Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses

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Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
MAGAZIN                MUSEUM FÜR NATURKUNDE BERLIN         # 01 2019

                                      C A MP US - P LÄ NE

                                  Für Vielfalt:
                              Die Museumsleiter
                              Johannes Vogel und
                             Stephan Junker über
                               die Zukunft ihres
                                    Hauses

  In Kooperation mit
Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
„Welche Farben der Vögel, der Fische, selbst der Krebse
(himmelblau und gelb!). Wie die Narren laufen wir bis jetzt umher;
Bonpland versichert, dass er von Sinnen kommen werde,
wenn die Wunder nicht bald aufhören.“

Alexander von Humboldt bei seiner Ankunft in Südamerika 1799

                                                                                                                                          Fotos: Dittmann / MfN (Titel), Pablo Castagnola

  Fast ausgestorben. Das Riesenschuppentier (Giant Pangolin) ist der größte heute lebende Vertreter der Schuppentiere. Der Bestand ist
  gefährdet. Das Titelbild zeigt die Biodiversitätswand im Museum für Naturkunde Berlin, das Schuppentier finden Sie ganz unten rechts.
Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
e Dito r ia l                                       i nha lt

                              Das wusste schon Alexander               prachtstück

                              von Humboldt, der für das            4 Jakob
                              Museum für Naturkunde steht.               campus
                              Wir müssen die Natur nicht
                                                                   6 Neues aus
                              für die Natur retten, sondern        Forschung und
                              für uns Menschen.                    Sammlung

                              Das Museum für Naturkunde                    titel

                              Berlin hat sich zu einem inte-       10 Ein Gespräch
                              grierten Forschungsmuseum            mit den Museums-
                              entwickelt, bei dem Forschung,       leitern
                              Sammlung und Wissenschafts-                 Wissen
                              kommunikation in einer engen         16 Museum
Wir freuen uns,               Wechselwirkung zueinander            in Zahlen
sie als leserin und           stehen. Mitten im Herzen des
                                                                         porträt
leser der ersten              Wissenschaftsstandortes Berlin
                              suchen wir Antworten auf die         18 Herrin
ausgabe unseres                                                    der Fliegen
                              großen Zukunftsfragen unserer
magazins für                  Gesellschaft. Schließen Sie sich         Botschafter
natur begrüßen                uns an: um zu reden, zu streiten     21 Michael Müller
zu dürfen. Warum              und um Lösungen zu finden.
                                                                     Digitalisierung
für natur?                    Gemeinsam mit der Humboldt-
                              Universität zu Berlin und weiteren   22 Big Data
Der mensch ist teil           nationalen und internationalen       mit Ameisen und
der natur – die               Partnern werden wir einen
                                                                   Dinosauriern
natur ist teil des            Wissenschaftscampus für Natur             kalenDer

menschen …                    und Gesellschaft entwickeln.         24 Natur für alle:
                                                                   Ausstellungen &
                              Spannende Jahre stehen unserem       Veranstaltungen
                              Forschungsmuseum bevor.                 citizen science
                              Sie sind herzlich eingeladen, uns
                                                                   28 Die Nachtigall
                              im Magazin FÜR NATUR und
                              vor Ort zu begleiten.                    Was tun sie
                                                                       für natur …

                              Prof. Johannes Vogel, Ph. D.,        30 Herr Kleinert?
                              Generaldirektor                           pinnWanD

                                                                   31 Klimakrise:
                              Stephan Junker,                      Was denken die
                              Geschäftsführer                      Besuchenden?

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Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
prachtstück

Jakob. Zerrupft sieht er aus, mitge-
nommen, und ja: Jakob hat viel erlebt. 30 Jahre
lang hat der große Vasa-Papagei aus Madagas-
kar (Coracopsis vasa) Alexander von Humboldt
begleitet – der Naturforscher erhielt ihn 1828 als
Geschenk. Angeblich konnte der Vogel sprechen
und wiederholte gern, was Humboldt seinem
Diener auftrug: „Viel Zucker, viel Kaffee, Herr
Seifert!“ Als Jakob starb, schenkte der beinahe
90-jährige Humboldt ihn dem Naturkunde-
museum. Die Präparatoren stellten dabei fest,
dass Jakob eigentlich eine Jakobine ist – viel-
leicht schaut sie deshalb so spöttisch? Im Zweiten
Weltkrieg traf eine Granate die Sammlung, von
                                                     Foto: Carola Radke / MfN

Jakob-Jakobine blieben nur Einzelteile. Wieder
zusammengesetzt wurden sie erst gute 50 Jahre
später: eine Geschichte, zerrupft, aber wahr.
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Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
CaMpuS              Wissenschaft in die Welt
                                                      tragen: pressekonferenz zur
                                                      Berlin Science Week 2019.

Ein Wissen-
schaftscampus
für Natur und
Gesellschaft
entsteht
In den kommenden zehn
Jahren entwickelt das Museum
gemeinsam mit der Humboldt-
Universität zu Berlin einen
Wissenschaftscampus für Natur
und Gesellschaft: Mitten im
Herzen von Berlin entstehen neue Labore und           Berlin Science
                                                      Week Campus
Arbeitsplätze für Spitzenforschung. Gleichzeitig      zum ersten Mal
wird eine der weltweit umfassendsten natur-           im Forschungs-
                                                      museum
historischen Sammlungen mit über 30 Millionen
                                                      Die Wissenschaftsszene
Objekten in modernen Sammlungsgebäuden                zu Gast: Mit einem thema-
                                                      tischen Schwerpunkt rund
untergebracht. Um alle Objekte weltweit zugänglich    um Künstliche Intelligenz,

zu machen, wird von der Fliege bis zum Dino-          Digitalisierung und soziale
                                                      Ungleichheit fand im Novem-
saurier alles digitalisiert.                          ber erstmals der Berlin
                                                      Science Week Campus im
                                                      Museum für Naturkunde
                                                      statt. Vorträge, Workshops
Für die Besucherinnen und Besucher entstehen          und Podiumsdiskussionen

neue Ausstellungsräume, die die Vielfalt der Natur    von Institutionen aus aller
                                                      Welt zogen die internationale
und gleichzeitig die Forschung für Natur zeigen.      Wissenschaftsgemeinschaft
                                                      ins Museum. Hier wurden
Auch Tagungs- und Veranstaltungsräume sind            neue Kontakte und Partner-
                                                      schaften geknüpft – alle im
geplant. Ziel ist es, eine zukunftsorientierte For-   Zeichen der Forschung und

schung und einen wirkungsvollen Wissenstransfer       Innovation. Eine Fortsetzung
                                                      im Jahr 2020 ist geplant.
an einem Ort zu schaffen, um die demokratische        Informationen zur Berlin
                                                      Science Week finden Sie hier:
Wissensgesellschaft zu stärken.                       berlinscienceweek.com

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Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
Schwergewicht mit
                                                                                                                    Vorliebe für Privatteiche:
                                                                                                                    der Goliathfrosch.

                                                                                 Nachdenken
                                                                                 über das Museum
                                                                                                                                                                       Älteste
                                                                                 als Lernort                                                                           Viren der Welt
                                                                                 Warum beschließen Men-
                                                                                 schen, in Museen zu gehen,
                                                                                                                                                                       entdeckt
                                                                                 oder warum bleiben sie ihnen
                                                                                 fern? Welche Voraussetzun-                                                            Bereits vor 289 Millionen
                                                                                 gen bringen sie ins Museum                                                            Jahren gab es Viren auf der
                                                                                 mit? Wie werden nachhal-
                                                                                 tige Lerneffekte erreicht?                                                            Erde. Wissenschaftler*innen ist
                                                                                 Fachleute aus aller Welt                                                              es gelungen, ihre Existenz in
                                                                                 diskutierten diese und andere
                                                                                 Fragen zu Vermittlungsstan-
                                                                                                                                                                       der Permzeit indirekt nachzu-
                                                                                 dards, Wissenstransfer und                                                            weisen. In zwei verwachsenen
                                                                                 -kommunikation bei einer                                                              Schwanzwirbeln eines eidech-
                                                                                 Fachkonferenz am 18. und
                                                                                 19. Dezember in Berlin. Einen                                                         senähnlichen Tieres aus jener
                                                                                 Schwerpunkt legten die acht                                                           Zeit fanden die Forschenden
                                                                                 Leibniz-Forschungsmuseen
                                                                                 und die Bildungsforschungs-
                                                                                                                                                                       Anzeichen für eine Erkrankung
                                                                                 institute der Leibniz-                                                                des Knochenstoffwechsels,
                                                                                 Gemeinschaft auf Museen
                                                                                                                                                                       die der Paget-Krankheit des
                                                                                 als informelle Lernorte, die
                                                                                 Zugang zu Wissen schaffen                                                             heutigen Menschen ähnelt.
                                                                                 und zur kritischen Reflexion
                                                                                 anregen sollen.
                                                                                                                    Der größte                                         Dies ist bei Weitem der älteste
                                                                                                                    Frosch der Welt                                    bekannte Nachweis einer der-
                                                                                                                                                                       artigen Krankheit weltweit und
                                                                                                                    baut sich seine                                    der älteste indirekte Nachweis
                                                                                 Gemeinsam
                                                                                 leistungsfähiger                   Teiche selbst                                      von Viren in der Erdgeschichte.
                                                                                 werden                                                                                Die Entdeckung gelang der
                                                                                                                    Frösche sind die am stärksten vom Aussterben
                                                                                 Das Museum für Naturkunde          bedrohten Wirbeltiere. Deswegen ist es beson-      Paläontologin Yara Haridy und
                                                                                 Berlin und die Hochschule für      ders wichtig zu wissen, wie sie leben und sich     ihren Kolleg*innen vom Muse-
Fotos: Marc Jerusel / MfN, Marvin Schäfer / frogs & friends, Yara Haridy / MfN

