50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG

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50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN

50 jahre
LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG
FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN

Peace Research Institute Frankfurt
Leibniz- Institut
Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
frieden fängt bei uns an

Wenn wir über Frieden sprechen, denken wir meist daran,    bleiben von den Erschütterungen in anderen Teilen der
bewaffnete Kriege oder Konflikte zu beenden oder zu        Welt, seien es politische oder wirtschaftliche Krisen,
verhindern. Wir erinnern uns an die Katastrophe zweier     seien es Naturkatastrophen, Pandemien oder Konflikte,
Weltkriege, an das „Niemals wieder“ der Vereinten Na-      noch dass wir uns von ihnen abschotten können: Nirgend-
tionen als Reaktion auf den Zivilisationsbruch der Shoa,   wo bemerken wir das gegenwärtig deutlicher als an
an Srebrenica und an Ruanda, und wir denken an die         der Corona-Pandemie, die auf der ganzen Welt wütet,
Ukraine, den Jemen, den Irak, Südsudan oder an Syrien,     Volkswirtschaften in die Knie zwingt und auch bei uns
wo aktuell militärische Konflikte ausgetragen werden.      im Frühjahr zu einem nahezu vollständigen Shutdown
Und so sehr diese Gräuel unser Bewusstsein von der         des öffentlichen Lebens geführt hat. Neben allen an-
Notwendigkeit das Friedens prägen, so lassen sie uns       deren direkten und indirekten Auswirkungen auf unser
doch manchmal vergessen, dass Frieden nicht nur            Institut führt die Pandemie ganz konkret dazu, dass wir
global gestiftet werden muss, im Fernen Osten, im          unsere geplanten Jubiläumsfeierlichkeiten auf das Jahr
globalen Süden, zwischen verfeindeten Staaten oder         2021 verschieben müssen.
Allianzen. Frieden beginnt bei uns, in unserer Familie,    Die Effekte von Krisen bemerken wir teilweise in Reise-
vor unserer Haustür, mit unseren Nachbarn, in unseren      warnungen oder Lieferengpässen für Güter, in politi-
Städten, in unserer Gesellschaft. Nur eine Gesellschaft,   schen Blockaden, steigenden Flüchtlingszahlen oder
die in Frieden miteinander lebt, kann auch nach außen      aber auch dadurch, dass Konflikte direkt in unsere
Frieden stiften.                                           Gesellschaften getragen werden. Terrorismus mag Be-
Frieden beginnt aber nicht nur bei uns und im Kleinen,     gleiterscheinung globaler Konfliktkonstellationen sein,
sondern er ist immer zugleich mit dem Frieden im Gro-      aber er manifestiert sich genauso im Herzen Europas,
ßen verknüpft. Die fortschreitende Globalisierung aller    in Paris oder am Breitscheidplatz in Berlin. Auch der
Lebensbereiche, bei all ihren positiven Effekten, sorgt    sogenannte Islamische Staat, der jahrelang den Nahen
dafür, dass wir in unserer Gesellschaft weder verschont    Osten tyrannisierte, wurde von ausreisenden Anhänge-

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Nicole Deitelhoff

rinnen und Anhängern aus Europa genährt. Terrorismus      bei uns ausgetragen, aber nicht selten gehen sie auch
ist keine Einbahnstraße.                                  von unserer eigenen Gesellschaft aus. Die Zunah-
Auch im Kontext bewaffneter Konflikte, nämlich in der     me von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder
Rüstungskontrolle geht es zwar zunächst darum, die        allgemein von gruppenbezogener Menschenfeindlich-
Großmächte dazu zu verpflichten, ihre Waffenarsenale      keit und die damit einhergehenden Gewalttaten, die
zu verringern oder zumindest nicht weiter auszubauen,     wir in vielen westlich-liberalen Staaten wie auch bei
aber Rüstungskontrolle hängt genauso mit Kleinwaffen      uns sehen, sind zwar im Kontext globaler Krisen und
zusammen. Die Verfügbarkeit von und das Handeln mit       Konflikte zu sehen; aber sie sind nicht einfach nur
Handfeuerwaffen muss drastisch eingeschränkt wer-         eine Folge dieser Konflikte, sondern haben ihre Ursa-
den, damit nicht nur Konflikte im globalen Süden, son-    chen ebenso in unserer eigenen Gesellschaft. Umso
dern auch Amokläufe in den USA, aber auch bei uns,        bedeutsamer ist es, bei uns selber Frieden zu stiften
eingedämmt werden können.                                 durch die Verteidigung oder Herstellung der gesell-
Die Digitalisierung tut ein Übriges, um unsere Welt zu    schaftlichen Grundlagen von Frieden: Respekt und
verkleinern: Schad-Software bedroht kritische Infra-      Toleranz im Miteinander einüben und pflegen, öffent-
strukturen wie die Energieversorgung oder Verkehrs-       liche Auseinandersetzungen über strittige Themen
und Transportsysteme. Waffen können inzwischen mit        fördern und einfordern, wo sie zu erlahmen drohen,
3D-Druckern an jedem Ort der Welt gefertigt und ver-      und eine Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik befördern,
fügbar gemacht werden. Soziale Bots und Internet-Trolle   welche die natürlichen Lebensgrundlagen erhält und
beeinflussen die öffentliche Meinung und demokra-         die Schwächsten schützt. Nur eine Gesellschaft, die in
tische Wahlen mit dem Ziel, die freie Gesellschaft zu     diesem Sinne friedensfähig ist, kann den Anfeindungen
destabilisieren.                                          von außen und innen widerstehen, den diffusen Be-
Unabhängig davon, wo Konflikte und Probleme auf-          drohungen unserer Zeit begegnen und zum globalen
treten: Sie sind oft direkt bei uns spürbar oder werden   Frieden beitragen.

                                                                                                              5
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50 Jahre HSFK – ein Magazin des Leibniz-Instituts Hessische           Bildnachweise
Stiftung Friedens- und Konfliktforschung                              Bleckmann, Jana: S. 38 (rechts), S. 40 | Dadbhawala, Deven (Flickr,
ISBN 978-3-946459-56-9                                                CC BY-NC-ND 2.0): S. 75 | Diesseits Kommunikationsdesign GbR: S. 47
                                                                      (Cover Friedensgutachten) | Dettmar, Uwe: S. 5, S. 14, S. 53 | Dörrscheidt,
Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung   Barbara: S. 11, S. 14 (links), S. 35 | Elias, Manuel: S. 69 (rechts, UN Photo)
Baseler Straße 27-31                                                  | EU Non-Proliferation and Disarmament Consortium: S. 63 | Fahrnberger,
60329 Frankfurt/M.                                                    Helge: S. 58 (rechts, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0) | Giribas,
info@hsfk.de                                                          Jose: S. 15 (Süddeutsche Zeitung Photo, rechts) | Haerdtle, Isabel:
www.hsfk.de | www.prif.org                                            S. 62 | Leibniz-Gemeinschaft: S. 44, S. 45 | Lipponen, Antti: S. 54
Tel.: 069 959 104-0                                                   (Flickr, Image by MODIS on board Terra satellite, CC BY 2.0) | North
                                                                      Atlantic Fisheries Arbitration, The Hague, 1910 (Wikimedia Commons,
Herausgeberin                                                         CC0 1.0 Universal): S. 38 | Pape, Paul: S. 38 (rechts), S. 40, S. 41 | picture
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff                                           alliance: S. 66 | Praefcke, Andreas: S. 51 (Wikimedia Commons, CC BY
                                                                      3.0) | Privatarchiv Dieter Senghaas: S. 21, S. 24 | Schittko, Robert: S. 37
Redaktion                                                             | Sierra, Luis Enrique: S. 60 | Steinert, Manuel: S. 22 | tagesschau24:
Barbara Dörrscheidt (Leitung), Karin Hammer, Eva Neukirchner,         S. 48 | The International Institute for Strategic Studies (IISS): S. 58
Gunnar Placzek, Manuel Steinert                                       (links) | U.S. Army: S. 15 (links, Wikimedia Commons, public domain) |
                                                                      United States Office of War Information: S. 69 (links, public domain) |
Studentische Unterstützung                                            21th Century Fox: S. 71, S. 73 | Seite 65: Bianet/DW Hindi/CCTV/Grude.
Frank Kuhn, Sophia Schmidt, Leonard Wagner                            com/Spiegel Online

