50 jahre FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
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FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN 50 jahre LEIBNIZ-INSTITUT HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG
FRIEDEN FÄNGT BEI UNS AN Peace Research Institute Frankfurt Leibniz- Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
frieden fängt bei uns an Wenn wir über Frieden sprechen, denken wir meist daran, bleiben von den Erschütterungen in anderen Teilen der bewaffnete Kriege oder Konflikte zu beenden oder zu Welt, seien es politische oder wirtschaftliche Krisen, verhindern. Wir erinnern uns an die Katastrophe zweier seien es Naturkatastrophen, Pandemien oder Konflikte, Weltkriege, an das „Niemals wieder“ der Vereinten Na- noch dass wir uns von ihnen abschotten können: Nirgend- tionen als Reaktion auf den Zivilisationsbruch der Shoa, wo bemerken wir das gegenwärtig deutlicher als an an Srebrenica und an Ruanda, und wir denken an die der Corona-Pandemie, die auf der ganzen Welt wütet, Ukraine, den Jemen, den Irak, Südsudan oder an Syrien, Volkswirtschaften in die Knie zwingt und auch bei uns wo aktuell militärische Konflikte ausgetragen werden. im Frühjahr zu einem nahezu vollständigen Shutdown Und so sehr diese Gräuel unser Bewusstsein von der des öffentlichen Lebens geführt hat. Neben allen an- Notwendigkeit das Friedens prägen, so lassen sie uns deren direkten und indirekten Auswirkungen auf unser doch manchmal vergessen, dass Frieden nicht nur Institut führt die Pandemie ganz konkret dazu, dass wir global gestiftet werden muss, im Fernen Osten, im unsere geplanten Jubiläumsfeierlichkeiten auf das Jahr globalen Süden, zwischen verfeindeten Staaten oder 2021 verschieben müssen. Allianzen. Frieden beginnt bei uns, in unserer Familie, Die Effekte von Krisen bemerken wir teilweise in Reise- vor unserer Haustür, mit unseren Nachbarn, in unseren warnungen oder Lieferengpässen für Güter, in politi- Städten, in unserer Gesellschaft. Nur eine Gesellschaft, schen Blockaden, steigenden Flüchtlingszahlen oder die in Frieden miteinander lebt, kann auch nach außen aber auch dadurch, dass Konflikte direkt in unsere Frieden stiften. Gesellschaften getragen werden. Terrorismus mag Be- Frieden beginnt aber nicht nur bei uns und im Kleinen, gleiterscheinung globaler Konfliktkonstellationen sein, sondern er ist immer zugleich mit dem Frieden im Gro- aber er manifestiert sich genauso im Herzen Europas, ßen verknüpft. Die fortschreitende Globalisierung aller in Paris oder am Breitscheidplatz in Berlin. Auch der Lebensbereiche, bei all ihren positiven Effekten, sorgt sogenannte Islamische Staat, der jahrelang den Nahen dafür, dass wir in unserer Gesellschaft weder verschont Osten tyrannisierte, wurde von ausreisenden Anhänge- 4
Nicole Deitelhoff rinnen und Anhängern aus Europa genährt. Terrorismus bei uns ausgetragen, aber nicht selten gehen sie auch ist keine Einbahnstraße. von unserer eigenen Gesellschaft aus. Die Zunah- Auch im Kontext bewaffneter Konflikte, nämlich in der me von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Rüstungskontrolle geht es zwar zunächst darum, die allgemein von gruppenbezogener Menschenfeindlich- Großmächte dazu zu verpflichten, ihre Waffenarsenale keit und die damit einhergehenden Gewalttaten, die zu verringern oder zumindest nicht weiter auszubauen, wir in vielen westlich-liberalen Staaten wie auch bei aber Rüstungskontrolle hängt genauso mit Kleinwaffen uns sehen, sind zwar im Kontext globaler Krisen und zusammen. Die Verfügbarkeit von und das Handeln mit Konflikte zu sehen; aber sie sind nicht einfach nur Handfeuerwaffen muss drastisch eingeschränkt wer- eine Folge dieser Konflikte, sondern haben ihre Ursa- den, damit nicht nur Konflikte im globalen Süden, son- chen ebenso in unserer eigenen Gesellschaft. Umso dern auch Amokläufe in den USA, aber auch bei uns, bedeutsamer ist es, bei uns selber Frieden zu stiften eingedämmt werden können. durch die Verteidigung oder Herstellung der gesell- Die Digitalisierung tut ein Übriges, um unsere Welt zu schaftlichen Grundlagen von Frieden: Respekt und verkleinern: Schad-Software bedroht kritische Infra- Toleranz im Miteinander einüben und pflegen, öffent- strukturen wie die Energieversorgung oder Verkehrs- liche Auseinandersetzungen über strittige Themen und Transportsysteme. Waffen können inzwischen mit fördern und einfordern, wo sie zu erlahmen drohen, 3D-Druckern an jedem Ort der Welt gefertigt und ver- und eine Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik befördern, fügbar gemacht werden. Soziale Bots und Internet-Trolle welche die natürlichen Lebensgrundlagen erhält und beeinflussen die öffentliche Meinung und demokra- die Schwächsten schützt. Nur eine Gesellschaft, die in tische Wahlen mit dem Ziel, die freie Gesellschaft zu diesem Sinne friedensfähig ist, kann den Anfeindungen destabilisieren. von außen und innen widerstehen, den diffusen Be- Unabhängig davon, wo Konflikte und Probleme auf- drohungen unserer Zeit begegnen und zum globalen treten: Sie sind oft direkt bei uns spürbar oder werden Frieden beitragen. 5
impressum 50 Jahre HSFK – ein Magazin des Leibniz-Instituts Hessische Bildnachweise Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Bleckmann, Jana: S. 38 (rechts), S. 40 | Dadbhawala, Deven (Flickr, ISBN 978-3-946459-56-9 CC BY-NC-ND 2.0): S. 75 | Diesseits Kommunikationsdesign GbR: S. 47 (Cover Friedensgutachten) | Dettmar, Uwe: S. 5, S. 14, S. 53 | Dörrscheidt, Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Barbara: S. 11, S. 14 (links), S. 35 | Elias, Manuel: S. 69 (rechts, UN Photo) Baseler Straße 27-31 | EU Non-Proliferation and Disarmament Consortium: S. 63 | Fahrnberger, 60329 Frankfurt/M. Helge: S. 58 (rechts, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0) | Giribas, info@hsfk.de Jose: S. 15 (Süddeutsche Zeitung Photo, rechts) | Haerdtle, Isabel: www.hsfk.de | www.prif.org S. 62 | Leibniz-Gemeinschaft: S. 44, S. 45 | Lipponen, Antti: S. 54 Tel.: 069 959 104-0 (Flickr, Image by MODIS on board Terra satellite, CC BY 2.0) | North Atlantic Fisheries Arbitration, The Hague, 1910 (Wikimedia Commons, Herausgeberin CC0 1.0 Universal): S. 38 | Pape, Paul: S. 38 (rechts), S. 40, S. 41 | picture Prof. Dr. Nicole Deitelhoff alliance: S. 66 | Praefcke, Andreas: S. 51 (Wikimedia Commons, CC BY 3.0) | Privatarchiv Dieter Senghaas: S. 21, S. 24 | Schittko, Robert: S. 37 Redaktion | Sierra, Luis Enrique: S. 60 | Steinert, Manuel: S. 22 | tagesschau24: Barbara Dörrscheidt (Leitung), Karin Hammer, Eva Neukirchner, S. 48 | The International Institute for Strategic Studies (IISS): S. 58 Gunnar Placzek, Manuel Steinert (links) | U.S. Army: S. 15 (links, Wikimedia Commons, public domain) | United States Office of War Information: S. 69 (links, public domain) | Studentische Unterstützung 21th Century Fox: S. 71, S. 73 | Seite 65: Bianet/DW Hindi/CCTV/Grude. Frank Kuhn, Sophia Schmidt, Leonard Wagner com/Spiegel Online Layout und Satz grübelfabrik e.K., Frankfurt am Main gedruckt auf umweltfreundlichem Papier Bildkonzept, Grafiken/Illustrationen Institut für Neue Kommunikation, Offenbach am Main Druck Buch- und Offsetdruckerei Häuser KG, Köln 6
