FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT | 20 - 100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG: DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE - Österreichische ...
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100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG: DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE PODIUMSDISKUSSION AM 10. NOVEMBER 2020 ÖAW 1
INHALTSVERZEICHNIS INHALT EDITORIAL Oliver Jens Schmitt ........................................................................................................................................................................... 5 EINLEITUNG Magdalena Pöschl ............................................................................................................................................................................. 7 PODIUMSDISKUSSION BEGRÜSSUNG Oliver Jens Schmitt ........................................................................................................................................................................... 17 Alma Zadić ........................................................................................................................................................................................ 19 DISKUSSION: 100 JAHRE BUNDESVERFASSUNG: DIE CORONAKRISE ALS JUBILÄUMSGABE Magdalena Pöschl (Moderation) ..................................................................................................................................................... 21 Felix Uhlmann ................................................................................................................................................................................... 22 Elisabeth Holzleithner ...................................................................................................................................................................... 23 Gertrude Lübbe-Wolff ...................................................................................................................................................................... 25 Clemens Jabloner .............................................................................................................................................................................. 27 RESÜMEE Magdalena Pöschl ............................................................................................................................................................................. 47 ÖAW 3
EDITORIAL EDITORIAL OLIVER JENS SCHMITT Wissenschaftliches Wissen zu wichti in Europa. Magdalena Pöschl, wirk gen Fragen der Gesellschaft und der liches Mitglied der ÖAW, spannt hier Politik einer breiteren Öffentlichkeit den Bogen über mehr als 100 Jahre, zur Verfügung zu stellen, ist eine der von der Entstehung der Bundesver zentralen Aufgaben einer Akademie fassung über die damals pandemisch der Wissenschaften. Wir tun dies, grassierende Spanische Grippe bis in indem wir in gewissen Abständen die COVID-Pandemie der Gegenwart. große Themen aufgreifen. Diese wer Nach der Debatte mit führenden Ver den von herausragenden Mitgliedern treterinnen und Vertretern der Rechts der Gelehrtengesellschaft inhaltlich wissenschaften wird im Schlusswort vorbereitet. Zur Diskussion an der eine Zusammenfassung sowie Deu Akademie laden wir internationale tung des Gesagten angeboten. Fachleute und Entscheidungsträgerin Die Akademie der Wissenschaften Oliver Jens Schmitt ist Professor für Ge- nen und Entscheidungsträger ein. möchte auf diese Weise einer brei schichte Südosteuropas an der Universität Für die vorliegende Veranstaltung teren Öffentlichkeit Grundlagen Wien. 2011 wurde er zum wirklichen Mit- „100 Jahre Bundesverfassung: Die für eine informierte, wissenschafts glied der ÖAW gewählt. Seit 2017 ist er Corona krise als Jubiläumsgabe“ basierte Erörterung zur Bundesver Präsident der philosophisch-historischen konnten wir die österreichische Bun fassung und ihrem Stellenwert ge Klasse. desministerin für Justiz, Dr. Alma rade auch während einer Krise wie Zadić, für eine Grußbotschaft zum der COVID-19-Pandemie bereit stel Verfassungsjubiläum gewinnen. Die len – einer Pandemie, die seit mehr sen Beitrag über den besonderen Wert als einem Jahr weltweit tiefgreifende einer krisenfesten Verfassung wol Erschütterungen im politischen wie len wir den Leserinnen und Lesern gesellschaftlichen Zusammenleben ebenso zugänglich machen wie die auslöst und daher einer gut funktio fundierte Einführung zu einer der nierenden Kontrollinstanz wie der ältesten noch geltenden Verfassungen Bundesverfassung dringend bedarf. ÖAW 5
EDITORIAL ÖAW 6
EINLEITUNG EINLEITUNG MAGDALENA PÖSCHL „Behördliche Maßregeln werden ken zwar sehr viele Menschen, doch zum Schutze vor der Ausbreitung die Sterblichkeit bleibt niedrig;4 nur der Grippeepidemie kaum etwas vereinzelt wird davor gewarnt, die beitragen können“ – das verkündet Krankheit auf die leichte Schulter ein Gesundheitsamt im Herbst 1918,1 zu nehmen: Ihr „wahres Gesicht“ als die Spanische Grippe gerade auf habe sie noch nicht gezeigt.5 Die ihren Höhepunkt zusteuert. Diese zweite Welle, die im September 1918 Mitteilung ist paradigmatisch für die beginnt, wütet dann tatsächlich bis Haltung der österreichischen Behör Ende des Jahres6 und erfasst allein in den zu einer Seuche, die in vielem an die Corona-Pandemie erinnert: 1918 in Österreich (1921) 3, 5; Hörzer/Kunze, Angeblich aus China kommend,2 tritt „Kaum ein Haus in dem nicht Kranke lagen.“ die Spanische Grippe in Österreich Die Spanische Grippe in der Steiermark, Wie ner Medizinische Wochenschrift 2012, 148 Magdalena Pöschl ist Professorin für erstmals im Frühsommer 1918 auf (149 f); Salfellner (FN 2) 39, 67 ff, 76. Staats- und Verwaltungsrecht an der und flaut zunächst im August wieder 4 Rosenfeld (FN 3) 5; Salfellner (FN 2) 39, 53, 75. Universität Wien. 2012 wurde sie zum ab.3 In dieser ersten Welle erkran wirklichen Mitglied der Österreichischen 5 So ein Wiener Arzt im Mittagblatt des Neuen Wiener Journals (MNWJ), 14.8.1918, 4. Akademie der Wissenschaften gewählt. 1 Neues Wiener Tagblatt (NWT), 6.10.1918, 12; 6 Am 7. Oktober werden steigende Sterbe Arbeiter-Zeitung (AZ), 6.10.1918, 7. zahlen gemeldet (Reichspost [RP] 7.10.1918, 2 Diese Ursprungshypothese ist aber keines 5), am nächsten Tag die laufende Zunahme wegs erwiesen: Salfellner, Die Spanische der Spanischen Grippe (NWB, 8.10.1918, 4), Grippe2 (2020) 41, 45, 171; laut WHO (Hrsg.), am Folgetag stellt der niederösterreichische Pandemic Influenza Risk Management (2017) Landessanitätsrat fest, dass die Spanische 26, ist der Ursprung unklar. Grippe inzwischen ganz Wien erfasst habe (NWB, 9.10.1918, 4). 10 Tage später melden 3 Neuigkeits-Welt-Blatt (NWB), 22.6.1918, 5; die Krankenkassen eine Verdoppelung der Rosenfeld, Die Grippeepidemie des Jahres Krankmeldungen im Vergleich zum Vor ÖAW 7
