FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com

Die Seite wird erstellt Hortensia Bühler
 
WEITER LESEN
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

FUSSBALL FÜR ALLE
DEUTSCHE AUSGABE                  FIFA.COM/MAGAZINE   MÄRZ 2018
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
The FIFA Diploma in Football Medicine

Learn | Research | Prevent | Engage
The FIFA Diploma in Medicine is a free online course and        Visit a single page, study individual modules or complete
global online medical network designed to help anyone learn     the entire course. There are also regular news stories, blogs,
how to diagnose and manage common football-related injuries     webinars and a chat forum where you can “learn, research,
and illnesses. The course comprises 42 modules on different     prevent and engage” in football medicine with other users.
football medicine topics, including sudden cardiac arrest,      Register now, start learning and join our international
anterior cruciate ligament (ACL) tears and injury prevention.   football medicine community.
No pre-existing sports medicine knowledge is required.
                                                                fifamedicinediploma.com
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
BRIEF EINER FIFA-LEGENDE

                                                Liebe Leserinnen und Leser von FIFA 1904,        Meine Vorbilder waren alles Männer, weil
                                                                                                 es damals noch keine weiblichen Stars gab,
                                                mein grosser Bruder spielte Fussball, und ich    denen man nacheifern konnte. Dass ich nun
                                                als kleine Schwester wollte mit ihm und          neben all den Männern auch eine FIFA
                                                                                                                                        -
                                                seinen Freunden zusammen sein, was hiess,        Legende bin, ist ein starkes Signal an die
                                                dass ich Fussball spielen musste.                nächste Generation und zeigt, dass der
                                                                                                 Fussball wirklich allen offensteht – ungeachtet
                                                Jede freie Minute verbrachten wir in einem       von Geschlecht, sexueller Orientierung, Rasse
                                                Fussballkäfig, der unser Wembley war. Wir        und Glauben.
                                                spielten stundenlang und vergassen darob
                                                die Zeit – so versunken waren wir im Spiel.      Als FIFA Legende ist es meine Pflicht, diese
                                                                                                         -
                                                                                                 Botschaft zu vermitteln, dem Sport etwas
                                                Damals wie heute will ich jeden Moment           zurückzugeben und Kinder und Jugendliche
                                                geniessen. Ich kann mich noch gut an die         dazu zu motivieren, selbst zu spielen und von
                                                Zeit in meinem heiss geliebten Käfig erinnern.   all den positiven Elementen des Fussballs zu
                                                Unvergessen sind auch meine erste Welt­          profitieren.
                                                meisterschaft und mein letztes Spiel für
                                                England. Wie mein Vorbild – der ehemalige        Als FIFA Legenden müssen wir uns für
                                                                                                         -
                                                Arsenal Star Ian Wright – spielte ich immer      positive Veränderungen einsetzen – wann
Alexander Hassenstein / FIFA via Getty Images

                                                       -
                                                mit einem Lächeln im Gesicht, weil ich wusste,   und wo immer möglich.
                                                dass ich das unheimliche Glück hatte, meinen
                                                Traum zu leben und weltweit auf höchster         Mit herzlichen Grüssen
                                                Ebene Fussball zu spielen.                       Alex Scott

                                                                                                                                                   FIFA 1904 /   1
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
INHALT

                                                 GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION
                                                  8 Pascal Erlachner ist der erste Schweizer Spitzenschiedsrichter,

                                                      
                                                    der sich zu seiner Homosexualität bekennt. Wir haben ihn
                                                    getroffen.

                                                 16 Die junge somalische Flüchtende Fatuma schildert uns, wie die

                                                      
                                                    gemeinnützige US-amerikanische Organisation Soccer Without
                                                    Borders ihr Leben veränderte.

                                        8        22 Die FIFA hat in Bezug auf Gleichstellung und Barrierefreiheit

                                                      
                  32                                einiges erreicht. Wenige Monate vor der FIFA Fussball-

                                                                                                            ­
                                                    Weltmeisterschaft 2018™ in Russland bieten wir eine
                                                    Übersicht.

                                                 28 Fara Williams, englische Rekordnationalspielerin, war lange

                                                      
                                                    obdachlos. Wir haben mit ihr über jene Zeit gesprochen.

                                                 32 Die Engländerin Joyce Cook ist auf den Rollstuhl angewiesen.

                                                      
                                                    Im Gespräch erzählt die FIFA-Direktorin Mitgliedsverbände
                                                    von sich und ihrer Arbeit.

                                                 35 Die FIFA veranstaltet seit einigen Jahren Konferenzen zu
                                                      
                                                    Gleichstellung und Integration. Wir erinnern an die wichtigsten
                                                    Aussagen der Teilnehmer.

                                                 36 Der frühere malische Nationalspieler Frédéric Kanouté hat für
                                      28
                                                      
                                                    grosse europäische Klubs gespielt. Heute verfolgt er mit seiner
                                                    Stiftung humanitäre Ziele. Ein Gespräch.

                                                                                                                      Ruben Hollinger, Harry Borden/Getty Images, Ben Moreau/FIFA, KanouteFoundation.com

                                      36
                                                                        TITELBILD
                                             Unser Titelbild zeigt links die englische
                                    Rekordnationalspielerin, Fara Williams, als noch
                                junge Fussballerin, in der Mitte Cristiano Ronaldo in
                                 einem berührenden Moment mit einem Einlaufkind
                                 und rechts den früheren Profi Frédéric Kanouté, der
                                                   sich für soziale Anliegen einsetzt.
                                         Foto: Lukas Schulze/FIFA via Getty Images.

2   / FIFA 1904
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
FUSSBALL IM BILD
                                                       40                                                                         4 BILDER DES MONATS: Kinder in Guinea-Bissau beim

                                                                                                                                     
                                                                                                                                    Tischfussball – Kylian Mbappé überreicht einem Jungen
                                                                                                                                    sein Shirt.

                                                                                                                             26 EIN AUGENBLICK: Fussballturnier der Gefängnisinsassen,

                                                                                                                                     
                                                                                                                                Luzira bei Kampala, Uganda

                                                                                                                    26       40 ERSTE LIEBE: Homs, Syrien

                                                                                                                             47 PANINI: Diego Forlán

                                                                                                                             54 ZEITSPIEGEL: von Köln nach Moskau

                                                                                                                             58 FOTOARCHIV: der uruguayische Weltmeister Héctor

                                                                                                                                     
                                                                                                                                Castro (Montevideo, 30. Juli 1930)

                                                                                                  47

                                                       56   WELT DES FUSSBALLS
                                                            43 DAS WORT DES PRÄSIDENTEN: „Es braucht eine                    44 FIFA-NACHRICHTEN UND FIFA/
                                                                
                                                                                                                                     
                                                               Revolution im Fussballtransfersystem“, schreibt Gianni           COCA-COLA-WELTRANGLISTE DER MÄNNER
                                                               Infantino in seiner Kolumne. „Die Zahl der Spieler, die ein
                                                               Verein unter Vertrag haben darf, muss daher begrenzt          48 NACHRICHTEN AUS DEN FIFA-MITGLIEDSVERBÄNDEN
                                                               werden, ebenso die Höhe der Gehälter im Fussball.“
                                                                                                                             56 LAUFBAHN EINER FIFA-LEGENDE: Marta
                                                                                                                                     
                                                                                                                             61 CARTOON: Mordillo

                                                                                                                             62 INNOVATIONEN: Barrierefreiheit in den russischen
                                                                                                                                WM-Stadien
Frederic Noy/Cosmos, KEYSTONE, Getty Images (2), LOC

                                                                                                           62
                                                                                                                             63 FANS: Wie konsumieren Sie Fussball?