inhalt wir … hier Über Mut, Neugierde und die Lust zu streiten: Interview mit Harald Müller und Nicole Deitelhoff 10 Das Frühjahr 1989: Politikberatung mit politischen Folgen 15 50 Jahre HSFK: Eine Chronik 16 Die HSFK in Zahlen: Damals und heute 18 Ein kritischer Friedensforscher: Dieter Senghaas im Gespräch 20 Ein Ort für die Forschung von morgen: Über Vergangenheit und Zukunft der HSFK-Bibliothek 25 Ernst-Otto Czempiel, Spiritus Rector der HSFK 28 wir … in frankfurt und hessen Gut vernetzt in Frankfurt und Hessen: Unsere Partner 32 „Erfolg allein ist nicht das Kriterium“: Der Hessische Friedenspreis 34 Making Crises Visible: Eine Ausstellung der Krise 37 wir … in deutschland Frankfurt – Berlin / Berlin – Frankfurt: Das Berliner Büro 44 Das Friedensgutachten 47 Die HSFK und das Auswärtige Amt 51 Umwelt und Frieden: Interdisziplinäre Kooperation in der Leibniz-Gemeinschaft 54 wir … in der welt Einmal um die Welt und zurück: Friedensforschung international 58 Wie bitte? Die HSFK in internationalen Medien 65 75 Jahre Vereinte Nationen, 50 Jahre Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag – Doch die Feierlaune bleibt aus. Ein Essay von Christopher Daase 66 Glotze an, Popcorn raus: Sci-Fi-Klassiker unter der Lupe 70 7
wir … hier Eines hat sich auch nach 50 Jahren Institutsgeschichte nicht geändert: Kluge Köpfe und ihr persönliches Engagement sorgen dafür, dass die HSFK sich weiterentwickelt, modern bleibt und stetig mehr Gehör findet, um zum Frieden in der Welt beizutragen. 9
über mut, neugierde und die lust zu streiten Harald Müller stand 20 Jahre an der Spitze der HSFK, bevor Nicole Deitelhoff im Jahr 2016 das Ruder übernahm. Ein Gespräch über erste Eindrücke, die Verbindung von Wissenschaft und Praxis und die Frage, was die HSFK seit 50 Jahren ausmacht. Interview: Barbara Dörrscheidt Herr Müller, Sie haben die HSFK drei Jahre nach ihrer eine Million DM. Das hätte für das Institut das Ende Gründung 1973 als Student erstmals betreten. Was bedeutet. war Ihr erster Eindruck? Harald Müller: Der erste Eindruck war überwältigend, Nicole, du bist 2001 als Stipendiatin an die HSFK ge- denn man ging damals direkt durch die Eingangstür in kommen. Wie war denn dein erster Eindruck? die Bibliothek. Eine Riesensammlung an einschlägigen Nicole Deitelhoff: Als ich an die HSFK gekommen bin, Büchern, die Vielfalt des Angebots war einfach magisch. war für mich das Institut eigentlich ein Buch mit sieben Und mein Gefühl war: Da will ich hin. Als ich im August Siegeln. Ich kannte überhaupt niemanden außer Harald 1976 Mitarbeiter wurde, hatte die HSFK erhebliche innere Müller. Für mich hat sich das Institut vor allem durch Konflikte zwischen Professoren und den Mitarbeiterin- ganz kurze Wege ausgezeichnet. Alle Kollegen waren nen und Mitarbeitern, zwischen „Linken“ und „Konser- immer direkt ansprechbar, unglaublich hilfsbereit. Das vativen“. Das waren Nachwehen der 68er-Bewegung. war fantastisch. Die HSFK hatte jahrelang um Anerkennung zu kämpfen, vor allem in der konservativen Öffentlichkeit. Damals 2001 war auch das Jahr des Anschlags vom 11. Sep- stellte die CDU-Fraktion im Hessischen Landtag jähr- tember. Herr Müller, wie groß war der Einfluss dieses lich einen Antrag auf Kürzung des HSFK-Haushalts um Ereignisses auf die Entwicklung der HSFK? 10
Harald Müller, ehemaliger Leiter der HSFK, zusam- men mit Nicole Deitelhoff, die das Amt 2016 von ihm übernahm. Harald Müller: Es gab natürlich die unmittelbare An- Sie haben die HSFK über zwanzig Jahre geleitet. Was forderung an uns, Orientierungswissen für die Öffent- waren Ihre größten Erfolge? lichkeit zu liefern. Die Medien rannten uns die Bude ein. Harald Müller: Dass es uns gelungen ist, Theorie und Wir haben die Merkmale der Anschläge mit vorherigen Praxis zu verbinden, und zwar nahezu in der Tätigkeit Aktionen von Al Qaida verglichen und dann noch am jedes einzelnen Wissenschaftlers und jeder einzel- selben Tag in den Medien vertreten, dass Osama Bin nen Wissenschaftlerin. Zweitens, dass unsere wissen- Laden deren Urheber sei. Wir waren unter den Ersten, schaftliche Exzellenz mittlerweile dreimal zertifiziert die diese Diagnose gestellt haben. Wir waren nass- worden ist vom Wissenschaftsrat und von der Leib- forsch, aber trafen letzten Endes ins Schwarze. Das niz-Gemeinschaft. Drittens die Förderung des Nach- brachte uns natürlich Anerkennung ein. Terrorismus wuchses und die erfolgreiche Frauenförderung. Wir wurde zwar nicht zu unserem Kernthema, allerdings haben jetzt eine Chefin, wir haben so viele Frauen im hatte 9/11 noch eine andere Folge: Der Irak-Krieg wurde Vorstand wie Männer, wir haben eine große Zahl an einer unserer zentralen Forschungsgegenstände, mit Mitarbeiterinnen und mehr Doktorandinnen als Dokto- dem wir beweisen konnten, dass wir mit unserem For- randen, wenn ich das richtig sehe. Ich bin viertens stolz schungsprogramm über das ambivalente Verhältnis von auf die finanzielle Konsolidierung und fünftens nicht zu- Demokratie und Frieden im Zentrum der Zeit standen. letzt auf zwei erfolgreiche Generationswechsel an der 11
Spitze. Man weiß, dass zwei friedliche Führungswech- Was wären denn mögliche Instrumente dafür? sel in einer Demokratie als Indikator ihrer Stabilität gel- Nicole Deitelhoff: Das eine ist, dass wir uns bemühen, ten. Dieses Institut ist stabil. Und es hat gezeigt, dass in unserer Stadt, in unserer Region aktiv zu sein und jeder Mensch und jede Art von Leitung auch ersetzbar Angebote zu machen für die Stadtgesellschaft. Im sind. Frühjahr war da etwa unser Ausstellungsprojekt „Making Crises Visible“, bei dem wir mit vielen Partnern in der Nicole, du hast das Ruder 2016 übernommen. Wie Region zusammengearbeitet und einen Teil unserer blickst du auf die bisherigen vier Jahre zurück? Forschung begehbar, anfassbar, sichtbar gemacht Nicole Deitelhoff: Naja, es war lange nicht klar, ob wirk- haben. Zu sehen war die Ausstellung im Senckenberg lich jeder ersetzbar ist, aber nach vier Jahren sind die Museum. Aber auch in Konfliktlagen wie dem extre- schlimmsten Klippen umschifft. Nein, es waren vier mistischen Anschlag von Halle müssen wir mit