EINLEITUNG Wien mindestens ein Zehntel der Be sein:7 Die Krankenhäuser sind völlig wie sie aufgetreten war.12 Übertra völkerung, nach anderen Berechnun überfüllt, die Ärzte heillos überlastet, gen wurde die Spanische Grippe gen soll sogar die Hälfte der öster Medikamente Mangelware, die durch Tröpfcheninfektion oder Aero reichischen Bevölkerung erkrankt Sterbezahlen schnellen hoch, phasen sole,13 und zwar tücki scherweise weise fehlen sogar Särge und Gräber, schon Tage, bevor den Trägerinnen um die vielen Toten zu bestatten.8 Im und Trägern ihre Infektion bewusst Frühjahr 1919 macht Österreich eine war.14 Manchmal verlief die Grippe dritte Welle durch9 und im Frühjahr nahezu asymptomatisch, oft löste sie jahr (NWB, 19.10.1918, 4); das Ministerium 1920 noch eine vierte;10 die Seuche ist Fieber, Husten, Kopf- und Glieder schätzt am selben Tag die Zahl der Kranken in Wien zwischen 60.000 und 100.000 und nun zwar immer noch sehr infektiös, schmerzen aus, bisweilen trat aber meint, der Höhepunkt sei bereits erreicht verläuft aber seltener letal.11 Schließ auch eine Lungenentzündung auf, (NWB, 19.10.1918, 4) – ein Optimismus, der lich verschwindet sie so mysteriös, die vielfach tödlich endete.15 Wer die nach den Daten der Wiener Gesundheits Krankheit überstand, konnte noch behörde nicht angezeigt war: Sie meldet in Wien in der zweiten Septemberwoche wochenlang an Erschöpfung leiden, 7 Zu Wien: MNWJ, 10.10.1918, 3; Böhm (FN 6) 77 Todesfälle wegen Grippe und Lungen manchmal sogar an Depressionen.16 1974 f; zu ganz Österreich: Rosenfeld (FN 3) entzündung, in der dritten Septemberwoche 54. Der markanteste Unterschied zu 121, in der vierten Septemberwoche 227, von COVID-19 ist, dass die Spanische 29.9. bis 5.10. 364 und in der zweiten Okto 8 Salfellner (FN 2) 105 ff; NWB, 19.10.1918, 4; berwoche 814; der Höhepunkt sei noch nicht Die Neue Zeitung, 23.10.1918, 3. Grippe von Beginn an primär junge erreicht (Neue Freie Presse [NFP], 20.10.1918, und kräftige Personen befiel.17 In 9 Salfellner (FN 2) 138 ff; Rosenfeld (FN 3) 55; 8); für die dritte Oktoberwoche werden Österreich erlagen ihr mindestens 1468 Tote angegeben (Böhm, Zur Epidemio für Salzburg Schausberger (FN 6) 50. Über die logie der herrschenden Grippeepidemie, Zählweise der Wellen lässt sich freilich strei Wiener Medizinische Wochenschrift [WMW] ten, weil die zweite und dritte Welle relativ Nr. 45/1918, 1975). In der Provinz nahmen die nah beisammen lagen, sodass man sie auch Infektionen ebenfalls zu (NWB, 19.10.1918, 4; als eine Welle zählen könnte, siehe schon speziell für die Steiermark Hörzer, Die Spani Rosenfeld (FN 3) 55. 12 Salfellner (FN 2) 150 f. sche Grippe in der Steiermark, Diplomarbeit 10 Bereits am 27. Jänner 1920 zeigt sich die Zu 13 Salfellner (FN 2) 171; NFP, 6.10.1918, 11; Pester [2010] 66; für Salzburg Schausberger, Ähnlich nahme der Grippe (AZ, 17.2.1920, 6). Die Lloyd, 4.2.1920, 7. und doch ganz anders. Spanische Grippe vor Genossenschaftskrankenkassen verzeichnen 100 Jahren und Corona heute [2020] 15). Am für Jänner 1185 und von 1. bis 11. Februar 14 AZ, 6.10.1918, 7; NWT, 6.10.1918, 12. 8. November melden die Behörden, dass die 1521 Krankmeldungen (NFP, 17.2.1920, 8). Krankenstände um ein Drittel, die Sterblich 15 Salfellner (FN 2) 21 ff, 172 f. Am 25. Februar 1920 werden die Erkrankten keit um ein Siebentel gesunken sei (NWT, in Wien mit 8000 beziffert, die Todesfälle von 16 Hörzer (FN 6) 74. 8.11.1918, 3). Im Dezember steigen die In 18. bis 24. Februar mit 90 (MNWJ, 25.2.1920, fektionen aber neuerlich an (Prager Tagblatt, 3). 17 Böhm (FN 6) 1975; Ortner, Über die herrschen 5.12.1918, 2), möglicherweise weil nun die de Grippe-Epidemie (nach eigenen Erfah Soldaten von der Front heimkehren: Salfellner 11 AZ, 17.2.1920, 6; NFP, 17.2.1920, 8; MNWJ, rungen), WMW Nr. 45/1918, 1975; Salfellner (FN 2) 138 ff. 25.2.1920, 3; AZ, 5.3.1920, 5. (FN 2) 25, 177. ÖAW 8
EINLEITUNG 20.000 Menschen,18 möglicherweise das Vorkriegsniveau zurückgewor ten, die das Gesetz oder eine Verord sogar doppelt so viele.19 Weltweit fen, nicht zuletzt, weil viele Ärzte nung für „anzeigepflichtig“ erklärt waren es nach Schätzungen der gefallen oder zumindest eingezo hatte – für die Grippe galt das nicht. WHO zwischen 20 und 50 Millio gen waren.21 Die Volkswirtschaft lag Das veranlasste den Reichsrat aber nen,20 jedenfalls deutlich mehr, als im ohnedies darnieder. nicht etwa, den Katalog der anzeige Ersten Weltkrieg umgekommen sind. Angesichts dieser Lage wundert man pflichtigen Krankheiten zu erweitern Der Erste Weltkrieg erklärt auch, sich fast, dass der Kaiser am Pande oder ein eigenes Gesetz für die Spa warum die Spanische Grippe in miebeginn noch ein markantes Zei nische Grippe zu erlassen. Das Par Österreich ganz anders gehandhabt chen setzte. Am 30. Juli 1918 ernannte lament blieb vielmehr bis zur vier wurde als die Corona-Pandemie. er Iwan Horbaczewski zum Minister ten Welle völlig passiv.24 Auch der Allem voran war der Staat damals für Volksgesundheit, übrigens dem Gesundheitsminister hielt es nach kaum mehr handlungsfähig, weil ersten in Europa, und betraute ihn seinem Amtsantritt nicht für erfor er durch eine politische Wendezeit u.a. mit der Bekämpfung übertragba derlich, die Spanische Grippe für wankte: In der ersten Welle war er rer Krankheiten22 – eine Aufgabe, die anzeigepflichtig zu erklären, sondern im Krieg verfangen, in der zweiten nach dem Epidemiegesetz23 bis dahin ging zuerst dem Gerücht nach, mit Welle zerbrach die Monarchie, in der dem Innenminister oblag. Dieses Ge der „neuen“ Krankheit sei die Lun dritten und vierten Welle versuchte setz räumte (nun) dem Gesundheits genpest zurückgekehrt. Ein eigens in der Kleinstaat (Deutsch-)Österreich, minister und den ihm unterstellten die Schweiz entsandter Bakteriologe sich aus den Trümmern der Monar Behörden weitreichende Befugnisse konnte rasch beruhigen: Nicht die chie aufzurichten. Zugleich traf die ein, allerdings nur gegen Krankhei Pest grassiere, sondern eine kathari Spanische Grippe auf eine leidge sche Infektion, mit allerdings ernsten prüfte Bevölkerung: Nach vier Jah Konsequenzen.25 Da die erste Welle ren Krieg war sie entkräftet, verarmt, 21 Salfellner (FN 2) 105, 181. abgehärtet und an den Tod gewöhnt. 