Layout und Satz
grübelfabrik e.K., Frankfurt am Main                                  gedruckt auf umweltfreundlichem Papier

Bildkonzept, Grafiken/Illustrationen
Institut für Neue Kommunikation, Offenbach am Main

Druck
Buch- und Offsetdruckerei Häuser KG, Köln

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50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
inhalt
wir … hier     Über Mut, Neugierde und die Lust zu streiten: Interview mit Harald Müller
               und Nicole Deitelhoff                                                           10
               Das Frühjahr 1989: Politikberatung mit politischen Folgen                       15
               50 Jahre HSFK: Eine Chronik                                                     16
               Die HSFK in Zahlen: Damals und heute                                            18
               Ein kritischer Friedensforscher: Dieter Senghaas im Gespräch                    20
               Ein Ort für die Forschung von morgen: Über Vergangenheit und Zukunft
               der HSFK-Bibliothek                                                             25
               Ernst-Otto Czempiel, Spiritus Rector der HSFK                                   28

wir … in frankfurt und hessen
               Gut vernetzt in Frankfurt und Hessen: Unsere Partner                            32
               „Erfolg allein ist nicht das Kriterium“: Der Hessische Friedenspreis            34
               Making Crises Visible: Eine Ausstellung der Krise                               37

wir … in deutschland
               Frankfurt – Berlin / Berlin – Frankfurt: Das Berliner Büro                      44
               Das Friedensgutachten                                                           47
               Die HSFK und das Auswärtige Amt                                                 51
               Umwelt und Frieden: Interdisziplinäre Kooperation in der Leibniz-Gemeinschaft   54

wir … in der welt
               Einmal um die Welt und zurück: Friedensforschung international                  58
               Wie bitte? Die HSFK in internationalen Medien                                   65
               75 Jahre Vereinte Nationen, 50 Jahre Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag –
               Doch die Feierlaune bleibt aus. Ein Essay von Christopher Daase                 66
               Glotze an, Popcorn raus: Sci-Fi-Klassiker unter der Lupe                        70

                                                                                                    7
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wir … hier
Eines hat sich auch nach 50 Jahren Institutsgeschichte nicht geändert:
Kluge Köpfe und ihr persönliches Engagement sorgen dafür, dass die
HSFK sich weiterentwickelt, modern bleibt und stetig mehr Gehör findet,
um zum Frieden in der Welt beizutragen.

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50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
über mut, neugierde und
die lust zu streiten
Harald Müller stand 20 Jahre an der Spitze der HSFK, bevor Nicole
Deitelhoff im Jahr 2016 das Ruder übernahm. Ein Gespräch über
erste Eindrücke, die Verbindung von Wissenschaft und Praxis und
die Frage, was die HSFK seit 50 Jahren ausmacht.
Interview: Barbara Dörrscheidt

Herr Müller, Sie haben die HSFK drei Jahre nach ihrer      eine Million DM. Das hätte für das Institut das Ende
Gründung 1973 als Student erstmals betreten. Was           bedeutet.
war Ihr erster Eindruck?
Harald Müller: Der erste Eindruck war überwältigend,       Nicole, du bist 2001 als Stipendiatin an die HSFK ge-
denn man ging damals direkt durch die Eingangstür in       kommen. Wie war denn dein erster Eindruck?
die Bibliothek. Eine Riesensammlung an einschlägigen       Nicole Deitelhoff: Als ich an die HSFK gekommen bin,
Büchern, die Vielfalt des Angebots war einfach magisch.    war für mich das Institut eigentlich ein Buch mit sieben
Und mein Gefühl war: Da will ich hin. Als ich im August    Siegeln. Ich kannte überhaupt niemanden außer Harald
1976 Mitarbeiter wurde, hatte die HSFK erhebliche innere   Müller. Für mich hat sich das Institut vor allem durch
Konflikte zwischen Professoren und den Mitarbeiterin-      ganz kurze Wege ausgezeichnet. Alle Kollegen waren
nen und Mitarbeitern, zwischen „Linken“ und „Konser-       immer direkt ansprechbar, unglaublich hilfsbereit. Das
vativen“. Das waren Nachwehen der 68er-Bewegung.           war fantastisch.
Die HSFK hatte jahrelang um Anerkennung zu kämpfen,
vor allem in der konservativen Öffentlichkeit. Damals      2001 war auch das Jahr des Anschlags vom 11. Sep-
stellte die CDU-Fraktion im Hessischen Landtag jähr-       tember. Herr Müller, wie groß war der Einfluss dieses
lich einen Antrag auf Kürzung des HSFK-Haushalts um        Ereignisses auf die Entwicklung der HSFK?

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Harald Müller, ehemaliger
Leiter der HSFK, zusam-
men mit Nicole Deitelhoff,
die das Amt 2016 von ihm
übernahm.

Harald Müller: Es gab natürlich die unmittelbare An-        Sie haben die HSFK über zwanzig Jahre geleitet. Was
forderung an uns, Orientierungswissen für die Öffent-       waren Ihre größten Erfolge?
lichkeit zu liefern. Die Medien rannten uns die Bude ein.   Harald Müller: Dass es uns gelungen ist, Theorie und
Wir haben die Merkmale der Anschläge mit vorherigen         Praxis zu verbinden, und zwar nahezu in der Tätigkeit
Aktionen von Al Qaida verglichen und dann noch am           jedes einzelnen Wissenschaftlers und jeder einzel-
selben Tag in den Medien vertreten, dass Osama Bin          nen Wissenschaftlerin. Zweitens, dass unsere wissen-
Laden deren Urheber sei. Wir waren unter den Ersten,        schaftliche Exzellenz mittlerweile dreimal zertifiziert
die diese Diagnose gestellt haben. Wir waren nass-          worden ist vom Wissenschaftsrat und von der Leib-
forsch, aber trafen letzten Endes ins Schwarze. Das         niz-Gemeinschaft. Drittens die Förderung des Nach-
brachte uns natürlich Anerkennung ein. Terrorismus          wuchses und die erfolgreiche Frauenförderung. Wir
wurde zwar nicht zu unserem Kernthema, allerdings           haben jetzt eine Chefin, wir haben so viele Frauen im
hatte 9/11 noch eine andere Folge: Der Irak-Krieg wurde     Vorstand wie Männer, wir haben eine große Zahl an
einer unserer zentralen Forschungsgegenstände, mit          Mitarbeiterinnen und mehr Doktorandinnen als Dokto-
dem wir beweisen konnten, dass wir mit unserem For-         randen, wenn ich das richtig sehe. Ich bin viertens stolz
schungsprogramm über das ambivalente Verhältnis von         auf die finanzielle Konsolidierung und fünftens nicht zu-
Demokratie und Frieden im Zentrum der Zeit standen.         letzt auf zwei erfolgreiche Generationswechsel an der

                                                                                                                  11
Spitze. Man weiß, dass zwei friedliche Führungswech-          Was wären denn mögliche Instrumente dafür?
sel in einer Demokratie als Indikator ihrer Stabilität gel-   Nicole Deitelhoff: Das eine ist, dass wir uns bemühen,
ten. Dieses Institut ist stabil. Und es hat gezeigt, dass     in unserer Stadt, in unserer Region aktiv zu sein und
jeder Mensch und jede Art von Leitung auch ersetzbar          Angebote zu machen für die Stadtgesellschaft. Im
sind.                                                         Frühjahr war da etwa unser Ausstellungsprojekt „Making
                                                              Crises Visible“, bei dem wir mit vielen Partnern in der
Nicole, du hast das Ruder 2016 übernommen. Wie                Region zusammengearbeitet und einen Teil unserer
blickst du auf die bisherigen vier Jahre zurück?              Forschung begehbar, anfassbar, sichtbar gemacht
Nicole Deitelhoff: Naja, es war lange nicht klar, ob wirk-    haben. Zu sehen war die Ausstellung im Senckenberg
lich jeder ersetzbar ist, aber nach vier Jahren sind die      Museum. Aber auch in Konfliktlagen wie dem extre-
schlimmsten Klippen umschifft. Nein, es waren vier            mistischen Anschlag von Halle müssen wir mit unserer
sicherlich ungeheuer anstrengende, aber auch wirklich         Expertise bereitstehen und helfen. Wir haben beispiels-
inspirierende Jahre. Neuerungen führen natürlich auch         weise der Stadt Hanau angeboten, dass unsere Mit-
zu Konflikten, wir diskutieren auch heute noch über           arbeiterinnen und Mitarbeiter in Schulen und Vereine
neue Themen und neue Strukturen. Die HSFK war eben            gehen oder auch für Diskussionsveranstaltungen zur
immer ein dynamisches Institut – das bleibt so und das        Aufklärung bereitstehen. Damit möchten wir unserer
macht uns schließlich erfolgreich.                            gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen.

