Gesundheit braucht Politik - GESUNDHEITSBERUFEN
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Gesundheit verein demokratischer ärztinnen und Politik ärzte braucht Zeitschrift für eine soziale Medizin Nr. 2/2020 | Solibeitrag: 5 Euro Ausbildung in GESUNDHEITSBERUFEN – noch zeitgemäß?
3 Editorial Inhalt 4 Medizinische Ausbildung braucht Politik. Kritische Medizinstudierende im Gespräch Der vdää ist bundesweit organisiert; er setzt sich für eine soziale Medizin, für die 7 Plädoyer für eine Neuorientierung. Zuständigkeiten und Demokratisierung der Gesundheits- Konzepte zur ärztlichen Ausbildung und Weiterbildung versorgung und der Strukturen der 10 Tobias Henke: Der Grundstein ist gelegt, das Haus steht ärztlichen Standesvertretung ein. noch nicht. Zur neuen Approbationsordnung Er nimmt Einfluss auf die Gesund- heitspolitik und unterstützt den Wi- 12 Kai-Uwe Helmers und Anke Kleinemeier: Verschärfung derstand gegen die Ökonomisierung der sozialen Kluft. Über private Studiengänge der Medizin. Humanmedizin in Hamburg – und die Reaktionen Sollten Sie von uns informiert auf ihre Kritik daran werden wollen, so setzen Sie sich 16 Verschult, veraltet, borniert. Was Medizinstudierende von bitte mit unserer Geschäftsstelle in ihrem Studium halten Verbindung. Gerne können Sie sich auch online über den vdää-News- 18 Udo Schagen: Viele Probleme schon damals gelöst. Zum letter auf dem Laufenden halten. Studium der Medizin in der DDR Die Zeitschrift »Gesundheit braucht 23 Gerd Dielmann: Unausgegoren... Zur Reform der Politik« ist die Vereinszeitung, die Ausbildung in den Pflegeberufen viermal jährlich erscheint. Nament- lich gekennzeichnete Artikel geben 27 Auf die Ohren... Unabhängige Radioprogramme von nicht unbedingt die Vereinsmeinung Medizinstudierenden. Interview mit »Heile Welt Podcast« wieder. und »Kritis on Air« 29 Michael Janßen: Oh wie schön ist Kanada. Bericht von Redaktion einer Hospitationsreise Felix Ahls, Luca Baetz, Elena Beier, Moritz Koopmann, Thomas 30 Ein Leben lang gegen reduktionistische Medizin. Nachruf Kunkel, Eva Pelz, Nadja Rakowitz, auf Prof. Gerhard Baader Cevher Sat, Jonas Schaffrath, Andrea Schmidt, Rafaela Voss, Ben Wachtler, Bernhard Winter »Gesundheit braucht Politik – Zeitschrift für eine soziale Medizin« – im Abonnement Impressum Die Zeitschrift des vdää ist inhaltlich längst mehr als eine reine Vereins- Gesundheit braucht Politik 2/2020 zeitschrift. Wir machen vier Themenhefte pro Jahr zu aktuellen gesund- ISSN 2194–0258 heitspolitischen Problemen, die sich hinter anderen gesundheitspolitischen Hrsg. vom Verein demokratischer Zeitschriften im deutschsprachigen Raum nicht verstecken müssen. Ver- Ärztinnen und Ärzte einsmitglieder bekommen die Zeitschrift kostenfrei zugesandt. V.i.S.d.P. Thomas Kunkel / Bernhard Winter Wer nicht Vereinsmitglied ist, hat die Möglichkeit, die »Zeitschrift für eine soziale Medizin« zum Preis von 26 Euro oder als Studentin oder Student Bilder dieser Ausgabe für 10 Euro im Jahr zu abonnieren. Ein Probeabo besteht aus zwei Ausga- Die Bilder dieser Ausgabe kommen ben und kostet ebenfalls 10 Euro. von verschiedenen Gruppen der Bei Interesse wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle:info@vdaeae.de Kritischen Medizinstudierenden, von ver.di, der ver.di Jugend und von verschiedenen Bündnissen für mehr Personal. 06.-08. November Jahreshauptversammlung und Gesundheits Termine politisches Forum des vdää in Berlin Geschäftsstelle: vdää-online Veranstaltungen Kantstraße 10, 63477 Maintal 09.Juli, 19:30 Uhr Die Ausbruchsituation von Covid19 in ausge- Telefon 0 61 81 – 43 23 48 wählten Ländern Afrikas – Diskussion mit Mobil 01 72 – 1 85 80 23 Anna Kühne Email info@vdaeae.de Internet https://www.vdaeae.de/ 17. Juli, 19:30 Uhr Die kommenden Verteilungskämpfe werden https://gbp.vdaeae.de/ hart – Diskussion mit Felix Ahls und Nadja Bankverbindung: Rakowitz über eine solidarische Bürger*innen- Postbank Frankfurt versicherung als ein Gegenentwurf zur IBAN: DE97500100600013747603 kommenden Austeritätspolitik BIC: PBNKDEFFXXX 21. Juli, 19:30 Uhr Krise als Chance auf eine Abkehr von der Satz/Layout Birgit Letsch Ökonomisierung und DRG? – Diskussion mit Druck Hoehl-Druck Peter Hoffmann über die aktuellen Proteste der Krankenhausbeschäftigten 2 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Editorial Diese Ausgabe von Gesundheit braucht Politik handelt von Medizinstudium für Semestergebühren im mindestens fünf- verschiedenen Aspekten rund um das Thema Aus- und Wei- stelligen Bereich leisten können. Anke Kleinemeier und Kai- terbildung medizinischer Berufsgruppen. Zu Beginn der Co- Uwe Helmers schildern und kritisieren die Situation in Ham- rona-Krise gerieten Medizinstudierende in den Fokus, als sie burg, wo es gleich mehrere Möglichkeiten gibt, privat Medizin aktiv von der Politik, den Uniklinika und Gesundheitsämtern zu studieren und sie gehen zudem auf die Reaktionen auf angefragt worden sind, zu helfen und Personal aufzustocken1. ihren Artikel im Hamburger Ärzteblatt ein. Im Verlauf der Krise unterzeichnete Gesundheitsminister Jens Extra für diese Ausgabe haben wir außerdem Medizinstu- Spahn auch eine Verordnung, um mehr Medizinstudierende dierende aus unterschiedlichen Städten gefragt, was sie an kurz vor dem zweiten Staatsexamen in die Kliniken zu holen2. ihrem Studium stört, welche Themen unterrepräsentiert sind, Er sagte, dass »der Einsatz der Studentinnen und Studenten wie sie Lehre und Studienorganisation verbessern würden und [...] belohnt [...] und nicht bestraft«3 werden müsse. Somit welche Veränderungen sie sich für die Zukunft wünschen wür- boten viele Studierende ihre Hilfe an und arbeiteten in der den. Zudem gibt uns Udo Schagen mit seinem Text über das Pflege, im Gesundheitsamt, in Fieberambulanzen oder an Co- Medizinstudium in der DDR einen Einblick in Ausbildungska- rona-Hotlines. Doch Materialmangel, schlechte oder fehlende pazitäten, Zulassung zum Studium sowie Stipendien und Vergütung, mangelnde Wertschätzung und die unklare Auf- Frauenförderung, die zwar Vergangenheit, aber nichtsdesto- gabenverteilung machten vielen Helfenden zu schaffen und trotz fortschrittlich sind. Er erörtert die Bedeutung des Aka- stellten das Versprechen von Spahn infrage4. Es liegt die Ver- demikerverlusts an die BRD vor 1961 und fasst Ausbildungs- mutung nahe, dass so in einfacher Weise, schnell und effizient ziele der Hochschulen zusammen. Gerd Dielmann legt in schon lang dagewesene Lücken im Gesundheitssystem ge- seinem Text den Schwerpunkt auf die Ausbildungsreform in stopft werden sollten. Pflegeberufen. Er fasst die Neuerungen Mit diesem Thema beschäftigen der Ausbildungsreform der Pflegeberufe Liebe vdää-Mitglieder, sich zum Beispiel auch Gruppen von durch das Pflegeberufsgesetz vom diesem Heft liegt ein Plakat des kritischen Medizinstudierenden. Doch 17.07.2017 sowie der Ausbildungs- und vdää und des Vereins Solidarisches wer sind überhaupt die sogenannten Prüfungsordnung vom 02.10.2018 zu- Gesundheitswesen bei. Denn