22 Wiener Zeitung, 28.11.1917, 1; Gesetz vom Der Krieg hatte zudem die staatliche 27. Juli 1918, womit anläßlich der Errich 24 Erst während der vierten Welle wurde das tung des Ministeriums für Volksgesundheit Epidemiegesetz geringfügig novelliert: Ge Gesundheitsversorgung weit hinter gesetzliche Bestimmungen über den Wir setz vom 17. Februar 1920, betreffend Ände kungskreis einzelner Ministerien abgeändert rung des Gesetzes über die Verhütung und 18 Rosenfeld (FN 3) 11, dessen Zahlen allerdings werden, RGBl 1918/277; Kundmachung des Bekämpfung übertragbarer Krankheiten nur eine grobe und tendenziell zu niedrige Gesamtministeriums vom 8. August 1918, be (Epidemiegesetznovelle), StGBl 1920/83. Schätzung sein dürfte: Hörzer (FN 6) 101. treffend die Errichtung des Ministeriums für Volksgesundheit, RGBl 1918/297; Salfellner 25 Darüber berichtete der Minister später auf 19 Pfoser/Weigl, Die erste Stunde Null. Grün (FN 2) 77. grund einer parlamentarischen Anfrage im dungsjahre der österreichischen Republik Abgeordnetenhaus: StenProtAH 22. Session, 1918-1922 (2017) 90. 23 Gesetz vom 14. April 1913, betreffend die 89. Sitzung am 9. Oktober 1918, 4534; Neues Verhütung und Übertragung übertragbarer Wiener Journal (NWJ), 10.10.1918, 4; siehe 20 WHO (FN 2) 26. Krankheiten, RGBl 1913/67. auch Salfellner (FN 2) 125 f. ÖAW 9
EINLEITUNG bald wieder abflaute, unternahm der zumutbar29 – vielleicht wollte die ziehung von Ärzten und Apothekern Gesundheitsminister vorerst nichts.26 Politik die Infektions- und Sterbezah zu verhindern,35 Autos für ärztliche Als die Spanische Grippe im Sep len gar nicht genau kennen, weil sich Hausbesuche zu organisieren,36 Kran tember 1918 in voller Wucht wieder die Krankheit so besser herunterspie kenbetten aufzustocken37 und Medi kehrte, regte das Wiener Gesund len ließ?30 Die Gesundheitsbehörden kamente zu beschaffen,38 was biswei heitsamt an, der Minister möge mussten die Zahl der Grippetoten nun len zu außenpolitischen Spannungen diese Seuche doch zumindest in jedenfalls bei den Totenbe schauern führte.39 Wien für anzeigepflichtig erklären.27 eruieren; später wurden ihnen immer In das Infektionsgeschehen griffen Das hätte den Behörden zunächst hin die schweren Fälle angezeigt,31 die Behörden hingegen nur punk einen Überblick über die Zahl der im Übrigen tappten sie aber lange im tuell und zaghaft ein: Im Okto- Erkrankten und Verstorbenen ver Dunkeln,32 denn erst in der vierten ber 1918 wurden die Schulen ge schafft und sodann erlaubt, jene Welle wurde die Anzeigepflicht einge schlossen,40 wohl zu spät, wie das Maßnahmen zu setzen, die das Epi führt.33 Bis dahin versuchten der Mi demiegesetz für anzeigepflichtige nister und die lokalen Gesundheitsbe 35 StenProtAH 22. Session, 89. Sitzung am Krankheiten vorsah. Der Minister hörden mehr schlecht als recht,34 die 9. Oktober 1918, 4534 f; NWJ, 10.10.1918, 4; lehnte eine Anzeigepflicht für die Lücken des kollabierenden Gesund NWT, 10.10.1918, 8; NWB, 19.10.1918, 4; siehe auch Hörzer (FN 6) 85 ff. Spanische Grippe jedoch ab, weil heitssystems zu stopfen, also die Ein die Diagnose dieser Krankheit 36 RP 7.10.1918, 5; NWB, 19.10.1918, 4; NFP, 20.10.1918, 8; siehe auch Hörzer (FN 6) 89, 91; noch nicht einheitlich erfolge und 29 NWT, 17.10.1918, 9. Salfellner (FN 2) 106 f. die völlig überlasteten Ärzte auch keine Zeit hätten, jeden einzelnen 30 Das geschah gerade für Wien immer wieder, 37 NWB, 9.10.1918, 4; NWT, 10.10.1918, 8; siehe Hörzer (FN 6) 77, 80, 90. AZ, 12.10.1918, 6; NWB, 19.10.1918, 4; NFP, Krankheits- und Sterbefall behörd 20.10.1918, 8; NFP, 17.2.1920, 8. lich anzuzeigen.28 Diese Einschät 31 Schausberger (FN 6) 15. 38 NWB, 9.10.1918, 4; NWJ, 10.10.1918, 4; NWT, zung wurde nicht allseits geteilt, ein 32 Der Leiter des Wiener Gesundheitsamtes 10.10.1918, 8; siehe auch Hörzer (FN 6) 84 ff. namhafter Arzt hielt etwa die „kleine beklagt dies mehrfach: MNWJ, 10.10.1918, 3; 39 So berichtet der Leiter des Wiener Gesund Arbeit“ der Anzeige für durchaus NFP, 20.10.1918, 8; ebenso der Wiener Bürger meister NWT, 10.10.1918, 8. heitsamtes, dass Deutschland früher mehr Medikamente geliefert habe, aber verstimmt 33 Vollzugsanweisung des Staatsamtes für sozi sei, weil Österreich eingeführte Medikamente ale Verwaltung (Volksgesundheitsamt) vom in der Folge als Exportartikel verwendet habe 26 Salfellner (FN 2) 77. 28. Jänner 1920, betreffend die Anzeigepflicht (MNWJ, 10.10.1918, 3). der Grippe (Influenza), StGBl 1920/36. 27 NFP, 2.10.1918, 8. 40 Anfang Oktober wurden nur betroffene 34 Siehe dazu die parlamentarische Anfrage des Klassen geschlossen (NFP, 2.10.1918, 8), 28 StenProtAH 22. Session, 89. Sitzung am Abgeordneten Reizes an den Gesundheits wenig später aber alle Schulen in Nieder 9. Oktober 1918, 4535; NFP, 18.10.1918, 8; minister: StenProtAH 22. Session, 88. Sitzung österreich bis 20. Oktober (RP 7.10.1918, 5; NWB, 19.10.1918, 4. am 8. Oktober 1918, 4445; NWT, 9.10.1918, 11. NWT, 10.10.1918, 8; NWJ, 10.10.1918, 4). In ÖAW 10
EINLEITUNG Wiener Gesundheitsamt meinte,41 die Infektionszahlen nicht senken, Veranstaltungslokale.50 Diese „allge denn die Spanische Grippe befiel solange es Menschenansammlungen meine Vergnügungssperre“ k ritisierte auch Kinder,42 die an dieser Krank im alltäglichen Verkehr – in der die Presse beißend mit Grillparzer: heit nicht selten starben.43 Gegen Straßenbahn, Eisenbahn oder beim „Auf halben Wegen und zu halber die Schließung von Kindergärten Einkauf von Lebensmitteln – gibt; ihn Tat, mit halben Mitteln zauderhaft zu und Horten gab es Bedenken, weil auszuschalten, sei aber undenkbar.45 streben. […] Ärzte und Bakteriolo man davon zu große soziale Pro Am selben Tag betonte Oberbezirks gen […] scheinen der übrigens auch bleme erwartete; insoweit wurde nur arzt Hasterlik, dass Kinos und Thea dem Laien einleuchtenden Ansicht empfohlen, fiebernde und hustende ter, anders als Schulen, von Erwach zu sein, daß die Grippebazillen, die Kinder nach Hause zu schicken.44 senen freiwillig besucht werden, die sich noch immer eines beneidens Zögerlich verfuhren die Behörden das gesundheitliche Risiko folglich werten Inkognitos erfreuen, ihre auch mit Theatern und Kinos. Am selbst zu erwägen hätten.46 Der Masken redoute nicht ausschließlich 9. Oktober lehnte der Minister ihre niederösterreichische Landessanitäts im Theater und im Kino veranstalten, Schließung noch strikt ab: Sie könne rat schlug hingegen vor, Kinos und daß ihnen die überfüllte Straßenbahn, Theater zu sperren, zweifelte aber an ja sogar irgendein schlichtes Lokal, in