                                                                                                                             64 IMPRESSUM/VORSCHAU

                                                                                                                                                                          FIFA 1904 /       3
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
BILDER DES MONATS

Westafrika
Im Februar erreichen die Temperaturen in Guinea-Bissau mehr als 35 Grad Celsius.
Bei dieser Hitze ist dann auch mal eine Pause angebracht. Aber Pausieren heisst
nicht Ruhen – zumindest bei den Kindern nicht. Diese Aufnahme ist am Nachmittag
des 13. Februar 2018 entstanden. Tischfussball, starke Unterarme, dosiertes
Schwitzen im Halbschatten. Und selbst wenn Paul Pogba die Haare mittlerweile in
Rosa trägt: Die dreifache Frisuren-Show für die beiden Mädchen stimmt.
Foto: Sebastien Bozon / AFP
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
FIFA 1904 /   5
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
BILDER DES MONATS

Ein Herz für Kinder
Kylian Mbappé, Stürmer der französischen Nationalmannschaft und bei Paris Saint-Germain,
überreicht nach dem 4:1-Sieg in der Pokalpartie gegen den FC Sochaux am 6. Februar 2018
sein PSG-Klubshirt einem Jungen. Foto: Sebastien Bozon / AFP
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
FIFA 1904 /   7
FUSSBALL FÜR ALLE - FIFA.com
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

           RAUS AUS
               DEM
           FALSCHEN
            FILM
                  Der 37-jährige Pascal Erlachner steht als erster Spitzen-
                  schiedsrichter der Schweiz zu seiner Homosexualität.
                  Im Männerfussball erfordert das Outing immer noch
                  sehr viel Mut.
                  Von Alan Schweingruber (Text) und Ruben Hollinger (Fotos)

                                                                              Wieder im Hier und Jetzt
                                                                           Schiedsrichter Pascal Erlachner
                                                                          beendete mit seinem Outing ein
                                                                             aufwühlendes Doppelleben.

8   / FIFA 1904
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

10   / FIFA 1904
Isoliert Abends zu Hause, sagt Pascal Erlachner, hätten ihn die Einsamkeit und Traurigkeit aufgefressen.

Es macht Eindruck, wenn sich jemand wie         gewöhnlich ist eine Meldung im 21. Jahr­              Die Schwierigkeit darin besteht, beide
der Terminator für eine aussergewöhnliche       hundert, die besagt, dass lesbische und               Welten, die richtige und die falsche,
Sache einsetzt. Man sieht ihn auf dem Bild      schwule Paare heiraten dürfen? Wie                    wieder zusammenzuführen. Nur: Wie
mit dem gewohnten Bürstenschnitt, der           aussergewöhnlich wäre es, wenn sie es                 macht man sowas?
Lederjacke, dem Gewehr auf der rechten          nicht dürften? Und warum werden homo­
Schulter natürlich, alles wie im Film eben.     sexuelle Menschen in ihrem Tun einge­                 Es ist nicht die Frage nach dem Wie,
Und trotzdem ist an der Aufnahme etwas          grenzt? Was dürfen sie, was nicht?                    sondern nach dem Wann. Den Master­
anders: Das Bild ist in den Regenbogen­                                                               plan für das Outing gibt es nicht. Es ist
farben gefärbt.                                 Pascal Erlachner wusste lange nicht, was              wie beim Lügen, bei dem man sich hinter­
                                                er darf und was nicht. Schwul zu sein,                her schlecht fühlt. Man möchte alles
Arnold Schwarzeneggers Botschaft im             war das eine. Seine sexuelle Orientierung             wieder richtigstellen. Das erfordert den
amerikanischen Sommer 2015 war ein­             der Familie und den Freunden mitzutei­                Sprung ins kalte Wasser. Man entblösst
deutig. Er bekannte sich mit seiner Aktion      len, das andere. Ein Teufelskreis. Hat man            sich binnen Sekunden, mit ein paar
für die im US Gesetz frisch verankerte          sich einmal dafür entschieden, alles                  Worten vielleicht, mit einem Telefonat.
             -
gleichgeschlechtliche Ehe. Und wer schon        geheim zu halten, bleibt – sofern man                 Oder einer Textnachricht. „Ich war dreis­
konnte dieses Statement auf Facebook            seine Liebesbedürfnisse nicht auch noch               sig Jahre alt und konnte nicht mehr“,
glaubwürdiger an die Leute bringen als          unterdrücken möchte – nur noch das                    erzählt Erlachner bei unserem Treffen in
des Schauspielers bekannteste Fratze aus        Doppelleben. Doppelleben sind nerven­                 Zürich. „Diese Traurigkeit und diese
Hollywood … Ein Roboter, der für die            aufreibend und ermüdend. Bei Pascal                   Einsamkeit haben mich aufgefressen.“
Liebe einsteht. Besser geht’s nicht.            Erlachner war es eines mit zwei Handys.               Eines Abends, sagt er, habe er seinen
                                                Eines mit nächtlichen Ausflügen in                    Eltern einfach eine Textnachricht ge­
Und doch drängen sich bei Debatten              Schwulenklubs, in fremde Städte. Immer                schickt. Sie seien sofort zu ihm nach
dieser Art immer auch ein paar grundsätz­       mit den Gefühlen und Gedanken, die nur                Hause gefahren und hätten ihn umarmt.
liche Fragen auf. Zum Beispiel: Wie ausser­     ihm gehörten.                                         „Es war raus. Endlich.“

