Gesundheit braucht Politik - GESUNDHEITSBERUFEN

Die Seite wird erstellt Jannik Wieland
 
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Gesundheit braucht Politik - GESUNDHEITSBERUFEN
Gesundheit                                verein
                                          demokratischer
                                          ärztinnen und

  Politik
                                          ärzte

 braucht
Zeitschrift für eine soziale Medizin   Nr. 2/2020 | Solibeitrag: 5 Euro

                   Ausbildung in
     GESUNDHEITSBERUFEN
             – noch zeitgemäß?
3     Editorial

Inhalt        4     Medizinische Ausbildung braucht Politik. Kritische
                    Medizinstudierende im Gespräch
                                                                                    Der vdää
                                                                                    ist bundesweit organisiert; er setzt
                                                                                    sich für eine soziale Medizin, für die
              7     Plädoyer für eine Neuorientierung. Zuständigkeiten und
                                                                                    Demokratisierung der Gesundheits-
                    Konzepte zur ärztlichen Ausbildung und Weiterbildung
                                                                                    versorgung und der Strukturen der
              10    Tobias Henke: Der Grundstein ist gelegt, das Haus steht         ärztlichen Standesvertretung ein.
                    noch nicht. Zur neuen Approbationsordnung                       Er nimmt Einfluss auf die Gesund-
                                                                                    heitspolitik und unterstützt den Wi-
              12    Kai-Uwe Helmers und Anke Kleinemeier: Verschärfung
                                                                                    derstand gegen die Ökonomisierung
                    der sozialen Kluft. Über private Studiengänge
                                                                                    der Medizin.
                    Humanmedizin in Hamburg – und die Reaktionen
                                                                                        Sollten Sie von uns informiert
                    auf ihre Kritik daran
                                                                                    werden wollen, so setzen Sie sich
              16    Verschult, veraltet, borniert. Was Medizinstudierende von       bitte mit unserer Geschäftsstelle in
                    ihrem Studium halten                                            Verbindung. Gerne können Sie sich
                                                                                    auch online über den vdää-News-
              18    Udo Schagen: Viele Probleme schon damals gelöst. Zum
                                                                                    letter auf dem Laufenden halten.
                    Studium der Medizin in der DDR
                                                                                    Die Zeitschrift »Gesundheit braucht
              23    Gerd Dielmann: Unausgegoren... Zur Reform der                   Politik« ist die Vereinszeitung, die
                    Ausbildung in den Pflegeberufen                                 viermal jährlich erscheint. Nament-
                                                                                    lich gekennzeichnete Artikel geben
              27    Auf die Ohren... Unabhängige Radioprogramme von
                                                                                    nicht unbedingt die Vereinsmeinung
                    Medizinstudierenden. Interview mit »Heile Welt Podcast«
                                                                                    wieder.
                    und »Kritis on Air«
              29    Michael Janßen: Oh wie schön ist Kanada. Bericht von            Redaktion
                    einer Hospitationsreise                                         Felix Ahls, Luca Baetz, Elena
                                                                                    ­Beier, Moritz Koopmann, Thomas
              30    Ein Leben lang gegen reduktionistische Medizin. Nachruf
                                                                                     Kunkel, Eva Pelz, Nadja Rakowitz,
                    auf Prof. Gerhard Baader
                                                                                     Cevher Sat, Jonas Schaffrath,
                                                                                     Andrea Schmidt, Rafaela Voss,
                                                                                     Ben Wachtler, Bernhard Winter
                    »Gesundheit braucht Politik –
       Zeitschrift für eine soziale Medizin« – im Abonnement                        Impressum
    Die Zeitschrift des vdää ist inhaltlich längst mehr als eine reine Vereins-     Gesundheit braucht Politik 2/2020
    zeitschrift. Wir machen vier Themenhefte pro Jahr zu aktuellen gesund-          ISSN 2194–0258
    heitspolitischen Problemen, die sich hinter anderen gesundheitspolitischen      Hrsg. vom Verein demokratischer
    Zeitschriften im deutschsprachigen Raum nicht verstecken müssen. Ver-           Ärztinnen und Ärzte
    einsmitglieder bekommen die Zeitschrift kostenfrei zugesandt.                   V.i.S.d.P. Thomas Kunkel /
                                                                                    Bernhard Winter
    Wer nicht Vereinsmitglied ist, hat die Möglichkeit, die »Zeitschrift für eine
    soziale Medizin« zum Preis von 26 Euro oder als Studentin oder Student          Bilder dieser Ausgabe
    für 10 Euro im Jahr zu abonnieren. Ein Probeabo besteht aus zwei Ausga-         Die Bilder dieser Ausgabe kommen
    ben und kostet ebenfalls 10 Euro.                                               von verschiedenen Gruppen der
    Bei Interesse wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle:info@vdaeae.de      Kritischen Medizinstudierenden,
                                                                                    von ver.di, der ver.di Jugend und
                                                                                    von verschiedenen Bündnissen für
                                                                                    mehr Personal.
              06.-08. November     Jahreshauptversammlung und Gesundheits­
Termine