unserer sicherlich ungeheuer anstrengende, aber auch wirklich Expertise bereitstehen und helfen. Wir haben beispiels- inspirierende Jahre. Neuerungen führen natürlich auch weise der Stadt Hanau angeboten, dass unsere Mit- zu Konflikten, wir diskutieren auch heute noch über arbeiterinnen und Mitarbeiter in Schulen und Vereine neue Themen und neue Strukturen. Die HSFK war eben gehen oder auch für Diskussionsveranstaltungen zur immer ein dynamisches Institut – das bleibt so und das Aufklärung bereitstehen. Damit möchten wir unserer macht uns schließlich erfolgreich. gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen. Wohin soll es denn in den nächsten Jahren gehen aus Eine wesentliche Aufgabe der HSFK ist die Politik- deiner Sicht? beratung. Was letzten Endes zu bestimmten politi- Nicole Deitelhoff: Wir haben uns in den letzten Jahren schen Entscheidungen geführt hat, wissen wir in den durchaus in der Breite unserer Themen weiterentwickelt, meisten Fällen aber nicht. Herr Müller, können Sie von das muss man jetzt erst einmal konsolidieren. Wir ha- einem Fall berichten, bei dem Sie sicher sind, dass un- ben uns im Bereich Terrorismusforschung spezialisiert, ser Beitrag wesentlichen Einfluss hatte? die Radikalisierungs- und Extremismusforschung an Harald Müller: Also ich denke am nächsten kommt man die HSFK geholt, auch Polarisierung und gesellschaftli- da in dem erstaunlichen Jahr 1989. Es begann damit, chen Zusammenhalt stärker als in den 90er und 2000er dass die NATO neue Kurzstreckenraketen nach Europa Jahren in den Fokus gerückt und dafür Anerkennung bringen wollte, auch nach Deutschland. Im Frühjahr war erhalten. In Zukunft möchte ich das, was wir traditionell in Moskau schon der Pulverdampf eines Militärcoups zu immer schon sehr stark gemacht haben – also grenz riechen, Gorbatschow wackelte. Und einer der wesent- überschreitende Konflikte, internationale Konfliktlagen, lichen Momente, die dieses Wackeln ausgelöst hatte, Rüstungskontrolle – enger verzahnen mit unseren neuen war dieser geplante NATO-Beschluss, weil damit in den Stärken im innergesellschaftlichen Forschungsgebiet. Augen der Hardliner die ganze Gorbatschow-Politik Aber wenn ihr mich danach fragt, wie ich mir die HSFK in gescheitert wäre. Man sah auch im Auswärtigen Amt fünf Jahren vorstelle: Diejenigen, die sich mit Friedens- die Gefahr, dass der Entspannungsprozess zusammen- und Konfliktforschung im engeren Sinne beschäftigt bricht, und suchte nach Argumenten, um diesen NATO- haben, wussten immer, dass die HSFK ein fantastisches Beschluss zu verhindern. Das Kanzleramt war unent- Institut mit toller Forschung ist. Aber an allen außerhalb schlossen, Kohl war sehr NATO-treu. dieses Felds ist die HSFK einfach so vorbeigelaufen. Wir bekamen einen Anruf aus Genschers Büro, ob wir Und das möchte ich gerne ändern, sodass wir in Zukunft sehr schnell eine Studie machen könnten, die verständ- nicht mehr nur ein Institut für Kenner sind, sondern ein lich darlegt, warum dieser Beschluss nicht getroffen Institut, das man kennt. werden sollte. Und wir machten das, ich glaube, inner- 12
in den medien Frankfurter Rundschau, 12.11.1987 Frankfurter Rundschau, 01.11.2000 FAZ, 27.07.2011 halb von zehn oder vierzehn Tagen. Genscher nahm Polizei in Baden-Württemberg eingesetzt. Ein anderes das, brachte es zusammen mit anderen Vorlagen und Beispiel ist, dass wir jedes Jahr die politikwissenschaft- marschierte ins Kanzleramt. Und das Ergebnis des liche Ausbildung der angehenden Diplomatinnen und Gesprächs war, dass Kohl davon überzeugt war, dass Diplomaten im Auswärtigen Dienst machen und dort dieser Beschluss jetzt so nicht gefasst werden sollte. das, was wir hier an Erkenntnissen in der Forschung ge- Kohl hatte innerhalb der NATO einen enormen Einfluss wonnen haben, direkt in Praxismodule umsetzen. und konnte sehr gut mit dem US-Präsidenten Bush. Er brachte es fertig, Bush und Thatcher davon zu über- Nicole, was macht denn die HSFK aus deiner Sicht zeugen, diesen Beschluss auf unbestimmte Zeit zu besonders? Gibt es so etwas wie eine spezifische verschieben. DNA der HSFK? Nicole Deitelhoff: Ja, aus meiner Sicht ist das so. Die Das ist jetzt natürlich schwer zu toppen für dich, Nicole. Grenzen zwischen Forschung, Forschungsunterstüt- Nicole Deitelhoff: (lacht) Ich wollte gerade sagen: Alles zung und Verwaltung wurden hier nie besonders scharf was ich jetzt beisteuern könnte, klingt daneben völlig gezogen. Wir diskutieren immer sehr rege miteinander profan. Ich glaube aber, dass es sich auch durchaus und streiten auch schon mal. Das ist etwas, das die auszahlt, dass wir in den letzten Jahren auf die Trai- HSFK bis heute auszeichnet. Sie ist insgesamt einfach ningsebene gesetzt haben. Beispielsweise werden aus extrem neugierig, was einem fast schon auf die Nerven unserem Projekt „Salafismus in Deutschland“ unsere geht (lacht). Außerdem haben die Kolleginnen und Kol- Videos, die einzelne Aspekte von Radikalisierungspro- legen einen Blick für das Wesentliche. Man diskutiert zessen darstellen, inzwischen in der Ausbildung der gerne über alles, man streitet auch gerne über alles, 13
aber am Ende des Tages geht es ums Wesentliche. Und hatte. Jetzt ist die Vision als Recht und als Pflicht in dann wird sich eben nicht mehr an den kleinen Details auf- der Hand von Nicole. Und mein Privileg ist es, von der gehalten, sondern dann haben alle das Große und Gan- Seitenlinie mit ständiger Sympathie der Umsetzung ih- ze im Blick. Und das ist etwas, das die HSFK meines rer Vision zuzusehen. Erachtens zu einem ganz besonderen Institut macht. Nicole Deitelhoff: Solange das nicht wie in der Mup- Harald Müller: Ich sehe das ganz ähnlich. Die HSFK pet-Show ist, wo dann die älteren Herren oben in der unterscheidet sich von fast allen Leibniz-Instituten und Loge sitzen, find ich das ja eigentlich auch ein ganz anderen Instituten dadurch, dass sie nicht ihrem Direk- schönes Bild. Nein, wenn ich über die nächsten fünf- tor gehört. Sondern dass es eine weitgehende Partizi- zig Jahre nachdenke, möchte ich auch keine großen pation der Mitarbeiterschaft auch an wesentlichen Ent- Visionen entwickeln, sondern vielleicht eher ein paar scheidungen des Instituts gibt. Dass der Forschungsrat Charaktereigenschaften hervorheben, von denen ich nicht einfach eine Institution ist, die abnickt, sondern hoffe, dass sie die fünfzig Jahre begleiten werden. die wesentliche Fragen der Institutspolitik mitdiskutiert Und das sind Mut und Abenteuerlust. Die HSFK hat und mit beeinflusst. den Mut gehabt, von einem kleinen Landesinstitut in die Liste der Leibniz-Gemeinschaft einzutreten. Das Herr Müller, was wünschen sie der HSFK für die war wirklich