                                                                                                                                       FIFA 1904 /   11
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

Pionier Das öffentliche Outing von Erlachner – hier beim Fotoshooting auf dem Fussballfeld
des FC Olten – hallt bis heute nach. Die Liste mit Textnachrichten auf dem Handy ist lang.
KLISCHEES KAUM TOTZUKRIEGEN                    Festgefahrene Vorstellung ... Andererseits
RÜCKTRITT NACH
                                             Dieses Wort „endlich“ wäre gerade in           gibt es in einer schwulenfeindlichen Welt
OUTING IN SPANIEN
                                             Sachen Akzeptanz von homosexuellen             kaum Grenzen im verbalen Bereich. Das
Grosses Aufsehen erregte im Jahr 2015        Fussballern ein gern gelesenes Wort.           Adjektiv „schwul“ sitzt bei vielen Fans und
das Outing des homosexuellen Schieds-        Endlich, endlich! Endlich werden schwule       Spielern locker, wenn es darum geht, sich
richters Jesús Tomillero – allerdings        Spieler und schwule Schiedsrichter im          über jemanden lustig zu machen oder
nahm die Geschichte aus Spanien ein          Fussball respektiert und toleriert. Es geht    eine misslungene Aktion zu bewerten.
erschreckend trauriges Ende. Die Auf-        doch letzten Endes darum, wie gut je-          Man kann sich vorstellen, wie den Homo-
merksamkeit war Tomillero zwar landes-       mand pfeift oder spielt, und nicht, mit        sexuellen zumute ist, wenn sie sich die
weit gewiss, die Resonanz grösstenteils      wem er ins Theater geht oder eine Familie      unsinnigen Sprüche anhören müssen.
positiv. Er gab Interviews, trat in Talk-    gründet. In anderen Berufsfeldern begeg-
shows auf, und man konnte glauben,           net man der Homosexualität seit Jahr-
dass der Andalusier es vielleicht schaffen   zehnten entspannt. Bekennt sich etwa ein
                                                                                            IN ANDEREN BERUFSFEL-
würde, dass die Homosexualität im            Schauspieler oder ein Musiker zu seiner
Fussball eine gewisse Akzeptanz erlang-      Homosexualität, interessiert das im besten
                                                                                            DERN BEGEGNET MAN
te. Doch als der junge Schiedsrichter        Fall ein paar verträumte Groupies. Und         DER HOMOSEXUALITÄT
(damals 21 Jahre alt) kurz nach seinem       selbst die haben die Neuigkeit bald ver-       SEIT JAHRZEHNTEN ENT-
Outing wieder Fussballspiele leitete,
wurde er von einem Materialwart und
                                             gessen. Dann nämlich, wenn sie merken,
                                             dass der Star auf der Bühne oder vor der
                                                                                            SPANNT. BEKENNT SICH
später von Zuschauern beleidigt und          Kamera nach dem Outing der gleiche             ETWA EIN SCHAUSPIELER
beschimpft. Danach trat Tomillero als        geblieben ist. Als Elton John 1976 dem         ODER EIN MUSIKER ZU
Schiedsrichter zurück. Er ertrage die        Rolling-Stones-Magazin sagte, dass er sich     SEINER HOMOSEXUALI-
Respektlosigkeit nicht mehr, sagte er.       zu Männern hingezogen fühle, war das
                                             Thema in drei Tagen durch. Und das war
                                                                                            TÄT, INTERESSIERT DAS IM
                                             vor 42 Jahren …                                BESTEN FALL EIN PAAR
                                                                                            VERTRÄUMTE GROUPIES.
                                             Im Fussballgeschäft aber hat man immer
                                             noch das Gefühl, dass die sexuelle Orien-
                                             tierung etwas zur Sache tut. Es fragt sich,    Wenn man mit Pascal Erlachner über
                                             welche Prinzipien da mitspielen. Offenbar      solche Szenen redet, wirkt er erstaunlich
                                             solche wie: Ein Fussballer, der Männer         gelassen. Das hängt wohl damit zusam-
                                             liebt, sollte sich nicht mit heterosexuellen   men, dass er sich schon seit Jahren inten-
                                             Fussballern messen, er sollte sich wahr-       siv mit dem Thema beschäftigt. Er habe
                                             scheinlich auch nicht in derselben Umklei-     früher einfach mitgelacht oder selbst
                                             dekabine umziehen. Es ist, als bliebe der      Sprüche gemacht, um nicht aufzufallen.
                                             gute alte Fussball eingehüllt und gefangen     Aber abends zu Hause sei dann alles
                                             in seinen rückständigen alten Ansichten.       hochgekommen. Wut, Ärger, Traurigkeit.
                                             Klischees? Sie sind meist kaum totzu           „Im Fussball ist die Angst vor der Ableh-
                                                                                    ­
                                             kriegen. Als „eine festgefahrene Vorstel-      nung sehr gross. Da fängt man halt an,
                                             lung“ beschreibt das Wörterbuch diesen         sich zu verstellen und den Teamkollegen
                                             Begriff.                                       etwas vorzuspielen.“

                                                                                                                          FIFA 1904 /   13
FIFA PARTNER
„Alles Gratulationen!
        Ist das nicht toll?“

     HUNDERTE VON TEXTNACHRICHTEN
     Nachdem er sich seinen Eltern und Freun-
     den gegenüber geöffnet hatte, dauerte es
     weitere sieben Jahre, bis Erlachner seine
     Homosexualität publik machte. Das war
     letztes Jahr kurz vor Weihnachten. Erst
     schrieben die Zeitungen davon, nationale
     und internationale. Dann brachte das
     Schweizer Fernsehen eine einstündige
     Reportage über den 37-jährigen Sport
                                                ­
     lehrer. Das Echo? Überwältigend. Erlachner
     zückt das Handy und zeigt die vielen
     Nachrichten auf dem Display. Dazu:
     lachende Emojis, hochgestreckte Daumen,
     pochende Herzchen. Erlachner streicht mit
     dem Zeigefinger langsam von unten nach
     oben, immer wieder, denn die Liste ist
     lang. „Alles Gratulationen. Ist das nicht
     toll?“ Er lächelt, nimmt einen Schluck von
     seinem Tee und lehnt sich zurück. Erlachner
     lebt authentisch. Sein falsches Leben gibt
     es nicht mehr.

     Im Kino schon. Ein bisschen zumindest.
     Denn der Spielfilm „Mario“, soeben in der
     Schweiz angelaufen, erzählt die Geschich-
     te eines jungen Fussballers, der sich in
     einen Teamkameraden verliebt – und so
     seine Chance, Profifussballer zu werden,
     aufs Spiel setzt. Das erinnert natürlich an
     Erlachner und sein Doppelleben. An die
     alten Klischees auch, die die Gesellschaft
     nun endlich begraben müsste. Hasta la
     vista, baby.

                                                    Homosexualität
                                                    im Fussball Die
                                                    Angst vor der Ab -
                                                                    ­
                                                    lehnung sei gross,
                                                    sagt Erlachner, der
                                                    sich kurz vor Weih-
                                                                        ­
                                                    nachten 2017 in
                                                    den Medien outete.

                                                                            FIFA 1904 /   15
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

Fatuma Die 20-jährige Somalierin hat nach ihrem Umzug in die USA die Liebe für den Fussball entdeckt.
„FUSSBALL
BESITZT DIE
KRAFT, MEN-
 SCHEN ZU
 VEREINEN“
  Die Somalierin Fatuma kam mit 14 Jahren in die USA.
     Durch die Organisation Soccer Without Borders
       erhielt sie spielerische Unterstützung bei der
          Integration – und eine zweite Familie.
   Von Annette Braun (Text) und, in Oakland, Eric Kayne (Fotos)
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

                                 Fatuma bewegt sich mit einer Sicherheit
                                 und Zielstrebigkeit durch die Anlage von
                                 Soccer Without Borders in Oakland, die
                                 erahnen lässt, dass die junge Frau jeden
                                 Winkel und jeden Strauch der Organisation
                                 kennt, die durch Fussball gesellschaftliche
                                 Grenzen aufbrechen möchte. Mädchen
                                 und Jungen, die sie freudig begrüssen,
                                 kreuzen Fatumas Weg, und sie schenkt
                                 ihnen ein strahlendes Lächeln. Man kennt
                                 sich hier nicht nur, man schätzt einander.
                                 „Wir gehören zusammen“, sagt sie stolz.