Wohin soll es denn in den nächsten Jahren gehen aus           Eine wesentliche Aufgabe der HSFK ist die Politik-
deiner Sicht?                                                 beratung. Was letzten Endes zu bestimmten politi-
Nicole Deitelhoff: Wir haben uns in den letzten Jahren        schen Entscheidungen geführt hat, wissen wir in den
durchaus in der Breite unserer Themen weiterentwickelt,       meisten Fällen aber nicht. Herr Müller, können Sie von
das muss man jetzt erst einmal konsolidieren. Wir ha-         einem Fall berichten, bei dem Sie sicher sind, dass un-
ben uns im Bereich Terrorismusforschung spezialisiert,        ser Beitrag wesentlichen Einfluss hatte?
die Radikalisierungs- und Extremismusforschung an             Harald Müller: Also ich denke am nächsten kommt man
die HSFK geholt, auch Polarisierung und gesellschaftli-       da in dem erstaunlichen Jahr 1989. Es begann damit,
chen Zusammenhalt stärker als in den 90er und 2000er          dass die NATO neue Kurzstreckenraketen nach Europa
Jahren in den Fokus gerückt und dafür Anerkennung             bringen wollte, auch nach Deutschland. Im Frühjahr war
erhalten. In Zukunft möchte ich das, was wir traditionell     in Moskau schon der Pulverdampf eines Militärcoups zu
immer schon sehr stark gemacht haben – also grenz­            riechen, Gorbatschow wackelte. Und einer der wesent-
überschreitende Konflikte, internationale Konfliktlagen,      lichen Momente, die dieses Wackeln ausgelöst hatte,
Rüstungskontrolle – enger verzahnen mit unseren neuen         war dieser geplante NATO-Beschluss, weil damit in den
Stärken im innergesellschaftlichen Forschungsgebiet.          Augen der Hardliner die ganze Gorbatschow-Politik
Aber wenn ihr mich danach fragt, wie ich mir die HSFK in      gescheitert wäre. Man sah auch im Auswärtigen Amt
fünf Jahren vorstelle: Diejenigen, die sich mit Friedens-     die Gefahr, dass der Entspannungsprozess zusammen-
und Konfliktforschung im engeren Sinne beschäftigt            bricht, und suchte nach Argumenten, um diesen NATO-
haben, wussten immer, dass die HSFK ein fantastisches         Beschluss zu verhindern. Das Kanzleramt war unent-
Institut mit toller Forschung ist. Aber an allen außerhalb    schlossen, Kohl war sehr NATO-treu.
dieses Felds ist die HSFK einfach so vorbeigelaufen.          Wir bekamen einen Anruf aus Genschers Büro, ob wir
Und das möchte ich gerne ändern, sodass wir in Zukunft        sehr schnell eine Studie machen könnten, die verständ-
nicht mehr nur ein Institut für Kenner sind, sondern ein      lich darlegt, warum dieser Beschluss nicht getroffen
Institut, das man kennt.                                      werden sollte. Und wir machten das, ich glaube, inner-

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in den medien
Frankfurter Rundschau, 12.11.1987              Frankfurter Rundschau, 01.11.2000

                                               FAZ, 27.07.2011

halb von zehn oder vierzehn Tagen. Genscher nahm                 Polizei in Baden-Württemberg eingesetzt. Ein anderes
das, brachte es zusammen mit anderen Vorlagen und                Beispiel ist, dass wir jedes Jahr die politikwissenschaft-
marschierte ins Kanzleramt. Und das Ergebnis des                 liche Ausbildung der angehenden Diplomatinnen und
Gesprächs war, dass Kohl davon überzeugt war, dass               Diplomaten im Auswärtigen Dienst machen und dort
dieser Beschluss jetzt so nicht gefasst werden sollte.           das, was wir hier an Erkenntnissen in der Forschung ge-
Kohl hatte innerhalb der NATO einen enormen Einfluss             wonnen haben, direkt in Praxismodule umsetzen.
und konnte sehr gut mit dem US-Präsidenten Bush. Er
brachte es fertig, Bush und Thatcher davon zu über-              Nicole, was macht denn die HSFK aus deiner Sicht
zeugen, diesen Beschluss auf unbestimmte Zeit zu                 besonders? Gibt es so etwas wie eine spezifische
verschieben.                                                     DNA der HSFK?
                                                                 Nicole Deitelhoff: Ja, aus meiner Sicht ist das so. Die
Das ist jetzt natürlich schwer zu toppen für dich, Nicole.       Grenzen zwischen Forschung, Forschungsunterstüt-
Nicole Deitelhoff: (lacht) Ich wollte gerade sagen: Alles        zung und Verwaltung wurden hier nie besonders scharf
was ich jetzt beisteuern könnte, klingt daneben völlig           gezogen. Wir diskutieren immer sehr rege miteinander
profan. Ich glaube aber, dass es sich auch durchaus              und streiten auch schon mal. Das ist etwas, das die
auszahlt, dass wir in den letzten Jahren auf die Trai-           HSFK bis heute auszeichnet. Sie ist insgesamt einfach
ningsebene gesetzt haben. Beispielsweise werden aus              extrem neugierig, was einem fast schon auf die Nerven
unserem Projekt „Salafismus in Deutschland“ unsere               geht (lacht). Außerdem haben die Kolleginnen und Kol-
Videos, die einzelne Aspekte von Radikalisierungspro-            legen einen Blick für das Wesentliche. Man diskutiert
zessen darstellen, inzwischen in der Ausbildung der              gerne über alles, man streitet auch gerne über alles,

                                                                                                                        13
aber am Ende des Tages geht es ums Wesentliche. Und          hatte. Jetzt ist die Vision als Recht und als Pflicht in
dann wird sich eben nicht mehr an den kleinen Details auf-   der Hand von Nicole. Und mein Privileg ist es, von der
gehalten, sondern dann haben alle das Große und Gan-         Seitenlinie mit ständiger Sympathie der Umsetzung ih-
ze im Blick. Und das ist etwas, das die HSFK meines          rer Vision zuzusehen.
Erachtens zu einem ganz besonderen Institut macht.           Nicole Deitelhoff: Solange das nicht wie in der Mup-
Harald Müller: Ich sehe das ganz ähnlich. Die HSFK           pet-Show ist, wo dann die älteren Herren oben in der
unterscheidet sich von fast allen Leibniz-Instituten und     Loge sitzen, find ich das ja eigentlich auch ein ganz
anderen Instituten dadurch, dass sie nicht ihrem Direk-      schönes Bild. Nein, wenn ich über die nächsten fünf-
tor gehört. Sondern dass es eine weitgehende Partizi-        zig Jahre nachdenke, möchte ich auch keine großen
pation der Mitarbeiterschaft auch an wesentlichen Ent-       Visionen entwickeln, sondern vielleicht eher ein paar
scheidungen des Instituts gibt. Dass der Forschungsrat       Charaktereigenschaften hervorheben, von denen ich
nicht einfach eine Institution ist, die abnickt, sondern     hoffe, dass sie die fünfzig Jahre begleiten werden.
die wesentliche Fragen der Institutspolitik mitdiskutiert    Und das sind Mut und Abenteuerlust. Die HSFK hat
und mit beeinflusst.                                         den Mut gehabt, von einem kleinen Landesinstitut in
                                                             die Liste der Leibniz-Gemeinschaft einzutreten. Das
Herr Müller, was wünschen sie der HSFK für die               war wirklich mutig. Und das war natürlich Ernst-Otto
nächsten fünfzig Jahre?                                      Czempiel, aber vor allem Harald Müller zu verdanken.
Harald Müller: Ich bin Emeritus. Und ein Emeritus hat        Wer weiß, was in zehn, in zwanzig Jahren anliegt, aber
weder das Recht noch die Pflicht, Visionen zu haben.         diesen Mut, dieses persönliche Engagement, das wün-
Das war mein Job, solange ich dieses Institut zu leiten      sche ich der HSFK auch für die nächsten fünfzig Jahre.