der Folge wurden die Schließungen in Wien der rechtlichen Umsetzbarkeit e iner dem die Leute sich dicht aneinander bis 5. November verlängert, im übrigen Nie solchen Maßnahme.47 Sechs Tage derösterreich den Schulleitungen überlassen später untersagten die Behörden be 50 NWT, 20.10.1918, 9; NFP, 20.10.1918, 8. Von (NWB, 19.10.1918, 4). Schulschließungen gab reits Jugendvorstellungen in Kinos.48 Beratungen, diese Vergnügungsstätten zu es ebenso und zum Teil schon früher in der Provinz, siehe z. B. für Salzburg Schausberger Nach eindringlichen Warnungen schließen, wird bereits am 6. Oktober berich tet (AZ, 6.10.1918, 7). Am 21.10.1918 wurden (FN 6) 40; für die Steiermark NWJ, 10.10.1918, von ärztlicher Seite49 wurden kurz auch die Vorstellungen der beiden Hoftheater 4; Grazer Tagblatt 26.10.1918; Hörzer (FN 6) später alle Veranstaltungslokale in eingestellt (NWT, 21.10.1918, 3); kurz darauf 94 ff; für Tirol NWB, 19.10.1918, 4; für Vor Wien geschlossen – aber nur für zudem Musikveranstaltungen in Gastloka arlberg Neues Wiener Abendblatt (NWA), 3.10.1918, 5. wenige Tage und Theater und Kon len und Pferderennen (NFP, 26.10.1918, 8). Anfang November wurde die Kultur wieder zertsäle wegen des Kartenvorver 41 NWJ, 10.10.1918, 3; gefordert wurden soforti geöffnet (NFP, 31.10.1918, 10; NFP, 1.10.1918, ge Schulschließungen schon Anfang Oktober: kaufs einen Tag später als die anderen 12). In Graz wurden die Kinos schon am NWA, 2.10.1918, 3; NWT, 4.10.1918, 11. 10. Oktober geschlossen (NWJ, 10.10.1918, 4), was die Kinobetreiber als Zurücksetzung 42 Salfellner (FN 2) 25, 177. 45 StenProtAH 22. Session, 89. Sitzung am gegenüber den Theatern kritisierten, wäh 9. Oktober 1918, 4535; NWJ, 10.10.1918, 4. 43 Siehe etwa NWB, 19.10.1918, 4; Rosenfeld rend sich ein Kapfenberger Unternehmer da (FN 3) 39; dabei war die Mortalität bei älteren 46 NWT, 9.10.1918, 10. rüber beschwerte, dass viele seiner Arbeiter Kindern höher: Knöpfelmacher, Beobachtun erkrankt seien, weil die K inos dort noch nicht 47 NWB, 9.10.1918, 4. geschlossen seien; später wurden in Kinos gen über die Influenzapandemie an Kindern, WMW Nr. 45/1918, 1979. 48 NWT, 15.10.1918, 9. und Theatern die Vorstellungen reduziert und Kindervorstellungen untersagt: Hörzer 44 AZ, 12.10.1918, 6. 49 NWT, 17.10.1918, 9. (FN 6) 96 ff. ÖAW 11
EINLEITUNG gepreßt um ein Lebensmittel drän- Auch Freizügigkeitsbeschränkungen dieser Lage wohl gar nicht mehr er gen, ebenso lieb und sympathisch verhängten die Behörden praktisch forderlich. Die Isolierung erkrankter ist. Auch wird der Zweifel laut, ob nicht: Die Staatsgrenzen wurden im Menschen wäre hingegen dringend diese Sperrungsidee am Ende nicht Krieg naturgemäß überschritten, und notwendig gewesen; die Behörden einen jener ausgezeichneten Einfälle nach dem Krieg wurden sie schon hielten sie aber für aussichtslos, weil bedeutet, um den unser altes Öster deshalb nicht gesperrt, weil die es bereits zu viele Infizierte gab, die reich […] regelmäßig zu spät kam. österreichischen Soldaten von der zudem schon ansteckend waren, be […] Genau genommen, bedeutet die Front zurückkehrten – oft genug be vor sie um ihre Infektion wussten.59 statthalterische Fürsorgeaktion kaum gleitet von der Spanischen Grippe.55 So riefen die Behörden Erkrankte nur etwas anderes als eine Zeiserlwagen Innerstaatliche Reisen waren faktisch auf, sich aus dem Verkehr zu ziehen, fahrt in den Vormärz“.51 erschwert: Viele Zugverbindungen und Gesunden war geraten, sich von Weiteren Anlass für derartige Kritik fielen aus, weil das Bahnpersonal Kranken fern zu halten.60 Auch sonst lieferten die Behörden nicht, weil sie erkrankt war;56 verkehrte die Eisen beschränkten sich die Behörden 1918 praktisch nichts mehr unternahmen. bahn doch, wurde sie oft nicht be auf unverbindliche „Maßregeln“ Zwar mussten viele Betriebe faktisch heizt,57 sodass das Reisen „zur An- zum Selbstschutz, die recht vertraut schließen, nachdem die Spanische gelegenheit der wirklichsten Not klingen, so etwa: Man achte auf Grippe ihre Belegschaft lahmge wendigkeit“ wurde: „jeder sehe dazu, Hygiene,61 meide Menschenansamm legt hatte.52 Behördlich wurde der wie er das Reisen vermeiden kann“.58 lungen, insbesondere in geschlosse Handel aber nicht untersagt, weil Behördliche Reiseverbote waren in nen Räumen,62 lüfte das Büro,63 halte man die sozialen und wirtschaft lichen Risiken solcher Schließungen für bedeutend höher hielt als ihren der Grippe, Landes-Gesetz- und Verordnungs 59 NFP, 2.10.1918, 8; AZ, 6.10.1918, 7; MNWJ, blatt für das Erzherzogtum Österreich unter 25.2.1920, 2; AZ, 5.3.1920, 5. Nutzen. Gleiches galt für die Gastro der Enns LIII. 1918/219; NFP, 20.10.1918, 8. nomie,53 die nur verpflichtet wurde, 60 AZ, 6.10.1918, 7; NWT, 6.10.1918, 12; RP 55 Z. B. NWT, 8.11.1918, 3. Eine lokale Sperre 7.10.1918, 5; NWB, 8.10.1918, 4; MNWJ, ihre Lokale regelmäßig zu lüften.54 zwischen Vorarlberg und der (von der Grippe 10.10.1918, 3, Gebot 9; AZ, 12.10.1918, 6. stark betroffenen) Schweiz wurde aus wirt schaftlichen Gründen rasch wieder aufge 61 MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 1 (gurgeln am 51 NFP, 20.10.1918, 7. hoben: Vorarlberger Volksblatt, 15.9.1918, 3. Morgen), Gebot 4 (mittags Hände waschen, Mund ausspülen, kein fremdes Geschirr 52 Salfellner (FN 2) 101. 56 MNWJ, 10.10.1918, 3; NWJ, 10.10.1918, 4; Wie und Besteck verwenden), Gebot 10 (vor dem ner Allgemeine Zeitung (WAZ), 11.10.1918, 3. Schlafengehen waschen, Mund ausspülen, 53 NWJ, 10.10.1918, 4. gurgeln); NWB, 19.10.1918, 4. 57 WAZ, 11.10.1918, 3. 54 Verordnung des k.k. Statthalters im Erzher 62 NFP, 2.10.1918, 8; MNWJ, 10.10.1918, 3, Ge zogtume Österreich unter der Enns vom 58 WAZ, 11.10.1918, 3; siehe schon zuvor NWT, bot 6 und 8; NWB, 19.10.1918, 4. 19. Oktober 1918, Z Ia-1454, betreffend Maß 1.10.1918, 9, wo vom Reisen dringend abgera nahmen zur Eindämmung der Verbrei tung ten wird. 63 NFP, 2.10.1918, 8; MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 3. ÖAW 12