                                 Fatuma ist Somalierin und 20 Jahre alt.
                                 Aufgewachsen ist sie mit ihrer Mutter und
                                 ihren fünf Geschwistern in einem Flücht­
                                 lingslager in Kenia, das nur wenig gemein
                                 hat mit der Stadt im Sonnenstaat Kaliforni­
                                 en, die sie seit sechs Jahren ihre Heimat
                                 nennt. „Das Leben war hart, aber ich habe
                                 das damals nicht so gespürt, da ich mir um
                                 nichts Sorgen machen musste“, schildert
                                 sie jene Zeit. 23 Jahre hat ihre Familie in
                                 dem Lager verbracht, Fatuma die ersten
                                 14 Jahre ihres Lebens. Der Fussball spielte
                                 dort für sie eine eher untergeordnete Rolle.
                                 „Ich habe hin und wieder mit meinen
                                 Brüdern gespielt. Mehr aber auch nicht.“

                                 Während Fatuma nun über das Trainings­
                                 gelände von Soccer Without Borders läuft,
                                 sieht die Sache dagegen ganz anders aus.
                                 Fussball hat einen grossen Platz in ihrem
                                 Leben eingenommen. „Ich glaube fest
                                 daran, dass der Fussball die Kraft besitzt,
                                 Menschen aus der ganzen Welt zu ver­
                                 einen. Man muss nicht dieselbe Sprache
                                 sprechen, um beim Fussball miteinander
                                 kommunizieren oder einander verstehen
                                 zu können.“

                                 „FUSSBALL – WARUM NICHT?“
                                 Fatuma hat den Fussball lieben gelernt. Als
                                 sie 2012 in die USA kam, wurde er zu
                                 ihrem grossen Hobby, das sie seitdem
                                 leidenschaftlich verfolgt. Sie unterstützt
                                 Real Madrid und verpasst keine Partie der
                                 Königlichen. Vom Anpfiff bis zum Abpfiff
fiebert sie vor dem Fernseher mit. Und            Borders. „Willst du die erste Somalierin          ALS SPORTLER UND MENSCH WACHSEN
während sie mal wieder bei einem Spiel            sein, die bei uns aktiv ist?“, fragte er sie.     Die Mädchen sind eng zusammengewach-
ihres Lieblingsteams auf der Couch sass           „Da konnte ich gar nicht anders, als zu           sen und haben ein gemeinsames Mantra
und gebannt auf den Bildschirm blickte,           nicken“, sagt Fatuma augenzwinkernd.              entwickelt. „Egal, wie oft wir verloren
fragte sie ihre Mutter, ob sie denn nicht         Auch wenn sie sich ob ihrer fussballeri-          haben oder gestrauchelt sind, niemals
selbst spielen dürfe. Sie wollte zumindest        schen Fähigkeiten nicht sicher war. „Ich          haben wir aufgegeben oder waren wir
versuchen, die Kunststücke, die die König-        habe Ben erklärt, dass ich nicht gut bin,         verärgert, denn wir wussten, dass wir aus
lichen auf den Rasen zauberten, zu imitie-        aber er entgegnete, dass es nicht darum           den Fehlern lernen und stärker zurück-
ren. Ihre Mutter entgegnete: „Warum               gehe, sondern um den Spass, den man               kommen werden.“
nicht? Spiele und geniesse es.“                   beim Fussball in der Gemeinschaft habe“,
                                                  berichtet Fatuma. „Da wusste ich: Fussball        Aus dem schüchternen Mädchen ist eine
Fatuma war zunächst schüchtern, hatte sie         passt zu mir!“                                    selbstbewusste junge Frau geworden, die
doch all ihre Freunde im Lager in Kenia                                                             das Programm von Soccer Without
zurückgelassen. Und sie beherrschte die           Bei Soccer Without Borders traf Fatuma            Borders erfolgreich durchlaufen hat. Der
Sprache noch nicht. Das machte sie nervös         auf Mädchen in ihrem Alter. Sie kamen             Fokus lag dabei natürlich auf dem
– sowohl in der Schule als auch auf dem           aus verschiedenen Ländern und hatten              Fussball, der die Integration erleichtern
Spielfeld. Doch ihre Zurückhaltung dauerte        eine eigene Geschichte. Sie sprachen alle         sollte. Gleichzeitig half die Organisation
nicht lange an. Durch den Fussball entwi-         eine andere Sprache, hatten einen diver-          aber auch beim Erlernen der neuen
ckelte sich ihre Persönlichkeit, und sie lernte   gierenden kulturellen Hintergrund und             Sprache und Kultur und bot schulische
nicht nur für sich allein, sondern im Team.       sich unterscheidende Religionen, an die           Hilfe. Die Absolventen – fast die Hälfte
                                                  sie glaubten. Aber sie vereinte die Tatsa-        davon sind weiblich – sollen nicht nur als
Ihr Trainer zu jener Zeit war Ben Gucciar-        che, dass sie Immigranten waren. Und              Sportler, sondern auch als Menschen
di, der Gründer von Soccer Without                dass sie Fussball spielen wollten.                wachsen.

Mehr als nur ein Fussballteam Die Teilnehmer des Soccer-Without-Borders-Programms halten auch abseits des Rasens fest zusammen.

                                                                                                                                   FIFA 1904 /   19
Neuland Viele der Teilnehmerinnen haben noch nie zuvor einen Sport ausgeübt.

Die Bilanz klingt vielversprechend:               Fatuma assistiert nun beim Coaching der      dekabine. Und da ist es wieder, dieses
95 Prozent der Teilnehmenden schaffen             U-12- und U-14-Mädchen und bietet sich       unnachahmliche Lächeln, das zeigt:
ihren Abschluss – auch Fatuma. Sie hat die        zum Beispiel auch an, die Teilnehmerinnen    Fatuma hat einen treuen Begleiter gefun-
Highschool beendet und geht jetzt aufs            von zu Hause abzuholen, um sie zum           den, der sie antreibt, inspiriert und glück-
College. Ihr grösster Wunsch ist es, Kran-        Trainingsgelände zu fahren. Sie resümiert:   lich macht: den Fussball. Und mit ihm ist
kenpflegerin zu werden und Menschen zu            „Das Fussballteam ist für mich viel mehr     sie in den USA, in Oakland und in ihrem
helfen. Sie beabsichtigt ausserdem, sich          als nur ein Team. Ich betrachte es als       neuen Leben angekommen.
weiterhin bei Soccer Without Borders              meine Familie. Ich habe damit jetzt nicht
einzubringen. „Die Organisation kreiert           nur eine Familie, sondern zwei.“ Sie
etwas Aussergewöhnliches. Ich bin so              sammelt die Bälle ein, umarmt die Mäd-
dankbar, was sie mir geschenkt hat, und           chen, die gerade ihr Training beendet
möchte etwas zurückgeben.“                        haben, und begibt sich Richtung Umklei-

 FUSSBALL FÜR DEN WANDEL
                       Soccer Without Borders nutzt das Potenzial des Fussballs, um mithilfe von Trainern und Mentoren
                       Jugendliche zu fördern und sie in eine sichere, unterstützende Teamgemeinschaft zu integrieren.

                       Die gemeinnützige US-amerikanische Organisation Soccer Without Borders (SWB) setzt Fussball als Mittel für
                       positive Veränderungen ein und stellt benachteiligten Jugendlichen Werkzeuge zur Verfügung, damit sie Hindernis-
                       se beim Wachstum, bei der Integration und der persönlichen Entwicklung überwinden können. Der Schwerpunkt
                       liegt dabei auf der Vermittlung von Werten wie Dialog, Verständnis und Freundschaft. Das Ziel ist es, den dring-
                       lichsten Bedürfnissen junger Menschen weltweit gerecht zu werden, ohne dabei jedoch die Individualität ausser
                       Acht zu lassen.

                       Seit der Gründung 2006 hat SWB Programme in zwölf Ländern durchgeführt, die derzeit in fünf Städten in den
                       Vereinigten Staaten sowie in Nicaragua und Uganda operieren. Im vergangenen Jahr wurde SWB mit der FIFA-Aus-
                       zeichnung für Vielfalt geehrt, der die Bedeutung des Kampfes gegen Ausgrenzung und Diskriminierung hervorhebt
                       und eine herausragende Organisation, Gruppeninitiative oder Persönlichkeit würdigt, die sich für Vielfalt und
                       Antidiskriminierung im Fussball einsetzt.