                   harald müller                                                nicole deitelhoff

     Prof. Harald Müller war von 1996 bis 2015                   2016 übernahm Prof. Nicole Deitelhoff die
     geschäftsführendes Vorstandsmitglied                        Institutsleitung. Sie ist seit 2009 Profes-
     der HSFK. Er war zudem Professor für In-                    sorin für Internationale Beziehungen und
     ternationale Beziehungen (1999–2016) an                     Theorien globaler Ordnungspolitik an der
     der Goethe-Universität Frankfurt/M., deren                  Goethe-Universität Frankfurt/M. und leitet
     Ehrenmedaille er 2017 erhielt, und ist Trä-                 die HSFK-Programmbereiche Internationa-
     ger des Thérèse Delpech-Preises des Car-                    le Institutionen und Transnationale Politik.
     negie Endowment for International Peace                     2008 erhielt sie den Heinz Maier-Leib-
     2019 und der Wilhelm-Leuschner- Medaille                    nitz-Preis der Deutschen Forschungsge-
     des Landes Hessen.                                          meinschaft und 2017 den Schader-Preis.

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politikberatung mit historischen folgen
Im Jahr 1989 wollte die NATO neue Kurzstreckenraketen
in Europa stationieren – ein Vorhaben, das den Entspan-
nungsprozess im Ost-West-Konflikt in Gefahr brachte.
Letztendlich kamen die Raketen nicht. Eine Studie der
HSFK spielte bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle.

Ein Anruf aus dem Büro des dama-          Rakete nicht durch ein Nachfolgesys­
ligen Außenministers Hans-Dietrich        tem zu ersetzen – stattdessen soll-
Genscher setzte im Frühjahr 1989          ten beide Seiten alle taktischen Nu­
alles in Gang: Neun HSFK-Wissen-          klearwaffen drastisch reduzieren,
schaftler erarbeiteten gemeinsam die      unilateral und durch Verhandlungen,
80 Seiten starke Studie mit dem Titel     weitere „Zero-Options“ eingeschlossen.
Modernisierung und kein Ende? Die         Das Papier überzeugte den damaligen
„Modernisierung“ der Kurzstrecken­        Kanzler Helmut Kohl, der seinen Ein-
raketen und die Defizite der sicher-      fluss innerhalb der NATO nutzte und
heitspolitischen Debatte in der NATO.     schließlich auch George Bush und Mar-
Darin forderten die Autoren, die Lance-   garet Thatcher zum Umdenken brachte.

Test einer MGM-52 Lance Kurzstreckenrakete      George Bush, Helmut Kohl und Margaret Thatcher auf
auf der White Sands Missile Range, 1965.        dem G7-Gipfel in Paris am 14.07.1989.

                                                                                                     15
50 jahre hsfk – eine chronik
                                                                                                      1989 Tian’anmen-
                                                                                                      Massaker; Fall der
                                                                                                      Berliner Mauer

1970 Kniefall         1975 KSZE-Schlussakte    1979 Islamische Revolu-         1980 Friedensbewe-
von Warschau          von Helsinki             tion in Iran; Sowjetische       gung gegen die sog.
                                               Invasion in Afghanistan         Nachrüstung der NATO

 1970 Die Gründung: Interesse an         1971–1979 Die HSFK nimmt                1980–1989 Von der Theorie in die
 der Friedensforschung besteht so-       ihre Arbeit auf: Zunächst steht die     Praxis: Die HSFK setzt sich für die
 wohl auf wissenschaftlicher als         Grundlagenforschung zum Ost-            Rückkehr zur Entspannungspolitik
 auch auf politischer Seite. Wie         West-Konflikt im Fokus der Wis-         ein und richtet ihre Forschung mehr
 wichtig die Grundlagenforschung         senschaftlerinnen und Wissen-           an praktischer Politik aus. Erarbeite-
 in diesem Bereich sei, betonte Bun-     schaftler. Rüstungskontrolle und        tes Grundlagenwissen wirkt nun stär-
 despräsident Heinemann bereits          die Außen- und Sicherheitspolitik       ker in der Politikberatung, unter an-
 1969. Dem Marburger Friedensfor-        der USA, der Sowjetunion und der        derem im Auswärtigen Amt und den
 scher Ernst-Otto Czempiel gelingt       Bundesrepublik Deutschland bilden       Bundesministerien für Verteidigung
 es schließlich, den Hessischen          Schwerpunkte der Forschung der          und Entwicklung.
 Ministerpräsidenten Albert Oss-         HSFK. Darüber hinaus richtet eine       Durch die Entstehung der Friedens-
 wald von der Sinnhaftigkeit eines       Forschungsgruppe den Blick auf          bewegung in Deutschland kann sich
 vom Land gestifteten Friedensfor-       die Friedenspädagogik. Produziert       die HSFK im öffentlichen Diskurs
 schungsinstituts zu überzeugen. Da      werden überwiegend Monographi-          positionieren. Etwa bei der Debatte
 es zum „Geist der Stadt“ Frankfurt      en und umfangreiche akademische         um die „Startbahn West“ am Frank-
 passe, beschließt die Stadtverord-      Aufsätze.                               furter Flughafen, im Kampf gegen
 netenversammlung die Gründung           Von außen wird die HSFK zunächst        die Verbreitung von Massenvernich-
 des Instituts in Frankfurt sowie des-   vielfach skeptisch wahrgenommen:        tungswaffen und vor allem in der
 sen materielle Unterstützung. Am        Die hessische CDU zweifelt an den       Debatte über Kernwaffen in Europa
 30. Oktober 1970 übergibt der Mi-       Leistungen des Instituts, fürchtet      vermittelt sie zwischen Aktivist.in-
 nisterpräsident die Stiftungsurkun-     die Entstehung einer „Brutstätte        nen und der Politik und bietet Orien-
 de an den vorläufigen Vorstand.         linker Ideologie“ und fordert Haus-     tierungswissen an. Damit steigt die
                                         haltskürzungen, während die Stasi       Bekanntheit des Instituts in Frank-
                                         die HSFK gleichzeitig als „Agenten      furt und Hessen ebenso wie die An-
                                         des Imperialismus“ einordnet.           erkennung durch die Politik.

 Text: Eva Neukirchner

 16
1991 Ende des                1993 Vertrag von          1994 Völkermord                     1995 Massaker              1999 Kosovokrieg
Kalten Krieges               Maastricht zur Eu-        in Ruanda                           von Srebrenica
                             ropäischen Union

                                                                                                                 2001 9/11; Interven-
                                                                                                                 tion gegen
                                                                                                                 Taliban-Regierung
                                                                                                                 in Afghanistan

      2020 Brexit;                    2014 Krimkrise;              2011 „Arabischer Frühling“;            2003 Krieg der USA
      Coronavirus-Pandemie            IS ruft Kalifat aus          Beginn Bürgerkrieg in Syrien           gegen den Irak