                                                                                 Technik und Wirtschaft (HTW)       fortpflanzen. Ein Forscherteam aus Kamerun und
                                                                                 Berlin werden sich noch stär-      Deutschland fand heraus: Der größte Frosch der
                                                                                                                                                                       um für Naturkunde Berlin, der
                                                                                 ker vernetzen, indem sie ihre      Welt, der Goliathfrosch, baut für seine Eier und   Charité Universitätsmedizin
                                                                                 Potenziale in Forschung und        Kaulquappen Teiche. Die kleinen Privatteiche
                                                                                                                                                                       Berlin und der University of
                                                                                 Lehre bündeln. Gemeinsames         bieten den Eiern und Larven Schutz vor Raub-
                                                                                 Ziel ist es, eine leistungs- und   tieren. Außerdem können sie nicht weggespült       Toronto mithilfe eines Micro-
                                                                                 wettbewerbsfähige Platt-           werden. Die bis zu 3,3 Kilogramm schweren          Computertomographie-Scans.
                                                                                 form für Lehre, Forschung          Goliathfrösche sind damit die ersten bekannten
                                                                                 und Technologietransfer zu         afrikanischen Amphibien, die Brutplätze für
                                                                                 schaffen. Über die bereits         ihre Nachkommen bauen. Geleitet wurde das
                                                                                 erfolgte Zusammenarbeit            Projekt vom Museum für Naturkunde Berlin
                                                                                 hinaus soll insbesondere die       und dem Verein Frogs & Friends. Die beteiligten
                                                                                 Expertise der HTW Berlin auf       Wissenschaftler*innen hoffen, dass sie durch
                                                                                 dem Gebiet des Bau- und            diese Erkenntnis und die weitere Erforschung
                                                                                 Facility Managements für die       des Goliathfrosches das notwendige Wissen
                                                                                 geplanten Baumaßnahmen im          sammeln können, um den lokalen Behörden
                                                                                 Rahmen der Umsetzung des           in Afrika Informationen für einen nachhaltigen
                                                                                 Zukunftsplans am Museum            Langzeitschutz der teichbauenden Froschart
                                                                                 genutzt werden.                    und auch anderer Arten zu liefern.

                                                                                                                                                  7
Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
Diese grüne
                                                                                               Feldheu-
                                                                                           schrecke der
                                                                                                 Familie
                                                                                          Acrididae lebt
                                                                                              im vietna-
                                                                                             mesischen
                                                                                            Regenwald.

                                                                                                           Zensus im
                                                                                                           Regenwald
                                                                                                           Vietnam ist ein Land mit beein-
                                                                                                           druckender Artenvielfalt. Um
                                                                                                           diese zu schützen, vermittelt das
                                                                                                           vom Bundesforschungsministe-
                                                                                                           rium geförderte Projekt VIETBIO
                   Sie sind, was wir                                                                       vietnamesischen Forscher*innen
                                                                                                           die neuesten Methoden zur Ent-
                   aus ihnen machen                                                                        deckung und Überwachung bio-
                                                                                                           logischer Vielfalt. In Schulungen
                   In zoologischen Gärten und Naturkundemuseen werden Tiere                                erlernen sie im Austausch mit
                   zu Objekten: zu lebenden Zoo-Attraktionen, musealen Exponaten,                          Mitarbeitenden des Museums
                   diplomatischen Objekten, zu präparierten Lehrobjekten und For-                          für Naturkunde Berlin etwa
                   schungsdatensätzen. Ein neu gestartetes Verbundprojekt zwischen                         integriertes Datenmanagement,
                   dem Museum für Naturkunde Berlin, der Humboldt-Universität                              DNA-Barcoding, Bioakustik oder
                   zu Berlin und dem Zoologischen Garten Berlin mit dem Titel „Tiere                       Digitalisierungstechniken. Die
                   als Objekte. Zoologische Gärten und Naturkundemuseum in                                 Teilnehmer*innen stammen aus
                   Berlin, 1810 bis 2020“ untersucht jetzt genau jene Prozesse, die                        vier vietnamesischen Institutio-
                   Tiere zu Objekten machen. Im Fokus liegt die Geschichte der eng                         nen, die in sammlungsbasierter
                   zusammenhängenden Sammlungen des Museums für Naturkunde,                                Biodiversitätsforschung führend
                   des Zoologischen Gartens, des Tierparks, des Aquariums und der                          sind. Auch die deutschen Wissen-
                   Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt-Universität. Wie wurden                          schaftler*innen profitieren von
                   Tiere in diesen Institutionen zu Objekten der Wissenschaft, der                         dem Austausch: Sie erhalten
                   Ausstellung und der Lehre? Wie, durch wen und wo wurden sie ge-                         Zugang zur Biodiversität Viet-
                   sammelt oder gefangen? Auf welche Weise wurden sie untersucht,                          nams. In Kooperation mit dem
                   bewahrt und präsentiert und wie hat sich das vom 19. Jahrhundert                        Botanischen Garten und dem
                                                                                                                                                 Fotos: Carola Radke / MfN, Virginia Duwe

                   bis heute gewandelt? Einen Blick werfen die Forschenden neben                           Botanischen Museum Berlin fand
                   den Materialumwelten und diskursiven Umwelten auch auf die                              bereits eine erste Exkursion nach
                   Datenumwelten, die diese Tierobjekte umgeben: Wer erstellte sie,                        Zentralvietnam statt. Im National-
                   wer hat Zugang dazu und welche neuen Zusammenhänge werden                               park Bach Ma sammelte die For-
                   dadurch sichtbar? Im Zuge von Digitalisierungsprojekten, aber                           schungsgruppe viele Pflanzen und
                   auch neuen molekularbiologischen Analysemethoden und bild-                              Tiere. Dabei kam die vom Museum
                   gebenden Verfahren werden museale Tierobjekte immer mehr                                für Naturkunde Berlin entwickelte
 Konserviert für   zu Datenquellen, die in unterschiedliche globale Informationsinfra-                     App „ODK-Collect“ zum Einsatz.
  die Menschen:
   Gorilla Bobby   strukturen wie etwa Global Biodiversity Information Facility (GBIF),                    Die im Projekt gewonnenen Daten
und Eisbär Knut.   GenBank oder Barcode of Life einfließen.                                                werden frei zur Verfügung gestellt.

                                                                    8
Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
Eine Phytoplankton-
                                                                                              Weltsprache                                                            gruppe – die Kiesel-
                                                                                                                                                                          algen – ist ent-

                                                                                              für Vielfalt                                                             scheidend für den
                                                                                                                                                                      zukünftigen Klima-
                                                                                                                                                                                 wandel.

                                                                                              Wer hätte gedacht, dass am Berliner Naturkunde-
                                                                                              museum an weltweit genutzten Daten-Standards
                                                                                              gearbeitet wird? Dabei geht es um die sogenannten
                                                                                              Biodiversitätsdaten: die Summe der vielseitigen
                                                                                              Informationen und Forschungsergebnisse, die
                                                                                              Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Jahr-
                                                                                              hunderten gesammelt und erarbeitet haben. Aus
                                                                                              ihnen besteht unser Wissen über die biologische
                                                                                              Vielfalt der Erde. Diese Daten sind naturgemäß
                                                                                              vielfältig. Sie wurden und werden in verschiedenen
                                                                                              Systemen und je nach Zweck unterschiedlich
                                                                                              erfasst. Um sie für alle verständlich zu machen,                               Was uns Plankton
                                                                                              für Forschende und viele andere Interessierte,
                                                                                              zum Beispiel Naturschützer*innen, sollen sie alle                              über das Klima
                                                                                              nach und nach in ein einheitliches Format über-
                                                                                              führt werden, den sogenannten ABCD-Standard
                                                                                                                                                     Wer ist der
                                                                                                                                                                             der Zukunft sagt
                                                                                              (englisch für Access to Biological Collection Data).
                                                                                                                                                     Schönste?
                                                                                              Das Museum für Naturkunde Berlin arbeitet zu-          Käfer liefern           Plankton spielt eine herausragende Rolle beim Klima. Denn diese
                                                                                              sammen mit dem Botanischen Garten Berlin daran,        Forschenden             Organismen, die im Meer leben und sich von der Strömung treiben
                                                                                                                                                     viele Bio-
                                                                                              den ABCD-Standard weiterzuentwickeln. In Zukunft       diversitäts-            lassen, binden Kohlenstoff und nehmen somit CO2 aus dem Meer
                                                                                              soll er auch als Austauschformat für ganz unter-       daten.                  und damit auch aus der Atmosphäre auf. Im Paläogen, vor 34
                                                                                              schiedliche Biodiversitätsdaten dienen –                                       Millionen Jahren, wechselten die globalen Temperaturen von warm
                                                                                              etwa zwischen zoologischen                                                     zu kalt, gleichzeitig ging das atmosphärische Kohlendioxid zurück.
                                                                                              Sammlungen und                                                                 Wie haben sich Organismen in den Ozeanen in dieser Zeit verhal-
                                                                                              den Geowissen-                                                                    ten – und was lässt sich daraus für die Zukunft ableiten?
Fotos: Michael Scheuerl in Zusammenarbeit mit Mediasphere For Nature, Gayane Asatryan / MfN

                                                                                              schaften.                                                                             Forschende des Naturkundemuseums untersuchen den
                                                                                                                                                                                        Zusammenhang zwischen Polarmeeren im Paläogen,
                                                                                                                                                                                           der Entwicklung von Plankton und dem zukünftigen
                                                                                                                                                                                              Klimawandel. „Wenn wir verstehen, wie Plankton
                                                                                                                                                                                                und die Ozeane mit den klimatischen Veränderun-
                                                                                                                                                                                                  gen im Paläogen interagiert haben, können wir
                                                                                                                                                                                                    Annahmen über die zukünftige Entwicklung
                                                                                                                                                                                                     des Planktons und die Klimaerwärmung tref-
                                                                                                                                                                                                      fen“, sagt Projektleiterin Gayane Asatryan.
                                                                                                                                                                                                       Sie und ihre Kolleg*innen verbinden im
                                                                                                                                                                                                       Projekt Biodiversitäts- mit Klimaforschung.
                                                                                                                                                                                                        Sie wollen herausfinden, wie sich die da-
                                                                                                                                                                                                        maligen Temperaturschwankungen auf das
                                                                                                                                                                                                        Phytoplankton ausgewirkt haben und wie
                                                                                                                                                                                                        der Anstieg des Phytoplanktons wiederum
                                                                                                                                                                                                        den Kohlenstoffkreislauf des paläogenen
                                                                                                                                                                                                       Ozeans beeinflusste. Die Forschungsgruppe
                                                                                                                                                                                                      bestimmt Planktonarten aus Tiefseesedi-
                                                                                                                                                                                                     menten, zählt ihr Vorkommen und sammelt
                                                                                                                                                                                                    geochemische und fossile Daten aus dem
                                                                                                                                                                                                   Paläogen. Computersimulationen sollen zeigen,
                                                                                                                                                                                                 wie Plankton und Klima während des großen
                                                                                                                                                                                              Klimawandels vor 34 Millionen Jahren interagierten
                                                                                                                                                                                            – und Rückschlüsse auf das heutige Aussterberisiko
                                                                                                                                                                                         kohlenstoffabfangender Planktonarten möglich machen.