                                                                                                                              FIFA 1904 /   21
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

WELTOFFEN IN
RUSSLAND
Die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft            ethnischer, nationaler oder sozialer Her-    Falls dies nicht geschieht, können die
Russland 2018™ klopft an die Tür der           kunft, Geschlecht, Behinderung, Sprache,     Schiedsrichter das Spiel für eine weitere
Welt. Mit ihr verbreiten sich allseits nicht   Religion, politischer oder sonstiger An-     Durchsage erneut unterbrechen und
nur die Diskussionen um Stadien, Stars         schauung, Vermögen, Geburt oder sonsti-      notfalls abbrechen.
und sportliche Stärken. Rund um internati-     gem Stand, sexueller Orientierung oder
onale Medienartikel um das Turnier             einem anderen Grund.“                        Zusätzlich zu zahlreichen Sicherheitsmass-
blinken ab und an auch Fragezeichen auf,                                                    nahmen, die eine Prüfung von Zuschauer-
wenn es um Antidiskriminierung geht.           SPIELBEOBACHTUNGSSYSTEM FÜR                  bannern vor dem Spiel, direkte Anspra-
                                               ANTIDISKRIMINIERUNG                          chen von Zuschauern im Stadion, das
Sortiert man jedoch die Informationen und      Zahlreiche Massnahmen für Vielfalt und       Abhängen von diskriminierenden Bannern
Meinungen und stellt ihnen Fakten über         Antidiskriminierung erfahren 2018 ihr        aller Art, Stadiondurchsagen und individu-
die Massnahmen der FIFA und des lokalen        Weltmeisterschaftsdebüt.                     elle Stadionverweise vorsehen, gibt es das
Organisationskomitees (LOC) gegenüber,         Dabei erweitert die FIFA den Ansatz, der     Spielbeobachtungssystem für Antidiskrimi-
wandeln sich Fragezeichen schnell zu           sich bereits beim FIFA Konföderationen-      nierung. Unter der Leitung der erfahrenen
Ausrufezeichen.                                Pokal Russland 2017 bewährt hat. Dank        Organisation FARE Network stehen bei
                                               dem dreistufigen Verfahren für Schieds-      allen Spielen speziell geschulte Spielbeob-
Das Aktionennetz der FIFA zur WM in            richter kann ein Spiel bei diskriminieren-   achter im Einsatz und halten diskriminie-
                                                                                                                                          Marc Atkins / Offside

Russland unterstreicht dies. Ihre Nachhal-     den Vorfällen unterbrochen werden,           rendes Verhalten zusammen mit Beweis-
tigkeitsstrategie formuliert: „Inklusivität    damit die Zuschauer per Stadiondurchsage     material in eigens produzierten Anti-
bedeutet die Integration aller interessier-    dazu aufgefordert werden können, das         diskriminierungsberichten für die FIFA-
ten Parteien, ungeachtet von Hautfarbe,        diskriminierende Verhalten zu unterlassen.   Disziplinarkommission fest.

22   / FIFA 1904
Zahlreiche Massnahmen für Vielfalt und Antidiskriminierung
erleben bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Russland
2018™ ihr Debüt. Ein Ausblick auf den kommenden Sommer.
Von der FIFA-Abteilung für Nachhaltigkeit und Vielfalt

Dieses Spielbeobachtungssystem wird            DANK DEM DREISTUFIGEN                          regelmässigen fachlichen Austausch, um
bereits seit der WM-Qualifikation erfolg-                                                     die Massnahmen zur Diskriminierungsbe-
reich eingesetzt. Von 871 Spielen wurden
                                               VERFAHREN FÜR                                  kämpfung rund um den russischen Fussball
177 beobachtet. Abgesehen von den              SCHIEDSRICHTER KANN EIN                        weiterzuentwickeln.
verhängten Sanktionen sieht Piara Powar,       SPIEL BEI DISKRIMINIERENDEN
Geschäftsführer von FARE Network, weite-
                                               VORFÄLLEN UNTERBROCHEN                         SCHULUNGS- UND LEHRMATERIAL
re positive Einflüsse: „Dies hat sowohl                                                       Erstmals werden FIFA- und LOC-Mitarbei-
national als auch international zu erhöhter
                                               WERDEN.                                        ter, Ordnungsdienste, Personal an den
Wahrnehmung und zahlreichen Debatten           fen und über die diesbezüglichen FIFA-         Getränke- und Verpflegungsständen
geführt. Wir können nun sehen, dass die        Massnahmen zu informieren. Die FIFA            sowie ehrenamtliche Helfer gezielt zu
Mitgliedsverbände der FIFA in allen Konfö-     ihrerseits sensibilisiert die Zuschauer über   Vielfalt und Antidiskriminierung geschult.
derationen die Themen um Rassismus,            Ticketunterlagen, die Stadionordnung,          Je nach Zielgruppe umfasst dies ein
Sexismus, Homophobie und extremen              Stadiondurchsagen, Hinweise an den             Präsenztraining und einen E-Learning-
Nationalismus angehen.“ Schon 2015             Eingängen, Medienmitteilungen und vertie-      Prozess. Auch Schiedsrichter und andere
stellte die FIFA allen Mitgliedsverbänden      fende Online-Dokumente. Insbesondere           Spieloffizielle erhalten ausgiebige und
hierzu den Good Practice Guide zu Vielfalt     mit Alexei Smertin, Botschafter der FIFA       massgeschneiderte Briefings, während alle
und Antidiskriminierung zur Verfügung.         Fussball Weltmeisterschaft Russland            teilnehmenden Teams entsprechend
                                               2018™ und Antidiskriminierungsbeauf-           informiert werden. Erstmals bei einer
Vor der Weltmeisterschaft werden die           tragter des russischen Fussballverbands,       Weltmeisterschaft wird ein FIFA-Manager
teilnehmenden Verbände gebeten, ihre           und seinem Team steht die FIFA-Abteilung       für Vielfalt und Antidiskriminierung durch-
Fans über ihre Kanäle zu Respekt aufzuru-      für Nachhaltigkeit und Vielfalt zudem im       wegs vor Ort sein, um die Massnahmen zu

                                                                                                                            FIFA 1904 /   23
Qsuite.
First in Business
Redefine your expectations with a new level of luxury in our new
Business Class. Enjoy the privacy of your own personal suite, or work,
dine, and share your journey with friends and family in our fully adaptable
quad-seating configuration. With up to 4,000 in-flight entertainment
options, our award-winning service, and a rapidly expanding network,
discover Business Class like never before. Introducing Qsuite. First in Business.