nach KritMeds, die sich in den letzten Jah- sammen, zeigt Fortschritte und Lücken Corona ist vor Corona. ren in vielen Städten gegründet hat- auf und kritisiert unter anderem die un- Unserer Forderungen bleiben! ten und eine Vielzahl von Verände- klaren Berufsaussichten von Hochschul- rungen fordern? In diesem Heft absolvent*innen. finden sich drei Beiträge von Medizinstudierenden, die einen Als ein etwas anderes Format stellen sich der „Heile Welt Einblick in den politischen Aktivismus derer geben sollen. Zu Podcast“ sowie die »Kritis on Air« vor, zwei Podcasts (Audio- Beginn könnt Ihr einen Auszug eines Online-Gesprächs von formate) von Medizinstudierenden, die sich mit der gesell- uns fünf Studierenden aus den KritMed-Gruppen Freiburg, schaftspolitischen Seite der Medizin und des Gesundheitssys- Göttingen und Halle (Saale) lesen, in dem Ihr erfahrt, was tems auseinandersetzen. Obwohl sich ein großer Teil des uns antreibt und wie sich unsere Gruppen organisieren. Hend- Heftes kontextual im Rahmen des Medizinstudiums befindet, rik van den Bussche, Udo Schagen und Norbert Schmacke ist es uns auch im Sinne der zunehmenden Relevanz inter- erörtern Zuständigkeiten und Konzepte zur ärztlichen Aus- disziplinären Arbeitens sehr wichtig, dass nicht nur über die und Weiterbildung und stellen ein Konzept zur Neuorientie- ärztliche Ausbildung gesprochen wird. In diesem Heft ist uns rung vor. Dabei betonen sie vor allem Qualitätsmängel und das nur ansatzweise geglückt. Ob es uns gelingen wird, ein uneinheitliche und unbezahlte Zeiten für Lehre während der weiteres Heft zu machen, das noch ein größeres Augenmerk Fachärzt*innenausbildung und fordern eine bessere Verzah- legt auf die Ausbildung in Pflegeberufen sowie auf die Rah- nung von Praxis und Theorie auch über die Approbation hin- menbedingung der Ausbildungen von Psychotherapeut*innen, aus. Vor der Corona-Pandemie sorgte der »Masterplan Medi- Hebammen, Physio- und Ergotherapeut*innen, Logopäd*in- zinstudium 2020« und die daraus entstehenden Änderungen nen, MTAs und MFAs, wird die Zukunft zeigen. der Approbationsordnung für einige Debatten. Dabei scheinen Ziele wie mehr Praxisbezug und die Stärkung der kommuni- Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen, kativen und sozialen Fähigkeiten von angehenden Ärzt*innen die Kritmeds aus Göttingen, Halle (Saale) und Freiburg auf den ersten Blick als sinnvoll, wenn nicht sogar längst überfällig. Tobias Henkevon der AG Gesundheitspolitik der 1 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111190/CO- bvmd (Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutsch- VID-19-Aufrufe-an-medizinisches-Personal land) beleuchtet und kommentiert in seinem Artikel weitere 2 https://www.tagesschau.de/inland/medizinstudenten-101.html Details der Änderungen der Approbationsordnung. 3 https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/jetzt-live- Außerdem nehmen wir die Strukturen von privaten Uni- corona-update-von-gesundheitsminister-spahn,Ru3iEYk versitäten in den Blick, in denen sich die Chancengleichheit 4 https://transit-magazin.de/2020/05/stimmen-aus-dem- systemrelevanten-sektor/ der Studienplatzvergabe für ein Medizinstudium als nichtig darstellt. Dabei ist unübersehbar, welche Studierende sich ein Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020 | 3
Medizinische Ausbildung braucht Politik Kritische Medizinstudierende im Gespräch Es ist ein alltäglicher Moment dieses Semesters, fünf Student*innen vor dem Bildschirm, Webcam an, Mikrophone aus – so lang sie nicht selbst sprechen. Doch dies ist keine Online-Vorlesung und auch kein Seminar. Die fünf Studis sind nicht einmal alle an derselben Uni. Moritz und Rafaela studieren in Halle, Elena in Freiburg, Cevher und Luca in Göttingen. Und heute wird es nicht darum gehen, was im Stu- dium passiert, sondern, was so alles nicht passiert. Die fünf sind Teil von kritischen Studierendengrup- pen, Sintoma in Halle, die Basisgruppe Medizin in Göttingen und Kritische Mediziner*innen in Freiburg. Wir hören mal rein… Moritz: Naja, wir haben uns nicht mit Gegründet hat sie sich aus ähnlichen [Alle nicken] großem Plan gegründet. Es war eigent- Gründen: um Kritik an den hierarchi- lich eher so eine Freundeskreis-Idee. sierten Strukturen zu äußern, aber auch Elena: Wir hatten innerhalb unserer Wir waren Leute, denen es ähnlich ging um politischen Einfluss auf das Leben Gruppe letztes Semester das Über- mit dem Medizinstudium und dann ha- und Lernen in der Uni zu nehmen. thema »Soziale Determinanten von ben wir 2018 einfach in einer WG-Kü- Luca: [verdreht die Augen] Und da Gesundheit« behandelt und uns allen che gestartet. sind wir heute immer noch dran. Nur, ist aufgefallen, dass zum Beispiel der Rafaela: [nickt] Schon krass, wenn dass wir uns jetzt auch mit den Ge- sozio-ökonomische Status und die Ver- man bedenkt, dass wir mittlerweile samtbedingungen im Gesundheitssys- hältnisse, in denen Menschen leben, mehr als 30 Aktive sind. tem befassen. als Ursache mancher Krankheiten oder Luca: Wahnsinn, so einen personel- Elena: So viele Studis kamen schon als Faktor, der Situationen verschlech- len Rückhalt haben wir leider nicht. Wir zu uns und hatten sich gefragt, warum tern kann, so gut wie nie Thema im sind so 20 Aktive. sie beispielsweise noch nie etwas von Studium ist. Cevher: Im Plenum meist eher we- der DRG-Kritik gehört hatten, obwohl Cevher: Das Motto der Basisgruppe niger – wie es eben allen so passt. es im fünften Semester eine Vorlesung »Medizin ist eine soziale Wissenschaft« Nicht jede*r hat die Ressourcen, um zu Gesundheitsökonomie gibt. Oftmals ist für mich da essentiell. Wir brauchen neben Studium und gegebenenfalls Ar- war die Antwort, dass die Vorlesung einen institutionalisierten Raum, der beit wöchentlich Zeit und Energie für nicht sehr ansprechend aufgebaut war eine Sensibilisierung für die Vielfalt an ein zusätzliches Engagement aufzu- oder andere größere Fächer einfach Menschen und Lebensrealitäten, denen bringen. Das wissen wir und nehmen den Vorrang hatten und es keine Zeit wir in unserer Arbeit begegnen, er- entsprechend Rücksicht darauf. gab, sich damit zu beschäftigen. möglicht. Es muss doch noch Platz für Elena: Bei uns schwankt die Anzahl Rafaela: Es ist schon krass, dass soziale Kompetenzen neben dem gan- von Aktiven von Semester zu Semes- dieses existierende System kaum hin- zen Faktenwissen geben! ter, je nach individuellen Kapazitäten. terfragt wird. Ich bin jetzt fast am Rafaela: Mich nervt dieser schein- Wir hatten uns vor vier Jahren nach Ende meiens Studiums und habe für bare Widerspruch sowieso total. Eine dem Vorbild der Kritischen Medizi- meine Dissertation weder gelernt, zu kontinuierliche Reflexion der eigenen ner*innen aus Berlin gegründet, mit hinterfragen, wer Wissen produziert, Position und das aktive Zurücknehmen denen wir uns von Beginn auch ver- noch, wie ich eigentlich so richtig wis- voreiliger, auf Stereotypen basieren- netzt hatten. senschaftlich arbeite. der Werturteile ist doch absolute