mutig. Und das war natürlich Ernst-Otto nächsten fünfzig Jahre? Czempiel, aber vor allem Harald Müller zu verdanken. Harald Müller: Ich bin Emeritus. Und ein Emeritus hat Wer weiß, was in zehn, in zwanzig Jahren anliegt, aber weder das Recht noch die Pflicht, Visionen zu haben. diesen Mut, dieses persönliche Engagement, das wün- Das war mein Job, solange ich dieses Institut zu leiten sche ich der HSFK auch für die nächsten fünfzig Jahre. harald müller nicole deitelhoff Prof. Harald Müller war von 1996 bis 2015 2016 übernahm Prof. Nicole Deitelhoff die geschäftsführendes Vorstandsmitglied Institutsleitung. Sie ist seit 2009 Profes- der HSFK. Er war zudem Professor für In- sorin für Internationale Beziehungen und ternationale Beziehungen (1999–2016) an Theorien globaler Ordnungspolitik an der der Goethe-Universität Frankfurt/M., deren Goethe-Universität Frankfurt/M. und leitet Ehrenmedaille er 2017 erhielt, und ist Trä- die HSFK-Programmbereiche Internationa- ger des Thérèse Delpech-Preises des Car- le Institutionen und Transnationale Politik. negie Endowment for International Peace 2008 erhielt sie den Heinz Maier-Leib- 2019 und der Wilhelm-Leuschner- Medaille nitz-Preis der Deutschen Forschungsge- des Landes Hessen. meinschaft und 2017 den Schader-Preis. 14
politikberatung mit historischen folgen Im Jahr 1989 wollte die NATO neue Kurzstreckenraketen in Europa stationieren – ein Vorhaben, das den Entspan- nungsprozess im Ost-West-Konflikt in Gefahr brachte. Letztendlich kamen die Raketen nicht. Eine Studie der HSFK spielte bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle. Ein Anruf aus dem Büro des dama- Rakete nicht durch ein Nachfolgesys ligen Außenministers Hans-Dietrich tem zu ersetzen – stattdessen soll- Genscher setzte im Frühjahr 1989 ten beide Seiten alle taktischen Nu alles in Gang: Neun HSFK-Wissen- klearwaffen drastisch reduzieren, schaftler erarbeiteten gemeinsam die unilateral und durch Verhandlungen, 80 Seiten starke Studie mit dem Titel weitere „Zero-Options“ eingeschlossen. Modernisierung und kein Ende? Die Das Papier überzeugte den damaligen „Modernisierung“ der Kurzstrecken Kanzler Helmut Kohl, der seinen Ein- raketen und die Defizite der sicher- fluss innerhalb der NATO nutzte und heitspolitischen Debatte in der NATO. schließlich auch George Bush und Mar- Darin forderten die Autoren, die Lance- garet Thatcher zum Umdenken brachte. Test einer MGM-52 Lance Kurzstreckenrakete George Bush, Helmut Kohl und Margaret Thatcher auf auf der White Sands Missile Range, 1965. dem G7-Gipfel in Paris am 14.07.1989. 15
50 jahre hsfk – eine chronik 1989 Tian’anmen- Massaker; Fall der Berliner Mauer 1970 Kniefall 1975 KSZE-Schlussakte 1979 Islamische Revolu- 1980 Friedensbewe- von Warschau von Helsinki tion in Iran; Sowjetische gung gegen die sog. Invasion in Afghanistan Nachrüstung der NATO 1970 Die Gründung: Interesse an 1971–1979 Die HSFK nimmt 1980–1989 Von der Theorie in die der Friedensforschung besteht so- ihre Arbeit auf: Zunächst steht die Praxis: Die HSFK setzt sich für die wohl auf wissenschaftlicher als Grundlagenforschung zum Ost- Rückkehr zur Entspannungspolitik auch auf politischer Seite. Wie West-Konflikt im Fokus der Wis- ein und richtet ihre Forschung mehr wichtig die Grundlagenforschung senschaftlerinnen und Wissen- an praktischer Politik aus. Erarbeite- in diesem Bereich sei, betonte Bun- schaftler. Rüstungskontrolle und tes Grundlagenwissen wirkt nun stär- despräsident Heinemann bereits die Außen- und Sicherheitspolitik ker in der Politikberatung, unter an- 1969. Dem Marburger Friedensfor- der USA, der Sowjetunion und der derem im Auswärtigen Amt und den scher Ernst-Otto Czempiel gelingt Bundesrepublik Deutschland bilden Bundesministerien für Verteidigung es schließlich, den Hessischen Schwerpunkte der Forschung der und Entwicklung. Ministerpräsidenten Albert Oss- HSFK. Darüber hinaus richtet eine Durch die Entstehung der Friedens- wald von der Sinnhaftigkeit eines Forschungsgruppe den Blick auf bewegung in Deutschland kann sich vom Land gestifteten Friedensfor- die Friedenspädagogik. Produziert die HSFK im öffentlichen Diskurs schungsinstituts zu überzeugen. Da werden überwiegend Monographi- positionieren. Etwa bei der Debatte es zum „Geist der Stadt“ Frankfurt en und umfangreiche akademische um die „Startbahn West“ am Frank- passe, beschließt die Stadtverord- Aufsätze. furter Flughafen, im Kampf gegen netenversammlung die Gründung Von außen wird die HSFK zunächst die Verbreitung von Massenvernich- des Instituts in Frankfurt sowie des- vielfach skeptisch wahrgenommen: tungswaffen und vor allem in der sen materielle Unterstützung. Am Die hessische CDU zweifelt an den Debatte über Kernwaffen in Europa 30. Oktober 1970 übergibt der Mi- Leistungen des Instituts, fürchtet vermittelt sie zwischen Aktivist.in- nisterpräsident die Stiftungsurkun- die Entstehung einer „Brutstätte nen und der Politik und bietet Orien- de an den vorläufigen Vorstand. linker Ideologie“ und fordert Haus- tierungswissen an. Damit steigt die haltskürzungen, während die Stasi Bekanntheit des Instituts in Frank- die HSFK gleichzeitig als „Agenten furt und Hessen ebenso wie die An- des Imperialismus“ einordnet. erkennung durch die Politik. Text: Eva Neukirchner 16
1991 Ende des 1993 Vertrag von 1994 Völkermord 1995 Massaker 1999 Kosovokrieg Kalten Krieges Maastricht zur Eu- in Ruanda von Srebrenica ropäischen Union 2001 9/11; Interven- tion gegen Taliban-Regierung in Afghanistan 2020 Brexit; 2014 Krimkrise; 2011 „Arabischer Frühling“; 2003 Krieg der USA Coronavirus-Pandemie IS ruft Kalifat aus Beginn Bürgerkrieg in Syrien gegen den Irak 1990–1997 Neuorientierung: Mit 1998–2008 Das Institut wächst: Die 2009–2020 Neues Haus, altes dem Ende des Kalten Krieges muss Vorbereitungen für die Aufnahme der Glück: Pünktlich zur Aufnahme in die Welt neu in den Blick genom- HSFK in die Leibniz-Gemeinschaft die Leibniz-Gemeinschaft zieht die men werden. Nach dem Ende des beginnen. Junge Wissenschaftle- HSFK 2009 in die Baseler Straße am Mächtedualismus sind die interna- rinnen und Wissenschaftler werden Frankfurter Hauptbahnhof. Hier ver- tionalen Beziehungen komplexer eingestellt, der weibliche Anteil am größert sich das Institut weiter, und geworden. Zu den zentralen For- wissenschaftlichen Personal wächst, es werden zunehmend Projekte mit schungsinteressen, der Kriegsursa- Verwaltung und Buchhaltung werden Partnern in verschiedenen Weltre- chenforschung und der Rüstungs- neu strukturiert und aufgebaut. gionen gestartet. Dabei richtet sich kontrolle, kommen nun auch die Im Lichte des Irak-Kriegs unter- der Blick wieder stärker auf unmit- Bedingungen und