EINLEITUNG in der Straßenbahn ein Taschentuch fach dementierten.68 Noch in der auch an der Armut der Menschen:73 vor den Mund,64 lasse sich nicht an vierten Welle wiesen die Behörden Das Abstandsgebot war etwa für vie husten, schließe den Mund und (auch zudem die kolportierten Zahlen der le nicht durchzuhalten, weil sie, um ein allgemeiner Rat) man wende Grippekranken als völlig übertrieben zuhause Kohle zu sparen, Gastlokale sich von Menschen ab, die erregt zurück.69 Neben Sorge gab es aber aufsuchten; da auch die Gaststuben schreien.65 Empfohlen wurde 1918 auch große Sorglosigkeit: Selbst in nur spärlich beheizt waren, saßen aber auch, was im Frühjahr 2020 nur der zweiten Welle wird beklagt, dass die Menschen dort dicht gedrängt widerwillig zugestanden wurde: Man die Menschen die Maßregeln zum und bei schlechter Belüftung zu bewege sich genug an der frischen Selbstschutz überhaupt nicht beach sammen.74 Ähnlich wirkten sich die Luft und tanke Sonne.66 ten;70 sogar der Oberstadtphysicus Schulschließungen auf Kinder armer Die Menschen reagierten auf diese von Wien ging trotz Grippe ins Büro, Leute aus: Sie hielten es in den kalten Maßregeln und die Pandemie sehr um „seinen vermehrten Dienstpflich Wohnungen nicht aus und suchten unterschiedlich: Zunächst kursier ten nachzukommen“, wie die Presse Zuflucht in Wärmestuben und sozia ten die wildesten Spekulationen ehrfürchtig berichtet.71 In der vier len Einrichtungen, wo ihre Gesund über die Herkunft der Seuche;67 zum ten Welle ist in Zeitungen gar von heit erst recht gefährdet war.75 Teil herrschte auch große Angst, die Faschingsfesten zu lesen, bei denen Der Umgang mit der Spanischen selbst durch Fakten nicht zu nehmen alle Hygieneregeln in den Wind ge Grippe zeigt teils vertraute Pro war. So hielt sich das Gerücht von schlagen werden, und von „Tanzepi bleme der Pandemiebekämpfung: der Lungenpest hartnäckig, obwohl demien“, die die Infektionszahlen eine Politik, die Maßnahmen zuerst Behörden und Experten es mehr hochtreiben.72 Zum Teil scheiterte ablehnt, um sie wenig später doch die Befolgung der Maßregeln aber zu setzen; eine Öffentlichkeit, die Maßnahmen im selben Atemzug als 64 Gesichtsmasken haben sich in Österreich hin Bevormundung und als zu spät ge gegen nicht durchgesetzt, obwohl die Zeitun 68 AZ, 6.10.1918, 7; NWT, 6.10.1918, 12 f; gen immer wieder berichteten, dass solche NWB, 8.10.1918, 4; AZ, 12.10.1918, 6; NWB, Masken in anderen Ländern mit Erfolg ein 19.10.1918, 4; Hörzer (FN 6) 68 ff; Salfellner gesetzt wurden, etwa in Skandinavien (Frem 73 Ironisch verarbeitet im Grazer Tagblatt, (FN 2) 126 f. 16.10.1918, 7, das einen Herrn einer Dame den-Blatt, 13.8.1918, 7) oder in der Schweiz (WAZ, 28.9.1918, 7); anders in den USA, wo 69 AZ, 17.2.1920, 6; AZ, 5.3.1920, 5. lauter gute Ratschläge gegen die Grippe ge Schutzmasken im öffentlichen Raum ver ben und sie am Ende sagen lässt: „‘Danke pflichtend zu tragen waren: Salfellner (FN 2) 70 MNWJ, 10.10.1918, 3. Ihnen schönstens‘ gab ich zur Antwort und 33. rechnete dabei aus, dass der gewiegteste De 71 NWT, 9.10.1918, 10. Drei Tage zuvor hatte tektiv eigentlich billiger kommt als solch ein 65 MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 2. dasselbe Blatt noch amtliche Maßregeln u nter Selbstschutz.“ der Überschrift „Selbstschutz – Zu Hause 66 MNWJ, 10.10.1918, 3, Gebot 5. bleiben!“ publiziert (NWT, 6.10.1918, 12). 74 MNWJ, 25.2.1920, 2. 67 Näher Hörzer (FN 6) 66 ff. 72 MNWJ, 25.2.1920, 3. 75 Salfellner (FN 2) 103. ÖAW 13
EINLEITUNG setzt kritisiert; Maßnahmen, die in So schob man die Seuche auch bei – dass hier eine Pandemie umging, sich nicht konsistent sind; wilde Seu seite, als im Herbst 1918 die Monar möchte man kaum glauben. chengerüchte, gegen die Fakten nicht chie zerbrach: Am 21. Oktober, also Sichtlich hatten die Menschen noch ankommen; eine Bevölkerung, die mitten in der zweiten Welle, tra- größere Sorgen: Nicht nur gezeichnet zwischen Angst und Sorglosigkeit ten die Reichstagsabgeordneten der von der Krankheit, sondern vor allem schwankt, und schließlich die be deutschen Gebiete der Monarchie vom verlorenen Krieg, von unzähli sondere Härte, mit der die Pandemie zusammen und konstituierten sich gen Toten und Versehrten, von Hun Arme trifft. Zugleich zeigen sich aber als „provisorische Nationalversamm ger und Armut, gründeten sie einen auch markante Unterschiede: Wäh lung des selbständigen deutsch Staat, den kaum jemand für überle rend man heute versucht, das Infek österreichischen Staates“. Als dann bensfähig hielt. Die Hoffnung vieler, tionsgeschehen mit verschiedensten am 12. November 1918 die Erste sich an Deutschland anschließen zu Zwangsmaßnahmen zu steuern, hielt Republik ausgerufen wurde, ström können, sollte sich bald zerschlagen. sich der Staat bei der Spanischen ten über hunderttausend Menschen So blieb nichts anderes, als Österreich Grippe mit Verboten zurück, nicht zu zum Parlamentsgebäude, um diesen aus den Trümmern der Monarchie letzt, weil ihm die Mittel fehlten, um historischen Moment mitzuerleben. zu errichten, und zwar durchaus im harte Maßnahmen abzufedern, aber Beide Ereignisse sind durch Bilder wörtlichen Sinn: Man übernahm aus auch um sie durchzusetzen. So trat er eindrucksvoll dokumentiert:76 Auf der Monarchie, was man brauchen nicht primär befehlend und strafend dem einen sieht man im Sitzungs konnte und was sich bewährt hatte – auf, sondern empfehlend, warnend zimmer des damaligen Niederöster die mustergültigen Grundrechte und und bisweilen auch beschwichti reichischen Landhauses 208 Reichs den fortschrittlichen Rechtsstaat, der gend. Entsprechend unterschiedlich tagsabgeordnete, allesamt in dunklem durch die Verfassungsgerichtsbarkeit reagierten auch die Medien: Infor Anzug und mit ernster Miene, dicht noch perfektioniert wurde. Zugleich mieren sie heute pausenlos und pri nebeneinander sitzen und hinter war aber auch klar, dass das kleine oritär über Corona, so berichteten sie ihnen eine prall gefüllte Zuschauer Österreich nach dem Versagen der über die Spanische Grippe eher bei galerie; das zweite Bild zeigt die Monarchie nur eine Republik sein läufig und nie am Titelblatt. Denn die Ringstraße vor dem Parlamentsge konnte. Feststand ebenso, dass Öster Seuche war damals – neuerlich an bäude, berstend voll mit Menschen reich eine Demokratie werden müs ders als heute – nicht das zentrale Er se, denn – wie Staatskanzler Renner eignis, das die Welt in Atem hielt. Sie am 12. November 1918 unter stürmi war ein Übel von vielen und jeden schem Beifall formulierte – „unser falls in Österreich überschattet von 76 Zu sehen z. B. unter https://news.orf.at/ Volk kann nur wiederhergestellt und der politischen Wende, durch die das vstories/dieunterschaetzterepublik. Zur Iko unsere Volkswirtschaft aufgebaut nographie der Gründung der Ersten Republik Land taumelte. Uhl, die Republik, die nicht an einem Tag ent werden, wenn alle Kräfte in freier stand, Die Presse, 10.11.2018. Zusammenarbeit zusammengefasst ÖAW 14