                                   politisches Forum des vdää in Berlin             Geschäftsstelle:
              vdää-online Veranstaltungen                                           Kantstraße 10, 63477 Maintal
              09.Juli, 19:30 Uhr   Die Ausbruchsituation von Covid19 in ausge-      Telefon 0 61 81 – 43 23 48
                                   wählten Ländern Afrikas – Diskussion mit         Mobil    01 72 – 1 85 80 23
                                   Anna Kühne                                       Email    info@vdaeae.de
                                                                                    Internet https://www.vdaeae.de/
              17. Juli, 19:30 Uhr Die kommenden Verteilungskämpfe werden
                                                                                             https://gbp.vdaeae.de/
                                  hart – Diskussion mit Felix Ahls und Nadja
                                                                                    Bankverbindung:
                                  Rakowitz über eine solidarische Bürger*innen-
                                                                                    Postbank Frankfurt
                                  versicherung als ein Gegenentwurf zur
                                                                                    IBAN: DE97500100600013747603
                                  kommenden Austeritätspolitik
                                                                                    BIC: PBNKDEFFXXX
              21. Juli, 19:30 Uhr Krise als Chance auf eine Abkehr von der
                                                                                    Satz/Layout Birgit Letsch
                                  Ökonomisierung und DRG? – Diskussion mit          Druck       Hoehl-Druck
                                  Peter Hoffmann über die aktuellen Proteste der
                                  Krankenhausbeschäftigten
 2 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Editorial
Diese Ausgabe von Gesundheit braucht Politik handelt von         Medizinstudium für Semestergebühren im mindestens fünf-
verschiedenen Aspekten rund um das Thema Aus- und Wei-           stelligen Bereich leisten können. Anke Kleinemeier und Kai-
terbildung medizinischer Berufsgruppen. Zu Beginn der Co-        Uwe Helmers schildern und kritisieren die Situation in Ham-
rona-Krise gerieten Medizinstudierende in den Fokus, als sie     burg, wo es gleich mehrere Möglichkeiten gibt, privat Medizin
aktiv von der Politik, den Uniklinika und Gesundheitsämtern      zu studieren und sie gehen zudem auf die Reaktionen auf
angefragt worden sind, zu helfen und Personal aufzustocken1.     ihren Artikel im Hamburger Ärzteblatt ein.
Im Verlauf der Krise unterzeichnete Gesundheitsminister Jens         Extra für diese Ausgabe haben wir außerdem Medizinstu-
Spahn auch eine Verordnung, um mehr Medizinstudierende           dierende aus unterschiedlichen Städten gefragt, was sie an
kurz vor dem zweiten Staatsexamen in die Kliniken zu holen2.     ihrem Studium stört, welche Themen unterrepräsentiert sind,
Er sagte, dass »der Einsatz der Studentinnen und Studenten       wie sie Lehre und Studienorganisation verbessern würden und
[...] belohnt [...] und nicht bestraft«3 werden müsse. Somit     welche Veränderungen sie sich für die Zukunft wünschen wür-
boten viele Studierende ihre Hilfe an und arbeiteten in der      den. Zudem gibt uns Udo Schagen mit seinem Text über das
Pflege, im Gesundheitsamt, in Fieberambulanzen oder an Co-       Medizinstudium in der DDR einen Einblick in Ausbildungska-
rona-Hotlines. Doch Materialmangel, schlechte oder fehlende      pazitäten, Zulassung zum Studium sowie Stipendien und
Vergütung, mangelnde Wertschätzung und die unklare Auf-          Frauenförderung, die zwar Vergangenheit, aber nichtsdesto-
gabenverteilung machten vielen Helfenden zu schaffen und         trotz fortschrittlich sind. Er erörtert die Bedeutung des Aka-
stellten das Versprechen von Spahn infrage4. Es liegt die Ver-   demikerverlusts an die BRD vor 1961 und fasst Ausbildungs-
mutung nahe, dass so in einfacher Weise, schnell und effizient   ziele der Hochschulen zusammen. Gerd Dielmann legt in
schon lang dagewesene Lücken im Gesundheitssystem ge-            seinem Text den Schwerpunkt auf die Ausbildungsreform in
stopft werden sollten.                                                                   Pflegeberufen. Er fasst die Neuerungen
    Mit diesem Thema beschäftigen                                                        der Ausbildungsreform der Pflegeberufe
                                            Liebe vdää-Mitglieder,
sich zum Beispiel auch Gruppen von                                                       durch das Pflegeberufsgesetz vom
                                            diesem Heft liegt ein Plakat des
kritischen Medizinstudierenden. Doch                                                     17.07.2017 sowie der Ausbildungs- und
                                            vdää und des Vereins Solidarisches
wer sind überhaupt die sogenannten                                                       Prüfungsordnung vom 02.10.2018 zu-
                                            Gesundheitswesen bei. Denn nach
KritMeds, die sich in den letzten Jah-                                                   sammen, zeigt Fortschritte und Lücken
                                            Corona ist vor Corona.
ren in vielen Städten gegründet hat-                                                     auf und kritisiert unter anderem die un-
                                            Unserer Forderungen bleiben!
ten und eine Vielzahl von Verände-                                                       klaren Berufsaussichten von Hochschul-
rungen fordern? In diesem Heft                                                           absolvent*innen.
finden sich drei Beiträge von Medizinstudierenden, die einen         Als ein etwas anderes Format stellen sich der „Heile Welt
Einblick in den politischen Aktivismus derer geben sollen. Zu    Podcast“ sowie die »Kritis on Air« vor, zwei Podcasts (Audio-
Beginn könnt Ihr einen Auszug eines Online-Gesprächs von         formate) von Medizinstudierenden, die sich mit der gesell-
uns fünf Studierenden aus den KritMed-Gruppen Freiburg,          schaftspolitischen Seite der Medizin und des Gesundheitssys-
Göttingen und Halle (Saale) lesen, in dem Ihr erfahrt, was       tems auseinandersetzen. Obwohl sich ein großer Teil des
uns antreibt und wie sich unsere Gruppen organisieren. Hend-     Heftes kontextual im Rahmen des Medizinstudiums befindet,
rik van den Bussche, Udo Schagen und Norbert Schmacke            ist es uns auch im Sinne der zunehmenden Relevanz inter-
erörtern Zuständigkeiten und Konzepte zur ärztlichen Aus-        disziplinären Arbeitens sehr wichtig, dass nicht nur über die
und Weiterbildung und stellen ein Konzept zur Neuorientie-       ärztliche Ausbildung gesprochen wird. In diesem Heft ist uns
rung vor. Dabei betonen sie vor allem Qualitätsmängel und        das nur ansatzweise geglückt. Ob es uns gelingen wird, ein
uneinheitliche und unbezahlte Zeiten für Lehre während der       weiteres Heft zu machen, das noch ein größeres Augenmerk
Fachärzt*innenausbildung und fordern eine bessere Verzah-        legt auf die Ausbildung in Pflegeberufen sowie auf die Rah-
nung von Praxis und Theorie auch über die Approbation hin-       menbedingung der Ausbildungen von Psychotherapeut*innen,
aus. Vor der Corona-Pandemie sorgte der »Masterplan Medi-        Hebammen, Physio- und Ergotherapeut*innen, Logopäd*in-
zinstudium 2020« und die daraus entstehenden Änderungen          nen, MTAs und MFAs, wird die Zukunft zeigen.
der Approbationsordnung für einige Debatten. Dabei scheinen
Ziele wie mehr Praxisbezug und die Stärkung der kommuni-                              Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen,
kativen und sozialen Fähigkeiten von angehenden Ärzt*innen             die Kritmeds aus Göttingen, Halle (Saale) und Freiburg
auf den ersten Blick als sinnvoll, wenn nicht sogar längst
überfällig. Tobias Henkevon der AG Gesundheitspolitik der
                                                                 1 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111190/CO-
bvmd (Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutsch-
                                                                     VID-19-Aufrufe-an-medizinisches-Personal
land) beleuchtet und kommentiert in seinem Artikel weitere       2 https://www.tagesschau.de/inland/medizinstudenten-101.html
Details der Änderungen der Approbationsordnung.                  3 https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/jetzt-live-
    Außerdem nehmen wir die Strukturen von privaten Uni-             corona-update-von-gesundheitsminister-spahn,Ru3iEYk
versitäten in den Blick, in denen sich die Chancengleichheit     4 https://transit-magazin.de/2020/05/stimmen-aus-dem-
                                                                     systemrelevanten-sektor/
der Studienplatzvergabe für ein Medizinstudium als nichtig
darstellt. Dabei ist unübersehbar, welche Studierende sich ein

                                          Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020 | 3
Medizinische Ausbildung
braucht Politik
Kritische Medizinstudierende im Gespräch

Es ist ein alltäglicher Moment dieses Semesters, fünf Student*innen vor dem Bildschirm, Webcam an,
Mikrophone aus – so lang sie nicht selbst sprechen. Doch dies ist keine Online-Vorlesung und auch kein
Seminar. Die fünf Studis sind nicht einmal alle an derselben Uni. Moritz und Rafaela studieren in Halle,
Elena in Freiburg, Cevher und Luca in Göttingen. Und heute wird es nicht darum gehen, was im Stu-
dium passiert, sondern, was so alles nicht passiert. Die fünf sind Teil von kritischen Studierendengrup-
pen, Sintoma in Halle, die Basisgruppe Medizin in Göttingen und Kritische Mediziner*innen in Freiburg.
Wir hören mal rein…

Moritz: Naja, wir haben uns nicht mit      Gegründet hat sie sich aus ähnlichen          [Alle nicken]
großem Plan gegründet. Es war eigent-      Gründen: um Kritik an den hierarchi-
lich eher so eine Freundeskreis-Idee.      sierten Strukturen zu äußern, aber auch    Elena: Wir hatten innerhalb unserer
Wir waren Leute, denen es ähnlich ging     um politischen Einfluss auf das Leben      Gruppe letztes Semester das Über-
mit dem Medizinstudium und dann ha-        und Lernen in der Uni zu nehmen.           thema »Soziale Determinanten von
ben wir 2018 einfach in einer WG-Kü-          Luca: [verdreht die Augen] Und da       Gesundheit« behandelt und uns allen
che gestartet.                             sind wir heute immer noch dran. Nur,       ist aufgefallen, dass zum Beispiel der
    Rafaela: [nickt] Schon krass, wenn     dass wir uns jetzt auch mit den Ge-        sozio-ökonomische Status und die Ver-
man bedenkt, dass wir mittlerweile         samtbedingungen im Gesundheitssys-         hältnisse, in denen Menschen leben,
mehr als 30 Aktive sind.                   tem befassen.                              als Ursache mancher Krankheiten oder
    Luca: Wahnsinn, so einen personel-        Elena: So viele Studis kamen schon      als Faktor, der Situationen verschlech-
len Rückhalt haben wir leider nicht. Wir   zu uns und hatten sich gefragt, warum      tern kann, so gut wie nie Thema im
sind so 20 Aktive.                         sie beispielsweise noch nie etwas von      Studium ist.
    Cevher: Im Plenum meist eher we-       der DRG-Kritik gehört hatten, obwohl            Cevher: Das Motto der Basisgruppe
niger – wie es eben allen so passt.        es im fünften Semester eine Vorlesung      »Medizin ist eine soziale Wissenschaft«
Nicht jede*r hat die Ressourcen, um        zu Gesundheitsökonomie gibt. Oftmals       ist für mich da essentiell. Wir brauchen
neben Studium und gegebenenfalls Ar-       war die Antwort, dass die Vorlesung        einen institutionalisierten Raum, der
beit wöchentlich Zeit und Energie für      nicht sehr ansprechend aufgebaut war       eine Sensibilisierung für die Vielfalt an
ein zusätzliches Engagement aufzu-         oder andere größere Fächer einfach         Menschen und Lebensrealitäten, denen
bringen. Das wissen wir und nehmen         den Vorrang hatten und es keine Zeit       wir in unserer Arbeit begegnen, er-
entsprechend Rücksicht darauf.             gab, sich damit zu beschäftigen.           möglicht. Es muss doch noch Platz für
    Elena: Bei uns schwankt die Anzahl        Rafaela: Es ist schon krass, dass       soziale Kompetenzen neben dem gan-
von Aktiven von Semester zu Semes-         dieses existierende System kaum hin-       zen Faktenwissen geben!
ter, je nach individuellen Kapazitäten.    terfragt wird. Ich bin jetzt fast am            Rafaela: Mich nervt dieser schein-
Wir hatten uns vor vier Jahren nach        Ende meiens Studiums und habe für          bare Widerspruch sowieso total. Eine
dem Vorbild der Kritischen Medizi-         meine Dissertation weder gelernt, zu       kontinuierliche Reflexion der eigenen
ner*innen aus Berlin gegründet, mit        hinterfragen, wer Wissen produziert,       Position und das aktive Zurücknehmen
denen wir uns von Beginn auch ver-         noch, wie ich eigentlich so richtig wis-   voreiliger, auf Stereotypen basieren-
netzt hatten.                              senschaftlich arbeite.                     der Werturteile ist doch absolute Fach-
    Moritz: Wir haben auch ganz schön         Cevher: Es gibt ja auch keinen an-      kompetenz und steht in keinerlei
was aufgewirbelt mit unserer Grün-         gemessenen Raum dafür an der Uni.          ­Widerspruch zu Faktenwissen. Studien
dung. Es ging scheinbar vielen Leuten      Den müssen wir uns, zumindest hier in       zeigen doch, wie sehr Menschen unter
so wie uns, dass sie sich in den bishe-    Göttingen, selbst schaffen, um endlich      all diesen ganzen rassistischen, he­
rigen universitären Strukturen einfach     über die Verknüpfung von Gesellschaft       tero­normativen und ausgrenzenden
nicht repräsentiert gesehen haben.         und Medizin zu sprechen. Doch eine          Selbstverständlichkeiten leiden. Ras-
    Cevher: Das ist ein ewiges Thema.      Parallelstruktur sollte nicht unser End-    sismus und Sexismus in der Medizin
Hier in Göttingen gibt es die Basis-       ziel sein – die Themen müssen in der        sind real.
gruppe Medizin schon seit den 70ern.       Lehre verankert werden!                         [Alle schweigen betroffen]