Institutionen des sucht die HSFK die Antinomien des telbare Erfahrungen in unterschied- Friedens hinzu. demokratischen Friedens, die Fried- lichen Lebenswelten. Dafür stehen Das Staatensystem in Europa ordnet lichkeit der Demokratien unterein- zum einen der neu geschaffene Pro- sich neu. Die HSFK warnt vor den ander einerseits, ihre Bereitschaft grammbereich „Glokale Verflechtun- möglichen Folgen der NATO-Erwei- zur Militanz gegenüber Autokratien gen“, aber auch die Forschung im terung für das westlich-russische andererseits. Das Institut warnt vor Bereich Radikalisierung. Die Rolle Verhältnis. Mit den Jugoslawien- einer neuen, scharfen Großmächte- der Gerechtigkeit für die Entstehung kriegen ergeben sich jetzt auch konkurrenz. In Zusammenarbeit mit wie für die Beilegung von Konflikten praktisch-ethische Fragestellungen der Goethe-Universität Frankfurt bildet die übergreifende Frage. zur Legitimität von humanitären In- und der TU Darmstadt gründet die Außerdem im Blick: Wissenschafts- terventionen. HSFK den Master-Studiengang In- kommunikation und Wissenstrans- ternationale Studien/Friedens- und fer. 2017 eröffnet die HSFK ein Büro Konfliktforschung und partizipiert in Berlin, um die Sichtbarkeit der am Exzellenzcluster „Normative HSFK im politischen Berlin zu erhö- Ordnungen“. hen und die Politikberatung zu er- leichtern. 17
die hsfk in zahlen: damals und heute anzahl der 108 mitarbeiter*innen 35 Studentische Hilfskräfte Bibliothek 2 7 Wissenschaftskommunikation 18 46 Wissenschaftler*innen Wissenschaftler*innen 13 Verwaltung 5 15 Verwaltung 1971 2020 geschlechterverteilung wissenschaftler*innen 18 % 57 % 82 % 43 % 1971 2020 18
bibliothek 1971 3.500 Bücher 2020 58.000 Bücher 60 Zeitschriften 1.100 Zeitschriften festnetz 1971 2020 2 Telefone 76 Telefone jahresbudget 7.882.715,52 € ~ 324.000 € (634.500 DM) 1971 1979 1985 1990 1994 2009 2014 2019 19
ein kritischer friedensforscher Dieter Senghaas war 1970 Teil des Gründertrios der HSFK und prägte die deut- sche Friedensforschung mit seinen kritischen Analysen zum Ost-West-Konflikt sowie zu den Beziehungen zwischen globalem Norden und Süden. Lothar Brock, der die Gründerjahre der deutschen Friedensforschung an der FU Berlin mitge- staltete, blickt mit ihm zurück auf die Anfangsjahre des Instituts, das sich in ei- nem nicht immer wohlwollenden politischen Klima behaupten musste. Auch wenn sich das heute geändert hat, rät er der HSFK vor allem eines: kritisch bleiben. Lothar Brock: Es war am 30. Oktober 1970 als der Hes- Dieter Senghaas: Nein. Er war von 1969 bis 1974 Kultus- sische Ministerpräsident Albert Osswald dir, Ernst-Otto minister. Also genau in der Zeit, als wir alles geplant Czempiel und Hans Nicklas die Stiftungsurkunde und aufgebaut haben, und natürlich auch zur Zeit von überreicht hat. Erinnerst du dich? Willy Brandt als Kanzler. Dieter Senghaas: An die Übergabe selbst erinnere ich Lothar Brock: Nun war zwei Tage vor Überreichung mich nicht, ich erinnere mich natürlich an Czempiel dieser Stiftungsurkunde an euch die Deutsche Gesell- und Nicklas. Und ich erinnere mich insbesondere an schaft für Friedens- und Konfliktforschung gegründet Ludwig von Friedeburg, der jetzt nicht erwähnt worden worden, ein Jahr später das Institut für Friedensfor- ist. Denn Ludwig von Friedeburg war eigentlich der in- schung und Sicherheitspolitik in Hamburg, die Liste tellektuelle Hintergrund in Wiesbaden für unser Projekt. ließe sich fortführen. Woher kam aus deiner Sicht ab Ich hatte das Glück, dass er 1975 Professor am Institut Ende der 1960er Jahre plötzlich dieser Gründungselan für Sozialforschung wurde, dies unter den Vorzeichen in der deutschen Friedensforschung? von Horkheimer und Adorno. Er war Zweitgutachter meiner Dissertation über die Abschreckungskritik. Das Dieter Senghaas: Ich denke, es hat neben persönlichem heißt, es gab persönliche Beziehungen, die sehr wichtig Engagement mit der politischen Gesamtkonstellation waren, um zwischen Frankfurt und Wiesbaden wirklich – international und national – zu tun. Denn wir durch- eine produktive, konstruktive Verbindung zu schaffen. lebten ja den Ost-West-Konflikt, zugespitzt durch die klare Trennung von DDR und Bundesrepublik in Gestalt Lothar Brock: Aber Ludwig von Friedeburg hatte keine der Mauer. Ende der 1960er Jahre kam dann eine formelle Funktion in der HSFK? Phase der Entspannung in Gang. Jetzt ging es darum: 20
Bad Nauheim, November 1972: Dieter Senghaas (rechts), zusammen mit dem damaligen Hessischen Kultusminister Ludwig von Friedeburg und der Professorin und Friedenspädagogin Betty A. Reardon. Wenn es die Entspannung gibt, was macht man dann? Dieter Senghaas: Naja, welche Universität wäre es Kooperation, Rüstungskontrolle, im ökonomischen denn gewesen, das war ja nicht notwendigerweise Bereich, im Bereich von Wissenschaft zwischen Ost Frankfurt. Es hätte ja auch Gießen, Marburg oder und West? Es waren neue offene Fragen und Motivati- Darmstadt sein können. Und wenn man es an einer onen, die dazu geführt haben, die Friedensforschung in Universität ansiedelt, an welcher Stelle siedelt man es der Bundesrepublik zu fördern. dann an? Wäre es ein eigenständiges Institut gewesen, dann hätten die Soziologen, Politikwissenschaftler, Lothar Brock: Warum ist die HSFK als eine eigenstän- Völkerrechtler, die Sozialpsychologen und so weiter dige Institution gegründet worden und nicht als ein gefragt: Warum nicht das Sigmund-Freud-Institut Forschungsinstitut an der Universität Frankfurt? ergänzen, warum nicht das Institut für Sozialforschung 21
Bremen, Februar 2020: Dieter Senghaas (rechts) im Gespräch mit Lothar Brock. ergänzen? Das umging man und wollte, glaube ich, strukturen sprach: Was heißt es eigentlich, nachhaltige schon einen ganz deutlich eigenen Akzent setzen. Friedensstrukturen international, regional, aber auch Nämlich ein Institut, das notwendigerweise von vor Ort innergesellschaftlich aufzubauen? Von Wiesba- vornherein zumindest im Anspruch multidisziplinär den aus gab es den Impuls, dass sich alles übersetzen und interdisziplinär ist. lassen sollte in Friedenspädagogik. Und Hans Nicklas war ja derjenige, der diese Brücke in die HSFK einge- Lothar Brock: Die Friedensforschung bewegt sich ja bracht hat. zwischen Ökonomie, Soziologie, Psychologie, ist also ein sehr weites Feld. Welches sollte der Kernbereich Lothar Brock: Konfliktpädagogik hieß, dass man der Arbeit in der HSFK sein? Schüler dazu erzieht, auch kritisch mit ihrer Umwelt umzugehen bis hin zum – und der Begriff fiel da – Dieter Senghaas: Der Kern sollten die Kernprobleme Widerstand gegen bestehende Verhältnisse. Das hat der Weltpolitik sein und vor allem die, die sich in der einen Aufschrei gegeben. Hat die HSFK in Person von Bundesrepublik oder im Ost-West-Konflikt niederschlu- Hans Nicklas an solchen Formulierungen mitgewirkt? gen, insbesondere natürlich die Abschreckungsproble- matik, die Rüstungsdynamik. Im Kommen war damals Dieter Senghaas: Also ich vermute ja, dass es da die Nord-Süd-Problematik, wo es plötzlich alternative seinen Ausgangspunkt genommen hat. Es war ja auch Perspektiven zur Modernisierungstheorie gab. Und es ganz naheliegend, denn der Anspruch der HSFK selbst ging darum, das hat insbesondere Ernst-Otto Czempiel war die Kritik des symbolischen Gebrauchs der Politik. thematisch mit hereingebracht, dass man über Friedens- Zum Beispiel sagte man in der Öffentlichkeit: In der 22