Now flying from Doha to London, Paris, and New York.

     qatarairways.com
überblicken, das FIFA-Team zu individuel-     von Krasnojarsk in Sibirien bis nach Sotschi   Seit langer Zeit steht die FIFA im Hinblick
len Fragen fachgerecht zu beraten und         am Schwarzen Meer erreichte.                   auf die WM im direkten Austausch mit
eventuellen Beschwerden nachzugehen.                                                         beteiligten Akteuren und relevanten
                                              BARRIEREFREIE STADIEN                          Interessengruppen, sei es Regierungs-
Lehrer an russischen Schulen erhalten mit     Barrierefreiheit gilt auch für die Stadien.    oder Nichtregierungsorganisationen. Der
Blick auf die WM detailliertes Lehrmaterial   Neben baulichen Vorkehrungen sind auch         Dialog wird auch bei der vierten FIFA-Kon-
zu Vielfalt und Antidiskriminierung für       Schulungen für das Personal vorgesehen.        ferenz für Gleichstellung und Inklusion am
zwei Altersklassen. Speziell entwickeltes     In der Arbeitsgruppe für Barrierefreiheit      2. März 2018 am FIFA-Sitz fortgesetzt, an
Material geht auch an universitäre Einrich-   analysiert die FIFA konstant mögliche          der u. a. auch Alexei Smertin und Federi-
tungen in Russland – dies als Ergänzung zu    Risiken und ergreift geeignete Massnah-        co Addiechi, Leiter der FIFA-Abteilung für
der bereits seit 2015 laufenden Kampagne,     men, wie z. B. spezielle Transportangebo-      Nachhaltigkeit und Vielfalt, teilnehmen.
die bis Mitte 2017 schon über 10 000          te für Menschen mit Behinderung, um            Addiechi betont die strategische Herange-
Lektionen an Schulen, Universitäten und       Barrierefreiheit zu garantieren.               hensweise mit Blick auf Vielfalt und
Kinderheimen umfasst und über 200 000                                                        Antidiskriminierung zur Weltmeisterschaft:
Schüler in ganz Russland erreicht hat und     Abgerundet werden die Aktionen der FIFA        „Um nachhaltig zu arbeiten, gilt es,
bis zum Beginn der WM fortgeführt wird.       und des LOC durch die jährlichen Tage          Zuwiderhandlungen entsprechend zu
Antidiskriminierung war auch Thema bei        gegen Diskriminierung, die 2018 im             sanktionieren und dies mit präventiven
der FIFA-WM-Pokal-Tournee von Coca-Cola,      Rahmen der WM-Viertelfinalspiele durch-        Kommunikations- und Bildungselementen
die unter dem Motto „Inklusion durch          geführt werden. Die Spielführer der            zu kombinieren.“
Sport“ steht und bei den bisherigen 16        beteiligten Mannschaften werden dabei
Stopps in Russland über 220 000 Besucher      wiederum Botschaften verlesen.

                                                                                                                            FIFA 1904 /    25
EIN AUGENBLICK

Die Wolken hängen tief,
und vielleicht kommt gleich der ersehnte Regen über das warme Uganda. Aber das
interessiert die 3000 Insassen des Luzira-Upper-Gefängnisses nicht, denn es findet
gerade die Fussballmeisterschaft statt. Hinter den bekanntesten Mauern des Landes
messen sich jeweils zehn Mannschaften, sie tragen Namen von europäischen Klubs
wie Liverpool FC, Chelsea FC oder Hannover 96. Es gibt auch Trikots, Schiedsrichter,
Trophäen, Sponsoren und eigene Reglemente für die Liga. Das Foto stammt aus
dem Jahr 2015. Es wurde vom französischen Fotografen Frederic Noy gemacht.

26   / FIFA 1904
Frédéric NOY / Cosmos
Frederic

                        FIFA 1904 /   27
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

          ZWISCHEN
           ZWEI WELTEN
                           Fussballspielen auf höchstem Niveau und
                           gleichzeitig kein Dach über dem Kopf – ein
                           Widerspruch? Für Englands Rekordnationalspielerin
                           Fara Williams jahrelang Realität.
                           Von Annette Braun

                                                                               Harry Borden/Contour by Getty Images

28   / FIFA 1904
Sammelleidenschaft Schon mit 17 Jahren begann Fara Williams, jedes ihrer getragenen Nationaltrikots in ihrem
Zimmer zu verwahren.
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

Das Nationaltrikot überzustreifen, ist immer   Fara Williams und ihr Jersey – es ist eine    Battersea, einem Stadtteil Londons,
noch ein ganz besonderer Moment für Fara       Verbindung, die für grosse Erfolge steht.     verliess und sich alleine durch die Gross-
Williams, auch wenn sie den Vorgang nun        Für Verantwortung, energiegeladene            stadt kämpfte. Einmal hierhin, einmal
schon Dutzende Male zelebriert hat. Die        Partien und verwandelte Elfmeter. Gleich-     dorthin. Im Sommer wie im Winter.
englische Rekordnationalspielerin hat über     zeitig jedoch symbolisiert das Nationaltri-
150 Einsätze mit den drei Löwen auf der        kot für Williams etwas, das weit über das     Sie erinnert sich daran, in welchem Aus-
Brust bestritten, das Gefühl aber ist immer    Sportliche hinausgeht. Es war lange Zeit      mass sie die Obdachlosigkeit getroffen
noch dasselbe wie beim ersten Mal. Für ihr     ihr Rettungsanker, auf den sich ihr gesam-    hat. Wie sollte man sich auch als junge
Land aufzulaufen, löst bei der 34-Jährigen     tes Blickfeld richtete. Denn so hell Wil-     Frau auf eine Situation wie diese vorberei-
einen Adrenalinstoss aus – gepaart mit         liams’ Fussballkarriere leuchtet, so be-      ten? Sie erinnert sich, wie sehr sie auf der
einer gehörigen Portion Stolz.                 schwerlich gestaltete sich zeitweise der      Strasse versuchte, möglichst verrückt und
                                               Weg, den sie dafür zurücklegen musste.        unnahbar zu erscheinen, damit die Leute
Der Fussball nahm von klein auf einen                                                        Angst vor ihr hatten. Wie sie sich im
wichtigen Teil im Leben von Fara Williams
                                               „ICH WOLLTE MEIN                              Zickzackkurs fortbewegte und laute
ein, die mit einer Schwester und zwei          LAND VERTRETEN, UND                           Geräusche von sich gab, damit man sie in
Brüdern bei ihrer Mutter aufwuchs – alle       NICHTS KONNTE MICH                            Ruhe liess. Und wie sie bei diesem Kampf
glühende Anhänger des FC Chelsea. Die                                                        ums Überleben dennoch die Zukunft nicht
Partien des Lieblingsklubs zu schauen,
                                               DAVON ABHALTEN.“                              aus den Augen verlor. „Ich nahm es
gehörte für sie zum Alltag dazu. So wie                                                      ziemlich locker, obdachlos zu sein“, sagt
das Frühstück am Morgen und der Gang           BLICK HINTER DIE MAUERN                       sie heute mit ein wenig Abstand. „Mein
                                                                                                                                            FIFA via Getty Images, Jon Super, Keystone

zur Schule. Als sie dann mit zwölf Jahren      Williams war mehr als sechs Jahre ihres       Fokus galt dem Fussball. Ich wollte mein
selbst zu Chelsea wechselte, ging ein          Lebens obdachlos. Während sie im Verein       Land vertreten, und nichts konnte mich
Traum für das Mädchen in Erfüllung. „Das       und beim Nationalteam konstant Leistung       davon abhalten.“
ist immer noch einer der unvergesslichsten     auf höchstem Niveau zeigte und dabei
Momente meiner Karriere“, erinnert sie         immer ein entschlossenes Gesicht aufsetz-     Ihren Freunden und Teamkolleginnen
sich. Und es war auch der erste Schritt in     te, kämpfte sie mit privaten Problemen.       offenbaren konnte sie sich jedoch nicht.
Richtung Nationalteam, das sie in der          Die Entfremdung von ihrer Familie führte      „Ich habe mir nie eine Blösse gegeben“,
Folge prägen sollte.                           dazu, dass sie mit 17 Jahren ihr Zuhause in   sagt sie. Die Gründe dafür sind vielfältig.

30   / FIFA 1904
„That which does not kill me makes me stronger“
                                              („Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“) Englands Rekordnationalspielerin Fara
                                              Williams hat sich ihr Lebensmotto auf den Unterarm tätowieren lassen.