4 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Moritz: Ich halte unsere Arbeit im Stu-      steine geputzt und uns mit der Vergan-     meinsam mit anderen politischen Ak-
dium daher für einen wichtigen An-           genheit der Medizin auseinanderge-         teur*innen unter dem Motto Vergesell-
knüpfungspunkt. Schon während der            setzt. So sind wir schließlich auch zur    schaften statt Klatschen eine ganze
medizinischen Ausbildung sollten wir         Gedenkstätte Buchenwald gefahren.          Aktionswoche im Mai organisiert, da
sensibilisiert und darin geschult wer-           Moritz: Wir hatten mehr Anmel-         war alles dabei: Ökonomisierungskri-
den, Patient*innen – auch wenn sie           dungen als Plätze für den Besuch. Wir      tik, soziale Verhältnisse, Feminismus,
nicht einer angenommenen Norm ent-           werden das auf jeden Fall nochmal ma-      Antirassismus und diese in Bezug auf
sprechen – bedürfnisorientiert zu be-        chen.                                      Gesundheit.
handeln.                                         Luca: Was wir aus Göttingen auf           Luca: Man muss sich immer wieder
   Cevher: Was macht Ihr denn so,            jeden Fall noch weiterempfehlen kön-       vor Augen halten, wie wichtig die gan-
um Eure Kommiliton*innen zu errei-           nen: Letztes Semester haben wir ein        zen Bündnisse sind, die wir so schaf-
chen? Normalerweise organisieren wir         Regal in der medizinischen Bibliothek      fen. Wir geben daher immer wieder
zum Beispiel Veranstaltungen und             organisiert. Mit Lektüre zu Global He-     DemoSani-Workshops für verschiedene
Workshops zu den Themen. Wir hatten          alth und Social Sciences, um den Zu-       politische Gruppen in Göttingen und
letztes Semester eine Diskussion zur         gang zu gesundheitspolitischem Wis-        haben so auch nochmal mehr gemerkt:
Bürger*innenversicherung.                    sen zu erleichtern. Dazu haben wir         Gesundheit braucht eben Politik.
   Elena: Wir versuchen auch, mit            einen Antrag für Unigelder gestellt und       Cevher: Das fängt schon an der Uni
Veranstaltungen oder Aktionen wie            bewilligt bekommen!                        selbst an. Wir sind hier mit anderen
Kundgebungen oder Demonstrationen                Cevher: Und jetzt haben wir uns        Basisgruppen in einem Bündnis ver-
Studis und andere interessierte Leute        gefragt: ›Wie kriegen wir in diesen Zei-   netzt und wollen über unsere Fächer-
zu erreichen. Oftmals haben wir ge-          ten unsere Themen unter die Leute?‹        grenzen hinweg kritische Wissenschaft
merkt, dass es sinnvoll ist, medial prä-     Seit einem Monat nutzen wir daher ei-      vorantreiben.
sent zu sein und dass wir politischen        nen Telegram-Kanal, wo wir alle zwei          Elena: Genauso hatten sich in Frei-
Druck ausüben können, wenn mit der           Tage Inhalte posten, die wir spannend      burg die Kritischen Einführungstage
lokalen Presse Interviews geführt wer-       finden. Alles rund um das Thema Ge-        gegründet, um den Einstieg in linke
den. So haben wir dafür gekämpft,            sundheitspolitik. Wir hoffen, dass wir     Politik für neue Studierende zu erleich-
dass das Thema Schwangerschaftsab-           so vielleicht ein paar mehr Leute errei-   tern. Ich wäre echt froh gewesen,
bruch endlich im Studium integriert          chen und zeigen, was so außerhalb          wenn es das schon vor ein paar Jahren
wird. Und es hat geklappt!                   ­unserer Lehrbücher geht.                  gegeben hätte! Leider bin ich nur bei
   Rafaela: Respekt dafür! Wir fanden            Rafaela: Bildung und Weiterbildung     einer klassischen Stadt-Ralley der
von Anfang an wichtig, auch außerhalb         sind natürlich unerlässlich! Auf die      Fachschaft Medizin mit viel Alkohol,
des Mikrokosmos Uni aktiv zu sein, und        Straße zu gehen, für unsere Interessen    nackter Haut und peer pressure gelan-
wir haben uns z.B. am Aktionstag              zu demonstrieren, ist jetzt mindestens    det, was ich im Nachhinein echt ätzend
Pflege im Fokus beteiligt oder Stolper-       genauso wichtig. Darum haben wir ge-      fand. Hier entsteht gerade ein Arbeits-