                                                                                                                                                                      9
Für Vielfalt: Die Museumsleiter Johannes Vogel und Stephan Junker über die Zukunft ihres Hauses
Interview Mirco Lomoth   Fotos Pablo Castagnola
TITEL

         Ein Gespräch mit den
     Museumsleitern Johannes Vogel
         und Stephan Junker

„Bei uns
 erkennen die
 Menschen,
 dass sie Teil
 der Vielfalt
 und Schön-
 heit des
 Lebens sind“

                 11
Das Museum für Naturkunde Berlin will digitaler und offener werden
und einen zukunftsweisenden Campus für Natur und Gesellschaft
schaffen. Ein Rundgang mit den Museumsleitern Johannes Vogel
und Stephan Junker – und ein Gespräch über die Zukunft des Hauses
und die bedrohte Schönheit unserer Welt

                                                                                                Partnern wie der Humboldt-Universität

          V
                                             Herr Vogel, Herr Junker, 30 Millionen natur-
                                             kundliche Objekte zu digitalisieren klingt nach    einen Wissenschaftscampus für Natur
                                             einer Mammutaufgabe. Warum braucht die             und Gesellschaft schaffen.
                                             Welt digitale Daten von Blattschneiderbienen      VOGEL: Wir werden ein Ort sein, an dem
                                             oder Rossameisen?                                  die Menschen durch Wissenschaft und
                                             VOGEL: In Sammlungen wie der unseren               Gespräch reflektieren, wie unsere Be-
                                               liegt die Möglichkeit zu verstehen, was          ziehung zur Natur in der Zukunft zu
                                               diese Welt biologisch zusammenhält.              sein hat. Wir wollen zeigen, wo uns
                                               Gerade in Zeiten des massiven Verlusts           die Welt über den Klimawandel, den
                                               und der Vernachlässigung der natürli-            Biodiversitätsverlust oder die Ozean-
Volker Bormann, Mitarbeiter des Muse-          chen Lebensgrundlagen des Menschen               versauerung wegbricht. Deutschland
ums, greift nach einer Biene, die aufge-       müssen wir Zeugnis ablegen über den              als Wissenschafts- und Technologie-
spießt in einem hölzernen Insektenkasten       Reichtum der Natur, auch digital.                nation hat da eine besondere Verant-
steckt. Megachile hera steht auf einem       JUNKER: Zudem ist die Digitalisierung              wortung. Wir sind sehr froh, dass der
vergilbten Zettelchen. Das pelzige Tier-       ein Teil des Zusammenwachsens der                Bund und das Land uns den Auftrag
chen, eine Blattschneiderbiene, wurde          naturkundlichen Sammlungen der                   gegeben haben, hier etwas Neuartiges
1911 auf Java gefunden. Bormann befestigt      Welt.                                            zu schaffen.
es in einer Plastikschale, die auf einem     VOGEL: Richtig – wir haben 124 Forscher*-
Mini-Fließband langsam an zwei Kame-         innen im Haus, aber es gibt viele auf der         Und wann geht es los mit dem Bauen?
ras vorbeifährt. Ein hochauflösendes Bild    Welt, die gerne mit unserer Sammlung              JUNKER: Ich denke, dass wir frühestens
erscheint auf einem Monitor, sogar feinste   arbeiten würden. Wir haben bereits ein             ab 2023 beziehungsweise Anfang 2024
Äderchen in den transparenten Flügeln        Mikroskop, das es Forscher*innen in Ja-            starten werden. Vorher müssen wir
sind darauf zu erkennen. Fertig! Megachi-    pan oder anderswo erlaubt, Objekte per             noch viele, viele Dinge klären.
le hera ist digitalisiert.                   Fernsteuerung digital zu untersuchen. So          VOGEL: Ich kann verstehen, dass es Un-
    Der Digitalisierungssaal ist ein Fens-   wird kein CO2 mehr für Flüge verblasen.            geduld gibt und die Bevölkerung wie
ter in die Zukunft des Naturkundemuse-       Wir werden auch DNA-Informationen                  auch die Politik sehen wollen, was mit
ums. 2,3 Millionen Bienen, Wespen und        online stellen.                                    dem Geld passiert. Ich halte es aber für
Ameisen werden hier in den nächsten                                                             wichtig, dass wir stringent planen, da-
Jahren ins Datenzeitalter gebeamt. Wei-      Ihr Haus hat von Bund und Land für die nächs-      mit das Bauen möglichst schnell geht.
tere 28 Millionen Objekte sollen folgen.     ten zehn Jahre 660 Millionen Euro zugesagt         Wir bitten also um Geduld, hinter den
    Johannes Vogel und Stephan Junker        bekommen – für viele eine unvorstellbare           Kulissen passiert schon sehr viel. Wir
stehen neben der Digitalisierungsstation,    Summe. Will sich das Museum mit diesem             laden jetzt zum Beispiel Besucher*innen
Generaldirektor Vogel im dunkelblauen,       Geld neu erfinden?                                 ein, um zu erfahren, wie sie sich das
Geschäftsführer Junker im hellblauen         JUNKER: Wir wollen dieses wunder-                  Museum in Zukunft vorstellen.
Anzug, der eine mit blau-weiß-rotem,          schöne Haus zum Glänzen bringen. Un-
der andere mit weißem Einstecktuch.           ser Auftrag ist nicht nur, die historische       Vogel und Junker gehen durch den Sau-
Vogel trägt Zwirbelbart, sein Markenzei-      Gebäudesubstanz zu erhalten, sondern             riersaal, in dem das riesige Skelett eines
chen, das er wie Stoßzähnchen vor sich        ein integriertes Forschungsmuseum                Giraffatitan brancai fast bis zum Milch-
herträgt. Wenn er der Professor mit den       zu schaffen, das sich nach außen öffnet          glasdach aufragt, durch das Tageslicht ins
kreativen Ideen ist, dann ist Junker der      und neue Formen des Wissenstransfers             Atrium fällt. Besucher*innen bewegen
kühle Kopf, der alles noch einmal durch-      und der Teilhabe bietet. Wir wollen hier         sich staunend zwischen den Riesen des
rechnet.                                      an der Invalidenstraße gemeinsam mit             Jura hindurch: dem bedrohlichen Allo-

                                                                 12
„Wir werden ein Ort
                                             sein, an dem der
saurus fragilis und dem 13 Meter langen                                                  den letzten zehn Jahren rund 60 Millio-
Dicraeosaurus hansemanni. Johannes
                                             Mensch durch                                nen Euro in das Museum geflossen. Wir
Vogel schaut zum Glasdach auf. Das Mu-       Wissenschaft und                            haben die Arbeiten sehr verantwortungs-
seum, erzählt er, wurde 1890 als Tages-                                                  voll in Zeit und Budget gemeistert und
lichthaus ohne Strom eröffnet. Durch die     Gespräch ref lektiert,                      sind zuversichtlich, dass wir das auch
sechs Meter hohen, lichtdurchfluteten        wie unsere Bezie-                           bei dem anstehenden Umbau schaffen
Räume hindurch kann man von einem                                                        werden. Unser Ziel ist es, das gesamte
zum anderen Ende schauen.                    hung zur Natur                              Gelände und alle Gebäude mit rund
    Wenn man am Eingang an der Inva-                                                     60.000 Quadratmetern anzupacken. Da-
lidenstraße steht, ahnt man nicht, dass
                                             in der Zukunft zu                           für machen wir einen Masterplan und
sich das Naturkundemuseum bis tief           sein hat“                                   einen Architektenwettbewerb. Wir über-
in den Block hinein erstreckt, mehrere                                                   legen auch, wie wir das Museum mit
Höfe und Nebengebäude umfasst, in                                                        seinem Gesicht zur Invalidenstraße hin
denen Millionen von Objekten lagern                                                      attraktiver gestalten können. Ein neuer
und Wissenschaftler*innen forschen.         Der Ostflügel ist schon fertig?              Tiefenspeicher wird die optimale Unter-
Viele Gebäudeteile wurden seit dem          JUNKER: Ja, hinter diesen Ziegelsteinen      bringung der Sammlung ermöglichen.
Krieg nicht saniert, mancherorts sind        befindet sich unsere wertvolle Nass-       VOGEL: Unsere Sammlung befindet sich
Einschusslöcher zu sehen. Wo 1943 eine       Sammlung mit rund einer Million in          in einem Gebäude, das 1890 eröffnet
Bombe explodierte, ist das Haus ausge-       Ethanol konservierten Tierpräparaten        wurde, sie wird aus heutiger Sicht nicht
bessert worden: Helle Ziegelsteine sitzen    in 276.000 Gläsern. Die Räume wurden        mehr zeitgemäß auf bewahrt. Der Mu-
wie eine Plombe im alten Ostflügel.          bereits aufwendig saniert. Dafür sind in    seumskäfer etwa, der naturkundliche