Fach- Moritz: Wir haben auch ganz schön Cevher: Es gibt ja auch keinen an- kompetenz und steht in keinerlei was aufgewirbelt mit unserer Grün- gemessenen Raum dafür an der Uni. Widerspruch zu Faktenwissen. Studien dung. Es ging scheinbar vielen Leuten Den müssen wir uns, zumindest hier in zeigen doch, wie sehr Menschen unter so wie uns, dass sie sich in den bishe- Göttingen, selbst schaffen, um endlich all diesen ganzen rassistischen, he rigen universitären Strukturen einfach über die Verknüpfung von Gesellschaft teronormativen und ausgrenzenden nicht repräsentiert gesehen haben. und Medizin zu sprechen. Doch eine Selbstverständlichkeiten leiden. Ras- Cevher: Das ist ein ewiges Thema. Parallelstruktur sollte nicht unser End- sismus und Sexismus in der Medizin Hier in Göttingen gibt es die Basis- ziel sein – die Themen müssen in der sind real. gruppe Medizin schon seit den 70ern. Lehre verankert werden! [Alle schweigen betroffen] 4 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Moritz: Ich halte unsere Arbeit im Stu- steine geputzt und uns mit der Vergan- meinsam mit anderen politischen Ak- dium daher für einen wichtigen An- genheit der Medizin auseinanderge- teur*innen unter dem Motto Vergesell- knüpfungspunkt. Schon während der setzt. So sind wir schließlich auch zur schaften statt Klatschen eine ganze medizinischen Ausbildung sollten wir Gedenkstätte Buchenwald gefahren. Aktionswoche im Mai organisiert, da sensibilisiert und darin geschult wer- Moritz: Wir hatten mehr Anmel- war alles dabei: Ökonomisierungskri- den, Patient*innen – auch wenn sie dungen als Plätze für den Besuch. Wir tik, soziale Verhältnisse, Feminismus, nicht einer angenommenen Norm ent- werden das auf jeden Fall nochmal ma- Antirassismus und diese in Bezug auf sprechen – bedürfnisorientiert zu be- chen. Gesundheit. handeln. Luca: Was wir aus Göttingen auf Luca: Man muss sich immer wieder Cevher: Was macht Ihr denn so, jeden Fall noch weiterempfehlen kön- vor Augen halten, wie wichtig die gan- um Eure Kommiliton*innen zu errei- nen: Letztes Semester haben wir ein zen Bündnisse sind, die wir so schaf- chen? Normalerweise organisieren wir Regal in der medizinischen Bibliothek fen. Wir geben daher immer wieder zum Beispiel Veranstaltungen und organisiert. Mit Lektüre zu Global He- DemoSani-Workshops für verschiedene Workshops zu den Themen. Wir hatten alth und Social Sciences, um den Zu- politische Gruppen in Göttingen und letztes Semester eine Diskussion zur gang zu gesundheitspolitischem Wis- haben so auch nochmal mehr gemerkt: Bürger*innenversicherung. sen zu erleichtern. Dazu haben wir Gesundheit braucht eben Politik. Elena: Wir versuchen auch, mit einen Antrag für Unigelder gestellt und Cevher: Das fängt schon an der Uni Veranstaltungen oder Aktionen wie bewilligt bekommen! selbst an. Wir sind hier mit anderen Kundgebungen oder Demonstrationen Cevher: Und jetzt haben wir uns Basisgruppen in einem Bündnis ver- Studis und andere interessierte Leute gefragt: ›Wie kriegen wir in diesen Zei- netzt und wollen über unsere Fächer- zu erreichen. Oftmals haben wir ge- ten unsere Themen unter die Leute?‹ grenzen hinweg kritische Wissenschaft merkt, dass es sinnvoll ist, medial prä- Seit einem Monat nutzen wir daher ei- vorantreiben. sent zu sein und dass wir politischen nen Telegram-Kanal, wo wir alle zwei Elena: Genauso hatten sich in Frei- Druck ausüben können, wenn mit der Tage Inhalte posten, die wir spannend burg die Kritischen Einführungstage lokalen Presse Interviews geführt wer- finden. Alles rund um das Thema Ge- gegründet, um den Einstieg in linke den. So haben wir dafür gekämpft, sundheitspolitik. Wir hoffen, dass wir Politik für neue Studierende zu erleich- dass das Thema Schwangerschaftsab- so vielleicht ein paar mehr Leute errei- tern. Ich wäre echt froh gewesen, bruch endlich im Studium integriert chen und zeigen, was so außerhalb wenn es das schon vor ein paar Jahren wird. Und es hat geklappt! unserer Lehrbücher geht. gegeben hätte! Leider bin ich nur bei Rafaela: Respekt dafür! Wir fanden Rafaela: Bildung und Weiterbildung einer klassischen Stadt-Ralley der von Anfang an wichtig, auch außerhalb sind natürlich unerlässlich! Auf die Fachschaft Medizin mit viel Alkohol, des Mikrokosmos Uni aktiv zu sein, und Straße zu gehen, für unsere Interessen nackter Haut und peer pressure gelan- wir haben uns z.B. am Aktionstag zu demonstrieren, ist jetzt mindestens det, was ich im Nachhinein echt ätzend Pflege im Fokus beteiligt oder Stolper- genauso wichtig. Darum haben wir ge- fand. Hier entsteht gerade ein Arbeits- Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020 | 5
Rafalea: Das Thema Finanzierung ist wirklich noch ein Knackpunkt für die Zukunft … Luca: Da haben wir es leichter. Die Basisgruppe hat sehr lange die O-Phasen-Parties organisiert und wir hatten dank unserer Vorgänger einiges, womit wir unsere Ideen so finan- kreis Awareness von verschiedenen Fachschaften, bei dem zieren konnten. Zum Beispiel bringen wir jedes Semester ein wir gerne mitwirken wollen, um bei solchen Aktionen eine Ersti-Heft, die Med-Info, raus, in der wir eigene Texte zu ak- Gegenstimme anbieten zu können. tuellen Themen, die uns interessieren, drucken und damit Moritz: Es ist so hilfreich, sich auszutauschen, eine Ge- andere für die Themen motivieren wollten. Man braucht kein genmeinung zu repräsentieren. Und auch Menschen zu ha- gesundheitspolitisches Vorwissen, um Alternativen und kriti- ben, mit denen ich darüber reden kann, wie es mir damit sches Denken zu erlernen. Darum gibt es bei uns einmal im geht. Semester ein Einstiegsplenum für alle, die Lust auf mehr linke Rafaela: Und gemeinsam Worte zu finden. Ich habe so Gesundheitspolitik haben. viel dazugelernt in den anderthalb Jahren, die wir aktiv sind. Moritz: Die Frage, wie man noch mehr Medizinstudierende Sowas wie Critical Whiteness lerne ich definitiv nicht im Stu- politisieren kann, sitzt uns immer im Nacken. Oft stößt man dium. Und der Kontakt zu anderen Gesundheitsorganisationen auf Widerstände. ist ja auch etwas ganz Besonderes. Zum Beispiel auch der Elena: Ja, das finden wir auch. So oft mussten wir auf vdää, über den wir fünf jetzt ja verbunden sind. Nachfrage erklären, warum es uns als Fachschaftsgruppe ge- Cevher: Definitiv, solche Organisationen und Bündnisse ben soll und was der Mehrwert denn sei. erlauben es uns, diesen Zwischenzustand zu überbrücken als Luca: Aber genau das meinen wir bei der Basisgruppe, Studierende zwischen Anfänger*in und Expert*in. Oft habe wenn wir mehr Weitsicht im Studium fordern. Für uns ist das ich dieses Gefühl ›Wir sind nicht so richtig Arbeitende im Ge- ganz klar die Aufgabe der Lehre, dies zu fördern. sundheitssystem, aber gleichzeitig doch schon ein Teil da- Rafaela: [nickt] Ich glaube, es hilft nicht, die Angepasst- von‹ – daher ist es schon jetzt sinnvoll, und nicht zu früh, heit zu kritisieren. Das wird meist eher als Angriff aufgefasst weiterzudenken, ich meine über das Studium hinaus. Dabei und drängt Menschen