EINLEITUNG werden. Die Bedingung dafür ist ganz anders konstituierten Staat, die volle Demokratie.“77 Da die zer aber auch auf eine völlig anders ver fallende Monarchie wesentlich von fasste Bevölkerung: Sie ist nicht von den Ländern getragen war, sollte einem verlorenen Krieg leidgeprüft, Österreich zudem ein Bundesstaat sondern lebt nach langen Jahren des werden, den man „in das schon Be Friedens im Wohlstand, erwartet stehende und Bewährte gleichsam vom Staat Schutz und besteht zu einzubauen“78 versuchte. Aus die gleich auf ihrer Freiheit. Zweifellos sen Elementen erarbeitete man zwi stellt die Corona-Pandemie unsere schen Mai 1919 und September 1920, Verfassung vor eine weitere Bewäh also nach der dritten und über die rungsprobe. Das bildete den Anlass, vierte Welle der Spanischen Grippe mit Vertreterinnen und Vertretern hinweg, eine neue Konstitution. Am der Staatsrechtslehre und der Rechts 1. Oktober 1920 wurde schließlich das philosophie rechtsvergleichend zu Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) be diskutieren: Vor welche Herausfor schlossen. 1925 und 1929 novelliert, derungen stellt die Corona-Pande 1934 außer Kraft gesetzt, seit 1945 mie den demokratischen Rechts wieder in Geltung, ist das B-VG heute staat, aber auch den Bundesstaat in – wider alle Erwartungen – die älteste Deutschland, Österreich und in der republikanische Verfassung Europas. Schweiz? Wie geht die Politik in den Die Spanische Grippe hat im B-VG drei Staaten mit diesen Problemen 1920 erstaunlicherweise keinerlei um? Und (wie) bewähren sich unsere Spuren hinterlassen, so wie sie an Verfassungen in dieser Krise? scheinend auch aus dem kollektiven Gedächtnis rasch verschwand. Doch just im 100. Jubiläumsjahr des B-VG sucht die Welt neuerlich eine Seuche heim. Sie trifft in Österreich auf einen 77 StenProtProvNV, 3. Sitzung am 12.11.1918, 65. 78 So der Architekt des B-VG, Kelsen, Österrei chisches Staatsrecht. Ein Grundriß entwick lungsgeschichtlich dargestellt (1923) 161. ÖAW 15
EINLEITUNG ÖAW 16
BEGRÜSSUNG BEGRÜSSUNG OLIVER JENS SCHMITT Herzlich willkommen zu einer ist das Verständnis für die Umstände, Ich möchte nun die Teilnehmerinnen Podiums diskussion der besonderen unter denen eine Verfassung entsteht, und Teilnehmer der heutigen Veran Art unter besonderen Bedingungen! für die Prinzipien und Grundmecha staltung in alphabetischer Reihen Unser heutiges Thema „100 Jahre nismen, denen sie folgt. folge vorstellen. Bundesverfassung: Die Coronakrise Die Österreichische Akademie der Elisabeth Holzleithner, Universitäts als Jubiläumsgabe“ erinnert an die Wissenschaften, die diese Veran professorin für Rechtsphilosophie Zeit um den 1. Oktober 1920, als in staltung durchführt, ist der größte und Legal Gender Studies in Wien, der tiefen politischen Krise nach dem außeruniversitäre Forschungsträger ist seit 2013 Disziplinaranwältin Zusammenbruch der österreichisch- in Österreich. Sie ist gegliedert in drei im Bundesministerium für Wissen ungarischen Monarchie und der gras Teile und betreibt 25 Forschungs schaft und Forschung und seit 2014 sierenden Pandemie der Spanischen institute. Verpflichtet einer von Vorständin des Instituts für Rechts Grippe das Bundes-Verfassungsge Neugier getriebenen Grundlagen philosophie, Religions- und Kultur setz verabschiedet wurde. Das hun forschung, widmet sie sich einem recht. Sie ist auch Vize-Studienpro dertjährige Jubiläum feiern wir mit weiten wissenschaftlichen Spektrum grammleiterin und stellvertretende einer Diskussion führender Vertre von den Naturwissenschaften zu den Doktoratsstudien-Programmleiterin terinnen und Vertreter der Rechts Geistes-, Sozial- und Kulturwissen der Rechtswissenschaftlichen Fakul wissenschaften. Das Thema ist von schaften. Ihre Gelehrtengesellschaft tät in Wien. besonderer Bedeutung. Auch heute umfasst rund 760 Mitglieder aus Clemens Jabloner bekleidete nach dem ist die Verfassung einem Stresstest aller Welt. Einige von ihnen werden Studium der Rechtswissenschaften an ausgesetzt. Die Gesellschaft, aber an der heutigen Debatte teilnehmen. der Universität Wien wichtige Funk auch die Institutionen des Staates lei Als wesentliche Forschungsförderin tionen in der Republik. Zwischen 1993 den unter der Belastung durch eine bietet sie wichtige Unterstützungen und 2013 war er Präsident des Ver Pandemie, aber auch an dem jüngst für junge Wissenschaftlerinnen und waltungsgerichtshofes und von 1998 in Wien erfolgten Terroranschlag. In Wissenschaftler an, insbesondere auf bis 2003 Vorsitzender der Historiker dieser Situation ist ein starker Verfas der Stufe von Doktorat und Post kommission der Republik Österreich. sungsstaat wichtig. Ebenso wichtig doktorat. Als Mitglied des Österreich-Konvents ÖAW 17
BEGRÜSSUNG 2003 bis 2005 erarbeitete er Vorschläge Öffentlichen Rechts und ist auch als für eine grundlegende Staats- und Gutachter tätig. Er führt Prozesse vor Verfassungsreform. Bis 2019 hatte er dem Bundesgericht, dem Bundesver die Hans Kelsen-Professur am Institut waltungsgericht und den kantonalen für Rechtsphilosophie der Universität Verwaltungsgerichten. Wien inne. 2018 diente er im Kabinett Durch den heutigen Abend führen von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein wird Sie Magdalena Pöschl, wirk als Bundesminister für Verfassung, liches Mitglied unserer Akademie Reformen, Deregulierung und Justiz und seit 2012 Professorin am Insti und als Vizekanzler der Republik tut für Staats- und Verwaltungsrecht Österreich. Clemens Jabloner ist seit in Wien. Nach Studien in Innsbruck 2009 Ehrenmitglied der philoso und Wien habilitierte sie 2004 in phisch-historischen Klasse der ÖAW. Innsbruck. Danach war sie Professo Gertrude Lübbe-Wolff studierte rin für Öffentliches Recht in Salzburg Rechtswissenschaften in Bielefeld und Graz, Mitglied der Bioethik und Freiburg sowie an der Harvard kommission und Ersatzmitglied des Law School und habilitierte im Be Bundeskommunikationssenates. reich Öffentliches Recht, Rechtsphi Schließlich ist es mir eine besondere losophie und Verfassungsgeschichte Freude, die amtierende Bundes der Neuzeit. Mehrere Jahre diente sie ministerin für Justiz, Dr. Alma Zadić, als Stadtverwaltungsdirektorin und willkommen zu heißen, die sich in Leiterin des Umweltamtes der Stadt einer Videobotschaft mit Grußwor Bielefeld. Seit 1992 hat sie den Lehr ten an uns wenden wird. stuhl für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld inne. Von 2002 bis 2014 war sie Richterin des Bun desverfassungsgerichtes. Felix Uhlmann ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Rechtsetzungslehre an der Universi tät Zürich. In dieser Funktion berät er das Gemeinwesen – Bund, Kantone und Gemeinden – in der Schweiz, aber auch Private in Fragen des ÖAW 18