in den medien FR, 31.07.1978 Rüstungskontrolle wird Rüstung kontrolliert. In Wirk- sierte „Walduniversität“, die als Unterstützung des lichkeit wurde Rüstung zwar auch eingeschränkt, aber Protests verstanden wurde. Heute sind wir Mitglied gleichzeitig modernisiert: Man baute auf eine einzelne der Leibniz-Gemeinschaft und damit sozusagen als Interkontinentalrakete nicht nur einen Waffenkopf, Spitzenforschung geadelt. Die alten Konflikte zwi- sondern plötzlich waren es mehrere, die unabhängig schen Forschung und Politik, die gibt es nicht mehr. voneinander eingesetzt werden konnten. Das war Wie erklärst du dir das? Aufrüstung. „Rüstungskontrolle“ war wie eine Ideologie: der symbolische Gebrauch von Begriffen, die aber gar Dieter Senghaas: Zunächst war für uns wichtiger, nicht das reflektierten, was in Wirklichkeit passierte. wirklich gute Erkenntnisse zu publizieren. Nicht Wenn sich unsere Kritik daran übersetzt hat in das irgendwelche Positionen zu vertreten, weil das aus Wissen, das an Schulen vermittelt werden sollte, dann irgendwelchen Gründen – ideologischen, politischen war das völlig korrekt. oder taktischen – wichtig sei, sondern wirklich solide aufgearbeitete Befunde in entsprechende Öffentlich- Lothar Brock: Die Friedensforschung hat sich teil- keitsarbeit zu übersetzen. Die anderen Probleme, weise sehr stark solidarisiert mit nationalen Befrei- Egbert Jahn und die Walduniversität und dergleichen, ungsbewegungen. Das erzeugte Spannungen mit der die kamen durch Außenaktivitäten zustande. Politik. Auch die HSFK geriet Anfang der 1980er Jahre in Auseinandersetzungen mit der Politik in Hessen, Lothar Brock: Die Professionalität der Friedensfor- vor allem beim Streit um den Ausbau der Startbahn schung ist inzwischen von der Politik anerkannt. West und mit Blick auf die von Egbert Jahn organi- Könntest du dir vorstellen, dass dieses günstige 23
politische Klima sich in absehbarer Zukunft wieder Lothar Brock: Diese Empfehlung richtet sich ja schon verändern könnte? an die sehr nahe Zukunft. Gibt es anlässlich des fünf- zigjährigen Bestehens der HSFK noch irgendwelche Dieter Senghaas: Das wäre nur dann möglich, wenn die Wünsche, die du ihr mit auf den Weg geben möchtest Rechtsextremen fünfzig Prozent der Parlamentssitze für die nächsten fünfzig Jahre? in Wiesbaden oder Berlin bekommen würden. Zunächst kann ich mir das nicht vorstellen. Wenn man Schwie- Dieter Senghaas: Wir haben sicher ein ganz großes rigkeiten, die wir in den 1960er, 1970er, 1980er Jahren Problem, das wir in den 1960er, 1970er, 1980er, 1990er hatten, vergleicht mit dem neuen Dokument „Krisen Jahren so noch nicht thematisiert haben. Wir haben verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. uns beschäftigt mit dem Sicherheitsdilemma, dem Leitlinien der Bundesregierung“ vom Auswärtigen Amt Entwicklungsdilemma, dem Kooperationsdilemma, aus dem Jahr 2017, dann ist das umwerfend gut. Da also der gesamten internationalen Ebene. Wir haben gibt es eine konstruktive Brücke zwischen dem, was nicht das Ökologiedilemma thematisiert. Und ich die Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung glaube, dass es dort in der Friedensforschung einen erarbeitet hat und den politischen Leitlinien. Ich war Nachholbedarf gibt, mithilfe des Vorwissens aus völlig überrascht. Ich würde der Friedensforschung unseren anderen Themen auch in diesem – für viele sehr empfehlen, auf Grundlage dieser Leitlinien immer neuen – Bereich weitsichtige Forschung zu betreiben. wieder neu zu fragen: Was hat die Friedensforschung Leitgedanke muss die gleiche Idee sein: das Problem tatsächlich empfohlen und was ist davon in die Politik differenziert aufarbeiten und in die Öffentlichkeit, die eingegangen? Wie hat sich die Regierung verhalten? Wo Politik und die Pädagogik Brücken schlagen. Die HSFK ist es reine Rhetorik geblieben? Dann muss man wieder hat heute die Größe und die Unterstützung aus Politik, in ein Gespräch kommen, noch intensiver, zwischen Medien, Administration und anderen Wissenschafts- Friedensforschung und Politik. Das fände ich ein organisationen, um da einen wirklich konstruktiven fantastisches Projekt. Beitrag zu leisten. dieter senghaas lothar brock Prof. Dieter Senghaas rief die HSFK gemeinsam Prof. Lothar Brock war von 1981 bis 2005 For- mit Ernst-Otto Czempiel und Hans Nicklas 1970 ins schungsgruppenleiter an der HSFK und ist heu- Leben und war bis 1978 Forschungsgruppenleiter te assoziierter Forscher im Programmbereich am Institut, sowie zwischen 1972 und 1978 Profes- Innerstaatliche Konflikte. Er war von 1979 bis sor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2004 Professor für Politikwissenschaft mit dem bevor er an die Universität Bremen wechselte. Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Seine Arbeit in der kritischen Friedensforschung, Goethe-Universität Frankfurt am Main und lehrt die sich auf Abschreckungskritik sowie den Zu- dort bis heute als Seniorprofessor. sammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit konzentrierte, wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem International Peace Research Award 1987. 24
ein ort für die forschung von morgen Wenn an der HSFK ein neues Forschungsprojekt startet, sollte die nötige Literatur schon bereitstehen. Dazu verfolgt die Bibliotheksleitung aufmerksam die aktu- ellen Debatten der Friedensforschung und ergänzt ihre umfangreiche Sammlung laufend. Der aktuelle Leiter Andreas Heinemann hat sich mit seinem Vorgänger Stephan Nitz unterhalten, der die Bibliothek mehr als drei Jahrzehnte führte und professionalisierte. Interview: Andreas Heinemann Herr Nitz, warum sind Sie 1984 zur HSFK gekommen? In der Zeit der großen deutschen Friedensbewegung war Stephan Nitz: Es wird Sie nicht überraschen: Ich musste ich einige Schritte mehr den Weg vom Pol des Pazifis- Geld verdienen. Als Zeitungsleser und als Student der Ge- mus zum Pol des Realismus gegangen. Die HSFK war für schichte und Philosophie hatte ich um 1970 die Gründung mich daher zunächst sehr lehrreich und ein Erlebnis, wie der HSFK wahrgenommen, aber zu meiner Schande muss zwischen beiden Polen Positionen entwickelt werden kön- ich gestehen, dass ich sie 1983 längst vergessen hatte. nen, die nicht einfach der Resignation geschuldet sind. 25