      1990–1997 Neuorientierung: Mit              1998–2008 Das Institut wächst: Die              2009–2020 Neues Haus, altes
      dem Ende des Kalten Krieges muss            Vorbereitungen für die Aufnahme der             Glück: Pünktlich zur Aufnahme in
      die Welt neu in den Blick genom-            HSFK in die Leibniz-Gemeinschaft                die Leibniz-Gemeinschaft zieht die
      men werden. Nach dem Ende des               beginnen. Junge Wissenschaftle-                 HSFK 2009 in die Baseler Straße am
      Mächtedualismus sind die interna-           rinnen und Wissenschaftler werden               Frankfurter Hauptbahnhof. Hier ver-
      tionalen Beziehungen komplexer              eingestellt, der weibliche Anteil am            größert sich das Institut weiter, und
      geworden. Zu den zentralen For-             wissenschaftlichen Personal wächst,             es werden zunehmend Projekte mit
      schungsinteressen, der Kriegsursa-          Verwaltung und Buchhaltung werden               Partnern in verschiedenen Weltre-
      chenforschung und der Rüstungs-             neu strukturiert und aufgebaut.                 gionen gestartet. Dabei richtet sich
      kontrolle, kommen nun auch die              Im Lichte des Irak-Kriegs unter-                der Blick wieder stärker auf unmit-
      Bedingungen und Institutionen des           sucht die HSFK die Antinomien des               telbare Erfahrungen in unterschied-
      Friedens hinzu.                             demokratischen Friedens, die Fried-             lichen Lebenswelten. Dafür stehen
      Das Staatensystem in Europa ordnet          lichkeit der Demokratien unterein-              zum einen der neu geschaffene Pro-
      sich neu. Die HSFK warnt vor den            ander einerseits, ihre Bereitschaft             grammbereich „Glokale Verflechtun-
      möglichen Folgen der NATO-Erwei-            zur Militanz gegenüber Autokratien              gen“, aber auch die Forschung im
      terung für das westlich-russische           andererseits. Das Institut warnt vor            Bereich Radikalisierung. Die Rolle
      Verhältnis. Mit den Jugoslawien-            einer neuen, scharfen Großmächte-               der Gerechtigkeit für die Entstehung
      kriegen ergeben sich jetzt auch             konkurrenz. In Zusammenarbeit mit               wie für die Beilegung von Konflikten
      praktisch-ethische Fragestellungen          der Goethe-Universität Frankfurt                bildet die übergreifende Frage.
      zur Legitimität von humanitären In-         und der TU Darmstadt gründet die                Außerdem im Blick: Wissenschafts-
      terventionen.                               HSFK den Master-Studiengang In-                 kommunikation und Wissenstrans-
                                                  ternationale Studien/Friedens- und              fer. 2017 eröffnet die HSFK ein Büro
                                                  Konfliktforschung und partizipiert              in Berlin, um die Sichtbarkeit der
                                                  am Exzellenzcluster „Normative                  HSFK im politischen Berlin zu erhö-
                                                  Ordnungen“.                                     hen und die Politikberatung zu er-
                                                                                                  leichtern.

                                                                                                                                        17
die hsfk in zahlen: damals und heute

     anzahl der                                           108
     mitarbeiter*innen
                                                                 35 Studentische Hilfskräfte

                                           Bibliothek 2
                                                                 7 Wissenschaftskommunikation

                                          18
                                                                 46 Wissenschaftler*innen
               Wissenschaftler*innen 13

                          Verwaltung 5                           15 Verwaltung

                                          1971            2020

     geschlechterverteilung wissenschaftler*innen

18 %                                                  57 %

                             82 %                                                     43 %
             1971                                                     2020

18
bibliothek

 1971    
         3.500 Bücher                     2020   58.000 Bücher
         60 Zeitschriften                        1.100 Zeitschriften

festnetz                     1971                       2020
                            2 Telefone                 76 Telefone

jahresbudget                                                         7.882.715,52 €

     ~ 324.000 €
         (634.500 DM)

  1971        1979           1985        1990     1994            2009     2014       2019

                                                                                             19
ein kritischer friedensforscher

Dieter Senghaas war 1970 Teil des Gründertrios der HSFK und prägte die deut-
sche Friedensforschung mit seinen kritischen Analysen zum Ost-West-Konflikt
sowie zu den Beziehungen zwischen globalem Norden und Süden. Lothar Brock,
der die Gründerjahre der deutschen Friedensforschung an der FU Berlin mitge-
staltete, blickt mit ihm zurück auf die Anfangsjahre des Instituts, das sich in ei-
nem nicht immer wohlwollenden politischen Klima behaupten musste. Auch wenn
sich das heute geändert hat, rät er der HSFK vor allem eines: kritisch bleiben.

Lothar Brock: Es war am 30. Oktober 1970 als der Hes-      Dieter Senghaas: Nein. Er war von 1969 bis 1974 Kultus-
sische Ministerpräsident Albert Osswald dir, Ernst-Otto    minister. Also genau in der Zeit, als wir alles geplant
Czempiel und Hans Nicklas die Stiftungsurkunde             und aufgebaut haben, und natürlich auch zur Zeit von
überreicht hat. Erinnerst du dich?                         Willy Brandt als Kanzler.

Dieter Senghaas: An die Übergabe selbst erinnere ich       Lothar Brock: Nun war zwei Tage vor Überreichung
mich nicht, ich erinnere mich natürlich an Czempiel        dieser Stiftungsurkunde an euch die Deutsche Gesell-
und Nicklas. Und ich erinnere mich insbesondere an         schaft für Friedens- und Konfliktforschung gegründet
Ludwig von Friedeburg, der jetzt nicht erwähnt worden      worden, ein Jahr später das Institut für Friedensfor-
ist. Denn Ludwig von Friedeburg war eigentlich der in-     schung und Sicherheitspolitik in Hamburg, die Liste
tellektuelle Hintergrund in Wiesbaden für unser Projekt.   ließe sich fortführen. Woher kam aus deiner Sicht ab
Ich hatte das Glück, dass er 1975 Professor am Institut    Ende der 1960er Jahre plötzlich dieser Gründungselan
für Sozialforschung wurde, dies unter den Vorzeichen       in der deutschen Friedensforschung?
von Horkheimer und Adorno. Er war Zweitgutachter
meiner Dissertation über die Abschreckungskritik. Das      Dieter Senghaas: Ich denke, es hat neben persönlichem
heißt, es gab persönliche Beziehungen, die sehr wichtig    Engagement mit der politischen Gesamtkonstellation
waren, um zwischen Frankfurt und Wiesbaden wirklich        – international und national – zu tun. Denn wir durch-
eine produktive, konstruktive Verbindung zu schaffen.      lebten ja den Ost-West-Konflikt, zugespitzt durch die
                                                           klare Trennung von DDR und Bundesrepublik in Gestalt
Lothar Brock: Aber Ludwig von Friedeburg hatte keine       der Mauer. Ende der 1960er Jahre kam dann eine
formelle Funktion in der HSFK?                             Phase der Entspannung in Gang. Jetzt ging es darum:

20
Bad Nauheim, November 1972: Dieter Senghaas (rechts), zusammen mit dem damaligen Hessischen Kultusminister
Ludwig von Friedeburg und der Professorin und Friedenspädagogin Betty A. Reardon.

Wenn es die Entspannung gibt, was macht man dann?        Dieter Senghaas: Naja, welche Universität wäre es
Kooperation, Rüstungskontrolle, im ökonomischen          denn gewesen, das war ja nicht notwendigerweise
Bereich, im Bereich von Wissenschaft zwischen Ost        Frankfurt. Es hätte ja auch Gießen, Marburg oder
und West? Es waren neue offene Fragen und Motivati-      Darmstadt sein können. Und wenn man es an einer
onen, die dazu geführt haben, die Friedensforschung in   Universität ansiedelt, an welcher Stelle siedelt man es
der Bundesrepublik zu fördern.                           dann an? Wäre es ein eigenständiges Institut gewesen,
                                                         dann hätten die Soziologen, Politikwissenschaftler,
Lothar Brock: Warum ist die HSFK als eine eigenstän-     Völkerrechtler, die Sozialpsychologen und so weiter
dige Institution gegründet worden und nicht als ein      gefragt: Warum nicht das Sigmund-Freud-Institut
Forschungsinstitut an der Universität Frankfurt?         ergänzen, warum nicht das Institut für Sozialforschung