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Rafalea: Das Thema Finanzierung ist wirklich noch ein
                                                                  Knackpunkt für die Zukunft …
                                                                       Luca: Da haben wir es leichter. Die Basisgruppe hat sehr
                                                                  lange die O-Phasen-Parties organisiert und wir hatten dank
                                                                  unserer Vorgänger einiges, womit wir unsere Ideen so finan-
kreis Awareness von verschiedenen Fachschaften, bei dem           zieren konnten. Zum Beispiel bringen wir jedes Semester ein
wir gerne mitwirken wollen, um bei solchen Aktionen eine          Ersti-Heft, die Med-Info, raus, in der wir eigene Texte zu ak-
Gegenstimme anbieten zu können.                                   tuellen Themen, die uns interessieren, drucken und damit
    Moritz: Es ist so hilfreich, sich auszutauschen, eine Ge-     andere für die Themen motivieren wollten. Man braucht kein
genmeinung zu repräsentieren. Und auch Menschen zu ha-            gesundheitspolitisches Vorwissen, um Alternativen und kriti-
ben, mit denen ich darüber reden kann, wie es mir damit           sches Denken zu erlernen. Darum gibt es bei uns einmal im
geht.                                                             Semester ein Einstiegsplenum für alle, die Lust auf mehr linke
    Rafaela: Und gemeinsam Worte zu finden. Ich habe so           Gesundheitspolitik haben.
viel dazugelernt in den anderthalb Jahren, die wir aktiv sind.         Moritz: Die Frage, wie man noch mehr Medizinstudierende
Sowas wie Critical Whiteness lerne ich definitiv nicht im Stu-    politisieren kann, sitzt uns immer im Nacken. Oft stößt man
dium. Und der Kontakt zu anderen Gesundheitsorganisationen        auf Widerstände.
ist ja auch etwas ganz Besonderes. Zum Beispiel auch der               Elena: Ja, das finden wir auch. So oft mussten wir auf
vdää, über den wir fünf jetzt ja verbunden sind.                  Nachfrage erklären, warum es uns als Fachschaftsgruppe ge-
    Cevher: Definitiv, solche Organisationen und Bündnisse        ben soll und was der Mehrwert denn sei.
erlauben es uns, diesen Zwischenzustand zu überbrücken als             Luca: Aber genau das meinen wir bei der Basisgruppe,
Studierende zwischen Anfänger*in und Expert*in. Oft habe          wenn wir mehr Weitsicht im Studium fordern. Für uns ist das
ich dieses Gefühl ›Wir sind nicht so richtig Arbeitende im Ge-    ganz klar die Aufgabe der Lehre, dies zu fördern.
sundheitssystem, aber gleichzeitig doch schon ein Teil da-             Rafaela: [nickt] Ich glaube, es hilft nicht, die Angepasst-
von‹ – daher ist es schon jetzt sinnvoll, und nicht zu früh,      heit zu kritisieren. Das wird meist eher als Angriff aufgefasst
weiterzudenken, ich meine über das Studium hinaus. Dabei          und drängt Menschen von uns weg.
ist es ermächtigend zu sehen, dass auch die, die schon lange           Moritz: Wir müssen da weitermachen, wo die Lehre auf-
im vdää dabei sind, uns zuhören und von uns genauso lernen        hört: Auf bestehende Lücken hinweisen, denn nur so realisie-
können, wie wir von ihnen.                                        ren auch andere, was schiefläuft bzw. dass überhaupt etwas
    Luca: Der Gedanke an den Krankenhausalltag ist erschre-       schiefläuft.
ckend. Viele von uns sind daher im Göttinger Supportbündnis            Luca: Es nervt mich, dass das Curriculum kaum Freiräume
Tarifvertrag und kämpfen in der Gewerkschaft für bessere          bietet, persönliche Akzente setzen zu können, mal durchzu-
Arbeitsbedingungen, zuletzt für die Gastronomie und die Ser-      atmen und zu schauen, wie man das Ganze eigentlich findet.
vicekräfte hier am Uniklinikum.                                   Mich macht es unfassbar wütend, dass ich mir in meiner Frei-
    Moritz: Da denk ich außerdem an Krankenhaus statt Fa-         zeit selbst erarbeiten muss, wie sich Gesellschaft und Ge-
brik. Mir gefällt der Gedanke, Arbeitsbedingungen jetzt schon     sundheit zueinander verhalten.
zu transformieren. Aber dabei eben nicht nur eine bessere              Cevher: Ich würde mir für die Zukunft wünschen, dass
Zukunft für Ärzt*innen anzustreben, sondern für uns alle im       wir mit unseren Veranstaltungen nur noch inhaltlich vertiefen
Gesundheitswesen.                                                 müssen oder mal einen anderen Zugang, wie zum Beispiel
    Cevher: Ich finde diesen Zukunftsblick auch nötig, wenn       einen Film bieten.
man sich so die Probleme der Welt anschaut. Wir waren daher            Rafaela: Genau darum wollen wir auch mit unserem Sit-
an der Gründung einer Health 4 Future Ortsgruppe beteiligt,       zen im Fachschaftsrat auf die Lehre Einfluss nehmen. Wir
um zu zeigen: Wir schauen über den Tellerrand hinaus. Klar        wünschen uns ein Studium mit mehr Diskussionen, Hinter-
gibt es unser wöchentliches Plenum. Aber manche Themen            fragen, kritischem Denken und konstruktivem Austausch und
überschreiten unsere Kapazitäten und machen ein Engage-           mit weniger starrem Auswendiglernen und sturem Multip-
ment in anderen Kontexten notwendig.                              le-Choice-Fragen-Ankreuzen.
    Luca: In der Basisgruppe treffen wir Entscheidungen ba-            Moritz: Ich möchte einfach, dass sie nicht nur behaupten,
sisdemokratisch. Manches können wir nicht mit allen ent-          dass wir soziokulturelle Aspekte der Gesellschaft mit in unser
scheiden, aber wir sind alle gleichberechtigt. Besonders vor      Bild einzubeziehen sollen, sondern dass es uns einerseits vor-
der Redeliste.                                                    gelebt und andererseits später im Berufsleben auch ermög-
    Elena: Das Prinzip der doppelt quotierten Redeliste finden    licht wird.
wir super praktisch, obwohl es sich anfangs auch ein wenig             Elena: Dieses Vorleben und Vorbildsein ist so wichtig. Wie
starr und unpersönlich angefühlt hatte. Aber es hilft, den        gerne hätte ich mir beispielsweise feministische Gynäko­
Plena und Diskussionen bei Veranstaltungen Struktur und           log*innen gewünscht, anstatt auf konservative Strukturen zu
auch Frauen* mehr das Wort zu geben.                              treffen.
    Moritz: Wir mussten erstmal in diese Arbeitsweise rein-            Luca: Denn eigentlich versuchen wir doch lediglich, in
kommen. Wir waren zwar voller Tatendrang, aber wir hatten         ­Patient*innen mehr als nur eine Diagnose zu sehen und sie
ja nichts, worauf wir aufbauen konnten. Und zack, hatten wir       bestmöglich zu versorgen. Dafür studieren wir doch schließ-
plötzlich fünf Plätze im Fachschaftsrat, aber kein Geld für ir-    lich Medizin, oder?
gendwas. [lacht]                                                       [Zustimmendes Nicken]

6 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Plädoyer für eine Neuorientierung
Zuständigkeiten und Konzepte zur ärztlichen Ausbildung und Weiterbildung

Von Hendrik van den Bussche1,·Detlef Niemann2,·Bernt-Peter Robra3,·Udo Schagen4,
Beate Schücking5,·Nobert Schmacke6,·Claudia Spies7,·Alf Trojan8,·Uwe Koch-Gromus9

Dieser Aufsatz wurde schon im Februar 2018 im                     vielen Einzelheiten nachweisen: Ärzte und Ärztinnen in Wei-
Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung                     terbildung (im Folgenden ÄiW) haben einen vollen Arbeitneh-
/ Gesundheitsschutz veröffentlicht. Wir meinen,                   merstatus mit allen entsprechenden Rechten und Pflichten.
er sollte einer breiteren Öffentlichkeit und vor                  Sie müssen sich auf dem Arbeitsmarkt selber einen Arbeits-
                                                                  platz suchen, erhalten einen Arbeitsvertrag mit dem Kran-
allem den jungen Mediziner*innen bekannt ge-
                                                                  kenhaus, aber zumeist keinen Weiterbildungsvertrag und sie
macht werden. Wir danken den Autor*innen,
                                                                  können Gewerkschaften bilden. Alle Stellen für ÄiW werden
dass wir ihn hier für unser Format gekürzt veröf-                 voll auf den Stellenplan des Krankenhauses angerechnet.
fentlichen dürfen.                                                Stellen(-Anteile) für Qualifizierungsmaßnahmen gibt es nicht,
                                                                  ebensowenig Belohnungen für positiv bewertete Lehre. (…)
                                                                  Das daraus entstehende Problem der klinischen Qualifizierung
„„Hintergrund und Problembeschreibung                             des wissenschaftlichen Nachwuchses wird einfach negiert.
                                                                  Schließlich werden die Zeit- und Mengenvorgaben für die Zu-
Der Prozess der Qualifizierung von Ärzten und Ärztinnen be-       lassung zur fachärztlichen Prüfung in § 4 MWBO ausdrücklich
steht in allen industrialisierten Ländern seit mehreren Jahr-     als »Mindestzeiten und Mindestinhalte« definiert, womit für
zehnten aus zwei Phasen mit einer vergleichbaren Dauer von        die weiterbildende Einrichtung die Verpflichtung entfällt, die
ca. fünf bis sieben Jahren: der ärztlichen Ausbildung und der     Arbeits- und Weiterbildungsprozesse so zu strukturieren,
(ersten) ärztlichen Weiterbildung. Qualifizierungsmaßnahmen       dass die ÄiW die Anforderungen in der Mindestzeit erfüllen
nach dem Erreichen der beruflichen Endposition werden üb-         können. Das Anforderungserfüllungsrisiko liegt somit aus-
licherweise als ärztliche Fortbildung bezeichnet.                 schließlich bei den ÄiW. (…)
    Die ärztliche Ausbildung an den medizinischen Fakultäten
und Hochschulen wird bundeseinheitlich durch die Approba-         „„Geschichtlicher Hintergrund
tionsordnung für Ärzte geregelt. Die Approbationsordnung
wird als Rechtsverordnung vom Bundesministerium für Ge-           Ein geschichtlicher Rückblick kann erklären, wie es zu dieser
sundheit mit Zustimmung des Bundesrates erlassen. Die ärzt-       theoriefernen Konzeption der Weiterbildung in Deutschland
liche Weiterbildung beruht auf den Weiterbildungsordnungen        kam. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt der ärztliche
(WBO) der Landesärztekammern (LÄK; aktuelle Fassung am            Qualifikationsprozess mit der jeweiligen Approbation nach
Beispiel Hamburgs); diese wiederum basieren auf einer Mus-        einem praktischen Jahr als beendet. (…) Eine eventuelle wei-
terweiterbildungsordnung (MWBO) der Bundesärztekammer             tere anschließende Spezialisierung wurde als freiwillig und
(BÄK). Die Weiterbildungszuständigkeit der LÄK ist eine staat-    nichtregelungsbedürftig angesehen. Sie fand im Rahmen ei-
lich delegierte Aufgabe im Rahmen der Ärztekammergesetze          nes Meister-Lehrling-Verhältnisses statt. Man wurde Schüler
der Bundesländer. Beide Instanzen – Fakultäten und Kam-           des spezialisierten (Prof.) Dr. X und übernahm Schritt für
mern – wachen eifersüchtig über ihre Alleinzuständigkeit für      Schritt das Denken und Handeln des Meisters; das Grundmo-
einen der beiden Abschnitte. (…)                                  dell war Learning by Imitation. Das Weiterbildungsverhältnis
    Während die ärztliche Ausbildung in den letzten Jahrzehn-     war somit ein persönliches, kein institutionell definiertes. (…)
ten in Bezug auf Lernziele, Inhalte und Veranstaltungsformen         Erst 1924 verabschiedete der 43. Deutsche Ärztetag in
immer detaillierter ausdifferenziert wurde, ist die ärztliche     Bremen »Leitsätze zur Facharztfrage«, mit denen die ersten
Weiterbildung als ein Learning by Doing, als ein Training on      14 Spezialisierungen kodifiziert wurden. Diese erste »Weiter-
the (Hospital) Job ohne parallele theoretische Fundierung         bildungsordnung« konzentrierte sich – wie auch die späte-
konzipiert. Implizit wird angenommen, dass die in der ärztli-     ren – zum einen auf Bezeichnungs-und Abgrenzungsfragen.
chen Ausbildung erworbene theoretische Qualifikation aus-         Zum anderen forderten die Bremer Leitsätze eine »genü-
reicht und dass ein mehrjähriges praktisches Arbeiten im          gende Ausbildung in seinem Sonderfach« in Form einer
Krankenhaus – auch wenn in Lehr- und Lernhinsicht unstruk-        »Fachausbildung« zwischen drei und vier Jahren, dies aller-
turiert – die fachärztliche Qualifikation quasiautomatisch her-   dings mit der Maßgabe, dass »eine besondere Prüfung für
beiführt.                                                         Fachärzte weder erwünscht noch nötig ist« [8, 9].
    Der Primat der ärztlichen Arbeit und die Hintanstellung des      Wurde 1924 noch eine »genügende Ausbildung« als not-
Bildungsaspekts lassen sich in der MWBO und in den WBO an         wendig anerkannt, gelang es im Jahr 1950 auf Betreiben des