BEGRÜSSUNG ALMA ZADIĆ Das vergangene Jahr markierte das werden. Gleichzeitig zeigte sich an 100-jährige Jubiläum des Österreichi der Rechtsprechung des Verfassungs schen Bundes-Verfassungsgesetzes. gerichtshofes deutlich, wie effektiv Damit können wir auf lange Erfah die Kontrollmechanismen in unse rung mit einer der ältesten noch in rer Verfassung funktionieren. Auch Geltung stehenden Verfassungen in die rechtsstaatlichen Anforderungen Europa zurückblicken. Die Heraus an die obersten Organe des Bundes forderungen der letzten Jahre zeig wurden keineswegs geschmälert. ten, wie es unser Bundespräsident Einer der wesentlichen Aufgaben des so schön formuliert hat, die Eleganz Rechtsstaates, der nachgeordneten unserer Verfassung. Die COVID-Pan Prüfung des Gesetzes und des Ver demie versetzte ganz Österreich in ordnungsgebers durch ein unabhän eine Ausnahmesituation. Wir Politi giges Höchstgericht, kam der Verfas kerinnen und Politiker waren gefor sungsgerichtshof äußerst rasch nach. dert, rasch Lösungen unter Wahrung Es zeigte sich: Unsere Verfassung, der demokratischen und rechtsstaat unsere Demokratie und unser lichen Grundsätze zu finden. Zum Rechtsstaat funktionieren auch in Schutz der Gesundheit und des Le der Krise. Damit dieses Attest auch Dr. Alma Zadić, LL.M ist Bundesminis- bens aller musste nicht nur in unsere für die nächsten hundert Jahre gel terin für Justiz der Republik Österreich. täglichen Gewohnheiten eingegrif ten kann, müssen wir uns jeden Tag Zuvor war sie als Abgeordnete zum öster- fen werden, sondern auch in unsere aufs Neue für den Rechtsstaat und reichischen Nationalrat sowie als Rechts- Rechte. Dabei war es von größter unsere offene und demokratische Ge anwältin in Wien tätig. Sie absolvierte das Wichtigkeit, auch in dieser heraus sellschaft einsetzen. Im Zentrum des Doktoratsstudium der Rechtswissenschaf- fordernden Situation unsere verfas Rechtsstaates stehen die Grund- und ten an der Universität Wien sowie ein sungsrechtlich garantierten Grund- Freiheitsrechte. Ich wünsche eine Postgraduales Studium (LL.M.) an der und Freiheitsrechte und das Prinzip inspirierende Lektüre des vorliegen Columbia University in New York, USA. der Verhältnismäßigkeit zu wahren den Bandes. Möge uns die Österrei und zu achten. Darüber hinaus konn chische Bundesverfassung auch die ten unter Einhaltung der demokrati nächsten hundert Jahre so wichtige schen Grundsätze innerhalb kürzes und zuverlässige Dienste leisten. ter Zeit neue Gesetze beschlossen ÖAW 19
BEGRÜSSUNG ÖAW 20
PODIUMSDISKUSSION PODIUMS DISKUSSION MAGDALENA PÖSCHL s ogenannten Spanischen Grippe. ebene erfolgt; erörterungsbedürftig Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) ist ebenso, wie diese beiden Ebenen Als wir diese Veranstaltung konzi wurde 1920 am 1. Oktober beschlos miteinander kooperieren. Massiv piert haben, dachten wir, dass wir sen, an dem regelmäßig Feiern zur betroffen sind durch die Coronakri den 100. Geburtstag unserer Verfas Verfassung abgehalten werden. We se die Grundrechte, die gravierend sung in Ruhe und Würde begehen, niger bekannt, aber ebenso wichtig beschränkt werden, und zwar durch die lange Zeit ihrer Geltung Revue ist, dass das B-VG am 10. November, Regelungen, die meist nur kurzfristig passieren lassen, Lob aussprechen also heute vor 100 Jahren in Kraft ge gelten. Das wirft wiederum Rechts und über Verbesserungsmöglichkei treten ist. Das wollen wir zum Anlass schutzprobleme auf: Wie sollen die ten diskutieren werden können. Doch nehmen, um gemeinsam mit einer Gerichte diese sich permanent än 2020 ist zu einem Jahr der Heim Verfassungsjuristin aus Deutsch dernde Flut an Regelungen effektiv suchungen geworden. Österreich land, einem Verfassungsjuristen aus kontrollieren? Gerade am Boden der befindet sich im zweiten Lockdown, der Schweiz und zwei Angehörigen Akademie der Wissenschaften stellt der – zumindest derzeit – noch sanf der Wiener Rechtswissenschaftlichen sich weiters die Frage, wie der Staat ter ist als im Frühjahr, erneut ist aber Fakul tät zu diskutieren, wie sich das Expertenwissen generiert, das er der Ausgang beschränkt, nun aller unsere Verfassungen in der Krise be zur Krisenbewältigung benötigt. Dis dings nur in der Nacht. Das macht währen. kutabel ist schließlich, wie der Staat besonders Wien zu einer stillen Stadt, Herausforderungen gibt es wahrlich seine Entscheidungen den Bürgerin aus vielen Gründen, die schon ange genug – zunächst für die Demokratie, nen und Bürgern kommuniziert. sprochen wurden. In der Tat ist es ein denn in Krisen wechselt die Macht Über diese Themen wollen wir in seltsamer Zufall, dass das Jubiläum typischerweise, und so auch hier, von den nächsten 90 Minuten sprechen – unserer Verfassung mit einer Pan der Legislative auf die Exeku tive. das ist kein ganz kleines Programm, demie zusammentrifft. Denn unsere Sodann ist der Bundesstaat gefor deshalb komme ich gleich zur Verfassung ist 1920 auch vor dem dert, weil keineswegs auf der Hand Sache. Felix Uhlmann sagt in seinem Hintergrund einer gerade überstan liegt, ob die Krisenbekämpfung bes Statement auf unserem Programm: denen Pandemie entstanden, der ser auf Bundes- oder auf Landes „Krisen sind Zeiten der Exekutive.“ ÖAW 21
PODIUMSDISKUSSION Tatsächlich wechselte die Macht in die Voraussetzungen für eine außer allen drei Staaten von der Legislative ordentliche Lage gegeben sind, und auf die Exekutive, am markantesten trifft dann entsprechende Maßnah war dies in der Schweiz: Das Schwei men. Kritische Stimmen wurden laut. zer Parlament beendete im Frühjahr Die Reichweite der Kompetenzen sogar von sich aus seine Session vor aus der Bundesverfassung ist nicht zeitig. Das veranlasste den Schwei unumstritten. Die Sofortmaßnahmen zer Bundesrat, also die Schweizer im Bereich der Gesundheitsvorsorge Regierung auf Bundesebene, gestützt blieben unangefochten, anders war auf die Verfassung, das Notverord es bei Maßnahmen im Bereich der nungsrecht für sich in Anspruch zu sozialen und wirtschaftlichen H ilfe. nehmen. In der Folge wurde das Par Dort sind die Voraussetzungen der lament zwar wieder aktiv und erließ Bundesverfassung weniger klar. das COVID-19-Gesetz; dieses Gesetz Die Möglichkeiten innerhalb der übertrug aber dem Bundesrat neuer geltenden Regelungen wurden von lich weitreichende Regelungsbefug der Exekutive wohl ausgereizt. Dies nisse. Und all das in der demokratie wurde begünstigt durch die Selbst liebenden Schweiz! Felix Uhlmann, auflösung des Parlamentes, welches wie haben die Eidgenossen das auf sich früh aus dem Spiel nahm. Von genommen? Und wie beurteilen Sie der Staatsrechtslehre wurde dies zu als Staatsrechtslehrer diese Situation Recht kritisiert. Sehr kurzfristige Felix Uhlmann ist Professor für Staats- demokratiepolitisch? Maßnahmen können zwar am besten und Verwaltungsrecht sowie Recht von der Exekutive durchgesetzt wer setzungslehre an der Universität Zürich den. Für die mittelfristige Krisenbe und Advokat. FELIX UHLMANN wältigung hat das Parlament jedoch eine sehr wichtige Aufgabe. In der Es trifft zu, dass in der Schweiz die ersten Phase kam die Schweiz recht Exekutive wesentliche Befugnisse an gut durch die Krise. Auch deshalb sich zog, wie in der Verfassung vor blieben die kritischen Stimmen eher gesehen. Es werden dafür weder ein ruhig. Die zweite Phase war etwas Ermächtigungsbeschluss noch eine problematischer. rasch folgende Genehmigung durch die Legislative benötigt. Der Bun desrat, die Exekutive, entscheidet, ob ÖAW 22