hören will. Dazu hilft Distanz und theoriebasierte For- schung. Zur Tradition der HSFK gehört es außerdem, der Politik und auch der Öffentlichkeit unbequeme Wahrheiten zu sagen. Die Politik hat sich bewegt, aber Wahrheiten, die jetzt nur als störend wahrgenommen werden, gibt es weiterhin zu entdecken. Als Sie die HSFK-Bibliothek übernommen haben, war sie bis dahin von einem ehemaligen Antiquar geführt worden und es gab einigen Bedarf an Reorganisation… Stephan Nitz: Dass die Bibliothek von einem überfor- derten Antiquar geführt wurde, war für die wissen- schaftlichen Mitarbeiter eine Last. An sich war die Bib- liothek aber von Anfang an in einem guten Zustand, da sie mit der Vorgabe eröffnet worden war, immer über aktuelle Projekte und Spezialisierungen der Mitarbei- ter hinaus die Literatur der Friedensforschung und die theoretischen Debatten im Fach Internationale Bezie- hungen zu verfolgen. Wir hatten eine Stelle geschaffen, die schon an die Literatur für künftige Projektanträge denkt. Sie haben mir vor einiger Zeit mal die Anekdote er- zählt, dass Ihr Mitarbeiter, als man ihm erstmals das Internet zeigte, Angst hatte, er könne mit einer fal- schen Taste das Internet löschen. Wie schwierig war Die HSFK unterhält die deutschlandweit größte Biblio- es, den Wandel von der Karteikarte zum Online-Kata- thek im Bereich Friedens- und Konfliktforschung. log in einer kleinen Bibliothek zu gestalten? Stephan Nitz: Wir waren keine Pioniere, aber als PCs und Bibliotheksprogramme zur Verfügung standen, mit denen etwas geleistet werden konnte, waren wir Über die Jahre hat sich die HSFK deutlich gewandelt, schnell dabei. Wir haben 1993 begonnen, Neuerwerbun- ist gewachsen und professioneller geworden. Was un- gen und die älteren Bestände elektronisch zu katalogi- terscheidet sie eigentlich von anderen Think Tanks im sieren und auf der HSFK-Webseite für Literaturrecher- Bereich Internationale Beziehungen? chen zugänglich zu machen. Von Anfang an wollten wir Stephan Nitz: Was die HSFK schon immer hervorge- die Chance nutzen, die EDV und das Internet auch für hoben hat, ist, dass ihre Politikberatung auf einer von die Öffnung der HSFK nach außen zu nutzen. Theorie informierten Basis beruht. Ich habe es für einen Vorteil gehalten, dass die HSFK nicht in Berlin sitzt. Po- Wenn ich Bibliothekarinnen und Bibliothekare anderer litikberatung muss das Ohr der Politik finden, aber der Institute treffe, fällt mir immer die extreme Heteroge- Politik hilft es nicht, wenn man ihr nur sagt, was sie nität auf, gerade was die Aufgaben der Bibliotheken 26
betrifft. In manchen Fächern gibt es dort gar keine ge- heftig kommentierte Bände; das ist es, was bei Goo- druckten Bücher mehr. Blüht uns das auch? gle fehlt. Anfang der 1970er Jahre gab es ein starkes Stephan Nitz: Zunächst verschwindet das Buch so Interesse an Bibliographien, das wurde als Teil der schnell nicht, es werden bekanntlich immer mehr. Dass Identitätsfindung des Faches Friedens- und Konfliktfor- es Disziplinen gibt, die auf Bücher verzichten können, schung begriffen. Das ist dann stark zurückgegangen. wird daran liegen, dass sie Ergänzungen und Korrek- Insofern soll das Projekt zum historischen Bewusstsein turen relativ einfach und nach klaren Regeln ihrem beitragen, das in Friedensforschung und IB besonders Forschungsstand anfügen können. Wer dagegen, wie schwer zu erreichen ist. in den Sozialwissenschaften üblich, für neue Frage- stellungen immer neu nach angemessenen Methoden Was wünschen Sie der HSFK und ihrer Bibliothek zum sucht und vorher nicht wissen kann, wohin ihn seine Geburtstag? Frage führt, der braucht Bücher. Ein Buch ist vor allem Stephan Nitz: Ich wünsche der HSFK eine Öffentlichkeit der Aufbau eines komplexen Arguments. Bücher wer- und Politiker, die den Nutzen von theoretisch ange- den für vieles, was sie einst leisten sollten, nicht mehr leiteter Forschung begreifen und nicht mit aktuellen gebraucht, aber sie werden weiterhin gebraucht zur Kurzanalysen zufrieden sind. Der Bibliothek wünsche Einübung komplexer Argumente und als Ort der Entfal- ich neugierige Wissenschaftler und Studenten, die über tung eigener komplexer Argumente. den Tellerrand ihres aktuellen Projekts schauen und die Bibliothek als einen Ort sehen, der ihnen dabei helfen Wenn man viele Jahre in einem Institut arbeitet, wird kann. man dort auch zur Institution, um die sich Mythen und Legenden ranken. Von Ihnen heißt es, dass Sie jedes Buch in der Bibliothek auch gelesen hätten und nie krank gewesen seien. Stephan Nitz: „Nie krank“ stimmt nicht wörtlich, aber als Bibliothekar kann man eher als in vielen anderen Berufen zur Arbeit gehen, wenn man zwischen gesund stephan nitz und bettlägerig ist. Bettlägerig war ich fast nie. Auch Dr. Stephan Nitz leitete die HSFK-Bibliothek von das mit den Büchern stimmt nicht wörtlich. Wenn ich 1984 bis 2016. Zuvor studierte er Geschichte, für die weitere Bedeutung von Büchern argumentiere, Philosophie, Germanistik und Bibliothekswesen so bin ich doch weit davon entfernt zu glauben, jedes in Frankfurt am Main und Hamburg. Buch lohne sich zu lesen. Auch in Ihrem Ruhestand arbeiten Sie an einem Großprojekt: der Bibliographie zur Theorie von Krieg und Frieden. Mal ketzerisch gefragt, wer braucht denn andreas heinemann im Google-Zeitalter noch Bibliographien? Stephan Nitz: Gerade im Google-Zeitalter werden sol- Dr. Andreas Heinemann wechselte 2016 als Bi- che Bibliographien gebraucht. Google hat die Menge bliothekar von der Schiller International Univer- von Informationen endgültig unüberschaubar gemacht. sity in Heidelberg an die HSFK. Er studierte Ge- Gerade weil niemand mehr alles lesen kann, werden schichte, Politikwissenschaft sowie Library and Hintergründe gebraucht. Meine Bibliographien sind Information Science in Münster und Köln. 27