„Da das Leben immer weitergeht, wird auch unsere Aufgabe nie enden“
„Im Moment haben
                                             wir als eines der
 Sammlungen frisst, kann sich unter 16                                                  schimmernden Käfern, schauen sich See-
 Grad nicht vermehren. Wenn wir unser
                                             besucherstärksten                          pferdchen, glubschäugige Zwergplumpo-
 Depot künftig auf 14 Grad runterküh-        Museen der Stadt                           ris und gigantische Hummer an.
 len können, würde das eine nachhaltige
 Lagerung ermöglichen, ohne dass wir         nur 4.800 Quadrat-                         Gibt es alle diese Tiere noch?
 ungesunde Stoffe einsetzen müssen. Un-      meter Ausstellungs-                        VoGel: Ja, aber das Riesenschuppentier
 sere Sammlung wächst um bis zu zwei                                                     wird eine der nächsten Arten sein, die
 Prozent pro Jahr und wir müssen auch        f läche, in Zukunft                         aussterben wird, weil es für seine Schup-
 die neuen Funde so lagern, dass man in                                                  pen gejagt wird, die in China als Medi-
 50 Jahren nicht über uns spottet.
                                             werden es weit über                         zin gehandelt werden. Wir sehen hier
                                             10.000 sein“                                3.000 von den rund zwei Millionen
Und was soll auf dem Museumshof,                                                         Tierarten, die wir bisher kennen. Mitt-
dem geplanten Wissenschaftscampus für                                                    lerweile gehen wir davon aus, dass zwi-
Natur und Gesellschaft, passieren?          Museums: Tristan Otto, dem gewaltigen,       schen einem Achtel und einem Drittel
VoGel: Das Rückgrat des neuen Campus        zwölf Meter langen Tyrannosaurus rex,        aller Arten aussterben wird. Wenn es so
 werden die Humboldt-Universität, die       dessen knochiger Schwanz einen be-           weitergeht, kann ich mir vorstellen,
 Partner der Berliner Exzellenzinitiative   drohlichen Schatten auf die Wand wirft.      dass wir bald Tiere aus der Wand ent-
 und das Museum für Naturkunde bil-         Dann stehen sie plötzlich in einem Labor.    fernen müssen, um zu zeigen, was es
 den. Wir versammeln jetzt schon eine       Kristin Mahlow scannt hier gerade die        bedeutet, wenn ein Drittel fehlt. Hier
 interessante Mischung im Gebäude,          Wirbelsäule eines Komodowarans in ei-        an der Biodiversitätswand bringen wir
 etwa das Büro der University of Oxford     nem Computertomographen. Mit diesem          Leute dazu, miteinander zu reden. Das
 in Berlin oder die European Citizen Sci-   Gerät hat ein internationales Team un-       ist das Allerwichtigste. Die Menschen
 ence Association. Wir möchten noch         ter Leitung des Museums bei einer 240        sehen hier das Leben auf der Erde in all
 viele weitere Partner aus der Wissen-      Millionen Jahre alten Schildkröte ein        seiner Vielfalt und Schönheit. Alle Or-
 schaft einladen, Teil unserer Idee zu      Geschwulst am Oberschenkel untersucht        ganismen auf der Erde teilen DNA mit
 werden und an der Entstehung des           – und herausgefunden, dass das Tier an       uns, mit Ausnahme der Viren. Und ich
 Campus mitzuwirken. Auch die Stadt-        Knochenkrebs litt und diese Krankheit        denke, hier erkennen die Leute, dass
 gesellschaft ist eingeladen: Dieser Ort    schon vor Jahrmillionen existierte.          sie Teil von all diesem sind.
 kann 24 Stunden, sieben Tage in der
 Woche bespielt werden.                     JUNKeR: Hier im Schaulabor wollen wir       Sie sammeln weiterhin neue Arten...
                                             den Besucher*innen zeigen, dass wir        VoGel: Ja, wir beschreiben jedes Jahr 170
Wird das Museum denn während                 unsere Objekte nicht nur ausstellen,        bis 200 neue Arten. Das sind etwa ein
der Bauphase schließen?                      sondern an ihnen auch spannenden            Prozent der Arten, die jedes Jahr neu
JUNKeR: Wir wollen die Ausstellungen so      Forschungsfragen nachgehen.                 beschrieben werden. Aufgrund unserer
 lange wie möglich offen halten. Wichtig                                                 starken wissenschaftlichen Tradition ist
 ist auch, dass wir das Museum arbeits-     Viele wissen gar nicht, dass im Museum       das eine wichtige Aufgabe unseres Hau-
 fähig halten. Deshalb suchen wir gerade    für Naturkunde intensiv geforscht wird...    ses – wie auch der Museen in London,
 einen Ausweichstandort, an den wir die     VoGel: Das stimmt, aber als sammlungs-       Paris, Washington und New York. Wir
 Sammlungen auslagern werden. Als ei-        gestütztes Forschungsmuseum haben           haben gerade mehr Geld bekommen,
 nes der besucherstärksten Museen der        wir eine ewige Mission: Das Leben auf       damit wir das weiter intensivieren, weil
 Stadt haben wir derzeit nur 4.800 Qua-      der Erde und im Sonnensystem, seine         die Rate des Aussterbens höher ist als
 dratmeter Ausstellungsfläche, in Zu-        Muster und Prozesse zu entdecken und        die Rate des Beschreibens.
 kunft werden es weit über 10.000 sein.      zu beschreiben. Es gibt keine größere,
VoGel: Unabhängig davon, ob wir Teile        spannendere und vielfältigere Aufgabe.     Sehen Sie es auch als Ihre Aufgabe,
 unseres Hauses schließen müssen oder        Und da das Leben durch den Prozess         Aufklärungsarbeit zu leisten?
 nicht: Wir werden auch zu den Men-          der Evolution gesteuert ist und immer      JUNKeR: Unbedingt. Es kommen ja jedes
 schen hingehen, um weiterhin tief in        weitergeht, wird auch unsere Aufgabe        Jahr fast 100.000 Personen zu unse-
 der Stadtgesellschaft verankert zu sein.    nie enden.                                  ren Bildungsprogrammen und Ver-
                                                                                         anstaltungen. Das zeigt, dass wir ein
Vogel und Junker laufen an den schaurig-    Vogel und Junker bleiben vor der Bio-        Ort sind, an dem sich gesellschaftliche
faszinierenden Gläsern der Nass-Samm-       diversitätswand stehen. Auf der Breite       Diskurse entfachen, etwa zum Arten-
lung vorbei, in denen bleiche Fischleiber   eines ganzen Museumssaals ist hier der       sterben oder zum Klimawandel. Fri-
und Schlangen in Ethanol liegen, an Hya-    Reichtum des irdischen Tierlebens ver-       days-for-Future-Demonstrant*innen
zinth-Aras mit kobaltblauem Gefieder        sammelt oder besser gesagt, ein Bruch-       bieten wir an, im Museum mit Wissen-
und an einer der Hauptattraktionen des      teil davon: 3.000 Arten. Kinder knien vor    schaftler*innen zu diskutieren.

                                                              14
15
Vogel: Dialogveranstaltungen zählen zu            lien- und Gesteinssammlung hat er         Vogel zeigt auf eine der großen blauen Zitat-
 den wichtigsten Dingen, die wir ma-              den Grundstock für unsere Sammlung        tafeln, die über den Mineralen schweben.
 chen. Diese Aufgabe müssen wir noch              gelegt. Insofern stehen wir auf seinen    „Alles ist Wechselwirkung“ steht darauf
 besser erfüllen. Warum werde ich von             Schultern. Das ist eine große Verant-     in großen Lettern. Alexander von Hum-
 unseren Geldgebern nicht in die Lage             wortung, aber es macht uns auch stolz.    boldt schrieb diese Worte im August 1803
 versetzt, mit 25 Prozent der Berliner                                                      im Tal von Mexiko.
 Erwachsenen in einen Dialog zum The-            Vogel: Wir stehen aber auch in der
 ma Natur zu treten? Wenn wir das nicht           Tradition seines Bruders Wilhelm von      Vogel: Alles hängt mit allem zusammen.
 machen – wer macht es dann? Alle re-             Humboldt. Wilhelm hat ja die preu-         Daraus erwächst einer unserer Auf-
 den davon, dass Deutschland sich in der          ßische Reformuniversität, die heute        träge. Wir müssen den Menschen ein
 Verantwortung für eine globale Nach-             Humboldt-Universität heißt, mit der ge-    tieferes Verständnis für die Komplexi-
 haltigkeitsagenda sieht. Die fängt aber          nialen Idee gegründet, Forschung und       tät der Natur und die Einbettung des
 verdammt noch mal zu Hause an! Dafür             Lehre in den Lehrkräften zu verbinden.     Menschen darin geben. Wir Menschen
 müssen wir Mehrheiten gewinnen und               Diese neue, moderne Universität, deren     sind Teil einer lebenden, atmenden und
 deshalb wollen wir mit Menschen re-              Idee den Siegeszug um die Welt ange-       dynamischen Welt. Wenn das breiter
 den und vor allen Dingen zuhören.                treten hat, basierte auf Sammlungen.       verstanden wird, dann entsteht viel-
                                                  Und das sind die Sammlungen dieses         leicht auch etwas mehr Demut, die für
Darf ein Museum politisch sein?                   Museums. In ihnen liegt also der An-       eine wirksame Nachhaltigkeitsagenda
Junker: Unser Museum ist eine politische          fang der modernen Bildung. Und es ist      dringend notwendig ist.
 Institution, weil wir uns als wissen-            unser Auftrag zu fragen: Was machen
 schaftliche Einrichtung mit zentralen            wir damit für die nächsten 200 Jahre?
 gesellschaftlichen Fragen befassen. Mu-
 seen sind nicht nur Häuser, in die man
 sich zur Erbauung oder Bildung begibt,
 sie sind Teil einer demokratischen Wis-
 sensgesellschaft. Wir beschäftigen uns
 mit Natur. Da liegt auch die Grenze,
 Themen aus anderen gesellschaftlichen
 Bereichen werden wir nicht aufgreifen.