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Die Ärztekammern halten indes an
                                                                                       der Formulierung fest, die Approbation
                                                                                       sei der Abschluss der formalen Qualifi-
                                                                                       zierung, die Phase danach eben kein
                                                                                       formaler Lernprozess. (…) Solche Ab-
                                                                                       grenzungen zwischen Aus- und Wei-
                                                                                       terbildung sind nicht nur unrealistisch,
                                                                                       sondern auch riskant. Indem sie
                                                                                       ­suggerieren, die ärztliche Ausbildung
                                                                                        reiche für die theoretische und kli-
                                                                                        nisch-praktische Grundqualifikation,
                                                                                        negieren sie, dass die Grundausbildung
                                                                                        an den medizinischen Fakultäten ge-
                                                                                        schichtlich noch nie in der Lage war,
                                                                                        ein berufsadäquates Kompetenzniveau
Marburger Bundes, das Wort Aus-bil-         mern im Rahmen ihrer Berufsordnun-          zu vermitteln. (…) Keine einzige Studie
dung durch den Begriff Weiterbildung        gen zu übertragen, hielt das BVerfG für     belegt für die heutige Zeit, dass am
zu ersetzen, um damit den Bestrebun-        nicht verfassungskonform. (…)               Ende der ärztlichen Ausbildung ein
gen der Krankenhäuser einen Riegel              Mit der Zeit also wandelten sich die    Kompetenzniveau im Sinne der Voraus-
vorzuschieben, unter Berufung auf den       aus Sicht des BVerfG zu teilenden Zu-       setzungen für eine selbstständige Tä-
Ausbildungscharakter der Tätigkeit          ständigkeiten geräuschlos in eine prak-     tigkeit je erreicht wurde.
keine oder nur geringe Vergütungen zu       tisch einseitige Zuständigkeit der Ärz-
zahlen [10]                                 tekammern. Die Kammergesetze mit           „„Lösungswege
    Erst 1968 – d. h. erst vor weniger      den so zurückhaltend interpretierten
als 50 Jahren – wurde auf dem 71.           statusbildenden Normen gelten seit         Die Lösung kann nur in einer besseren
Deutschen Ärztetag in Wiesbaden die         den 1970er-Jahren heute noch fast un-      Verzahnung von Aus- und Weiterbil-
erste MWBO verabschiedet. Sie enthielt      verändert weiter (…). Fünfundvierzig       dung als zwei Phasen eines einheitli-
für alle Facharztsparten detaillierte       Jahre später halten die Ärztekammern       chen Qualifizierungsprozesses mit je-
Richtlinien zur Anerkennung. (…) Im         noch immer an der Auffassung fest, die     weils adäquaten Anteilen von Theorie
Jahr 1972 erging ein Urteil des Bun-        fachärztliche Qualifikation sei so etwas   und Praxis gesucht werden. Der ärztli-
desverfassungsgerichtes (im Folgen-         wie eine Zusatzqualifikation, jedenfalls   che Qualifizierungsprozess sollte als
den: BVerfG) zur Facharztfrage. In          kein Beruf im Sinne des Artikels 12 GG,    ein Kontinuum mit einem geglätteten
diesem Urteil stellte das BVerfG fest,      obwohl sich die ärztliche Versorgung       Übergang zwischen seinen beiden Ab-
dass der Facharzt kein besonderer           und die fachärztliche Berufstätigkeit      schnitten betrachtet werden. Das be-
­Beruf im Sin-ne des Artikels 12 des        in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt     deutet zum einen, dass Lernen in der
 Grundgesetzes sei, sondern eine be-        haben und mit der Einführung einer         Weiterbildung einen zentralen Stellen-
 sondere Form innerhalb der ärztli-         Pflichtweiterbildung für Hausärzte im      wert bekommen sollte und damit di-
 chen Berufsausübung. Deswegen be-          Jahr 1993 das Prinzip der Freiwilligkeit   daktische Prinzipien gleichermaßen für
 schränkte das BVerfG die Zuständigkeit     der Weiterbildung de facto aufgehoben      beide Abschnitte gelten müssten. Statt
 der Bundesregierung auf Fragen der         wurde. Seitdem darf niemand mehr in        einer Steuerung über Mindestzeiten
 Zulassung zum ärztlichen Beruf, mit        der ärztlichen Versorgung von gesetz-      und Mindestmengen an diagnostischen
 anderen Worten auf die Ordnung der         lich Versicherten tätig sein, der/die      und therapeutischen Interventionen
 Grundausbildung (Bestallungsordnung,       keine fachärztliche Anerkennung er-        (»Kataloge«) sollten Fachgesellschaf-
 später Approbationsordnung), während       worben hat. Aus unserer Sicht ist die      ten und Ärztekammern pro Fachrich-
 Fragen der Berufsausübung – und um         fachärztliche Weiterbildung längst eine    tung Mustercurricula erstellen, die auf
 eine solche handele es sich bei der        spezielle Berufsausbildung geworden        der Basis von erforderlichen ärztlichen
 fachärztlichen Tätigkeit – in die Zu-      und hat das Stadium der Zusatzquali-       Kompetenzen ein ausgewogenes Ver-
 ständigkeit der Länder falle. Allerdings   fikation überschritten. Dennoch hat        hältnis von theoretischen und prakti-
 vermerkte das BVerfG in diesem Urteil,     sich bis dato kein Gesundheitsministe-     schen Lernanteilen aufweisen. (…)
 dass die fachärztliche Tätigkeit einer     rium und kein Parlament daran inter-          Auch ist es mit der Formulierung
 Berufswahl dennoch »nahekomme«,            essiert gezeigt, Fragen nach der Qua-      von Kompetenzen nicht getan; viel-
 weswegen das Gericht im Detail be-         lität der ärztlichen Weiterbildung und     mehr muss auf dieser Basis festgelegt
 schrieb, was von den Landesregierun-       deren Sicherstellung zu stellen. Es hat    werden, über welche theoretischen
 gen einerseits bzw. den ärztlichen Be-     sich im Gegenteil eine Wahrnehmung         bzw. praktischen Lehr- und Lernsitua-
 rufsorganisationen auf Länderebene         durchgesetzt, die die Gewichtsverlage-     tionen die Kompetenzziele erreicht und
 andererseits zu regeln sei. Die bis da-    rung der Zuständigkeiten zwischen Be-      wie sie evaluiert werden sollen. Diese
 hin seitens der Bundesländer prakti-       hörden und Kammern geradezu als            Mustercurricula müssten in einem wei-
 zierte Gesetzgebung, die Zuständigkeit     bindendes Resultat dieses BVerfG-Ur-       teren Schritt auf der Ebene des einzel-
 für die Weiterbildung den Ärztekam-        teils betrachtet!                          nen Krankenhauses konkretisiert und