                                                                                                              21
Bremen,
Februar 2020:
Dieter Senghaas
(rechts) im
Gespräch mit
Lothar Brock.

ergänzen? Das umging man und wollte, glaube ich,          strukturen sprach: Was heißt es eigentlich, nachhaltige
schon einen ganz deutlich eigenen Akzent setzen.          Friedensstrukturen international, regional, aber auch
Nämlich ein Institut, das notwendigerweise von            vor Ort innergesellschaftlich aufzubauen? Von Wiesba-
vornherein zumindest im Anspruch multidisziplinär         den aus gab es den Impuls, dass sich alles übersetzen
und interdisziplinär ist.                                 lassen sollte in Friedenspädagogik. Und Hans Nicklas
                                                          war ja derjenige, der diese Brücke in die HSFK einge-
Lothar Brock: Die Friedensforschung bewegt sich ja        bracht hat.
zwischen Ökonomie, Soziologie, Psychologie, ist also
ein sehr weites Feld. Welches sollte der Kernbereich      Lothar Brock: Konfliktpädagogik hieß, dass man
der Arbeit in der HSFK sein?                              Schüler dazu erzieht, auch kritisch mit ihrer Umwelt
                                                          umzugehen bis hin zum – und der Begriff fiel da –
Dieter Senghaas: Der Kern sollten die Kernprobleme        Widerstand gegen bestehende Verhältnisse. Das hat
der Weltpolitik sein und vor allem die, die sich in der   einen Aufschrei gegeben. Hat die HSFK in Person von
Bundesrepublik oder im Ost-West-Konflikt niederschlu-     Hans Nicklas an solchen Formulierungen mitgewirkt?
gen, insbesondere natürlich die Abschreckungsproble-
matik, die Rüstungsdynamik. Im Kommen war damals          Dieter Senghaas: Also ich vermute ja, dass es da
die Nord-Süd-Problematik, wo es plötzlich alternative     seinen Ausgangspunkt genommen hat. Es war ja auch
Perspektiven zur Modernisierungstheorie gab. Und es       ganz naheliegend, denn der Anspruch der HSFK selbst
ging darum, das hat insbesondere Ernst-Otto Czempiel      war die Kritik des symbolischen Gebrauchs der Politik.
thematisch mit hereingebracht, dass man über Friedens-    Zum Beispiel sagte man in der Öffentlichkeit: In der

22
in den medien

FR, 31.07.1978

Rüstungskontrolle wird Rüstung kontrolliert. In Wirk-     sierte „Walduniversität“, die als Unterstützung des
lichkeit wurde Rüstung zwar auch eingeschränkt, aber      Protests verstanden wurde. Heute sind wir Mitglied
gleichzeitig modernisiert: Man baute auf eine einzelne    der Leibniz-Gemeinschaft und damit sozusagen als
Interkontinentalrakete nicht nur einen Waffenkopf,        Spitzenforschung geadelt. Die alten Konflikte zwi-
sondern plötzlich waren es mehrere, die unabhängig        schen Forschung und Politik, die gibt es nicht mehr.
voneinander eingesetzt werden konnten. Das war            Wie erklärst du dir das?
Aufrüstung. „Rüstungskontrolle“ war wie eine Ideologie:
der symbolische Gebrauch von Begriffen, die aber gar      Dieter Senghaas: Zunächst war für uns wichtiger,
nicht das reflektierten, was in Wirklichkeit passierte.   wirklich gute Erkenntnisse zu publizieren. Nicht
Wenn sich unsere Kritik daran übersetzt hat in das        irgendwelche Positionen zu vertreten, weil das aus
Wissen, das an Schulen vermittelt werden sollte, dann     irgendwelchen Gründen – ideologischen, politischen
war das völlig korrekt.                                   oder taktischen – wichtig sei, sondern wirklich solide
                                                          aufgearbeitete Befunde in entsprechende Öffentlich-
Lothar Brock: Die Friedensforschung hat sich teil-        keitsarbeit zu übersetzen. Die anderen Probleme,
weise sehr stark solidarisiert mit nationalen Befrei-     Egbert Jahn und die Walduniversität und dergleichen,
ungsbewegungen. Das erzeugte Spannungen mit der           die kamen durch Außenaktivitäten zustande.
Politik. Auch die HSFK geriet Anfang der 1980er Jahre
in Auseinandersetzungen mit der Politik in Hessen,        Lothar Brock: Die Professionalität der Friedensfor-
vor allem beim Streit um den Ausbau der Startbahn         schung ist inzwischen von der Politik anerkannt.
West und mit Blick auf die von Egbert Jahn organi-        Könntest du dir vorstellen, dass dieses günstige

                                                                                                                 23
politische Klima sich in absehbarer Zukunft wieder        Lothar Brock: Diese Empfehlung richtet sich ja schon
verändern könnte?                                         an die sehr nahe Zukunft. Gibt es anlässlich des fünf-
                                                          zigjährigen Bestehens der HSFK noch irgendwelche
Dieter Senghaas: Das wäre nur dann möglich, wenn die      Wünsche, die du ihr mit auf den Weg geben möchtest
Rechtsextremen fünfzig Prozent der Parlamentssitze        für die nächsten fünfzig Jahre?
in Wiesbaden oder Berlin bekommen würden. Zunächst
kann ich mir das nicht vorstellen. Wenn man Schwie-       Dieter Senghaas: Wir haben sicher ein ganz großes
rigkeiten, die wir in den 1960er, 1970er, 1980er Jahren   Problem, das wir in den 1960er, 1970er, 1980er, 1990er
hatten, vergleicht mit dem neuen Dokument „Krisen         Jahren so noch nicht thematisiert haben. Wir haben
verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern.        uns beschäftigt mit dem Sicherheitsdilemma, dem
Leitlinien der Bundesregierung“ vom Auswärtigen Amt       Entwicklungsdilemma, dem Kooperationsdilemma,
aus dem Jahr 2017, dann ist das umwerfend gut. Da         also der gesamten internationalen Ebene. Wir haben
gibt es eine konstruktive Brücke zwischen dem, was        nicht das Ökologiedilemma thematisiert. Und ich
die Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung        glaube, dass es dort in der Friedensforschung einen
erarbeitet hat und den politischen Leitlinien. Ich war    Nachholbedarf gibt, mithilfe des Vorwissens aus
völlig überrascht. Ich würde der Friedensforschung        unseren anderen Themen auch in diesem – für viele
sehr empfehlen, auf Grundlage dieser Leitlinien immer     neuen – Bereich weitsichtige Forschung zu betreiben.
wieder neu zu fragen: Was hat die Friedensforschung       Leitgedanke muss die gleiche Idee sein: das Problem
tatsächlich empfohlen und was ist davon in die Politik    differenziert aufarbeiten und in die Öffentlichkeit, die
eingegangen? Wie hat sich die Regierung verhalten? Wo     Politik und die Pädagogik Brücken schlagen. Die HSFK
ist es reine Rhetorik geblieben? Dann muss man wieder     hat heute die Größe und die Unterstützung aus Politik,
in ein Gespräch kommen, noch intensiver, zwischen         Medien, Administration und anderen Wissenschafts-
Friedensforschung und Politik. Das fände ich ein          organisationen, um da einen wirklich konstruktiven
fantastisches Projekt.                                    Beitrag zu leisten.

                  dieter senghaas                                         lothar brock

     Prof. Dieter Senghaas rief die HSFK gemeinsam           Prof. Lothar Brock war von 1981 bis 2005 For-
     mit Ernst-Otto Czempiel und Hans Nicklas 1970 ins       schungsgruppenleiter an der HSFK und ist heu-
     Leben und war bis 1978 Forschungsgruppenleiter          te assoziierter Forscher im Programmbereich
     am Institut, sowie zwischen 1972 und 1978 Profes-       Innerstaatliche Konflikte. Er war von 1979 bis
     sor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main,        2004 Professor für Politikwissenschaft mit dem
     bevor er an die Universität Bremen wechselte.           Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der
     Seine Arbeit in der kritischen Friedensforschung,       Goethe-Universität Frankfurt am Main und lehrt
     die sich auf Abschreckungskritik sowie den Zu-          dort bis heute als Seniorprofessor.
     sammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit
     konzentrierte, wurde vielfach ausgezeichnet, unter
     anderem mit dem International Peace Research
     Award 1987.

24
ein ort für die forschung
von morgen
Wenn an der HSFK ein neues Forschungsprojekt startet, sollte die nötige Literatur
schon bereitstehen. Dazu verfolgt die Bibliotheksleitung aufmerksam die aktu-
ellen Debatten der Friedensforschung und ergänzt ihre umfangreiche Sammlung
laufend. Der aktuelle Leiter Andreas Heinemann hat sich mit seinem Vorgänger
Stephan Nitz unterhalten, der die Bibliothek mehr als drei Jahrzehnte führte und
professionalisierte.
Interview: Andreas Heinemann

Herr Nitz, warum sind Sie 1984 zur HSFK gekommen?           In der Zeit der großen deutschen Friedensbewegung war
Stephan Nitz: Es wird Sie nicht überraschen: Ich musste     ich einige Schritte mehr den Weg vom Pol des Pazifis-
Geld verdienen. Als Zeitungsleser und als Student der Ge-   mus zum Pol des Realismus gegangen. Die HSFK war für
schichte und Philosophie hatte ich um 1970 die Gründung     mich daher zunächst sehr lehrreich und ein Erlebnis, wie
der HSFK wahrgenommen, aber zu meiner Schande muss          zwischen beiden Polen Positionen entwickelt werden kön-
ich gestehen, dass ich sie 1983 längst vergessen hatte.     nen, die nicht einfach der Resignation geschuldet sind.