Vogel: In diesem Jahr haben bei uns die
 klimapolitischen Sprecher aller Bundes-
 tagsfraktionen mit Vertreter*innen von
 Fridays for Future diskutiert. Das ist für
 uns die Erfüllung unseres politischen
 Auftrags: ein neutrales Forum für einen
 Diskurs zu bieten, um eine nachhaltige
 Zukunft unseres Planeten zu befördern.

Der Rundgang durch das Museum endet
bei Alexander von Humboldt. Im Mine-
raliensaal stellt das Museum im Jahr des
250. Geburtstags des Naturforschers Mi-
neralien aus, die dieser von seinen Rei-
sen durch Europa, Russland und Ame-
rika mitgebracht hat. Rhodonit aus dem
Ural, Antimonit und Stibiconit aus dem
Fichtelgebirge, Zinnober aus dem mexi-
kanischen Guanajuato.

Alexander von Humboldt wurde dieses Jahr
vielerorts in Berlin gefeiert. Wie sehr hat er
das naturkundemuseum mitgeprägt?
Junker: Er ist einer der Väter dieses
 Museums. Mit Teilen seiner Minera-

                                     „Wir wollen mit den Menschen reden und zuhören“
WIssen

Museum
in Zahlen
Das Museum für naturkunde Berlin
hat sich seit der Gründung 1810
zu einem internationalen Forschungs-
museum entwickelt und ist heute
eines der größten und meist-
besuchten naturkundemuseen
in Deutschland

                                                  4
                                                  Forschungsbereiche

329
                                                  1. Evolution und Geoprozesse
                                                  2. Sammlungsentwicklung
                                                     und Biodiversitätsentwicklung
                                                  3. Digitale Welt und
Beschäftigte                                         Informationswissenschaft
                                                  4. Museum und Gesellschaft

davon

124
wissenschaftler*innen             282
                                  Publikationen
                                                  Bis zu
                                  214
                                  Peer-Review
                                  Artikel         200
                                                  Gastwissenschaftler*innen
                                                  jährlich aus der ganzen
                                                  welt

                                16
Über

                                  500
                                  Sammlungsgäste*
                                  pro Jahr

                                                                  96.817
                                                                  Teilnehmer*innen
                                                                  an Bildungsprogrammen

                                  * Sammlungsgäste
                                    sind Wissenschaftler*innen,
                                    die mit den Objekten
                                    der Sammlung arbeiten.

                                                                  734.237
                                                                  Besucher*innen im Jahr 2018

                                                                       96 %                     60 %
                                                                       der Bürger*innen         der Bürger*innen
Illustration: Sarah Matuszewski

                                                                       in Berlin und Branden-   in Deutschland
                                                                       burg kennen das          kennen das
                                                                       Museum                   Museum

                                                                  17
PORTRäT

Sie sucht weltweit nach neuen Arten und hat mit Larven Mordfälle
aufgeklärt: Wie Eliana Buenaventura, neue Leiterin der Zweiflügler-
Sammlung, die Erforschung der Artenvielfalt voranbringt

Herrin der Fliegen
Um die Welt gereist:
                                                                                                             Diese Fliege
                                                                                                             stammt aus Guinea,
                                                                                                             andere kommen
                                                                                                             aus China, Mada-
                                                                                                             gaskar, Kamerun.

Text Mirco Lomoth                                jedes Ökosystem“, sagt Buenaventura. Sie     Von der Vietnam-Expedition brachte Buena-
Fotos Pablo Castagnola                           fängt die Fliegen in der Natur, untersucht   ventura rund 400 Aasfliegen mit, eingelegt
                                                 ihre DNA im Labor, fahndet nach Ähnlich-     in hochkonzentriertem Ethanol, das die
                                                 keiten und Unterschieden, bestimmt neue      DNA in gutem Zustand erhält. In den mo-
          s klingt fast zärtlich, wie Eliana     Arten und versucht so, Fragen der Evoluti-   lekulargenetischen Laboren des Museums

E         Buenaventura diesen Namen
          ausspricht: Lucilia cuprina. Die
          neue Leiterin der Zweiflügler-
Sammlung des Museums für Naturkunde
Berlin öffnet eine hölzerne Schublade, in
                                                 on und Artenvielfalt zu beantworten.

                                                 Mit Hühnerleber
                                                 auf Fliegenjagd
                                                                                              wird sie die DNA aus den Proben gewin-
                                                                                              nen, sie reinigen und vervielfältigen und
                                                                                              anschließend die Abfolge der genetischen
                                                                                              Bausteine bestimmen lassen. Dann kann
                                                                                              sie die DNA-Sequenz jeder einzelnen Fliege
der Dutzende metallisch grün glänzende           Erst im Mai 2019 war sie mit einem Team      auf dem Bildschirm mit Datenbanken auf
Fliegen auf feinen Nädelchen stecken. Sie        des Zentrums für Biodiversitätsentdeckung    der ganzen Welt abgleichen.
sind vor fast 200 Jahren nach Berlin gekom-      im Cuc-Phuong-Nationalpark in Nord-
men, aus China, Madagaskar, Kamerun.             Vietnam, um dort die enorme Artenvielfalt    Mit Larven
„Lucilia cuprina ist überall auf der Welt        zu dokumentieren und die Auswirkungen
die Erste, die einen Kadaver anfliegt, sie hat   menschlicher Eingriffe zu verstehen. Im
                                                                                              Mörder überführen
einen hervorragenden Geruchssinn“, sagt          Regenwald hängte sie ihre rohrförmigen       Es war die Musik, nicht die Biologie, die Eli-
Buenaventura, eine kleine, herzliche Frau        Fliegenfallen auf. „Meine Kollegen sagen,    ana Buenaventura zuerst in ihren Bann zog.
mit tiefschwarzen Ringellocken. Sie steht        dass es kein Spaß ist, mit mir im Feld zu    In Bogotá lernte sie die Oboe lieben, spielte
in einem Gang der Zweiflügler-Sammlung           sein, da ich meine Fliegen mit verrotte-     zuerst in einem Kinderorchester, später am
zwischen hohen, alten Holzschränken.             ten Ködern anlocke, mit Hühnerleber          Konservatorium der Nationalen Universität
Rund eineinhalb Millionen präparierte            zum Beispiel“, sagt sie und lacht. Warum     von Kolumbien. Weil neben der Musik die
Fliegen und Mücken lagern hier. „In all          sie sich ausgerechnet für aasfressende       Natur sie immer mehr faszinierte, begann
diesen Tieren ist noch immer genetische          Fliegen interessiert?
Information erhalten“, sagt Buenaventura.        „Für viele Menschen
„Die Sammlung ist eine äußerst wertvolle         sind sie einfach nur
Ressource, weil weltweit Lebensräume             langweilig und eklig,
schwinden und wir manche dieser Arten            aber für mich sind es
heute gar nicht mehr sammeln könnten.“           kosmopolitische Or-
    Eliana Buenaventura ist eine der 20          ganismen, die auf der
Wissenschaftler*innen, die am neuen              ganzen Welt zu finden
Zentrum für Biodiversitätsentdeckung des         sind und sehr viele In-
Museums für Naturkunde mit modernsten            formationen mit sich
Methoden die weltweite Artenvielfalt erfor-      herumtragen.“
schen – und dabei auch unbekannte Tiere
entdecken wollen. Denn noch immer sind
geschätzte 90 Prozent aller Arten auf der
Erde unentdeckt. Buenaventuras Spezial-
gebiet: Sarcophagidae – Fleischfliegen. Die
                                                                      Wertvolle
meisten Arten aus dieser Familie sind Aas-                    Ressource. Rund
fresser. „Das macht sie so interessant. Sie                eineinhalb Millionen
                                                            präparierte Fliegen
sind hervorragende Recycler und legen ihre                und Mücken umfasst
Eier in tote Körper, sie sind sehr wichtig für                  die Sammlung.

                                                                   19
Artenvielfalt                           Forscher*in in Argentinien sein*e Fliegen-
                                                     erforschen: Eliana
                                                     Buenaventura
                                                                                             funde und die DNA darin mit unseren
                                                     bestimmt die DNA                        Daten abgleichen“, sagt Buenaventura.
                                                     der Fliegen.                            „Das ist ein riesiger Beitrag für die welt-
                                                                                             weite Erforschung der Artenvielfalt.“