8 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
adaptiert werden. Dass dies alles organisatorische und finan-    operative Beratungs- und Entscheidungsprozesse zwecks
zielle Implikationen hat, ist evident.                           Verzahnung von Aus- und Weiterbildung entwickelt und er-
   Zum anderen erfordert eine bessere Verzahnung andere          probt werden können. Hierbei sind auch Rationalisierungs-
Zuständigkeitsregelungen und Entscheidungsprozesse. Wie          reserven und abschnittsüberschreitende, modular aufge-
oben beschrieben, haben die Landesregierungen den Ärzte-         baute curriculare Angebote zu prüfen. Gegenstand eines
kammern die Zuständigkeit für die ärztliche Weiterbildung        solchen Kooperationsprozesses sollten mindestens folgende
weitestgehend überlassen. Die Qualität künftiger Fachärzte       Aufgaben sein:
und Fachärztinnen liegt damit in unserer Gesellschaft fast
vollständig in den Händen von Organisationen, die zwar ei-       „„Analysen der Stärken und Schwächen der aktuellen ärzt-
nerseits als Körperschaften des öffentlichen Rechts mittelbare     lichen Aus- und Weiterbildung, auch unter Berücksichti-
Staatsgewalt ausüben, andererseits aber auch die Partikula-        gung der Entwicklung in anderen OECD-Ländern.
rinteressen ihrer Berufsgruppe aktiv vertreten. Das faktische    „„Formulierung von Leitbildern und Kompetenzprofilen für
Zuständigkeitsmonopol der Kammern ist in Anbetracht der            die ärztliche Tätigkeit und für die Aus- und Weiterbildung
gesellschaftlichen Bedeutung einer quantitativ und qualitativ      als aufeinander ausgerichtete, abgestimmte Prozesse. Für
optimalen Ausdifferenzierung des Qualifikationsprofils der            die zu konzipierenden Verfahren zur kontinuierlichen und
ärztlichen Profession aufgrund dieser doppelten Funktion der       summativen Evaluation der ÄiW wären die erreichten
Ärztekammern problematisch (…) Kaum ein anderes Land der           Qualifikationen das Maß der Dinge, nicht primär die Zahl
OECD kennt diese quasivollständige staatliche Abstinenz in         der absolvierten Jahre.
Sachen ärztlicher Angebotsplanung und Qualitätssicherung.        „„Aufbau von Strukturen/Einrichtungen, die die speziellen
(…)                                                                Vorlesungen, Seminare, Übungen und Kurse für die fach-
   Ein mögliches Korrektiv (der Ausrichtung von Studieren-         spezifischen theoretischen und praktischen Anteile der
den auf die Maximalversorger der Universitätskliniken)             Weiterbildung anbieten. Die jüngst beschlossenen Kompe-
könnte darin liegen, die verfasste Ärzteschaft an den Kon-         tenzzentren für das Fach Allgemeinmedizin könnten hier
zeptualisierungen und konkreten Umsetzungen der Curricula          als Blaupause dienen.
in der ärztlichen Ausbildung maßgeblich zu beteiligen. Ver-      „„Entwicklung von Standards und Qualitätsindikatoren zur
mutlich würde diese Maßnahme ein deutliches Mehr an Pra-           Gestaltung zentraler Elemente der Aus- und Weiterbildung
xisbezug im gesamten Studium bringen. Umgekehrt könnte             (z. B. valide Verfahren zur Evaluation der Weiterzubilden-
eine stärkere Beteiligung der Universitäten an der ärztlichen      den bzw. der weiterbildenden Einrichtungen).
Weiterbildung dazu führen, dass die vielbeklagten Transla­
tionsprozesse zwischen Forschung und Praxis effektiver wür-      Neben der Sicherstellung der fachlichen Qualifikation der
den. Außerdem könnte deren Wirkung dazu beitragen, dem           Fachärzte und Fachärztinnen ist es eine wichtige Aufgabe des
Defizit an Evidenzbasierung der Weiterbildung (…) schritt-       Staates, unter Hinzuziehung ärztlichen und wissenschaftli-
weise abzuhelfen. (…)                                            chen Sachverstands den Bedarf an Fachärzten und Fachärz-
                                                                 tinnen abzuschätzen und für eine Balance zwischen Bedarf
„„Folgerungen                                                    und Angebot zu sorgen. (…)
                                                                    Die Autorinnen und Autoren wissen, dass die Umsetzung
(…) Die medizinischen Fakultäten und die Fachgesellschaften      der obigen Vorschläge ein enorm komplizierter Prozess wäre,
sollten in den Dialog darüber einbezogen werden, wie ko-         der viele Schwierigkeiten zu überwinden hätte, um am Ende
                                                                 erfolgreich zu sein. Doch möchten wir darauf verweisen, dass
                                                                 die obigen Ideen bereits in vielfältiger Form in anderen
                                                                 OECD-Ländern umgesetzt werden. (…) Man muss also das
                                                                 Rad der Kooperation nicht neu erfinden. (…) Die trennenden
                                                                 Barrieren institutioneller, rechtlicher und politischer Art mögen
                                                                 heute als kaum überwindbar erscheinen. Was aber an Barri-
                                                                 eren aufgebaut wurde, kann auch wieder abgebaut werden.

                                                                 Zu den Autor*innen: 1 Institut für Allgemeinmedizin, Universitäts-
                                                                 klinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, 2 Hamburg, 3 Institut für
                                                                 Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie der Medizinischen Fakul-
                                                                 tät, Universität Magdeburg, 4 Institut für Geschichte der Medizin
                                                                 und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin, 5
                                                                 Rektorat, Universität Leipzig, 6 Abteilung Versorgungsforschung,
                                                                 Institut für Public Health und Pflegeforschung , Universität Bremen,
                                                                 7 Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Klinik für Anästhesiolo-
                                                                 gie, Berlin, 8 Institut für Medizinische Soziologie, Universitätskli-
                                                                 nikum Hamburg-Eppendorf, 9 Dekanat der Medizinischen Fakultät,
                                                                 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

                                                                 (Quelle: Bundesgesundheitsblatt 2018, 61: 163–169, https://link.
                                                                 springer.com/article/10.1007/s00103-017-2675-x)

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Der Grundstein ist gelegt,
das Haus steht noch nicht
Tobias Henke zur neuen Approbationsordnung
Das Regelwerk für die Ausbildung von Mediziner*innen wird von Grund auf geändert – und die Weichen für
die Ärzt*innen der nächsten Jahrzehnte damit neu gestellt. Tobias Henke hat sie aus Sicht der Bundesver-
tretung der Medizinstudierenden Deutschlands (bvmd) unter die Lupe genommen. Die Kritik an der Appro-
bationsordnung könnte aus einer linken Perspektive sicher noch weiter gehen, ebenso die Forderungen.

