die Voraussetzungen für eine außer­
                                          allen drei Staaten von der Legislative   ordentliche Lage gegeben sind, und
                                          auf die Exekutive, am markantesten       trifft dann entsprechende Maßnah­
                                          war dies in der Schweiz: Das Schwei­     men. Kritische Stimmen wurden laut.
                                          zer Parlament beendete im Frühjahr       Die Reichweite der Kompetenzen
                                          sogar von sich aus seine Session vor­    aus der Bundesverfassung ist nicht
                                          zeitig. Das veranlasste den Schwei­      unumstritten. Die Sofortmaßnahmen
                                          zer Bundesrat, also die Schweizer        im Bereich der Gesundheitsvorsorge
                                          Regierung auf Bundesebene, gestützt      blieben unangefochten, anders war
                                          auf die Verfassung, das Notverord­       es bei Maßnahmen im Bereich der
                                          nungsrecht für sich in Anspruch zu       sozialen und wirtschaftlichen H  ­ ilfe.
                                          nehmen. In der Folge wurde das Par­      Dort sind die Voraussetzungen der
                                          lament zwar wieder aktiv und erließ      Bundesverfassung weniger klar.
                                          das COVID-19-Gesetz; dieses Gesetz       Die Möglichkeiten innerhalb der
                                          übertrug aber dem Bundesrat neuer­       geltenden Regelungen wurden von
                                          lich weitreichende Regelungsbefug­       der Exeku­tive wohl ausgereizt. Dies
                                          nisse. Und all das in der demokratie­    ­wurde begünstigt durch die Selbst­
                                          liebenden Schweiz! Felix Uhlmann,         auflösung des Parlamentes, welches
                                          wie haben die Eidgenossen das auf­        sich früh aus dem Spiel nahm. Von
                                          genommen? Und wie beurteilen Sie          der Staatsrechtslehre wurde dies zu
                                          als Staatsrechtslehrer diese Situation    Recht kritisiert. Sehr kurzfristige
Felix Uhlmann ist Professor für Staats-
                                          demokratiepolitisch?                      Maßnahmen können zwar am besten
und Verwaltungsrecht sowie Recht­
                                                                                    von der Exekutive durchgesetzt wer­
setzungslehre an der Universität Zürich
                                                                                    den. Für die mittelfristige Krisenbe­
und Advokat.
                                          FELIX UHLMANN                             wältigung hat das Parlament jedoch
                                                                                    eine sehr wichtige Aufgabe. In der
                                          Es trifft zu, dass in der Schweiz die     ersten Phase kam die Schweiz recht
                                          Exekutive wesentliche Befugnisse an       gut durch die Krise. Auch deshalb
                                          sich zog, wie in der Verfassung vor­      blieben die kritischen Stimmen eher
                                          gesehen. Es werden dafür weder ein        ruhig. Die zweite Phase war etwas
                                          Ermächtigungsbeschluss noch eine          problematischer.
                                          rasch folgende Genehmigung durch
                                          die Legislative benötigt. Der Bun­
                                          desrat, die Exekutive, entscheidet, ob

                           ÖAW                                                                                          22
PODIUMSDISKUSSION

MAGDALENA PÖSCHL                          nach der Legitimation. Unsere De­
                                          mokratie lebt vom pluralistischen
Die Akzeptanz in der Bevölkerung          Diskurs, von der harten Auseinan­
korreliert also offenbar mit der Dra­     dersetzung, vom Ringen um das
matik der Situation und dem Erfolg        bessere Argument und die darauf
der Maßnahmen. Wechselt die Macht         im Idealfall beruhenden besseren
auf die Exekutive, gehen freilich im      Maßnahmen. Die Einbeziehung von
Entscheidungsprozess typisch de­          Gegenpositionen eröffnet die Mög­
mokratische Qualitäten verloren:          lichkeit, dass dann auch wirklich
das institutionalisierte Gegenargu­       das bessere Argument sich durch­
ment in Gestalt der Opposition, die       setzt, obwohl ja in der Legisla­  tive
Öffentlichkeit der Debatte, und die       dann letztlich abgestimmt wird und
Perspektivenvielfalt, die sich daraus     es keine letztgültigen Kriterien gibt,
ergibt. Elisabeth Holzleithner, ist das   um das bessere Argument daran zu
eigentlich ein Schaden? Gelegentlich      messen. Aber jedenfalls geht dem ein
wird gesagt, der Widerstand gegen         offener Diskussionsprozess voraus,
die Corona-Maßnahmen sei auch             und das hat auch legitimatorische
deshalb so irrational und zum Teil so     Kraft. Deswegen ist in solch einer
aggressiv geworden, weil Gegenmei­        Krisensituation die Einbindung der
nungen in den letzten Monaten zu          Legislative so wichtig, zumindest
wenig öffentlichen Raum bekommen          mittelfristig.
                                                                                   Elisabeth Holzleithner ist Professorin für
haben. Stimmt das, und wie lange          Aber besonders spannend finde ich
                                                                                   Rechtsphilosophie und Legal Gender Stu-
hält eine Demokratie die Machtver­        in dem Zusammenhang die faktische
                                                                                   dies an der Universität Wien.
schiebung auf die Exekutive aus?          Dimension. Wie lange eine Demokra­
                                          tie das aushält, hängt nicht primär
                                          davon ab, ob die Maßnahmen von
ELISABETH HOLZLEITHNER                    der Legislative oder von der Exeku­
                                          tive getroffen worden sind. Sondern
Das ist eine sehr ­herausfordernde        es kommt darauf an, wie einschnei­
Frage. Ich würde ganz gerne ein
­                                         dend sie sind und welche Opfer sie
wenig ausholen und zwischen der
­                                         denen abverlangen, die ja sehr unter­
normativen und der faktischen             schiedlich davon betroffen sind. Es
Dimen­sion unterscheiden. Die nor­        hängt auch davon ab, wie empfäng­
mative Dimension betrifft die Frage       lich Menschen für jene ­  Argumente