                                                          Es begann eine Wanderzeit:         Geheimnisse
                                                          Doktorarbeit in Dänemark,
                                                          Postdoc-Stelle an der North
                                                                                             in Berliner Parks
                                                          Carolina State University in       Fleischfliegen sammelt Eliana Buena-
                                                          den USA, zwei weitere Jahre        ventura mittlerweile auch in Berlin, etwa
                                                          am renommierten Smithso-           im Volkspark Rehberge. „Wir wissen, dass
                                                          nian Institute in Washington       sie sich auf Exkremente von Säugetieren
                                                          D. C. Dann Berlin. Ihr neues       setzen, auf ihrem Fell oder auf Wunden
                                                          Büro liegt im Nordflügel des       herumkrabbeln oder sich vom Schweiß
                                                          Naturkundemuseums. „Tier-          oder Augenflüssigkeit ernähren“, sagt sie.
                                                          nahrungslehre“ steht in alter      Die toten Zellen tragen die Fliegen dann
                                                          deutscher Schrift an der Tür       an sich – oder auch in sich. „Ich kann
                                                          zum Flur. Auf ihrem riesigen       diese fremde DNA im Labor isolieren und
                                                          Schreibtisch liegen Fachbü-        so feststellen, mit welchen Wirtstieren die
                                                          cher zur Artenbestimmung           Fliegen in Kontakt gekommen sind, etwa
                                                          neben einem Roman des ko-          mit Füchsen, Iltissen oder Mardern.“ Ge-
                                                          lumbianischen Schriftstellers      meinsam mit Wissenschaftler*innen der
                                                          Gabriel García Márquez. In         Freien Universität und des Berlin Center
                                                          einer Vitrine lagert histori-      for Genomics in Biodiversity Research soll
                                                          sches Laborgeschirr, draußen       so nach und nach eine Karte der Arten-
                                                          vor dem Fenster steht ein alter    vielfalt für Berliner Parks entstehen und
sie ein Biologie-Studium in Bogotá und lan-   Apfelbaum, unter dem sie gerne Kaffee-         neue Methoden entwickelt werden, um
dete nach dem Abschluss am Nationalen         pause macht.                                   die Wildtierbestände zu überwachen.
Institut für Rechtsmedizin und Forensik.          Nach Berlin gezogen hat sie die einzig-        „Viele Menschen denken beim Thema
„In Kolumbien geht die Hälfte aller Todes-    artige Zweiflügler-Sammlung des Muse-          Biodiversität gleich an den Amazonas
fälle auf Gewalt zurück“, erzählt Buena-      ums und die Expertise deutscher Forscher-      oder an tropische Regenwälder“, sagt
ventura. „Ich habe den Todeszeitpunkt von     innen und Forscher zu Artenvielfalt und        Buenaventura. Doch auch viele Grün-
Mordopfern ermittelt, indem ich die Ent-      Artensterben – vor allem aber der Wan-         flächen in Berlin seien durch schmale
wicklungsstadien von Fliegenlarven unter-     del, den das Museum für Naturkunde             Korridore mit wilderen Ecken verbun-
sucht habe, die den Körper nach dem Tod       in den nächsten Jahren vollziehen will.        den und würden Säugetieren, Vögeln und
kolonisieren.“ Zweieinhalb Jahre blieb sie    „Wenn die gesamte Sammlung erst mal            Reptilien einen wichtigen Lebensraum
bei den Mordermittlern, bearbeitete rund      digitalisiert und öffentlich ist, kann ein*e   bieten. Ihre Fliegen sollen helfen, ein Be-
150 Fälle, konnte anhand der                                                                                wusstsein für das geheime
Fliegenlarven sogar feststel-                                                                               Leben in Berliner Parks zu
len, wenn ein Opfer Kokain                                                                                  schaffen. „Ich möchte, dass
oder andere Stoffe genom-                                                                                   die Berliner*innen erken-
men hatte. „Es war eine har-                                                                                nen, welchen Reichtum sie
te Zeit, weil man als Biologin                                                                              direkt vor der Haustür ha-
nicht gerade dafür ausgebil-                                                                                ben und wie wichtig es ist,
det ist, sich mit den dunkels-                                                                              diesen auch zu schützen.“
ten Seiten der menschlichen
Gesellschaft zu befassen.“
Immer wieder stieß sie bei
der Ermittlungsarbeit aber
auch an die Grenzen der
Methoden. Sie beschloss,                                                                               Für Buenaventura
Fleischfliegen zu erforschen,                                                                          sind sie „kosmopolitische“
                                                                                                       Wesen, die uns viel
um sie für die Forensik noch                                                                           über die Natur lehren
besser nutzbar zu machen.                                                                              können.

                                                                 20
21
                                          Botschafter

                           Dieses Haus           „Wo bitte geht’s zum Brexit?“, fragt die junge Frau,
                                                 die am Abend des 7. November zeitgleich mit mir im

                         ist etwas ganz          Museum für Naturkunde ankommt. Sie eilt zur Diskussions-
                                                 veranstaltung der Hochschule für Technik und Wirtschaft

                            Besonderes           in den hinteren Teil der Ausstellung und ich in den
                                                 Sauriersaal, zur Verleihung der Berliner Wissenschafts-
                                                 preise an die renommierte Arabistin Beatrice Gründler
                                                 und den jungen Photovoltaik-Star Steve Albrecht.
                                                 Derweil wird nebenan unter dem strengen Blick von T. rex
                                                 Tristan Otto über das Verhältnis von Mensch und Maschine
                                                 debattiert, auf Einladung der ETH Zürich. Die vierte
                                                 Berlin Science Week ist in vollem Gange und das Leibniz-
                                                 Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung,
                              Michael Müller,
                                                 wie das Museum für Naturkunde auch heißt, dient zwei
                                  regierender    Tage lang als Dreh- und Angelpunkt für die Aktivitäten
                                bürgermeister    zahlreicher Einrichtungen aus dem In- und Ausland.
                                                     Eine Ausnahmesituation, ja, und doch auch ein
                                    von berlin   Beispiel dafür, welchem Anspruch sich das Forschungs-
                              und senator für    museum und sein engagiertes Team verschrieben haben.
                                                 Sie verbinden großartige Ausstellungen und heraus-
                             Wissenschaft und    ragende Forschung und gehen immer wieder innovative
                                   forschung     Wege in der Wissensvermittlung – offen für neue parti-
                                                 zipative Formate, mit einem Gespür für aktuelle Themen
                                                 und die Bedarfe unserer Stadt. Ein Haus, das Klein und
                                                 Groß gleichermaßen begeistert und in Zukunft zu Recht
                                                 eine noch bedeutendere Rolle in der Wissenschafts- und
                                                 Kulturmetropole spielen wird. Eine Rekordsumme von
                                                 660 Millionen Euro stellen der Bund und das Land Berlin
                                                 je hälftig für die Vision eines modernen Wissenschafts-
                                                 campus zur Verfügung, damit das MfN sein ganzes Potenzial
                                                 heben und zur internationalen Spitze der Forschungs-
                                                 museen aufschließen kann.
                                                     Wer mit dem Museumsdirektor und seinen Mitarbeiter*-
                                                 innen über dieses Vorhaben spricht, merkt sofort, wie
                                                 sehr sie dafür brennen. Und auch die Menschen in Berlin,
                                                 die vielen Unterstützer*innen und Museumspat*innen,
                                                 reagieren mit Begeisterung. Offen gesagt, geht’s mir nicht
                                                 anders. Ich kann mich gut an meinen ersten Besuch im
                                                 MfN erinnern. Es war kurz nach der Wende, 1990, zusam-
                                                 men mit Freunden. Dem Haus sah man die Narben der
                                                 Vergangenheit deutlich an und trotzdem war einem sofort
                                                 klar: Das Museum für Naturkunde ist für Berlin etwas
                                                 ganz Besonderes. Später folgten Ausflüge mit der Familie,
                                                 auch zum Kindergeburtstag-Feiern, und natürlich diverse
Foto: Pablo Castagnola

                                                 dienstliche Anlässe, ob als Stadtentwicklungssenator oder
                                                 nun in der Verantwortung für die Wissenschaft.
                                                     Es war spannend, mitzuerleben, wie sich das MfN
                                                 über diese gut 30 Jahre gewandelt hat. Jetzt läuten wir
                                                 gemeinsam eine neue Zeit ein. Professor Vogel und seinem
                                                 Team dafür viel Erfolg und weiterhin viele kreative Ideen!
DIGITALISIERUNG

Big Data
mit Ameisen
und Dino-                                                                                              30 Millionen
sauriern                                                                                               Objekte des
                                                                                                       Museums
Text Carmen Schucker
Fotos Pablo Castagnola                                                                                 für Naturkunde
                                                                                                       Berlin werden
                                                                                                       in den kom-
                                                                                                       menden zehn
                                                                                                       Jahren digi-
                                                                                                       talisiert

Eine offene, digitale Sammlung entsteht

E
         ine Flugreise von 1 2.000 Kilometern, um tote Weg-       können und es wäre kein CO2 in die Luft gelangt. Denn die
         wespen zu untersuchen: Akira Shimizu von der Tokyo       30 Millionen Objekte im Naturkundemuseum werden in den
         Metropolitan University forscht gerade über das Paa-     kommenden zehn Jahren digitalisiert. Anschließend kann sie
         rungsverhalten einer Wegwespenart (Pompilidae).          jeder von überall auf der Welt in einer Datenbank abrufen. Eine
         Von den Exemplaren aus der Sammlung des Berliner         Mammutaufgabe: Die kleinsten Objekte sind staubkorngroß, die
Naturkundemuseums, aufgespießt auf Nadeln, erhofft er sich        größten sind meterhohe Dinosaurierfossile. Mittels verschiedener
Aufschluss über anatomische Besonderheiten. Im Fokus stehen       Foto-Techniken landen die Insekten und alle anderen natur-
die massiven Beine der Männchen. Sind sie vielleicht bei der      kundlichen Objekte, die winzigen Labels in Sütterlinschrift und
Paarung von Vorteil? Noch wertet er seinen Berliner Besuch aus.   QR-Codes in einer Datenbank.
   Befänden wir uns schon im Jahr 2030, hätte sich Shimizu            „Big Data mit unseren naturkundlichen Objekten zu machen,
den weiten Weg aus Japan in die deutsche Hauptstadt sparen        bietet der Wissenschaft zig Antworten auf aktuelle und künftige

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Wespe für Wespe:
                                                                                  Mitarbeiter Bernhard
                                                                                  Schurian macht digitale
                                                                                  Aufnahmen der teils
                                                                                  über 100 Jahre alten        DIGITALISIERUNG
                                                                                  Insekten, überträgt
                                                                                  handgeschriebene                 ERLEBEN
                                                                                  Notizen in die Daten-
                                                                                  bank – und setzt die      Die Digitalisierungsstraße
                                                                                  Tiere in neue Kästen.     (neben dem Sauriersaal)
                                                                                                             ist Di – So, 11 – 16 Uhr
                                                                                                                      geöffnet

                                                                                             Etwa zehn
                                                                                             Prozent der
                                                                                             Sammlung
                                                                                             sind bereits
                                                                                             in der Daten-
                                                                                             bank

                                                                                                                     Lukas Kirschey,
                                                                                                                     Leiter der Insekten-
                                                                                                                     sammlung, prüft
                                                                                                                     einen der neuen
                                                                                                                     Insektenkästen,

    Mit neuer Technik                                                                                                die höchsten konser-
                                                                                                                     vatorischen Stan-
                                                                                                                     dards entsprechen.
    können bald 7.500                                                                                                Wespen, Bienen
                                                                                                                     und Ameisen werden

    Objekte am Tag                                                                                                   zuerst digitalisiert
                                                                                                                     – wichtige Typus-
                                                                                                                     Exemplare sogar mit
    erfasst werden                                                                                                   3D-Scannern.