Das Medizinstudium ist in den letzten     Richtung qualitativ hochwertiger Pa­       reits vielfach implementiert und auch
Jahren stärker als je zuvor in den Fo-    tient*innenenversorgung.                   an einigen medizinischen Fakultäten
kus der Politik gerückt. Mit der Veröf-       Dafür wird die Struktur des Stu­       pilotiert – und der Nutzen hochsignifi-
fentlichung des Masterplan Medizinstu-    diums verändert: Theoretische und kli-     kant publiziert.
dium 2020 im März 2017 war klar, dass     nische Studieninhalte werden im Rah-          Mit dem Studium ändern sich auch
die Ausbildung von Ärzt*innen weit­       men eines sogenannten Z-Curriculums        die Staatsexamina: Die Umwandlung
reichend reformiert werden soll. Dass     stärker verknüpft und bilden in der        der mündlichen M1-Prüfung in eine kli-
dafür auch die Rechtsarchitektur des      Theorie ein gutes Modell. Konkret be-      nisch-praktisch strukturierte Prüfung
Medizinstudiums – und damit die Ap-       darf es aber noch deutlicher Verbesse-     stellt einen entscheidenden Schritt in
probationsordnung für Ärzte (ÄApprO)      rungen – so müssen in der Neufassung       Richtung Kompetenzorientierung und
umgebaut werden musste, war schnell       in fakultären Prüfungen vor dem ersten     Vergleichbarkeit dar. Gerade letztere
klar.                                     Abschnitt der Ärztlichen Prüfung bei-      kann aber nur gewährleistet werden,
   Im November 2019 war das Bun-          spielsweise nur 10 % klinische Inhalte     wenn objektive Prüfungsschemata vor-
desgesundheitsministerium dann so-        integriert sein – ein marginaler Anteil,   handen sind und mehr als ein*e Prüfen-
weit und teilte den Arbeitsentwurf zur    der oftmals jetzt schon integriert ist,    de*r anwesend ist – das ist bisher nicht
reformierten Approbationsordnung mit      der aber die Strukturbemühungen des        vorgesehen, was durchaus verwundert.
einigen kommentarberechtigten Orga-       sich gerade in der Entwicklung befind-     Ein Vier-­Augen-Prinzip ist in weiten Tei-
nisationen – darunter auch mit der        lichen Nationalen Lernzielkatalogs Me-     len der Prüfungsland­schaft Standard,
Bundesvertretung der Medizinstudie-       dizin (NKLM) konterkariert. Als Min-       das sollte es auch bei Staatsexamina
renden in Deutschland e.V. (bvmd).        destvorgabe sollten daher wie in den       sein – zum Schutze der Prüflinge und
   Schnell wurde nach einer ersten        Staatsexamina eher 20–30 % klinische       Prü­fenden. Auch die fi­nalen mündlichen
Durchsicht der 182 Seiten umfassen-       Inhalte integriert werden, um die Syn-     Staats­examens­prüfungen, die im Ent-
den Verordnung klar: Es gibt viel Für     chronität von Lehre und Prüfung si-        wurf als vierter Abschnitt der Ärztlichen
und Wider. Zuerst einmal ist aber ein     cherzustellen.                             Prüfung (M4) benannt sind, verbessern
klarer Fortschritt erkennbar, denn die        Wirklich schade ist, dass die fakul-   eine bisher wenig objektive und nicht
Ausbildung von Ärzt*innen soll in Zu-     tären Leistungsnachweise nach wie vor      ausreichend standardisierte Prüfung.
kunft konsequent kompetenzorientiert      kleinteilig an klassischen Fächern         Der erste Teil der neuen M4-Prüfung
stattfinden. Mit der Stärkung von Pra-    orien­tiert sein sollen. Dadurch bleiben   mit seiner eng am Absolvent*innenen-
xisnähe sowie ärztlichen Fähigkeiten,     wir hinter aktuellen didaktischen Mög-     profil orientierten Struktur, der Bewer-
Fertigkeiten und Haltungen geht das       lichkeiten zur Curriculumsentwicklung      tung mittels standardisierter Checklis-
Studium einen wichtigen Schritt in die    zurück – und während Chemie und            ten sowie der Signalwirkung für nötige
                                          Physik Denkmalschutz genießen, blei-       Lehrinhalte des Praktischen Jahrs bietet
                                          ben digitale Kompetenzen einmal mehr       einen deutlichen Mehrwert.
                                          auf der Strecke. Mehr noch: Digitale          Ein großes Gewicht fällt in der
                                          Lehrformate tauchen unter den anzu-        neuen Approbationsordnung der Allge-
                                          bietenden Unterrichtsformaten nicht        meinmedizin zu. Schließlich weiß man
                                          einmal als Begriff auf – nicht erst nach   im Bundesgesundheitsministerium um
                                          der Lehre in Corona-Zeiten dürfte das      die demographische Entwicklung in
                                          überholt sein. Lehrmethoden wie Blen-      Deutschland und die sich daraus erge-
                                          ded-Learning, Flipped Classroom oder       benden Versorgungsherausforderun-
                                          Gami­fication-Modelle (siehe Kasten S.     gen, vor allem in ländlichen Räumen.
                                          11) sind in anderen Stu­diengängen be-     Sinnvoll ist daher die Integration längs

10 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Blended Learning
                                                                               Blended Learning oder integriertes bzw. gemischtes
                                                                               Lernen bezeichnet lt. Wikipedia eine didaktisch sinn-
                                                                               volle Verknüpfung von traditionellen Präsenzveranstal-
                                                                               tungen und modernen Formen von E-Learning. Das
                                                                               Konzept verbindet elektronische Lernformen mit den
                                                                               sozialen Aspekten der Face-to-Face-Kommunikation
                                                                               sowie ggf. dem praktischen Lernen von Tätigkeiten.
                                                                               Beim Blended Learning werden Präsenzphasen und
durch das gesamte Studium, die durch stetes Wiederaufgreifen gelern-           Online-Phasen funktional aufeinander abgestimmt. Es
ter Inhalte einen nachhaltigen Kompetenzerwerb ermöglichen kann.               soll Lernen, Kommunizieren, Informieren und Wissens-
Fraglich ist, ob die vorgesehenen acht Wochen Blockpraktikum in Lehr-          management, losgelöst von Ort und Zeit in Kombina-
praxen qualitativ gut umsetzbar sind. Aus Sicht der Bundesvertretung           tion mit Erfahrungsaustausch, Rollenspiel und persön-
der Medizinstudierenden in Deutschland muss hier auf vier, maximal             lichen Begegnungen im klassischen Präsenztraining
sechs Wochen korrigiert werden. Denn: Ein rein quantitativer Ausbau            ermöglichen. (Sauter und Bender. 2004, lt. Wikipedia
der Blockpraktika ist nicht zielführend und gefährdet eher die Qualität        Blended Learning)
derselben. In der Allgemeinmedizin selbst gab es Zweifel, wie bei der
ohnehin angespannten Zeitsituation insbesondere im ländlichen Raum
                                                                                           Flipped Classroom
derartige Kapazitäten für Lehre bereitgestellt werden sollen. Oder wie         Flipped Classroom ist ein Modell des Blended Learning.
es ein Allgemeinmediziner ausdrückte: Motivierte Lehrpraxen fallen nun         Für den Unterricht bedeutet es eine Veränderung um
mal nicht vom Himmel. Deswegen wäre es sinnvoller, den engen Fokus             180 Grad. Im traditionellen Präsenzunterricht bildet die
auf das Fach Allgemeinmedizin auf den Bereich primärärztlicher Versor-         Lehrkraft die Brücke zwischen den Lernenden und dem
gung zu erweitern und die Realität der Primärversorgung zu berück-             Wissen. Im Flipped-Classroom-Modell bekommen die
sichtigen.                                                                     Studierenden hingegen direkten Zugriff auf die Lernin-
    Ein wesentliches Anliegen für die Medizinstudierenden ist seit jeher       halte. Die Lehrkräfte erfüllen dabei die Funktion von
                                                                               Coaches oder Mentor*innen und die Studierenden be-
das Praktische Jahr (PJ). Die Verbesserung der strukturellen Anforde-
                                                                               reiten sich auf den Präsenzunterricht selbst vor. Wäh-
rungen an die Lehre wie die Bereitstellung eines eigenen Arbeitsplatzes,
                                                                               rend des Unterrichts können Lehrkräfte sich dann auf
Zugang zum Patientenverwaltungssystem und klar definierte Verant-
                                                                               die Anwendung und die Vertiefung des Lernstoffs fo-
wortlichkeiten für die Betreuung der Studierenden sind ein Schritt in
                                                                               kussieren. Die Studierenden sollen ihre Hausaufgaben
die richtige Richtung. Ein wichtiger und wesentlicher Punkt jedoch fehlt:
                                                                               vorbereitet haben und so über das Basiswissen zum
Die Integration einer Mindestaufwandsentschädigung für PJ-Studierende          Thema verfügen. Während der Unterrichtszeit können
in Höhe des BAföG-Höchstsatzes zur Sicherung des Lebensunterhaltes.            sie daher tiefer in die Materie einsteigen und Fragen
Studierende, die 40 Stunden und mehr pro Woche zur Patien­t*in­                stellen. So erfahren die Lehrkräfte, welche Probleme
nenversorgung, aber auch Patient*innensicherheit beitragen, können             die Studierenden haben.
nicht noch nebenher ihren Lebensunterhalt in Nebenjobs erarbeiten.
Findet eine solche Regelung keinen Eingang mehr in die ÄApprO, schei-                   Gamification Modelle
tert die Neuordnung an einer sensiblen Stelle: Nicht nur soziale Ärz-          Serious Games sind Spiele, die primär für einen didak-
t*innen auszubilden, sondern auch sozial Ärzt*innen auszubilden.               tischen Kontext entwickelt werden und somit in Lehr-
    Insgesamt ist also zu sagen: Der Grundbaustein für eine zukunfts-          veranstaltungen und Curricula integriert werden kön-
fähige Ausbildung von Mediziner*innen ist gelegt. Er liegt an der rich-        nen. Deutlich gestiegene Serverkapazitäten ermöglichen
tigen Stelle für ein tragfähiges Fundament, hat aber noch teils scharfe        es, aufwendige 3D-Simulationen anbieten zu können.
Kanten, die des Nachschleifens bedürfen. Und mit dem gelegten Grund-           Hierbei können sowohl ein hoher Realitätsgrad als auch
stein ist noch kein Haus gebaut, weitere Regelwerke müssen angepasst           Elemente der Gamification zur Motivationssteigerung
werden. Nur wenn die Kapazitätsverordnungen an den erhöhten Bedarf             gezielt didaktisch genutzt werden. Z.B. wird an der Uni
an kapazitätsrelevanten Ressourcen, wie z.B. für Lehre einkalkulierte          in Göttingen eine digitale Simulation einer Notaufnahme
Vollzeitäquivalente angepasst werden, kann Rechtssicherheit für Fakul-         im Rahmen der Pflichtlehre eingesetzt. In Kleingruppen-
täten und Studienanwärter*innen geschaffen werden. Nur wenn der                sitzungen von 18 bis 50 Studierenden übernehmen die
                                                                               Teilnehmenden jede*r für sich die ärztliche Tätigkeit in
Entwicklungsprozess von Nationalen Kompetenzbasierten Lehrmittel-
                                                                               der virtuellen Notaufnahme. Es müssen hierbei bis zu
katalogen und den Gegenstandskatalogen produktiv voranschreitet –
                                                                               zehn Patient*innen parallel behandelt werden. Die Ter-
gewährleistet durch eine gemeinsame, vermittelnde Kommission unter
                                                                               mine werden von erfahrenen Ärzt*nnen begleitet, die
Federführung des BMG, kann die neue ÄApprO auch mit Inhalten gefüllt
                                                                               für inhaltliche Fragen zur Verfügung stehen. So sollen
werden. Nur, wenn an den Universitäten frühzeitig mit der Lehrkonzep-
                                                                               die Studierenden lernen können, Verantwortung zu
tentwicklung nach der neuen ÄApprO begonnen wird, kann die neue
                                                                               übernehmen und Entscheidungen zu treffen, ohne echte
Approbationsordnung flüssig greifen. Und nur, wenn gute Lehre dann             Patient*innen zu gefährden. Und diese soll ermöglichen,
auch umgesetzt wird – dann kann die Mediziner*innenausbildung wirk-            den Umgang mit relevanten Krankheitsbildern standar-
lich zukunftsfähig werden.                                                     disiert zu lehren und parallel mehr als eine Kasuistik zu
Tobias Henke ist Medizinstudent und Bundeskoordinator für Gesundheitspolitik   bearbeiten. (Siehe https://hochschulforumdigitalisie
in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd). Der     rung.de/de/blog/serious-games-im-medizinstudium-
Autor meldet keine finanziellen oder persönlichen Interessenskonflikte an.     nun-lasst-den-worten-daten-folgen)        Die Redaktion