von uns weg. ist es ermächtigend zu sehen, dass auch die, die schon lange Moritz: Wir müssen da weitermachen, wo die Lehre auf- im vdää dabei sind, uns zuhören und von uns genauso lernen hört: Auf bestehende Lücken hinweisen, denn nur so realisie- können, wie wir von ihnen. ren auch andere, was schiefläuft bzw. dass überhaupt etwas Luca: Der Gedanke an den Krankenhausalltag ist erschre- schiefläuft. ckend. Viele von uns sind daher im Göttinger Supportbündnis Luca: Es nervt mich, dass das Curriculum kaum Freiräume Tarifvertrag und kämpfen in der Gewerkschaft für bessere bietet, persönliche Akzente setzen zu können, mal durchzu- Arbeitsbedingungen, zuletzt für die Gastronomie und die Ser- atmen und zu schauen, wie man das Ganze eigentlich findet. vicekräfte hier am Uniklinikum. Mich macht es unfassbar wütend, dass ich mir in meiner Frei- Moritz: Da denk ich außerdem an Krankenhaus statt Fa- zeit selbst erarbeiten muss, wie sich Gesellschaft und Ge- brik. Mir gefällt der Gedanke, Arbeitsbedingungen jetzt schon sundheit zueinander verhalten. zu transformieren. Aber dabei eben nicht nur eine bessere Cevher: Ich würde mir für die Zukunft wünschen, dass Zukunft für Ärzt*innen anzustreben, sondern für uns alle im wir mit unseren Veranstaltungen nur noch inhaltlich vertiefen Gesundheitswesen. müssen oder mal einen anderen Zugang, wie zum Beispiel Cevher: Ich finde diesen Zukunftsblick auch nötig, wenn einen Film bieten. man sich so die Probleme der Welt anschaut. Wir waren daher Rafaela: Genau darum wollen wir auch mit unserem Sit- an der Gründung einer Health 4 Future Ortsgruppe beteiligt, zen im Fachschaftsrat auf die Lehre Einfluss nehmen. Wir um zu zeigen: Wir schauen über den Tellerrand hinaus. Klar wünschen uns ein Studium mit mehr Diskussionen, Hinter- gibt es unser wöchentliches Plenum. Aber manche Themen fragen, kritischem Denken und konstruktivem Austausch und überschreiten unsere Kapazitäten und machen ein Engage- mit weniger starrem Auswendiglernen und sturem Multip- ment in anderen Kontexten notwendig. le-Choice-Fragen-Ankreuzen. Luca: In der Basisgruppe treffen wir Entscheidungen ba- Moritz: Ich möchte einfach, dass sie nicht nur behaupten, sisdemokratisch. Manches können wir nicht mit allen ent- dass wir soziokulturelle Aspekte der Gesellschaft mit in unser scheiden, aber wir sind alle gleichberechtigt. Besonders vor Bild einzubeziehen sollen, sondern dass es uns einerseits vor- der Redeliste. gelebt und andererseits später im Berufsleben auch ermög- Elena: Das Prinzip der doppelt quotierten Redeliste finden licht wird. wir super praktisch, obwohl es sich anfangs auch ein wenig Elena: Dieses Vorleben und Vorbildsein ist so wichtig. Wie starr und unpersönlich angefühlt hatte. Aber es hilft, den gerne hätte ich mir beispielsweise feministische Gynäko Plena und Diskussionen bei Veranstaltungen Struktur und log*innen gewünscht, anstatt auf konservative Strukturen zu auch Frauen* mehr das Wort zu geben. treffen. Moritz: Wir mussten erstmal in diese Arbeitsweise rein- Luca: Denn eigentlich versuchen wir doch lediglich, in kommen. Wir waren zwar voller Tatendrang, aber wir hatten Patient*innen mehr als nur eine Diagnose zu sehen und sie ja nichts, worauf wir aufbauen konnten. Und zack, hatten wir bestmöglich zu versorgen. Dafür studieren wir doch schließ- plötzlich fünf Plätze im Fachschaftsrat, aber kein Geld für ir- lich Medizin, oder? gendwas. [lacht] [Zustimmendes Nicken] 6 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Plädoyer für eine Neuorientierung Zuständigkeiten und Konzepte zur ärztlichen Ausbildung und Weiterbildung Von Hendrik van den Bussche1,·Detlef Niemann2,·Bernt-Peter Robra3,·Udo Schagen4, Beate Schücking5,·Nobert Schmacke6,·Claudia Spies7,·Alf Trojan8,·Uwe Koch-Gromus9 Dieser Aufsatz wurde schon im Februar 2018 im vielen Einzelheiten nachweisen: Ärzte und Ärztinnen in Wei- Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung terbildung (im Folgenden ÄiW) haben einen vollen Arbeitneh- / Gesundheitsschutz veröffentlicht. Wir meinen, merstatus mit allen entsprechenden Rechten und Pflichten. er sollte einer breiteren Öffentlichkeit und vor Sie müssen sich auf dem Arbeitsmarkt selber einen Arbeits- platz suchen, erhalten einen Arbeitsvertrag mit dem Kran- allem den jungen Mediziner*innen bekannt ge- kenhaus, aber zumeist keinen Weiterbildungsvertrag und sie macht werden. Wir danken den Autor*innen, können Gewerkschaften bilden. Alle Stellen für ÄiW werden dass wir ihn hier für unser Format gekürzt veröf- voll auf den Stellenplan des Krankenhauses angerechnet. fentlichen dürfen. Stellen(-Anteile) für Qualifizierungsmaßnahmen gibt es nicht, ebensowenig Belohnungen für positiv bewertete Lehre. (…) Das daraus entstehende Problem der klinischen Qualifizierung Hintergrund und Problembeschreibung des wissenschaftlichen Nachwuchses wird einfach negiert. Schließlich werden die Zeit- und Mengenvorgaben für die Zu- Der Prozess der Qualifizierung von Ärzten und Ärztinnen be- lassung zur fachärztlichen Prüfung in § 4 MWBO ausdrücklich steht in allen industrialisierten Ländern seit mehreren Jahr- als »Mindestzeiten und Mindestinhalte« definiert, womit für zehnten aus zwei Phasen mit einer vergleichbaren Dauer von die weiterbildende Einrichtung die Verpflichtung entfällt, die ca. fünf bis sieben Jahren: der ärztlichen Ausbildung und der Arbeits- und Weiterbildungsprozesse so zu strukturieren, (ersten) ärztlichen Weiterbildung. Qualifizierungsmaßnahmen dass die ÄiW die Anforderungen in der Mindestzeit erfüllen nach dem Erreichen der beruflichen Endposition werden üb- können. Das Anforderungserfüllungsrisiko liegt somit aus- licherweise als ärztliche Fortbildung bezeichnet. schließlich bei den ÄiW. (…) Die ärztliche Ausbildung an den medizinischen Fakultäten und Hochschulen wird bundeseinheitlich durch die Approba- Geschichtlicher Hintergrund tionsordnung für Ärzte geregelt. Die Approbationsordnung wird als Rechtsverordnung vom Bundesministerium für Ge- Ein geschichtlicher Rückblick kann erklären, wie es zu dieser sundheit mit Zustimmung des Bundesrates erlassen. Die ärzt- theoriefernen Konzeption der Weiterbildung in Deutschland liche Weiterbildung beruht auf den Weiterbildungsordnungen kam. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt der ärztliche (WBO) der Landesärztekammern (LÄK; aktuelle Fassung am Qualifikationsprozess mit der jeweiligen Approbation nach Beispiel Hamburgs); diese wiederum basieren auf einer Mus- einem praktischen Jahr als beendet. (…) Eine eventuelle wei- terweiterbildungsordnung (MWBO) der Bundesärztekammer tere anschließende Spezialisierung wurde als freiwillig und (BÄK). Die Weiterbildungszuständigkeit der LÄK ist eine staat- nichtregelungsbedürftig angesehen. Sie fand im Rahmen ei- lich delegierte Aufgabe im Rahmen der Ärztekammergesetze nes Meister-Lehrling-Verhältnisses statt. Man wurde Schüler der Bundesländer. Beide Instanzen – Fakultäten und Kam- des spezialisierten (Prof.) Dr. X und übernahm Schritt für mern – wachen eifersüchtig über ihre Alleinzuständigkeit für Schritt das Denken und Handeln des Meisters; das Grundmo- einen der beiden Abschnitte. (…) dell war Learning by Imitation. Das Weiterbildungsverhältnis Während die ärztliche Ausbildung in den letzten Jahrzehn- war somit ein persönliches, kein institutionell definiertes. (…) ten in Bezug auf Lernziele, Inhalte und Veranstaltungsformen Erst 1924 verabschiedete der 43. Deutsche Ärztetag in immer detaillierter ausdifferenziert wurde, ist die ärztliche Bremen »Leitsätze zur Facharztfrage«, mit denen die ersten Weiterbildung als ein Learning by Doing, als ein Training on 14 Spezialisierungen kodifiziert wurden. Diese erste »Weiter- the (Hospital) Job ohne parallele theoretische Fundierung bildungsordnung« konzentrierte sich – wie auch die späte- konzipiert. Implizit wird angenommen, dass die in der ärztli- ren – zum einen auf Bezeichnungs-und Abgrenzungsfragen. chen Ausbildung erworbene theoretische Qualifikation aus- Zum anderen forderten die Bremer Leitsätze eine »genü- reicht und dass ein mehrjähriges praktisches Arbeiten im gende Ausbildung in seinem Sonderfach« in Form einer Krankenhaus – auch wenn in Lehr- und Lernhinsicht unstruk- »Fachausbildung« zwischen drei und vier Jahren, dies aller- turiert – die fachärztliche Qualifikation quasiautomatisch her- dings mit der Maßgabe, dass »eine besondere Prüfung für beiführt. Fachärzte weder erwünscht noch nötig ist« [8, 9]. Der Primat der ärztlichen Arbeit und die Hintanstellung des Wurde 1924 noch eine »genügende Ausbildung« als not- Bildungsaspekts lassen sich in der MWBO und in den WBO an wendig anerkannt, gelang es im Jahr 1950 auf Betreiben des Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020 | 7
Die Ärztekammern halten indes an der Formulierung fest, die Approbation sei der Abschluss der formalen Qualifi- zierung, die Phase danach eben kein formaler Lernprozess. (…) Solche Ab- grenzungen zwischen Aus- und Wei- terbildung sind nicht nur unrealistisch, sondern auch riskant. Indem sie suggerieren, die ärztliche Ausbildung reiche für die theoretische und kli- nisch-praktische Grundqualifikation, negieren sie, dass die Grundausbildung an den medizinischen Fakultäten ge- schichtlich noch nie in der Lage war, ein berufsadäquates Kompetenzniveau Marburger Bundes, das Wort Aus-bil- mern im Rahmen ihrer Berufsordnun- zu vermitteln. (…) Keine einzige Studie dung durch den Begriff Weiterbildung gen zu übertragen, hielt das BVerfG für belegt für die heutige Zeit, dass am zu ersetzen, um damit den Bestrebun- nicht verfassungskonform. (…) Ende der ärztlichen Ausbildung ein gen der Krankenhäuser einen Riegel Mit der Zeit also wandelten sich die Kompetenzniveau im Sinne der Voraus- vorzuschieben, unter Berufung auf den aus Sicht des BVerfG zu teilenden Zu- setzungen für eine selbstständige Tä- Ausbildungscharakter der Tätigkeit ständigkeiten geräuschlos in eine prak- tigkeit je erreicht wurde. keine oder nur geringe Vergütungen zu tisch einseitige Zuständigkeit der Ärz- zahlen [10] tekammern. Die Kammergesetze mit Lösungswege Erst 1968 – d. h. erst vor weniger den so zurückhaltend interpretierten als 50 Jahren – wurde auf dem 71. statusbildenden Normen gelten seit Die Lösung kann nur in einer besseren Deutschen Ärztetag in Wiesbaden die den 1970er-Jahren heute noch fast un- Verzahnung von Aus- und Weiterbil- erste MWBO verabschiedet. Sie enthielt verändert weiter (…). Fünfundvierzig dung als zwei Phasen eines einheitli- für alle Facharztsparten detaillierte Jahre später halten die Ärztekammern chen Qualifizierungsprozesses mit je- Richtlinien zur Anerkennung. (…) Im noch immer an der Auffassung fest, die weils adäquaten Anteilen von Theorie Jahr 1972 erging ein Urteil des Bun- fachärztliche Qualifikation sei so etwas und Praxis gesucht werden. Der ärztli- desverfassungsgerichtes (im Folgen- wie eine Zusatzqualifikation, jedenfalls che Qualifizierungsprozess sollte als den: BVerfG) zur Facharztfrage. In kein Beruf im Sinne des Artikels 12 GG, ein Kontinuum mit einem geglätteten diesem Urteil stellte das BVerfG fest, obwohl sich die ärztliche Versorgung Übergang zwischen seinen beiden Ab- dass der Facharzt kein besonderer und die fachärztliche Berufstätigkeit schnitten betrachtet werden. Das be- Beruf im Sin-ne des Artikels 12 des in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt deutet zum einen, dass Lernen in der Grundgesetzes sei, sondern eine be- haben und mit der Einführung einer Weiterbildung einen zentralen Stellen- sondere Form innerhalb der ärztli- Pflichtweiterbildung für Hausärzte im wert bekommen sollte und damit di- chen Berufsausübung. Deswegen be- Jahr 1993 das Prinzip der Freiwilligkeit daktische Prinzipien gleichermaßen für schränkte das BVerfG die Zuständigkeit der Weiterbildung de facto aufgehoben beide Abschnitte gelten müssten. Statt der Bundesregierung auf Fragen der wurde. Seitdem darf niemand mehr in einer Steuerung über Mindestzeiten Zulassung zum ärztlichen Beruf, mit der ärztlichen Versorgung von gesetz- und Mindestmengen an diagnostischen anderen Worten auf die Ordnung der lich Versicherten tätig sein, der/die und therapeutischen Interventionen Grundausbildung (Bestallungsordnung, keine fachärztliche Anerkennung er- (»Kataloge«) sollten Fachgesellschaf- später Approbationsordnung), während worben hat. Aus unserer Sicht ist die ten und Ärztekammern pro Fachrich- Fragen der Berufsausübung – und um fachärztliche Weiterbildung längst eine tung Mustercurricula erstellen, die auf eine solche handele es sich bei der spezielle Berufsausbildung geworden der Basis von erforderlichen ärztlichen fachärztlichen Tätigkeit – in die Zu- und hat das Stadium der Zusatzquali- Kompetenzen ein ausgewogenes Ver- ständigkeit der Länder falle. Allerdings fikation überschritten. Dennoch hat hältnis von theoretischen und prakti- vermerkte das BVerfG in diesem Urteil, sich bis dato kein Gesundheitsministe- schen Lernanteilen aufweisen. (…) dass die fachärztliche Tätigkeit einer rium und kein Parlament daran inter- Auch ist es mit der Formulierung Berufswahl dennoch »nahekomme«, essiert gezeigt, Fragen nach der Qua- von Kompetenzen nicht getan; viel- weswegen das Gericht im Detail be- lität der ärztlichen Weiterbildung und mehr muss auf dieser Basis festgelegt schrieb, was von den Landesregierun- deren Sicherstellung zu stellen. Es hat werden, über welche theoretischen gen einerseits bzw. den ärztlichen Be- sich im Gegenteil eine Wahrnehmung bzw. praktischen Lehr- und Lernsitua- rufsorganisationen auf Länderebene durchgesetzt, die die Gewichtsverlage- tionen die Kompetenzziele erreicht und andererseits zu regeln sei. Die bis da- rung der Zuständigkeiten zwischen Be- wie sie evaluiert werden sollen. Diese hin seitens der Bundesländer prakti- hörden und Kammern geradezu als Mustercurricula müssten in einem wei- zierte Gesetzgebung, die Zuständigkeit bindendes Resultat dieses BVerfG-Ur- teren Schritt auf der Ebene des einzel- für die Weiterbildung den Ärztekam- teils betrachtet! nen Krankenhauses konkretisiert und 8 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