Natürlich verspürte sie Scham, aber auch      Nationalteam 2009 bei der Europameis-               der Anstoss dafür, die Kommunikation mit
den Wunsch, nicht aufgrund ihrer Situati-     terschaft das Finale, das sie gegen                 ihrer Mutter, die kurz darauf ihren 50.
on beurteilt zu werden. Nur ganz wenige       Deutschland verlor (2:6), und wurde 2015            Geburtstag feierte, wieder aufzunehmen.
Menschen wussten, was mit Williams            WM-Dritte. Mit fünf Toren ist sie englische         Williams hat einen Ausweg gefunden und
passiert war. Zum Beispiel Rachel Brown,      Rekordtorschützin bei Weltmeisterschaf-             die Integration zurück ins geregelte Leben
mit der sie sich bei der Nationalelf das      ten und gewann ausserdem mit Everton                geschafft. Gleichzeitig hat sie aber ihre
Zimmer teilte. „Niemand hat mich in dieser    den Ligapokal und den FA Women’s Cup.               Zeit auf der Strasse nicht vergessen. Und
Zeit mehr unterstützt als sie“, schwärmt                                                          auch nicht, dass es viele Menschen gibt,
Williams. Und Hope Powell, ihre damalige      Auch mit ihrer Mutter hat sie sich mittler-         die in der gleichen Situation sind, wie sie
Trainerin bei Englands U-19, ahnte etwas.     weile versöhnt. Sie sagt: „Meine Mutter             es war, die aber nicht den Fussball haben,
Sie hakte nach und schickte Williams zur      dachte immer zuerst an die anderen. Sie             an dem sie sich festhalten können. Diesen
Obdachlosenhilfe. Ein Schritt, den Williams   arbeitete hart, hatte mehrere Jobs gleich-          Menschen will sie weiterhin helfen – und
selbst nie gewagt hätte. Sie erhielt dort     zeitig und war deshalb ein riesiges Vorbild         als Vorbild dienen.
einen eigenen Schlafsack und fühlte           für mich.“ So lange von ihrer Familie
wieder ein kleines Stück Geborgenheit.        getrennt gewesen zu sein, war das                   Wenn Fara Williams sich und ihr Leben
                                              Schlimmste für Williams, auch wenn sie              nun beschreiben müsste, welche Wörter
Als sie 2004 von Charlton Athletic zu Ever-   auf Kontaktversuche zunächst nicht                  würde sie denn wählen? „Loyal und
ton wechselte, gab das ihrem Leben eine       reagierte. „Meine Dickköpfigkeit und                quirlig“, sagt sie und betrachtet stolz ihre
neue Richtung. Mo Marley, Trainerin von       mein Freiheitsdrang waren einfach zu                Nationaltrikots, die von so viel mehr
Everton, nahm sich ihrer an und verschaff-    gross. Ansonsten hätte ich mein Leben               erzählen als nur von den Spielen, an
te ihr einen Job als Coach. Dadurch konn-     vielleicht schon viel früher wieder in den          denen sie getragen wurden.
te Williams beginnen, etwas Eigenes           Griff kriegen können.“
aufzubauen – und im Fussball endgültig
durchzustarten.                               Doch Ende gut, alles gut – zumindest für
                                              Fara Williams, denn die Bande zu ihrer
WM-DRITTE 2015                                Familie sind wieder stark. Als sie in der
Fara Williams nahm 2012 an den Olympi-        WM-Qualifikation 2011 gegen die
schen Spielen teil, erreichte mit Englands    Schweiz in der 50. Minute traf, war das

                                                                                                                                      FIFA 1904 /   31
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

KEIN
PARDON BEI DISKRIMINIERUNG
Joyce Cook, FIFA-Direktorin Mitgliedsverbände, im Gespräch
mit Perikles Monioudis über bestehende Hürden und Vorurteile
sowie die wahre Stärke des Fussballs.

Joyce, Sie kämpfen seit vielen Jahren für           – was für andere nichts als selbstverständlich
Gleichstellung und Integration. Auf was sind        ist! So etwas vergisst man nicht. Das ist die
Sie am meisten stolz?                               Magie des Fussballs und das, was den Fussball
Joyce Cook: Alle, die sich für Gleichstellung und   für mich ausmacht.
Integration einsetzen, freuen sich über medien-
wirksame Erfolge. Das Versprechen der engli-        Laut der Weltgesundheitsorganisation sind
schen Premier League im Jahr 2015, ihre             offenbar mehr als 20 % der Weltbevölkerung
Stadien barrierefrei zu machen, war so etwas,       behindert, aber auf Führungsebene kaum
ebenso die Integration von barrierefreien           vertreten. Was muss sich ändern?
Einrichtungen und Dienstleistungen für Fans         Es braucht ein Umdenken. Wir müssen Vor
                                                                                                ­
mit Behinderungen bei den wichtigsten Turnie-       urteile abbauen, da sie die grössten Hürden
ren der UEFA und der FIFA. Noch nie gab es bei      bilden. Arbeitgeber müssen bei der Personal
                                                                                                    ­
einer öffentlichen Veranstaltung in Rumänien        rekrutierung offener und feinfühliger sein. Sie
so viele Zuschauer mit Behinderungen wie beim       müssen bereit sein, kleine Anpassungen
Europa-League-Finale 2012 in Bukarest – sie         vorzunehmen, damit Menschen wie ich barrie-
mitten unter all den anderen Fans zu sehen,         refrei zur Arbeit können. Ich bin sehr stolz, bei
war bewegend. Den grössten Eindruck hinter-         der FIFA eine Führungsaufgabe zu haben. Ich
lassen aber die persönlichen Erlebnisse: die        liebe meine Arbeit und glaube, dass ich für die
Zwillingsbrüder in einem entlegenen Dorf in der     FIFA ein Gewinn bin und dabei helfen kann,
Ukraine, die bis zur EURO 2012 kaum je ihre         alle in den Fussball zu integrieren, wie es die
Wohnung verliessen, Daniel, der kleine blinde       FIFA anstrebt. Ich habe diese Stelle aber nur
Junge aus Belo Horizonte, der sich bei der WM       bekommen, weil ein aufgeschlossener stellver-
2014 in Brasilien über den Audiokommentar           tretender Generalsekretär mein Talent und
freute, den das Zentrum für Zugang zum              nicht meine Behinderung gesehen hat. Es gab
Fussball in Europa (CAFE) und die Organisation      natürlich Stimmen, die glaubten, dass ich der
URECE dank der finanziellen Unterstützung der       Arbeitsbelastung und den Reisestrapazen nicht
FIFA anbieten konnten, oder die grenzenlose         gewachsen sei, weil ich auf den Rollstuhl             Liebe zum Fussball
Freude all jener, die sich zusammen mit ihren       angewiesen bin. Man sollte mich nicht unter-          Joyce Cook auf dem
                                                                                                           Kunstrasenplatz des
Liebsten barrierefrei Spiele anschauen können       schätzen. Natürlich bin ich bei einigen Dingen      Home of FIFA in Zürich.