                                                                                                                 25
hören will. Dazu hilft Distanz und theoriebasierte For-
                                                             schung. Zur Tradition der HSFK gehört es außerdem,
                                                             der Politik und auch der Öffentlichkeit unbequeme
                                                             Wahrheiten zu sagen. Die Politik hat sich bewegt, aber
                                                             Wahrheiten, die jetzt nur als störend wahrgenommen
                                                             werden, gibt es weiterhin zu entdecken.

                                                             Als Sie die HSFK-Bibliothek übernommen haben, war
                                                             sie bis dahin von einem ehemaligen Antiquar geführt
                                                             worden und es gab einigen Bedarf an Reorganisation…
                                                             Stephan Nitz: Dass die Bibliothek von einem überfor-
                                                             derten Antiquar geführt wurde, war für die wissen-
                                                             schaftlichen Mitarbeiter eine Last. An sich war die Bib-
                                                             liothek aber von Anfang an in einem guten Zustand, da
                                                             sie mit der Vorgabe eröffnet worden war, immer über
                                                             aktuelle Projekte und Spezialisierungen der Mitarbei-
                                                             ter hinaus die Literatur der Friedensforschung und die
                                                             theoretischen Debatten im Fach Internationale Bezie-
                                                             hungen zu verfolgen. Wir hatten eine Stelle geschaffen,
                                                             die schon an die Literatur für künftige Projektanträge
                                                             denkt.

                                                             Sie haben mir vor einiger Zeit mal die Anekdote er-
                                                             zählt, dass Ihr Mitarbeiter, als man ihm erstmals das
                                                             Internet zeigte, Angst hatte, er könne mit einer fal-
                                                             schen Taste das Internet löschen. Wie schwierig war
Die HSFK unterhält die deutschlandweit größte Biblio-        es, den Wandel von der Karteikarte zum Online-Kata-
thek im Bereich Friedens- und Konflikt­forschung.            log in einer kleinen Bibliothek zu gestalten?
                                                             Stephan Nitz: Wir waren keine Pioniere, aber als PCs
                                                             und Bibliotheksprogramme zur Verfügung standen,
                                                             mit denen etwas geleistet werden konnte, waren wir
Über die Jahre hat sich die HSFK deutlich gewandelt,         schnell dabei. Wir haben 1993 begonnen, Neuerwerbun-
ist gewachsen und professioneller geworden. Was un-          gen und die älteren Bestände elektronisch zu katalogi-
terscheidet sie eigentlich von anderen Think Tanks im        sieren und auf der HSFK-Webseite für Literaturrecher-
Bereich Internationale Beziehungen?                          chen zugänglich zu machen. Von Anfang an wollten wir
Stephan Nitz: Was die HSFK schon immer hervorge-             die Chance nutzen, die EDV und das Internet auch für
hoben hat, ist, dass ihre Politikberatung auf einer von      die Öffnung der HSFK nach außen zu nutzen.
Theorie informierten Basis beruht. Ich habe es für einen
Vorteil gehalten, dass die HSFK nicht in Berlin sitzt. Po-   Wenn ich Bibliothekarinnen und Bibliothekare anderer
litikberatung muss das Ohr der Politik finden, aber der      Institute treffe, fällt mir immer die extreme Heteroge-
Politik hilft es nicht, wenn man ihr nur sagt, was sie       nität auf, gerade was die Aufgaben der Bibliotheken

26
betrifft. In manchen Fächern gibt es dort gar keine ge-     heftig kommentierte Bände; das ist es, was bei Goo-
druckten Bücher mehr. Blüht uns das auch?                   gle fehlt. Anfang der 1970er Jahre gab es ein starkes
Stephan Nitz: Zunächst verschwindet das Buch so             Interesse an Bibliographien, das wurde als Teil der
schnell nicht, es werden bekanntlich immer mehr. Dass       Identitätsfindung des Faches Friedens- und Konfliktfor-
es Disziplinen gibt, die auf Bücher verzichten können,      schung begriffen. Das ist dann stark zurückgegangen.
wird daran liegen, dass sie Ergänzungen und Korrek-         Insofern soll das Projekt zum historischen Bewusstsein
turen relativ einfach und nach klaren Regeln ihrem          beitragen, das in Friedensforschung und IB besonders
Forschungsstand anfügen können. Wer dagegen, wie            schwer zu erreichen ist.
in den Sozialwissenschaften üblich, für neue Frage-
stellungen immer neu nach angemessenen Methoden             Was wünschen Sie der HSFK und ihrer Bibliothek zum
sucht und vorher nicht wissen kann, wohin ihn seine         Geburtstag?
Frage führt, der braucht Bücher. Ein Buch ist vor allem     Stephan Nitz: Ich wünsche der HSFK eine Öffentlichkeit
der Aufbau eines komplexen Arguments. Bücher wer-           und Politiker, die den Nutzen von theoretisch ange-
den für vieles, was sie einst leisten sollten, nicht mehr   leiteter Forschung begreifen und nicht mit aktuellen
gebraucht, aber sie werden weiterhin gebraucht zur          Kurzanalysen zufrieden sind. Der Bibliothek wünsche
Einübung komplexer Argumente und als Ort der Entfal-        ich neugierige Wissenschaftler und Studenten, die über
tung eigener komplexer Argumente.                           den Tellerrand ihres aktuellen Projekts schauen und die
                                                            Bibliothek als einen Ort sehen, der ihnen dabei helfen
Wenn man viele Jahre in einem Institut arbeitet, wird       kann.
man dort auch zur Institution, um die sich Mythen und
Legenden ranken. Von Ihnen heißt es, dass Sie jedes
Buch in der Bibliothek auch gelesen hätten und nie
krank gewesen seien.
Stephan Nitz: „Nie krank“ stimmt nicht wörtlich, aber
als Bibliothekar kann man eher als in vielen anderen
Berufen zur Arbeit gehen, wenn man zwischen gesund            stephan nitz
und bettlägerig ist. Bettlägerig war ich fast nie. Auch       Dr. Stephan Nitz leitete die HSFK-Bibliothek von
das mit den Büchern stimmt nicht wörtlich. Wenn ich           1984 bis 2016. Zuvor studierte er Geschichte,
für die weitere Bedeutung von Büchern argumentiere,           Philosophie, Germanistik und Bibliothekswesen
so bin ich doch weit davon entfernt zu glauben, jedes         in Frankfurt am Main und Hamburg.
Buch lohne sich zu lesen.

Auch in Ihrem Ruhestand arbeiten Sie an einem
Großprojekt: der Bibliographie zur Theorie von Krieg
und Frieden. Mal ketzerisch gefragt, wer braucht denn         andreas heinemann
im Google-Zeitalter noch Bibliographien?
Stephan Nitz: Gerade im Google-Zeitalter werden sol-          Dr. Andreas Heinemann wechselte 2016 als Bi-
che Bibliographien gebraucht. Google hat die Menge            bliothekar von der Schiller International Univer-
von Informationen endgültig unüberschaubar gemacht.           sity in Heidelberg an die HSFK. Er studierte Ge-
Gerade weil niemand mehr alles lesen kann, werden             schichte, Politikwissenschaft sowie Library and
Hintergründe gebraucht. Meine Bibliographien sind             Information Science in Münster und Köln.