adaptiert werden. Dass dies alles organisatorische und finan- operative Beratungs- und Entscheidungsprozesse zwecks zielle Implikationen hat, ist evident. Verzahnung von Aus- und Weiterbildung entwickelt und er- Zum anderen erfordert eine bessere Verzahnung andere probt werden können. Hierbei sind auch Rationalisierungs- Zuständigkeitsregelungen und Entscheidungsprozesse. Wie reserven und abschnittsüberschreitende, modular aufge- oben beschrieben, haben die Landesregierungen den Ärzte- baute curriculare Angebote zu prüfen. Gegenstand eines kammern die Zuständigkeit für die ärztliche Weiterbildung solchen Kooperationsprozesses sollten mindestens folgende weitestgehend überlassen. Die Qualität künftiger Fachärzte Aufgaben sein: und Fachärztinnen liegt damit in unserer Gesellschaft fast vollständig in den Händen von Organisationen, die zwar ei- Analysen der Stärken und Schwächen der aktuellen ärzt- nerseits als Körperschaften des öffentlichen Rechts mittelbare lichen Aus- und Weiterbildung, auch unter Berücksichti- Staatsgewalt ausüben, andererseits aber auch die Partikula- gung der Entwicklung in anderen OECD-Ländern. rinteressen ihrer Berufsgruppe aktiv vertreten. Das faktische Formulierung von Leitbildern und Kompetenzprofilen für Zuständigkeitsmonopol der Kammern ist in Anbetracht der die ärztliche Tätigkeit und für die Aus- und Weiterbildung gesellschaftlichen Bedeutung einer quantitativ und qualitativ als aufeinander ausgerichtete, abgestimmte Prozesse. Für optimalen Ausdifferenzierung des Qualifikationsprofils der die zu konzipierenden Verfahren zur kontinuierlichen und ärztlichen Profession aufgrund dieser doppelten Funktion der summativen Evaluation der ÄiW wären die erreichten Ärztekammern problematisch (…) Kaum ein anderes Land der Qualifikationen das Maß der Dinge, nicht primär die Zahl OECD kennt diese quasivollständige staatliche Abstinenz in der absolvierten Jahre. Sachen ärztlicher Angebotsplanung und Qualitätssicherung. Aufbau von Strukturen/Einrichtungen, die die speziellen (…) Vorlesungen, Seminare, Übungen und Kurse für die fach- Ein mögliches Korrektiv (der Ausrichtung von Studieren- spezifischen theoretischen und praktischen Anteile der den auf die Maximalversorger der Universitätskliniken) Weiterbildung anbieten. Die jüngst beschlossenen Kompe- könnte darin liegen, die verfasste Ärzteschaft an den Kon- tenzzentren für das Fach Allgemeinmedizin könnten hier zeptualisierungen und konkreten Umsetzungen der Curricula als Blaupause dienen. in der ärztlichen Ausbildung maßgeblich zu beteiligen. Ver- Entwicklung von Standards und Qualitätsindikatoren zur mutlich würde diese Maßnahme ein deutliches Mehr an Pra- Gestaltung zentraler Elemente der Aus- und Weiterbildung xisbezug im gesamten Studium bringen. Umgekehrt könnte (z. B. valide Verfahren zur Evaluation der Weiterzubilden- eine stärkere Beteiligung der Universitäten an der ärztlichen den bzw. der weiterbildenden Einrichtungen). Weiterbildung dazu führen, dass die vielbeklagten Transla tionsprozesse zwischen Forschung und Praxis effektiver wür- Neben der Sicherstellung der fachlichen Qualifikation der den. Außerdem könnte deren Wirkung dazu beitragen, dem Fachärzte und Fachärztinnen ist es eine wichtige Aufgabe des Defizit an Evidenzbasierung der Weiterbildung (…) schritt- Staates, unter Hinzuziehung ärztlichen und wissenschaftli- weise abzuhelfen. (…) chen Sachverstands den Bedarf an Fachärzten und Fachärz- tinnen abzuschätzen und für eine Balance zwischen Bedarf Folgerungen und Angebot zu sorgen. (…) Die Autorinnen und Autoren wissen, dass die Umsetzung (…) Die medizinischen Fakultäten und die Fachgesellschaften der obigen Vorschläge ein enorm komplizierter Prozess wäre, sollten in den Dialog darüber einbezogen werden, wie ko- der viele Schwierigkeiten zu überwinden hätte, um am Ende erfolgreich zu sein. Doch möchten wir darauf verweisen, dass die obigen Ideen bereits in vielfältiger Form in anderen OECD-Ländern umgesetzt werden. (…) Man muss also das Rad der Kooperation nicht neu erfinden. (…) Die trennenden Barrieren institutioneller, rechtlicher und politischer Art mögen heute als kaum überwindbar erscheinen. Was aber an Barri- eren aufgebaut wurde, kann auch wieder abgebaut werden. Zu den Autor*innen: 1 Institut für Allgemeinmedizin, Universitäts- klinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, 2 Hamburg, 3 Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie der Medizinischen Fakul- tät, Universität Magdeburg, 4 Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin, 5 Rektorat, Universität Leipzig, 6 Abteilung Versorgungsforschung, Institut für Public Health und Pflegeforschung , Universität Bremen, 7 Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Klinik für Anästhesiolo- gie, Berlin, 8 Institut für Medizinische Soziologie, Universitätskli- nikum Hamburg-Eppendorf, 9 Dekanat der Medizinischen Fakultät, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (Quelle: Bundesgesundheitsblatt 2018, 61: 163–169, https://link. springer.com/article/10.1007/s00103-017-2675-x) Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020 | 9
Der Grundstein ist gelegt, das Haus steht noch nicht Tobias Henke zur neuen Approbationsordnung Das Regelwerk für die Ausbildung von Mediziner*innen wird von Grund auf geändert – und die Weichen für die Ärzt*innen der nächsten Jahrzehnte damit neu gestellt. Tobias Henke hat sie aus Sicht der Bundesver- tretung der Medizinstudierenden Deutschlands (bvmd) unter die Lupe genommen. Die Kritik an der Appro- bationsordnung könnte aus einer linken Perspektive sicher noch weiter gehen, ebenso die Forderungen. Das Medizinstudium ist in den letzten Richtung qualitativ hochwertiger Pa reits vielfach implementiert und auch Jahren stärker als je zuvor in den Fo- tient*innenenversorgung. an einigen medizinischen Fakultäten kus der Politik gerückt. Mit der Veröf- Dafür wird die Struktur des Stu pilotiert – und der Nutzen hochsignifi- fentlichung des Masterplan Medizinstu- diums verändert: Theoretische und kli- kant publiziert. dium 2020 im März 2017 war klar, dass nische Studieninhalte werden im Rah- Mit dem Studium ändern sich auch die Ausbildung von Ärzt*innen weit men eines sogenannten Z-Curriculums die Staatsexamina: Die Umwandlung reichend reformiert werden soll. Dass stärker verknüpft und bilden in der der mündlichen M1-Prüfung in eine kli- dafür auch die Rechtsarchitektur des Theorie ein gutes Modell. Konkret be- nisch-praktisch strukturierte Prüfung Medizinstudiums – und damit die Ap- darf es aber noch deutlicher Verbesse- stellt einen entscheidenden Schritt in probationsordnung für Ärzte (ÄApprO) rungen – so müssen in der Neufassung Richtung Kompetenzorientierung und umgebaut werden musste, war schnell in fakultären Prüfungen vor dem ersten Vergleichbarkeit dar. Gerade letztere klar. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung bei- kann aber nur gewährleistet werden, Im November 2019 war das Bun- spielsweise nur 10 % klinische Inhalte wenn objektive Prüfungsschemata vor- desgesundheitsministerium dann so- integriert sein – ein marginaler Anteil, handen sind und mehr als ein*e Prüfen- weit und teilte den Arbeitsentwurf zur der oftmals jetzt schon integriert ist, de*r anwesend ist – das ist bisher nicht reformierten Approbationsordnung mit der aber die Strukturbemühungen des vorgesehen, was durchaus verwundert. einigen kommentarberechtigten Orga- sich gerade in der Entwicklung befind- Ein Vier-Augen-Prinzip ist in weiten Tei- nisationen – darunter auch mit der lichen Nationalen Lernzielkatalogs Me- len der Prüfungslandschaft Standard, Bundesvertretung der Medizinstudie- dizin (NKLM) konterkariert. Als Min- das sollte es auch bei Staatsexamina renden in Deutschland e.V. (bvmd). destvorgabe sollten daher wie in den sein – zum Schutze der Prüflinge und Schnell wurde nach einer ersten Staatsexamina eher 20–30 % klinische Prüfenden. Auch die finalen mündlichen Durchsicht der 182 Seiten umfassen- Inhalte integriert werden, um die Syn- Staatsexamensprüfungen, die im Ent- den Verordnung klar: Es gibt viel Für chronität von Lehre und Prüfung si- wurf als vierter Abschnitt der Ärztlichen und Wider. Zuerst einmal ist aber ein cherzustellen. Prüfung (M4) benannt sind, verbessern klarer Fortschritt erkennbar, denn die Wirklich schade ist, dass die fakul- eine bisher wenig objektive und nicht Ausbildung von Ärzt*innen soll in Zu- tären Leistungsnachweise nach wie vor ausreichend standardisierte Prüfung. kunft konsequent kompetenzorientiert kleinteilig an klassischen Fächern Der erste Teil der neuen M4-Prüfung stattfinden. Mit der Stärkung von Pra- orientiert sein sollen. Dadurch bleiben mit seiner eng am Absolvent*innenen- xisnähe sowie ärztlichen Fähigkeiten, wir hinter aktuellen didaktischen Mög- profil orientierten Struktur, der Bewer- Fertigkeiten und Haltungen geht das lichkeiten zur Curriculumsentwicklung tung mittels standardisierter Checklis- Studium einen wichtigen Schritt in die zurück – und während Chemie und ten sowie der Signalwirkung für nötige Physik Denkmalschutz genießen, blei- Lehrinhalte des Praktischen Jahrs bietet ben digitale Kompetenzen einmal mehr einen deutlichen Mehrwert. auf der Strecke. Mehr noch: Digitale Ein großes Gewicht fällt in der Lehrformate tauchen unter den anzu- neuen Approbationsordnung der Allge- bietenden Unterrichtsformaten nicht meinmedizin zu. Schließlich weiß man einmal als Begriff auf – nicht erst nach im Bundesgesundheitsministerium um der Lehre in Corona-Zeiten dürfte das die demographische Entwicklung in überholt sein. Lehrmethoden wie Blen- Deutschland und die sich daraus erge- ded-Learning, Flipped Classroom oder benden Versorgungsherausforderun- Gamification-Modelle (siehe Kasten S. gen, vor allem in ländlichen Räumen. 11) sind in anderen Studiengängen be- Sinnvoll ist daher die Integration längs 10 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
Blended Learning Blended Learning oder integriertes bzw. gemischtes Lernen bezeichnet lt. Wikipedia eine didaktisch sinn- volle Verknüpfung von traditionellen Präsenzveranstal- tungen und modernen Formen von E-Learning. Das Konzept verbindet elektronische Lernformen mit den sozialen Aspekten der Face-to-Face-Kommunikation sowie ggf. dem praktischen Lernen von Tätigkeiten. Beim Blended Learning werden Präsenzphasen und durch das gesamte Studium, die durch stetes Wiederaufgreifen gelern- Online-Phasen funktional aufeinander abgestimmt. Es ter Inhalte einen nachhaltigen Kompetenzerwerb ermöglichen kann. soll Lernen, Kommunizieren, Informieren und Wissens- Fraglich ist, ob die vorgesehenen acht Wochen Blockpraktikum in Lehr- management, losgelöst von Ort und Zeit in Kombina- praxen qualitativ gut umsetzbar sind. Aus Sicht der Bundesvertretung tion mit Erfahrungsaustausch, Rollenspiel und persön- der Medizinstudierenden in Deutschland muss hier auf vier, maximal lichen Begegnungen im klassischen Präsenztraining sechs Wochen korrigiert werden. Denn: Ein rein quantitativer Ausbau ermöglichen. (Sauter und Bender. 2004, lt. Wikipedia der Blockpraktika ist nicht zielführend und gefährdet eher die Qualität Blended Learning) derselben. In der Allgemeinmedizin selbst gab es Zweifel, wie bei der ohnehin angespannten Zeitsituation insbesondere im ländlichen Raum Flipped Classroom derartige Kapazitäten für Lehre bereitgestellt werden sollen. Oder wie Flipped Classroom ist ein Modell des Blended Learning. es ein Allgemeinmediziner ausdrückte: Motivierte Lehrpraxen fallen nun Für den Unterricht bedeutet es eine Veränderung um mal nicht vom Himmel. Deswegen wäre es sinnvoller, den engen Fokus 180 Grad. Im traditionellen Präsenzunterricht bildet die auf das Fach Allgemeinmedizin auf den Bereich primärärztlicher Versor- Lehrkraft die Brücke zwischen den Lernenden und dem gung zu erweitern und die Realität der Primärversorgung zu berück- Wissen. Im Flipped-Classroom-Modell bekommen die sichtigen. Studierenden hingegen direkten Zugriff auf die Lernin- Ein wesentliches Anliegen für die Medizinstudierenden ist seit jeher halte. Die Lehrkräfte erfüllen dabei die Funktion von Coaches oder Mentor*innen und die Studierenden be- das Praktische Jahr (PJ). Die Verbesserung der strukturellen Anforde- reiten sich auf den Präsenzunterricht selbst vor. Wäh- rungen an die Lehre wie die Bereitstellung eines eigenen Arbeitsplatzes, rend des Unterrichts können Lehrkräfte sich dann auf Zugang zum Patientenverwaltungssystem und klar definierte Verant- die Anwendung und die Vertiefung des Lernstoffs fo- wortlichkeiten für die Betreuung der Studierenden sind ein Schritt in kussieren. Die Studierenden sollen ihre Hausaufgaben die richtige Richtung. Ein wichtiger und wesentlicher Punkt jedoch fehlt: vorbereitet haben und so über das Basiswissen zum Die Integration einer Mindestaufwandsentschädigung für PJ-Studierende Thema verfügen. Während der Unterrichtszeit können in Höhe des BAföG-Höchstsatzes zur Sicherung des Lebensunterhaltes. sie daher tiefer in die Materie einsteigen und Fragen Studierende, die 40 Stunden und mehr pro Woche zur Patient*in stellen. So erfahren die Lehrkräfte, welche Probleme nenversorgung, aber auch Patient*innensicherheit beitragen, können die Studierenden haben. nicht noch nebenher ihren Lebensunterhalt in Nebenjobs erarbeiten. Findet eine solche Regelung keinen Eingang mehr in die ÄApprO, schei- Gamification Modelle tert die Neuordnung an einer sensiblen Stelle: Nicht nur soziale Ärz- Serious Games sind Spiele, die primär für einen didak- t*innen auszubilden, sondern auch sozial Ärzt*innen auszubilden. tischen Kontext entwickelt werden und somit in Lehr- Insgesamt ist also zu sagen: Der Grundbaustein für eine zukunfts- veranstaltungen und Curricula integriert werden kön- fähige Ausbildung von Mediziner*innen ist gelegt. Er liegt an der rich- nen. Deutlich gestiegene Serverkapazitäten ermöglichen tigen Stelle für ein tragfähiges Fundament, hat aber noch teils scharfe es, aufwendige 