Forschungsfragen“, sagt Bernhard Schurian, zuständig für die        schrieben ist, werden wohl mit der aufwendigeren 3D-Technik
Digitalisierung. „Mit hochauflösenden Bildern und teilweise sogar   digitalisiert. Hierfür hat das Museum gerade einen von weltweit
3D-Animationen ist alles bis auf das dünnste Haar zu erkennen.“     drei existierenden Disc 3D-Scannern für Insekten bekommen.
    Reinzoomen, umdrehen, der Blick von oben oder unten: Das            Von frei zugänglichen, digitalen und enzyklopädischen
alles ist kein Problem. Etwa zehn Prozent von 30 Millionen Ob-      Sammlungen können überall in der Welt Menschen profitieren.
jekten sind bereits digitalisiert. Jetzt ist der Rest dran.         „Wir öffnen unsere Sammlung für alle, um das Wissen um die
    Doch wie digitalisiert man 30 Millionen Objekte? „Mit einer     Natur zugänglich zu machen und Raum für Innovation zu schaf-
Fließbandtechnik werden wir bis zu 7.500 Objekte am Tag digi-       fen“, sagt Frederik Berger, wissenschaftlicher Leiter der Samm-
talisieren“, sagt Schurian. Heute schaffen die Digitalisierungs-    lungsdigitalisierung. „Die Medizinforschung, die Kunst- oder die
mitarbeitenden etwa 500 Objekte am Tag. Nur die besonders           Start-up-Szene Berlins arbeiten bereits mit der Sammlung und
wertvollen Typus-Exemplare, an denen eine Art erstmals be-          lassen sich von ihr inspirieren.“

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Natur für alle

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                 museumfuernaturkunde.
                 berlin / veranstaltungen
Humboldts
                                                      steinerner Schatz
                                                      Feueropal, Malachit, Altait oder Rhodo-
                                                      nit: Wo Alexander von Humboldt auch
                                                      hinkam, sammelte er Gesteine und
                                                      Minerale – in Franken, Italien, Mexiko,
                                                      Peru und Russland, im Altai und im
                                                      Ural. Mehr als 1.100 Objekte gelangten
                                                      durch den Naturforscher ans Berliner
                                                      Museum für Naturkunde. Anlässlich
                                                      seines 250. Geburtstags präsentiert das
                                                      Haus erstmals ausgewählte Original-
                                                      objekte seiner Gesteins- und Mineral-
                                                      sammlung. Zur Humboldt-Intervention
                                                      im Mineraliensaal ist ein reich bebil-
Dieses Stück Cinnabarit                               dertes Buch erschienen, das all die Kost-
 sammelte Humboldt
  in Mexiko – und schrieb                             barkeiten vorstellt und dem Sammler
   das Etikett dazu.
    Cinnabarit, chemisch                              Alexander von Humboldt nachspürt.
     HgS und auch bekannt
      als Zinnober, ist
       stark quecksilber-                             Die Humboldt-Intervention ist noch bis
        haltig.
                                                      29. Februar zu sehen.

                                                      Das Buch „Alexander von Humboldt:
                            Foto: Hwa Ja-Götz / MfN

                                                      Minerale und Gesteine im Museum
                                                      für Naturkunde Berlin“ ist im
                                                      Museumsshop und im Buchhandel
                                                      für 34,90 Euro erhältlich.

                                                                         25
Federn, Felle
                                                                     und Glasaugen
                                                                     – die hohe Kunst
                                                                     der Präparation
                                  Wenn es
                                  dunkel wird                        Woher kommen die Tiere, die in
                                  Einmal im Monat öffnet das         den Ausstellungen gezeigt wer-
                                  Museum zu später Stunde.           den? Wie gelingt es, dass Zoo-
                                  Bei einer Abendführung zu
                                  aktuellen und wissenschafts-       tiere wie Eisbär Knut oder Gorilla
                                  historischen Themen erleben        Bobby noch viele Jahre nach ih-
                                  Besucherinnen und Besucher
                                  das Museum in kleiner Gruppe
                                                                     rem Tod so lebensecht aussehen?
                                  von einer wenig bekannten          Und wie wird man überhaupt Prä-
                                  Seite. Im Anschluss können         parator? Das Naturkundemuseum
                                  sie bei einem Getränk im
                                  Sauriersaal den Abend aus-         hat in seiner Geschichte Maß-
                                  klingen lassen.                    stäbe in der Präparationskunst
Bye, bye                          22.1., 19. 2., 18. 3.,             gesetzt – und führt dieses wich-
Tristan Otto!                     18 – 20 Uhr
                                                                     tige Erbe bis heute fort. Bei einer
                                                                     Führung durch die museums-
Vier Jahre lang begeisterte
                                  „Wissenschaft                      eigenen Präparationswerkstätten
Tristan Otto im Museum für
                                  im Sauriersaal“                    erleben Besucherinnen und
Naturkunde Berlin. Jetzt zieht
                                                                     Besucher ein Handwerk, das
das Skelett des Tyrannosaurus     Sie entführen in fremde Welten,
                                  lösen Rätsel der Natur, veran-     wahre Kunstwerke schafft, aber
rex weiter zum Staatlichen        schaulichen abstrakte Phäno-       meistens im Hintergrund bleibt.
Naturkundemuseum Dänemarks        mene aus den Lebens- und
in Kopenhagen. Junge und          Naturwissenschaften und ent-
                                                                     28.1., 27. 2., 24. 3.,
                                  werfen Lösungen für Probleme
ältere Tristan-Fans haben die     der Zukunft – die hochkaräti-      18 – 20.30 Uhr
Gelegenheit, sich bei einer       gen Wissenschaftlerinnen und
                                  Wissenschaftler der Veran-
großen Party zu verabschieden.    staltungsreihe „Wissenschaft
Danach beginnt der Abbau          im Sauriersaal“. Nach den
der fossilen Knochen. Die gute    Vorträgen können neugierige
                                  Gäste noch bis 22 Uhr exklusiv
Nachricht: In etwa zwei           die Ausstellung besuchen.
Jahren wird T. rex Tristan Otto   Die Vortragsreihe ist in Koope-
                                  ration mit der Humboldt-
wieder nach Berlin zurück-        Universität zu Berlin entstanden
kommen.                           und wird gefördert von der
                                  Berliner Sparkasse.
Tristan-Party am 25. und 26.1.,   17.1., 21. 2., 20. 3., 17. 4.,
10 – 18 Uhr (Eintritt frei)       19.30 – 22 Uhr

                                               26
Dürfen wir das?                                                                    Nimmt der Mensch
                            Was wäre, wenn wir Erbkrank-                                                       seine Evolution
                            heiten verhindern oder die                                                         selbst in die Hand?
                            Ausprägung bestimmter Eigen-
                                                                                                               Die Geburt erster gentechnisch
                            schaften durch Eingriffe in das
                                                                                                               veränderter Menschen im
                            menschliche Erbgut bestimmen
                                                                                                               November 2018 löste einen
                            könnten? Das Forschungsprojekt
                                                                                                               Sturm der Entrüstung aus.
                            ZukunftMensch lädt ein, gemein-
                                                                                                               Wollen wir, was wir können?
                            sam Gedankenexperimente zu
                                                                                                               Wo verlaufen die Grenzen
                            wagen, und gibt Einblicke in eine
                                                                                                               zwischen Therapie und geziel-
                            Welt, die durch Gentechnologien
                                                                                                               ter Verbesserung des Erbguts?
                            denkbar geworden ist.
                                                                                                               Das Forschungsprojekt
                            5. 2., 14 – 18 Uhr                                                                 ZukunftMensch lädt ein, diese
                                                                                                               Fragen mit einem interdiszi-
                                                                                                               plinären Podium zu disku-
                                                                                                               tieren. Im Anschluss können
                            Vorbild Natur                                                                      Besuchende verschiedene
                            Was können wir von der Natur                                                       Perspektiven auf Keimbahn-
                            lernen, um Probleme der Gegen-                                                     eingriffe interaktiv erkunden.
                            wart zu lösen? Bei einem Work-
                                                                                                               23. 3., 19 – 21.30 Uhr
                            shop mit exklusiver Abend-
                            führung lernen Jugendliche und
                            Erwachsene die Methode der
                                                                „Wissen schaf ft
                            Bioinspiration kennen und ent-
                            wickeln eigene kreative Ideen.
                                                                Durchblick“                                    Fridays for free:
                                                                                                               Offenes Museum für
                            16.1., 18.30 – 21.30 Uhr            Unter dem Motto „Wissen schafft
                                                                                                               Klimaaktivist*innen
                                                                Durchblick“ startet ab 2020 eine neue
                                                                                                               Das Museum für Naturkunde
                                                                Veranstaltungsreihe im Museum für              Berlin unterstützt den Dialog
                            Alles wird digital                  Naturkunde Berlin. Das Projekt ist in          zwischen Fridays For Future
                                                                                                               und der Wissenschaft. Seit
                            Die Sammlung des Natur-             Zusammenarbeit mit der Berliner                März können Jugendliche
                            kundemuseums wird digital.
                            Gäste können live dabei sein,
                                                                Sparkasse entstanden. Bei Podiums-             und junge Erwachsene in
                            wenn in der Digitalisierungs-       gesprächen und Impulsvorträgen tauschen        unterschiedlichen Formaten
                            straße Wespen, Bienen oder                                                         mit Wissenschaftlerinnen
                                                                sich renommierte Expertinnen und               und Wissenschaftlern des
                            Ameisen ins Datenzeitalter
                            gebeamt werden.                     Experten zu aktuellen Themen aus den           Museums sowie befreundeter
                                                                                                               Institutionen in Dialog treten,
                            Di – So, 11 –16 Uhr                 Bereichen Zukunft, Bildung, Risiko und         ihr Klimawissen vertiefen
                                                                Gemeinschaft aus. Ziel ist es, einer breiten   und ihre Argumente schärfen.
                                                                Öffentlichkeit mehr Durchblick bei             Schülerinnen und Schüler
                                                                                                               sowie begleitende Lehrkräfte
                            Kleine Entdecker                    naturwissenschaftlichen und wirtschaft-        und Studierende erhalten
                            Was lebt in einem Wasser-           lichen Themen zu verschaffen. Außerdem         freitags ab 13.30 Uhr freien
Fotos: Carola-Radke / MfN