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czempiel, spiritus rector der HSFK

Ernst-Otto Czempiel (* 22. Mai 1927, † 11. Februar 2017) prägte über mehr als eine
Generation die Diskussionen in den Internationalen Beziehungen, in der Friedens-
forschung im Allgemeinen und in unserem Institut im Speziellen. Ohne ihn hätte
es die HSFK nicht gegeben.
Text: Harald Müller

Ernst-Otto Czempiel, geboren 1927, erlebte Diktatur,     gegründet wurde, verdankt sie dem Ruf Czempiels an
Krieg und Holocaust. Er war geprägt durch sein bürger-   die Goethe-Universität Frankfurt. In den folgenden Jah-
lich-katholisches Elternhaus und glaubte unverrückbar    ren steuerte er das zunächst kleine und heftig umstrit-
an den Zusammenhang von Demokratie und Frieden.          tene Institut aus dem Hintergrund durch manchen poli-
„Nie wieder Krieg“ wurde die normative Maxime seines     tischen Sturm. Czempiel legte mit seinem Drängen auf
wissenschaftlichen Schaffens, der Frieden zum ulti-      wissenschaftliche Professionalität die Grundlage dafür,
mativen Maßstab für die Beurteilung von Außen- und       dass sich die HSFK zu einem Flaggschiff der deutschen
Sicherheitspolitik.                                      Friedensforschung entwickeln konnte.

                      Mir ist kein Krieg bekannt, aus dem ein Friede erwachsen ist.
                      Man kann mit Gewalt allgemein keinen Frieden schaffen.

Czempiel studierte Neuere Geschichte, Anglistik und       „E.O.“, das war sein Spitzname an der HSFK und dar-
Philosophie an der Universität Mainz, promovierte 1956   über hinaus, war mein Doktorvater. In dieser Rolle und
und erhielt einen Ruf an die Universität Marburg. Hier   als Vorgesetzter im Allgemeinen hielt er immer das
entwickelte er die Idee, ein hessisches Friedensfor-     richtige Maß zwischen Leistungsforderung und „Leine
schungsinstitut zu gründen, und fand dafür im damali-    lassen“. Besonders beeindruckt haben mich immer
gen Ministerpräsidenten Albert Osswald einen politisch   seine ethischen Grundsätze: E.O. hätte niemals seinen
überzeugten Unterstützer. Dass die Hessische Stiftung    Namen unter eine Publikation gesetzt, zu der er nichts
Friedens- und Konfliktforschung 1970 dann in Frankfurt   beigetragen hat. Er hat nie seine Macht missbraucht,

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Ernst-Otto Czempiel mit Hans Dietrich Genscher im Rahmen der Präsentation von Czempiels Buch „Kluge Macht“,
November 1999.

um inhaltliche Anpassungen zu erzwingen, und er hat         zustreben. Deren Realisierung hat das vierte und fünfte
sich nie vor den Inhabern der Macht gebeugt. Was ei-        Lebensjahrzehnt des Instituts entscheidend geprägt.
gentlich selbstverständlich sein sollte, war es leider      Czempiel war kein Politiker (er gehörte nie einer Partei
nicht – insofern wurde E.O. gerade von jüngeren Kolle-      an), aber ein politischer Mensch. Wissenschaft hatte
ginnen und Kollegen sehr geschätzt.                         für ihn den Zweck, die Grundlagen für eine bessere
Sein Einfluss hat sich in wichtigen Grundzügen meines       Politik zu legen. Zwei seiner Hauptwerke, „Friedens-
eigenen Wirkens niedergeschlagen. Die von mir später        strategien“ und „Kluge Macht“ sind dem Transfer wis-
als Geschäftsführer initiierten Forschungsprogramme         senschaftlicher Erkenntnisse in praktisches Handeln
„Antinomien des demokratischen Friedens“ und „Just          gewidmet. Auch diese Mission, unser Wissen an die
Peace Governance“ griffen Kernelemente des Czem-            Gesellschaft zurückzugeben, die uns die Erarbeitung
pielschen Denkens auf: den Zusammenhang zwischen            dieses Wissens ermöglicht, hat E.O. im Institut und
Demokratie und Frieden und die Rolle der Gerechtig-         auch in meiner eigenen Berufsauffassung fest veran-
keit für Konflikte und ihrer Beilegung. E.O. war auch der   kert.
Erste, der mir trotz meiner anfänglichen Bedenken dazu      Ernst-Otto Czempiel verstarb am 11. Februar 2017 kurz
riet, die Mitgliedschaft in der Leibniz-Gemeinschaft an-    vor seinem 90. Geburtstag in Berlin.

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wir … in frankfurt und hessen
„Hessisch“ trägt die HSFK nicht umsonst im Institutsnamen,
denn die Verwurzelung in Frankfurt und der Region ist uns
wichtig. Das reicht vom Beitrag zur politischen Bildung bis zur
Akuthilfe bei lokalen Konflikten.

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„erfolg allein ist nicht das kriterium“

Der Hessische Friedenspreis würdigt seit 1993 besonderes Engagement für
Völkerverständigung und Frieden. Seitdem begleitet die HSFK den Auswahl-
prozess. Gemeinsam mit dem Kuratoriumsvorsitzenden und ehemaligen
hessischen Landtagspräsidenten Karl Starzacher und dem HSFK-Forscher
Bruno Schoch blicken wir zurück auf die Entstehungsgeschichte und die
Preisträgerinnen und Preisträger, an die wir uns heute noch besonders
intensiv erinnern.
Interview: Philipp Offermann

Was ist denn eigentlich der Hessische Friedenspreis?      Sein Zustandekommen hat sicherlich mit Osswalds
Bruno Schoch: Das Interessante ist, dass er inzwischen    Lebenslauf zu tun: Er war von 1939 bis 1945 Wehr-
immer Hessischer Friedenspreis genannt wird. Er heißt     machtssoldat, hat also am Krieg teilgenommen und
aber eigentlich Friedenspreis der Albert-Osswald-Stif-    war danach in Kriegsgefangenschaft. Ich bin sicher,
tung und wird gar nicht vom Land Hessen verliehen.        dass aufgrund dieser Erfahrung das Thema Frieden für
Nach dem, was ich über den früheren Hessischen            ihn immer eine große Bedeutung hatte.
Ministerpräsidenten Albert Osswald gelesen habe,          Dazu kommt, dass Albert Osswald und Ernst-Otto
wäre ihm diese Verkürzung aber wahrscheinlich keine       Czempiel, Mitbegründer und langjähriger Vorstandsvor-
besondere Last. Denn er war so etwas wie ein hessi-       sitzender der HSFK, auch persönlich guten Kontakt hat-
scher Patriot. In den Anfangsjahren hat man diesen        ten. Ich kann mir durchaus auch vorstellen, dass Czem-
Friedenspreis oft mit dem Friedenspreis des Deutschen     piel die Idee hatte, dass die Albert-Osswald-Stiftung ja
Buchhandels verwechselt. Oder, bis in die FAZ hinein,     einmal im Jahr einen Friedenspreis vergeben könnte.
den Friedenspreis und die HSFK gleichgesetzt. Das war     Bruno Schoch: Albert Osswald ist ja 1976 unter etwas
für uns als HSFK natürlich nicht besonders rufschädi-     unglücklichen Umständen nach dem Helaba-Skandal
gend. Im Gegenteil.                                       zurückgetreten. Da fragt man sich natürlich: Warum hat
Karl Starzacher: Dass ich mit dem Hessischen Frie-        er seine zuvor gegründete Stiftung im Jahr 1993 auf
denspreis der Albert-Osswald-Stiftung in Berührung        Frieden umgestellt? Schließlich haben sich die Sowjet-
kam, lag daran, dass ich Landtagspräsident war, als       union und der Warschauer Pakt aufgelöst, US-amerika-
1994 der erste Friedenspreis verliehen wurde. Albert      nische Politologen haben sogar das Ende der Geschich-
Osswald als Stifter und ich haben damals vereinbart,      te proklamiert. Gleichzeitig gab es aber natürlich die
dass der Preis im Hessischen Landtag vergeben wird.       Konflikte auf dem Balkan seit 1991, Kriegsbilder mitten
Der Landtag, die Staatskanzlei und der jeweilige Minis-   in Europa. Da haben einige Leute gesagt: Jetzt brau-
terpräsident haben dieses Projekt immer sehr positiv      chen wir das Engagement für den Frieden eigentlich erst
begleitet und unterstützt. Insofern ist es inzwischen     recht. Insofern kann man das Jahr 1993 auch als Aus-
auch der Hessische Friedenspreis.                         druck von besonderer Weitsichtigkeit interpretieren.

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