3D-Simulationen anbieten zu können. Kanten, die des Nachschleifens bedürfen. Und mit dem gelegten Grund- Hierbei können sowohl ein hoher Realitätsgrad als auch stein ist noch kein Haus gebaut, weitere Regelwerke müssen angepasst Elemente der Gamification zur Motivationssteigerung werden. Nur wenn die Kapazitätsverordnungen an den erhöhten Bedarf gezielt didaktisch genutzt werden. Z.B. wird an der Uni an kapazitätsrelevanten Ressourcen, wie z.B. für Lehre einkalkulierte in Göttingen eine digitale Simulation einer Notaufnahme Vollzeitäquivalente angepasst werden, kann Rechtssicherheit für Fakul- im Rahmen der Pflichtlehre eingesetzt. In Kleingruppen- täten und Studienanwärter*innen geschaffen werden. Nur wenn der sitzungen von 18 bis 50 Studierenden übernehmen die Teilnehmenden jede*r für sich die ärztliche Tätigkeit in Entwicklungsprozess von Nationalen Kompetenzbasierten Lehrmittel- der virtuellen Notaufnahme. Es müssen hierbei bis zu katalogen und den Gegenstandskatalogen produktiv voranschreitet – zehn Patient*innen parallel behandelt werden. Die Ter- gewährleistet durch eine gemeinsame, vermittelnde Kommission unter mine werden von erfahrenen Ärzt*nnen begleitet, die Federführung des BMG, kann die neue ÄApprO auch mit Inhalten gefüllt für inhaltliche Fragen zur Verfügung stehen. So sollen werden. Nur, wenn an den Universitäten frühzeitig mit der Lehrkonzep- die Studierenden lernen können, Verantwortung zu tentwicklung nach der neuen ÄApprO begonnen wird, kann die neue übernehmen und Entscheidungen zu treffen, ohne echte Approbationsordnung flüssig greifen. Und nur, wenn gute Lehre dann Patient*innen zu gefährden. Und diese soll ermöglichen, auch umgesetzt wird – dann kann die Mediziner*innenausbildung wirk- den Umgang mit relevanten Krankheitsbildern standar- lich zukunftsfähig werden. disiert zu lehren und parallel mehr als eine Kasuistik zu Tobias Henke ist Medizinstudent und Bundeskoordinator für Gesundheitspolitik bearbeiten. (Siehe https://hochschulforumdigitalisie in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd). Der rung.de/de/blog/serious-games-im-medizinstudium- Autor meldet keine finanziellen oder persönlichen Interessenskonflikte an. nun-lasst-den-worten-daten-folgen) Die Redaktion Gesundheit braucht Politik 2/2020 | 11
Verschärfung der sozialen Kluft Kai-Uwe Helmers und Anke Kleinemeier über private Studiengänge Humanmedizin in Hamburg und die Reaktionen auf ihre Kritik daran Kai-Uwe Helmers und Anke Kleinemeier haben im Hamburger Ärzteblatt 10/2019 einen Artikel veröf- fentlicht zu inzwischen drei Möglichkeiten allein in Hamburg, an privaten Hochschulen Medizin zu stu- dieren. Wir dokumentieren diesen Artikel hier zusammen mit einer Zusammenfassung der – zum Teil heftigen und von einem der drei privaten Träger anscheinend lancierten – Reaktionen darauf im HÄB 11 und 12/2019 und der abschließenden Stellungnahme der Autor*innen, die diese im HÄB 12/2019 ebenfalls veröffentlicht haben. Anfang 2019 hat der Senat in Hamburg tern finanzierten Medizinhochschule die Zulassung für einen Medizinstudien studiert haben, in Bezug auf den me- gang an der privaten Medical School dizinischen Moralkodex in der Versor- Hamburg (MSH) erteilt. Zusätzlich wird gung der Allgemeinheit verhalten wer- die UMCH (Universitätsmedizin Neu- den. Es ist aber zu befürchten, dass markt am Mieresch Campus Hamburg) von denen, die dann »viel investiert im September 2019 die ersten Medizin- haben«, einer medizinischen Versor- studierenden aufnehmen. Neben der gung unter marktwirtschaftlichen statt Universität Hamburg bestehen somit sozialen Kautelen weiter Vorschub ge- nun drei weitere Möglichkeiten des leistet wird. In einem Artikel von 2019 Medizinstudiums an privaten Hoch- zur sozialen Herkunft von Humanme- schulen – MSH und UMCH als auch die diziner*innen schreibt Lisa Richter: Semmelweis Universität. Die Semmel- »Medizinstudierende und Ärzt*innen weis Universität in Budapest hat für deutet für die ersten Jahre eine Gebühr entstammen überdurchschnittlich oft den klinischen Teil eine Asklepios Me- von 18.000 Euro pro Jahr. Damit wird aus sehr gut ausgebildeten akademi- dical School GmbH eingerichtet, so die soziale Herkunft zum Auswahlkrite- schen Elternhäusern bzw. hohen so dass Studierende nun die Vorklinik in rium und bestimmt, welche Studieren- zialen Schichten. Sie bringen in der Re- Budapest machen müssen und danach den hier Medizin lernen dürfen. Bei der gel durch ihre Sozialisation spezifische in Hamburg studieren können. Bei der Semmelweis Universität im Zusam- Weltanschauungen und Ressourcen MSH sind als Lehrkrankenhäuser die menhang mit der Asklepios Medical mit, die sich auch in der Arzt-Patien- Kliniken in Schwerin vorgesehen. Die School kostet es 7.800 Euro pro Se- ten-Beziehung ausdrücken können. Zulassung wurde vom Wissenschafts- mester bzw. 15.600 Euro pro Jahr. In Hierbei muss zum einen berücksichtigt rat empfohlen »nach ausführlicher Prü- beiden Fällen wird somit deutlich, dass werden, dass sowohl die eigene Sozia- fung«, wobei in diese Prüfung nur ein- es sich um eine Möglichkeit des Medi- lisation, als auch die professionsspe fließt, »ob es sich bei der zu prüfenden zinstudiums für Menschen mit großen zifische Sozialisation als Arzt bzw. Ärz Einrichtung um eine Hochschule han- finanziellen Ressourcen handelt. Da in tin, sowie die sozialen Hintergründe delt, an der Leistungen in Lehre und den staatlichen Universitäten für einen der Patient*innen eine Rolle spielen. Forschung erbracht werden, die aner- sofortigen Medizinstudienplatz ein Nu- Problematisch wird eine elitäre Ärzte- kannten wissenschaftlichen Maßstäben merus Clausus (NC) von 1,0 bis 1,2 schaft an der Stelle, an der sie den entsprechen«. Die Zulassung der Stu- notwendig ist, während bei einer Zugang zu wichtigen Ressourcen ge- dierenden zu einer solchen Hochschule schlechteren Abiturnote Wartesemes- fährdet. Ärzt*innenseitig ist das der ist nicht Gegenstand der Prüfung, d.h. ter anfallen oder gar eine andere ungleichmäßige Zugang zur ärztlichen diese obliegt dem Ermessen der Hoch- Studienwahl erforderlich wird, dürfen Ausbildung und damit zusammenhän- schule. Das bedeutet, es wird nicht be- Menschen mit viel Geld auf private Uni- genden Zugängen zum berufsspezifi- schrieben, wie die Auswahl der Studie- versitäten ausweichen. schen sozialen Prestige und Einkom- reden erfolgen soll. Gesundheitsversorgung ist neben men. Patient*innenseitig ist das die Bei der MSH betragen die Kosten Ernährung, Bildung und Wohnen ein mögliche Einschränkung einer bedürf- 1.500 Euro monatlich bis zum Prakti- Grundrecht. Es ist nicht ausreichend nisgerechten Behandlung durch die so- schen Jahr (PJ), im PJ beträgt die Ge- untersucht, wie sich später Ärzt*innen, ziale Entfernung von den behandeln- bühr dann monatlich 300 Euro. Das be- die an einer von ihnen bzw. ihren El- den Ärzt*innen.”1 Diese beschriebenen 12 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 2/2020
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