                            tropfen? Und wie entstehen                                                         Eintritt. Als Nachweis gilt
                            Fossilien? An den Kinder-
                                                                sollen Bürgerinnen und Bürger eine             der Schüler- beziehungsweise
                            sonntagen im Museum können          Möglichkeit erhalten, sich an wissenschaft-    Studentenausweis.
                            die Kleinen von 8 bis 12 Jahren
                                                                lichen Diskursen beteiligen zu können.         Workshopreihe Klimawandel:
                            auf Entdeckungsreise gehen.
                                                                                                               10., 17., 24., 31.1.,
                            12.1. und 9. 2., 15 – 16.30 Uhr     20. 2. und 2. 4., 19.30 – 22 Uhr               14 – 16 Uhr

                                                                                    27
CItIzen SCienCe

      Wie Bürgerwissenschaftler*innen neues Wissen schaffen

                                                                     MitMACHen
                                                                Alle Projekte mit Bürger-
                                                                 wissenschaftler*innen
                                                                     finden Sie hier:
                     Aufgespürt und                                 buergerschaffen-
                     aufgenommen:
                     nachtigallen singen
                                                                        wissen.de
                     auch am tag.

                                                        text Carmen Schucker

Berlinert die                                           A
                                                                   uf die Nachtigall gekommen ist
                                                                   Daniela Friebel eher zufällig:
                                                                   Eine Freundin fragte sie, ob sie
                                                                   den Prototyp einer Sound-App

Nachtigall?                                             testen wolle. „Nachtigallen mit dem Han-
                                                        dy ausfindig machen, das klang amüsant“,
                                                        sagt Daniela Friebel. „Ich hatte allerdings
                                                        keine Ahnung, wie Nachtigallen singen, und
                                                        musste mir zuerst im Internet den Gesang
in den Parks leben tausende Singvögel.                  anhören.“ Das war vor drei Jahren. Heute
                                                        ist die Fotografin und Künstlerin eine von
Berlinerinnen und Berliner zeichnen ihren               Tausenden Bürgerwissenschaftler*innen,
                                                        die den „Forschungsfall Nachtigall“ am
Gesang auf – für die Wissenschaft                       Museum für Naturkunde unterstützen.

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NATURBLICK
                                                                                                      Vogelstimmen aufnehmen,
                                                                                                      Pflanzen bestimmen, Tiere
                                               Bürgerwissenschaftler*innen schaffen                  erkennen: Das alles kann die          Forscherteam gerade festgestellt, dass die
                                               auf vielfältige Weise neues Wissen: Ob                 kostenlose App Naturblick:           Daten von Bürger*innen helfen, die Nach-
                                               Mücken sammeln, den Sternenhimmel                        naturblick.naturkunde-             haltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu
                                               beobachten oder Feuersalamander foto-                        museum.berlin                  erreichen.
                                               grafieren – jeder kann die Arbeit von
                                               Wissenschaftler*innen unterstützen.
                                                    In der Nachtigall-Saison von Ende Ap-
                                                                                                                                           Citizen-Science-
                                               ril bis Anfang Juli trällern die Nachtigall-   des Projekts teilen. Anhand der Ortsan-      Festival 2020
                                               Männchen, um ihr Revier zu verteidigen         gaben untersuchen die Forschenden des
                                               und um Weibchen zu betören und sich            Teams dann, ob die Nachtigallen anders-      Die Plattform „Bürger schaffen Wissen“
                                               fortzupflanzen. Eine Flirt-Arie, die be-       wo wirklich anders singen als die Berli-     am Museum für Naturkunde Berlin ver-
                                               sonders gut des Nachts zu hören ist, wenn      ner Vögel. Gefördert wird das Projekt vom    netzt die Szene in Deutschland. In Berlin
                                               der restliche Vogelchor verstummt; Nach-       Bundesministerium für Bildung und For-       gründete sich gerade die Arbeitsgemein-
                                               tigallen singen aber auch am Tag, um ihr       schung.                                      schaft Citizen Science Berliner Raum.
                                               Revier zu verteidigen.                             Über 1.500 meist Berliner Bürger*innen   Darüber hinaus hat das Museum die
                                                    Anders als bei anderen Vogelarten sind    haben im Frühjahr 2018 bereits die Liebes-   Bürgerwissenschaftler*innen aus ganz Eu-
                                               regionale Unterschiede im Nachtigall-          lieder der in der Hauptstadt vorkommen-      ropa dabei unterstützt, ein internationales
                                               Gesang unerforscht. Singt die Nachtigall       den Nachtigallen dokumentiert. Deutsch-      Netzwerk aufzubauen. Nächstes Jahr lädt
                                               (Luscinia megarhynchos) in Dialekten?          landweit kamen Daten von über 2.000          das Museum anlässlich der deutschen EU-
                                               Damit die Forscher*innen am Museum             Bürgerforscher*innen. So kamen über          Ratspräsidentschaft zu einer internatio-
                                               eine Antwort auf diese Frage finden,           1.500 neue Strophentypen zu dem bisher       nalen Citizen-Science-Konferenz ein. Für
                                               werden sie deutschlandweit von Hobby-          wissenschaftlich bekannten Gesangs-          Bürger*innen wird es ein Citizen-Science-
                                               forschenden, auch Bürgerforscher*innen         repertoire hinzu, das die Liebeslieder       Festival geben.
                                               genannt, unterstützt. Einziges Hilfsmittel     der Nachtigall-Männchen ausmacht: Im              Erste Ergebnisse aus dem Forschungs-
                                               ist die am Museum für Naturkunde entwi-        Durchschnitt haben sie ein Repertoire von    fall Nachtigall zeigen, dass es einige Stro-
                                               ckelte, kostenlose App „Naturblick“, mit       190 individuellen Strophentypen.             phentypen gibt, die besonders häufig in
                                               der sich der Gesang aufzeichnen lässt.             Die etwa 3.000 Berliner Nachtigallen     Berlin gesungen werden. Dies könnte
                                               „Naturblick“ wird vom Bundesministeri-         leben meist in Parkanlagen. Als Boden-       bedeuten, dass die Nachtigall tatsächlich
                                               um für Umwelt, Naturschutz und nukle-          brüter mögen sie dichte Büsche mit liegen    berlinert.
                                               are Sicherheit gefördert.                      gelassenem Laub zum Bauen des Nests.              Und Daniela Friebel? Sie ist Nachtigall-
                                                                                              Überpflegte, aufgeräumte Gärten meiden       Fan und -Expertin zugleich. Immer, wirk-
                                                                                              sie. Ein Geheimtipp der Hobbyforscherin      lich immer hört sie, wenn eine Nachtigall
                                               Hauptstadt                                     Friebel: „Am besten in der Nähe von          ihr Lied anstimmt.
                                               der Nachtigallen                               dichtem, schwer zugänglichem Gebüsch
                                                                                              suchen. Ich empfehle, sich nachts auf        Verstehen die Nachtigall:
                                               „Berlin ist die Hauptstadt der Nachtigal-      dem Heimweg mit dem Fahrrad durch            Silke Voigt-Heucke
                                                                                                                                           (links) und Daniela Friebel
                                               len“, verrät Silke Voigt-Heucke, Leiterin      die Stadt treiben zu lassen. Am Platz der    (rechts).
                                               des Citizen-Science-Projekts Forschungs-       Luftbrücke stieß ich auf ein Nachtigall-
                                               fall Nachtigall. Im Rahmen des Projekts        Männchen, das sein Lied anstimmte.“
                                               sind in den letzten beiden Jahren über             Projekte wie der Forschungsfall Nach-
                                               7.000 Nachtigallgesänge aus 14 europäi-        tigall locken Laien an und werden in Zu-
Fotos: Daniela Friebel, Pablo Castagnola (2)

                                               schen Ländern gesammelt worden.                kunft immer wichtiger. Denn es gibt eine
                                                   Lautes Schluchzen, Pfeifgeräusche          Reihe von Datenlöchern, die so geschlos-
                                               und ein schlagender Trill: Der Nachtigall-     sen werden können. Neben Nachtigall-
                                               Gesang sei in seiner Struktur und Varia-       Beobachtungen kann es um das Messen
                                               bilität unverwechselbar, so Voigt-Heucke.      der Verschmutzung von Gewässern oder
                                               Mit einem automatischen Mustererken-           der Luftqualität weltweit gehen. „Das Po-
                                               nungsalgorithmus identifiziert die App         tenzial von Citizen Science ist riesig, da
                                               den Gesang. Auf Wunsch anonym können           Bürger*innen unmittelbar vor Ort Daten
                                               Bürgerforschende den Gesang aufzeich-          erheben können“, sagt Maike Weißpflug,
                                               nen und anschließend mit automatischer         Sozialwissenschaftlerin am Museum. Sie
                                               Orts- und Zeitangabe mit der Datenbank         hat gemeinsam mit einem internationalen

                                                                                                                29
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