PODIUMSDISKUSSION MAGDALENA PÖSCHL nach der Legitimation. Unsere De mokratie lebt vom pluralistischen Die Akzeptanz in der Bevölkerung Diskurs, von der harten Auseinan korreliert also offenbar mit der Dra dersetzung, vom Ringen um das matik der Situation und dem Erfolg bessere Argument und die darauf der Maßnahmen. Wechselt die Macht im Idealfall beruhenden besseren auf die Exekutive, gehen freilich im Maßnahmen. Die Einbeziehung von Entscheidungsprozess typisch de Gegenpositionen eröffnet die Mög mokratische Qualitäten verloren: lichkeit, dass dann auch wirklich das institutionalisierte Gegenargu das bessere Argument sich durch ment in Gestalt der Opposition, die setzt, obwohl ja in der Legisla tive Öffentlichkeit der Debatte, und die dann letztlich abgestimmt wird und Perspektivenvielfalt, die sich daraus es keine letztgültigen Kriterien gibt, ergibt. Elisabeth Holzleithner, ist das um das bessere Argument daran zu eigentlich ein Schaden? Gelegentlich messen. Aber jedenfalls geht dem ein wird gesagt, der Widerstand gegen offener Diskussionsprozess voraus, die Corona-Maßnahmen sei auch und das hat auch legitimatorische deshalb so irrational und zum Teil so Kraft. Deswegen ist in solch einer aggressiv geworden, weil Gegenmei Krisensituation die Einbindung der nungen in den letzten Monaten zu Legislative so wichtig, zumindest wenig öffentlichen Raum bekommen mittelfristig. Elisabeth Holzleithner ist Professorin für haben. Stimmt das, und wie lange Aber besonders spannend finde ich Rechtsphilosophie und Legal Gender Stu- hält eine Demokratie die Machtver in dem Zusammenhang die faktische dies an der Universität Wien. schiebung auf die Exekutive aus? Dimension. Wie lange eine Demokra tie das aushält, hängt nicht primär davon ab, ob die Maßnahmen von ELISABETH HOLZLEITHNER der Legislative oder von der Exeku tive getroffen worden sind. Sondern Das ist eine sehr herausfordernde es kommt darauf an, wie einschnei Frage. Ich würde ganz gerne ein dend sie sind und welche Opfer sie wenig ausholen und zwischen der denen abverlangen, die ja sehr unter normativen und der faktischen schiedlich davon betroffen sind. Es Dimension unterscheiden. Die nor hängt auch davon ab, wie empfäng mative Dimension betrifft die Frage lich Menschen für jene Argumente ÖAW 23
PODIUMSDISKUSSION sind, die den Maßnahmen zugrunde tive als Verstärker für solche wissen nicht, sagt Elisabeth Holzleithner. liegen. Da geht es zum Beispiel um schaftsfeindliche und rücksichtslose Aber vielleicht leidet die Qualität bestimmte Einschätzungen vom Ver Positionen fungiert, das haben wir ja von Regelungen, die keinen parla lauf der Pandemie, der ja typischer in den USA gesehen. Also es braucht mentarischen Prozess durchlaufen. weise exponentiell ist. Das erscheint immer auch ein Stückchen Fortune in Das führt mich zu zwei Fragen: Hat sehr abstrakt, zumal am Beginn dem Kontext. sich die Hoffnung erfüllt, dass die eines solchen Geschehens kann man Exekutive schnell und entschlossen sich das nicht gut vorstellen. Über gegen die Pandemie vorgeht? Und die sozialen Medien verbreitete Ver MAGDALENA PÖSCHL wenn ja: Bezahlen wir das mit Qua schwörungstheorien und eine in Tei litätsverlusten bei den Normen, die len ausgesprochene Feindseligkeit Die Demokratie hält das also aus, weniger gut durchdacht sind, über gegenüber der Wissenschaft tun das und die Proteste, die wir jetzt sehen, das Ziel hinausschießen und dann ihre. Das Ganze paart sich dann gar hätte man auch durch parlamenta vielleicht aus diesem Grund nicht nicht selten mit einem rücksichts rische Diskussionen nicht auffan akzeptiert werden? losen Verständnis von individueller gen können. Gertrude Lübbe-Wolff, Freiheit. Der daraus resultierende in Deutschland verlief der Wechsel Widerstand gegen die Maßnahmen von der Legislative auf die Exeku GERTRUDE LÜBBE-WOLFF wird besonders lautstark und aggres tive weniger spektakulär als in der siv zum Ausdruck gebracht. Schweiz: Die Legislative hat das be Der Zeitgewinn bei uns durch die Vertretern und Vertreterinnen sol reits bestehende Infektionsschutzge Verlagerung von Kompetenzen auf cher Positionen wird es kaum ge setz des Bundes nachgeschärft und die Exekutive ist teilweise dadurch nügen, in der Legislative Gehör zu die Exekutive in größerem Umfang ein bisschen aufgefressen worden, finden. Deren befriedende Kraft ist ermächtigt, Maßnahmen zur Pande dass man sich sehr stark bemüht hat, limitiert. Dieser Befund gilt auch für miebekämpfung zu ergreifen. Den auch zwischen Bund und Ländern die Medien, deren rationale, wis noch hat die deutsche Bundeskanz eine gewisse Koordination herzu senschaftsaffine Positionen häufig lerin diese Krise als „demokratische stellen. Das heißt, es hat nicht jede als Fake-News denunziert werden. Zumutung“ bezeichnet. Warum wir Regierung einfach losgeschossen mit Wenn solche Verständnisse nicht wie der Demokratie diese Machtverschie ihren eigenen Maßnahmen, sondern durch ein Megafon verstärkt werden, bung zumuten, liegt auf der Hand: man hat versucht, sich zumindest im dann könnte man das letztlich sogar Die Exekutive soll schnell und schlag Groben abzustimmen. Das hatte den für einen Vorteil halten. Allerdings kräftig auf die Krise reagieren kön Vorteil, dass in die Entscheidungs hängt das natürlich ganz stark von nen. Dass das Parlament dabei kaum prozesse eine gewisse Vielstimmig den handelnden Personen ab. Was mehr beteiligt ist, beeinträchtigt die keit eingeflossen ist. Denn die Län passiert, wenn die Spitze der Exeku Akzeptanz der Regelungen noch der hatten durchaus unterschiedliche ÖAW 24
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