                                                                                   Gesundheit braucht Politik 2/2020 | 11
Verschärfung der sozialen Kluft
Kai-Uwe Helmers und Anke Kleinemeier über private Studiengänge Humanmedizin
in Hamburg und die Reaktionen auf ihre Kritik daran

Kai-Uwe Helmers und Anke Kleinemeier haben im Hamburger Ärzteblatt 10/2019 einen Artikel veröf-
fentlicht zu inzwischen drei Möglichkeiten allein in Hamburg, an privaten Hochschulen Medizin zu stu-
dieren. Wir dokumentieren diesen Artikel hier zusammen mit einer Zusammenfassung der – zum Teil
heftigen und von einem der drei privaten Träger anscheinend lancierten – Reaktionen darauf im HÄB
11 und 12/2019 und der abschließenden Stellungnahme der Autor*innen, die diese im HÄB 12/2019
ebenfalls veröffentlicht haben.

Anfang 2019 hat der Senat in Hamburg                                                    tern finanzierten Medizinhochschule
die Zulassung für einen Medizinstu­dien­                                                studiert haben, in Bezug auf den me-
gang an der privaten Medical School                                                     dizinischen Moralkodex in der Versor-
Hamburg (MSH) erteilt. Zusätzlich wird                                                  gung der Allgemeinheit verhalten wer-
die UMCH (Universitätsmedizin Neu-                                                      den. Es ist aber zu befürchten, dass
markt am Mieresch Campus Hamburg)                                                       von denen, die dann »viel investiert
im September 2019 die ersten Medizin-                                                   haben«, einer medizinischen Versor-
studierenden aufnehmen. Neben der                                                       gung unter marktwirtschaftlichen statt
Universität Hamburg bestehen somit                                                      sozialen Kautelen weiter Vorschub ge-
nun drei weitere Möglichkeiten des                                                      leistet wird. In einem Artikel von 2019
­Medizinstudiums an privaten Hoch-                                                      zur sozialen Herkunft von Humanme-
 schulen – MSH und UMCH als auch die                                                    diziner*innen schreibt Lisa Richter:
 Semmelweis Universität. Die Semmel-                                                    »Medizinstudierende und Ärzt*innen
 weis Universität in Budapest hat für       deutet für die ersten Jahre eine Gebühr     entstammen überdurchschnittlich oft
 den klinischen Teil eine Asklepios Me-     von 18.000 Euro pro Jahr. Damit wird        aus sehr gut ausgebildeten akademi-
 dical School GmbH eingerichtet, so         die soziale Herkunft zum Auswahlkrite-      schen Elternhäusern bzw. hohen so­
 dass Studierende nun die Vorklinik in      rium und bestimmt, welche Studieren-        zialen Schichten. Sie bringen in der Re-
 Budapest machen müssen und danach          den hier Medizin lernen dürfen. Bei der     gel durch ihre Sozialisation spezifische
 in Hamburg studieren können. Bei der       Semmelweis Universität im Zusam-            Weltanschauungen und Ressourcen
 MSH sind als Lehrkrankenhäuser die         menhang mit der Asklepios Medical           mit, die sich auch in der Arzt-Patien-
 Kliniken in Schwerin vorgesehen. Die       School kostet es 7.800 Euro pro Se-         ten-Beziehung ausdrücken können.
 Zulassung wurde vom Wissenschafts-         mester bzw. 15.600 Euro pro Jahr. In        Hierbei muss zum einen berücksichtigt
 rat empfohlen »nach ausführlicher Prü-     beiden Fällen wird somit deutlich, dass     werden, dass sowohl die eigene Sozia-
 fung«, wobei in diese Prüfung nur ein-     es sich um eine Möglichkeit des Medi-       lisation, als auch die professionsspe­
 fließt, »ob es sich bei der zu prüfenden   zinstudiums für Menschen mit großen         zifische Sozialisation als Arzt bzw. Ärz­
 Einrichtung um eine Hochschule han-        finanziellen Ressourcen handelt. Da in      tin, sowie die sozialen Hintergründe
 delt, an der Leistungen in Lehre und       den staatlichen Universitäten für einen     der Patient*innen eine Rolle spielen.
 Forschung erbracht werden, die aner-       sofortigen Medizinstudienplatz ein Nu-      Problematisch wird eine elitäre Ärzte-
 kannten wissenschaftlichen Maßstäben       merus Clausus (NC) von 1,0 bis 1,2          schaft an der Stelle, an der sie den
 entsprechen«. Die Zulassung der Stu-       notwendig ist, während bei einer            ­Zugang zu wichtigen Ressourcen ge-
 dierenden zu einer solchen Hochschule      schlechteren Abiturnote Wartesemes-          fährdet. Ärzt*innenseitig ist das der
 ist nicht Gegenstand der Prüfung, d.h.     ter anfallen oder gar eine andere            ungleichmäßige Zugang zur ärztlichen
 diese obliegt dem Ermessen der Hoch-       ­Studienwahl erforderlich wird, dürfen       Ausbildung und damit zusammenhän-
 schule. Das bedeutet, es wird nicht be-     ­Menschen mit viel Geld auf private Uni-    genden Zugängen zum berufsspezifi-
 schrieben, wie die Auswahl der Studie-       versitäten ausweichen.                     schen sozialen Prestige und Einkom-
 reden erfolgen soll.                            Gesundheitsversorgung ist neben         men. Patient*innenseitig ist das die
     Bei der MSH betragen die Kosten          Ernährung, Bildung und Wohnen ein          mögliche Einschränkung einer bedürf-
 1.500 Euro monatlich bis zum Prakti-         Grundrecht. Es ist nicht ausreichend       nisgerechten Behandlung durch die so-
 schen Jahr (PJ), im PJ beträgt die Ge-       untersucht, wie sich später Ärzt*innen,    ziale Entfernung von den behandeln-
 bühr dann monatlich 300 Euro. Das be-        die an einer von ihnen bzw. ihren El-      den Ärzt*innen.”1 Diese beschriebenen

12 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
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