czempiel, spiritus rector der HSFK Ernst-Otto Czempiel (* 22. Mai 1927, † 11. Februar 2017) prägte über mehr als eine Generation die Diskussionen in den Internationalen Beziehungen, in der Friedens- forschung im Allgemeinen und in unserem Institut im Speziellen. Ohne ihn hätte es die HSFK nicht gegeben. Text: Harald Müller Ernst-Otto Czempiel, geboren 1927, erlebte Diktatur, gegründet wurde, verdankt sie dem Ruf Czempiels an Krieg und Holocaust. Er war geprägt durch sein bürger- die Goethe-Universität Frankfurt. In den folgenden Jah- lich-katholisches Elternhaus und glaubte unverrückbar ren steuerte er das zunächst kleine und heftig umstrit- an den Zusammenhang von Demokratie und Frieden. tene Institut aus dem Hintergrund durch manchen poli- „Nie wieder Krieg“ wurde die normative Maxime seines tischen Sturm. Czempiel legte mit seinem Drängen auf wissenschaftlichen Schaffens, der Frieden zum ulti- wissenschaftliche Professionalität die Grundlage dafür, mativen Maßstab für die Beurteilung von Außen- und dass sich die HSFK zu einem Flaggschiff der deutschen Sicherheitspolitik. Friedensforschung entwickeln konnte. Mir ist kein Krieg bekannt, aus dem ein Friede erwachsen ist. Man kann mit Gewalt allgemein keinen Frieden schaffen. Czempiel studierte Neuere Geschichte, Anglistik und „E.O.“, das war sein Spitzname an der HSFK und dar- Philosophie an der Universität Mainz, promovierte 1956 über hinaus, war mein Doktorvater. In dieser Rolle und und erhielt einen Ruf an die Universität Marburg. Hier als Vorgesetzter im Allgemeinen hielt er immer das entwickelte er die Idee, ein hessisches Friedensfor- richtige Maß zwischen Leistungsforderung und „Leine schungsinstitut zu gründen, und fand dafür im damali- lassen“. Besonders beeindruckt haben mich immer gen Ministerpräsidenten Albert Osswald einen politisch seine ethischen Grundsätze: E.O. hätte niemals seinen überzeugten Unterstützer. Dass die Hessische Stiftung Namen unter eine Publikation gesetzt, zu der er nichts Friedens- und Konfliktforschung 1970 dann in Frankfurt beigetragen hat. Er hat nie seine Macht missbraucht, 28
Ernst-Otto Czempiel mit Hans Dietrich Genscher im Rahmen der Präsentation von Czempiels Buch „Kluge Macht“, November 1999. um inhaltliche Anpassungen zu erzwingen, und er hat zustreben. Deren Realisierung hat das vierte und fünfte sich nie vor den Inhabern der Macht gebeugt. Was ei- Lebensjahrzehnt des Instituts entscheidend geprägt. gentlich selbstverständlich sein sollte, war es leider Czempiel war kein Politiker (er gehörte nie einer Partei nicht – insofern wurde E.O. gerade von jüngeren Kolle- an), aber ein politischer Mensch. Wissenschaft hatte ginnen und Kollegen sehr geschätzt. für ihn den Zweck, die Grundlagen für eine bessere Sein Einfluss hat sich in wichtigen Grundzügen meines Politik zu legen. Zwei seiner Hauptwerke, „Friedens- eigenen Wirkens niedergeschlagen. Die von mir später strategien“ und „Kluge Macht“ sind dem Transfer wis- als Geschäftsführer initiierten Forschungsprogramme senschaftlicher Erkenntnisse in praktisches Handeln „Antinomien des demokratischen Friedens“ und „Just gewidmet. Auch diese Mission, unser Wissen an die Peace Governance“ griffen Kernelemente des Czem- Gesellschaft zurückzugeben, die uns die Erarbeitung pielschen Denkens auf: den Zusammenhang zwischen dieses Wissens ermöglicht, hat E.O. im Institut und Demokratie und Frieden und die Rolle der Gerechtig- auch in meiner eigenen Berufsauffassung fest veran- keit für Konflikte und ihrer Beilegung. E.O. war auch der kert. Erste, der mir trotz meiner anfänglichen Bedenken dazu Ernst-Otto Czempiel verstarb am 11. Februar 2017 kurz riet, die Mitgliedschaft in der Leibniz-Gemeinschaft an- vor seinem 90. Geburtstag in Berlin. 29
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wir … in frankfurt und hessen „Hessisch“ trägt die HSFK nicht umsonst im Institutsnamen, denn die Verwurzelung in Frankfurt und der Region ist uns wichtig. Das reicht vom Beitrag zur politischen Bildung bis zur Akuthilfe bei lokalen Konflikten. 31
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„erfolg allein ist nicht das kriterium“ Der Hessische Friedenspreis würdigt seit 1993 besonderes Engagement für Völkerverständigung und Frieden. Seitdem begleitet die HSFK den Auswahl- prozess. Gemeinsam mit dem Kuratoriumsvorsitzenden und ehemaligen hessischen Landtagspräsidenten Karl Starzacher und dem HSFK-Forscher Bruno Schoch blicken wir zurück auf die Entstehungsgeschichte und die Preisträgerinnen und Preisträger, an die wir uns heute noch besonders intensiv erinnern. Interview: Philipp Offermann Was ist denn eigentlich der Hessische Friedenspreis? Sein Zustandekommen hat sicherlich mit Osswalds Bruno Schoch: Das Interessante ist, dass er inzwischen Lebenslauf zu tun: Er war von 1939 bis 1945 Wehr- immer Hessischer Friedenspreis genannt wird. Er heißt machtssoldat, hat also am Krieg teilgenommen und aber eigentlich Friedenspreis der Albert-Osswald-Stif- war danach in Kriegsgefangenschaft. Ich bin sicher, tung und wird gar nicht vom Land Hessen verliehen. dass aufgrund dieser Erfahrung das Thema Frieden für Nach dem, was ich über den früheren Hessischen ihn immer eine große Bedeutung hatte. Ministerpräsidenten Albert Osswald gelesen habe, Dazu kommt, dass Albert Osswald und Ernst-Otto wäre ihm diese Verkürzung aber wahrscheinlich keine Czempiel, Mitbegründer und langjähriger Vorstandsvor- besondere Last. Denn er war so etwas wie ein hessi- sitzender der HSFK, auch persönlich guten Kontakt hat- scher Patriot. In den Anfangsjahren hat man diesen ten. Ich kann mir durchaus auch vorstellen, dass Czem- Friedenspreis oft mit dem Friedenspreis des Deutschen piel die Idee hatte, dass die Albert-Osswald-Stiftung ja Buchhandels verwechselt. Oder, bis in die FAZ hinein, einmal im Jahr einen Friedenspreis vergeben könnte. den Friedenspreis und die HSFK gleichgesetzt. Das war Bruno Schoch: Albert Osswald ist ja 1976 unter etwas für uns als HSFK natürlich nicht besonders rufschädi- unglücklichen Umständen nach dem Helaba-Skandal gend. Im Gegenteil. zurückgetreten. Da fragt man sich natürlich: Warum hat Karl Starzacher: Dass ich mit dem Hessischen Frie- er seine zuvor gegründete Stiftung im Jahr 1993 auf denspreis der Albert-Osswald-Stiftung in Berührung Frieden umgestellt? Schließlich haben sich die Sowjet- kam, lag daran, dass ich Landtagspräsident war, als union und der Warschauer Pakt aufgelöst, US-amerika- 1994 der erste Friedenspreis verliehen wurde. Albert nische Politologen haben sogar das Ende der Geschich- Osswald als Stifter und ich haben damals vereinbart, te proklamiert. Gleichzeitig gab es aber natürlich die dass der Preis im Hessischen Landtag vergeben wird. Konflikte auf dem Balkan seit 1991, Kriegsbilder mitten Der Landtag, die Staatskanzlei und der jeweilige Minis- in Europa. Da haben einige Leute gesagt: Jetzt brau- terpräsident haben dieses Projekt immer sehr positiv chen wir das Engagement für den Frieden eigentlich erst begleitet und unterstützt. Insofern ist es inzwischen recht. Insofern kann man das Jahr 1993 auch als Aus- auch der Hessische Friedenspreis. druck von besonderer Weitsichtigkeit interpretieren. 34
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