                           ÖAW                                                                                            23
PODIUMSDISKUSSION

sind, die den Maßnahmen zu­grunde         tive als Verstärker für solche wissen­    nicht, sagt Elisabeth ­ Holzleithner.
liegen. Da geht es zum Beispiel um        schaftsfeindliche und rücksichtslose      Aber vielleicht leidet die Qualität
bestimmte Einschätzungen vom Ver­         Positionen fungiert, das haben wir ja     von Regelungen, die keinen parla­
lauf der Pandemie, der ja typischer­      in den USA gesehen. Also es braucht       mentarischen Prozess durchlaufen.
weise exponentiell ist. Das erscheint     immer auch ein Stückchen Fortune in       Das führt mich zu zwei Fragen: Hat
sehr abstrakt, zumal am Beginn            dem Kontext.                              sich die Hoffnung erfüllt, dass die
­eines solchen Geschehens kann man                                                  Exekutive schnell und entschlossen
 sich das nicht gut vorstellen. Über                                                gegen die Pandemie vorgeht? Und
 die sozialen Medien verbreitete Ver­     MAGDALENA PÖSCHL                          wenn ja: Bezahlen wir das mit Qua­
 schwörungstheorien und eine in Tei­                                                litätsverlusten bei den Normen, die
 len ausgesprochene Feindseligkeit        Die Demokratie hält das also aus,         weniger gut durchdacht sind, über
 gegenüber der Wissenschaft tun das       und die Proteste, die wir jetzt sehen,    das Ziel hinausschießen und dann
 ihre. Das Ganze paart sich dann gar      hätte man auch durch parlamenta­          vielleicht aus diesem Grund nicht
 nicht selten mit einem rücksichts­       rische Diskussionen nicht auffan­        ­akzeptiert werden?
 losen Verständnis von individueller      gen können. Gertrude Lübbe-Wolff,
 Freiheit. Der daraus resultierende       in Deutschland verlief der Wechsel
 Widerstand gegen die Maßnahmen           von der Legislative auf die Exeku­       GERTRUDE LÜBBE-WOLFF
 wird besonders lautstark und aggres­     tive weniger spektakulär als in der
 siv zum Ausdruck gebracht.               Schweiz: Die Legislative hat das be­     Der Zeitgewinn bei uns durch die
 Vertretern und Vertreterinnen sol­       reits bestehende Infektionsschutzge­     Verlagerung von Kompetenzen auf
 cher Positionen wird es kaum ge­         setz des Bundes nachgeschärft und        die Exekutive ist teilweise dadurch
 nügen, in der Legislative Gehör zu       die Exekutive in größerem Umfang         ein bisschen aufgefressen worden,
 finden. Deren befriedende Kraft ist      ermächtigt, Maßnahmen zur Pande­         dass man sich sehr stark bemüht hat,
 limitiert. Dieser Befund gilt auch für   miebekämpfung zu ergreifen. Den­         auch zwischen Bund und Ländern
 die Medien, deren rationale, wis­        noch hat die deutsche Bundeskanz­        eine gewisse Koordination herzu­
 senschaftsaffine Positionen häufig       lerin diese Krise als „demokratische     stellen. Das heißt, es hat nicht jede
 als Fake-News denunziert werden.         Zumutung“ bezeichnet. Warum wir          Regierung einfach losgeschossen mit
 Wenn solche Verständnisse nicht wie      der Demokratie diese Machtverschie­      ihren eigenen Maßnahmen, sondern
 durch ein Megafon verstärkt werden,      bung zumuten, liegt auf der Hand:        man hat versucht, sich zumindest im
 dann könnte man das letztlich sogar      Die Exekutive soll schnell und schlag­   Groben abzustimmen. Das hatte den
 für einen Vorteil halten. Allerdings     kräftig auf die Krise reagieren kön­     Vorteil, dass in die Entscheidungs­
 hängt das natürlich ganz stark von       nen. Dass das Parlament dabei kaum       prozesse eine gewisse Vielstimmig­
 den handelnden Personen ab. Was          mehr beteiligt ist, beeinträchtigt die   keit eingeflossen ist. Denn die Län­
 passiert, wenn die Spitze der Exeku­     Akzeptanz der Regelungen noch            der hatten durchaus unterschiedliche

                           ÖAW                                                                                        24
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