32   / FIFA 1904
Ben Moreau/FIFA
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

auf die Unterstützung meiner Kollegen bei der     geistigen – müssen Zugang zu Sportveranstal-         berufen, angeführt von der ersten General

                                                                                                                                                 ­
FIFA und den Mitgliedsverbänden angewiesen.       tungen und -stätten haben, damit sie teilhaben       sekretärin in der FIFA-Geschichte, die erst noch
Sie helfen mir, dass ich mich hier in Zürich am   können. Funktionäre und Organisatoren von            dunkelhäutig ist. Darüber hinaus sind 20 % der
FIFA-Sitz oder auf Reisen zu einem der 211        Veranstaltungen müssen auf die einzelnen             Mitglieder des FIFA-Rats Frauen. Das ist ein
Mitgliedsverbände ungehindert bewegen kann.       Bedürfnisse dieser unterschiedlich beeinträch-       gewaltiger Erfolg. In den nächsten Jahren
Menschen mit Behinderungen müssen in der          tigten Menschen eingehen. Wenn ich zu einem          werden wir alles daran setzen, die Vielfalt auf
Arbeitswelt sichtbar werden, um als Vorbilder     Fussballspiel gehe, will ich neben meinen            allen Stufen weiter zu fördern. Durch das
zu dienen. Junge sehen so, dass ihre Träume       Freunden und meiner Familie sitzen, uneinge-         FIFA-Forward-Programm werden wir unseren
wahr werden können, und erhalten eine             schränkte Sicht auf das Spielfeld und genauso        Mitgliedsverbänden zudem dabei helfen, bei
Perspektive. Ich kam erst mit knapp 40 in den     viel Freiheit und Spass haben wie sie. Eine          sich in Fussballprojekte zu investieren, die auf
Rollstuhl und haben mich danach leider fast       behindertengerechte Veranstaltung oder               breiter Ebene Diskriminierung bekämpfen sowie
zwei Jahre zurückgezogen. Meine Liebe zum         Anlage muss nicht teuer sein. Verhältnismässi-       Gleichstellung und Integration fördern. Die
Fussball gab mir Vertrauen, mein Leben zurück     ge Anpassungen an bestehenden Strukturen             Aussichten sind zweifellos vielversprechend,
und die Chance, mich im Sport für Barrierefrei-   und Diensten für Menschen mit Behinderungen          auch wenn noch viel Arbeit bleibt.
heit und Integration einzusetzen, wie ich es      sind immer möglich. Barrierefreiheit und
seit 15 Jahren mit grosser Freude tue. Nichts-    Integration dürfen nie Nebensache sein,
destotrotz hätte ich es mir nie träumen lassen,   sondern müssen in jeder Organisation und für
im November 2016 von der FIFA in die Ge-          deren Menschen selbstverständlich sein und
                                                                                                        BIO
schäftsleitung und in eines der höchsten Ämter    zur DNS werden. Das ist unser Anspruch. Wir           Joyce Cook ist seit dem 1. November
des Fussballs berufen zu werden und bei der       wollen bei der FIFA den Fussball und damit            2016 FIFA-Direktorin Mitgliedsverbän-
Umsetzung der FIFA-Reformen eine so aktive        auch Gleichstellung und Integration fördern.          de und beaufsichtigt in dieser Funktion
Rolle zu spielen!                                 Nur so können wir dafür sorgen, dass der              die Nutzung der Mittel, die den 211
                                                  Fussball wirklich im Dienst seiner unglaublich        FIFA-Mitgliedsverbänden im Rahmen
Laut Ihren Aussagen haben 50 % aller              vielfältigen Gemeinschaft steht.                      des FIFA-Forward-Entwicklungspro-
Menschen mit Behinderungen noch nie an                                                                  gramms gewährt werden. Für ihre
Freizeit- oder Sportaktivitäten teilgenom-        Der Fussball hat die Macht, Menschen aus              Verdienste um die Entwicklung und
men. Was können wir tun, damit sich das           aller Welt zu integrieren, und dennoch ist            Realisierung weitreichender und nach-
radikal ändert? Und wie können wir denjeni-       Diskriminierung auf allen Stufen des Sports           haltiger Vielfalts- und Integrationspro-
gen, die an den Rand gedrängt und diskrimi-       ein grosses Problem. Was muss sich ändern?            jekte auf nationaler und internationaler
niert werden, wirklich eine Stimme geben?         Die FIFA kennt gegenüber Diskriminierung kein         Ebene erhielt sie im Dezember 2017
Gleichstellung und Integration müssen bei         Pardon und unterstützt Initiativen, die sensibili-    das Komturkreuz (CBE), nachdem sie
allem, was wir tun, oberstes Gebot sein – sei     sieren und mit dem Fussball den sozialen              schon früher mit dem Offizierskreuz
es bei der Planung einer Weltmeisterschaft, der   Zusammenhalt fördern. Man kann immer mehr             (OBE) ausgezeichnet worden war. Vor
Veranstaltung eines lokalen Turniers, der         tun. Ich weiss aus Erfahrung, dass grundlegen-        ihrem Wechsel zur FIFA war sie Ge-
Lancierung eines neuen Breitensportangebots,      de und dauerhafte Änderungen Zeit, Beharr-            schäftsführerin des von ihr gegründe-
dem Bau einer Sportanlage für die lokale          lichkeit und Geduld brauchen. Aufklärung spielt       ten Zentrums für Zugang zum Fussball
Bevölkerung oder der Organisation eines           dabei eine wichtige Rolle. Die Menschen               in Europa (CAFE). Während der WM
Trainerkurses. Bei jeder Veranstaltung und        müssen einsehen, dass man wirklich alle gleich        2014 half sie der FIFA, die Veranstal-
jedem Bauprojekt müssen wir darauf achten,        behandeln und integrieren muss. Das muss sich         tung möglichst barrierefrei zu gestal-
dass Menschen mit Behinderungen und ihre          in den Köpfen festsetzen. Und die Fanatiker           ten, und war am Projekt für einen
Bedürfnisse berücksichtigt und integriert         müssen begreifen, dass sie im Fussball nichts         Audiokommentar für sehbehinderte
werden. Dabei sollten wir mit lokalen Behin-      verloren haben. Wir tolerieren keine Form von         und blinde Fans beteiligt. Sie war
dertenverbänden zusammenarbeiten, da diese        Rassismus, Homophobie, Sexismus oder                  ebenfalls Vorstandsmitglied von Foot-
am besten über die konkreten Bedürfnisse          Diskriminierung, egal wo, ob auf dem Spielfeld,       ball Against Racism in Europe (FARE),
Bescheid wissen. Auch Organisationen wie das      beim Training, im Stadion oder bei der Arbeit.        Direktorin bei Women in Football und
CAFE können fachliche Hilfe und spezifische       Wir müssen immer am Ball bleiben und die              Vorstandsmitglied der Sports Grounds
Beratung bieten. Menschen mit Behinderungen       Sportlandschaft weiter umgestalten. Seit 2016         Safety Authority.
– egal ob physischen, sensorischen oder           hat die FIFA drei Frauen in die Geschäftsleitung

34   / FIFA 1904
DIE KRAFT DES FUSSBALLS NUTZEN

        Am 2. März 2018 findet in Zürich zum vierten Mal die jährliche FIFA-Konferenz für Gleichstellung und
          Barrierefreiheit statt – ein wichtiger Baustein des Engagements der FIFA für eine bessere Welt.
                                                             Von Honey Thaljieh
Als kleines Mädchen machte ich nichts            Welt ein wenig besser zu machen.                HOFFNUNG DURCH FUSSBALL
lieber, als in den engen Strassen meiner         Die erste Konferenz fand 2015 statt und         Die Konferenz hat eine erfreuliche Entwick-
Heimatstadt Bethlehem zusammen mit den           konzentrierte sich auf eines der Hauptanlie-    lung genommen und sich als bedeutende
Jungen aus der Nachbarschaft einem Fuss-         gen der FIFA: den Frauenfussball und die        Plattform für spannende Diskussionen mit
ball nachzujagen. In einer Welt voller gesell-   Förderung von Frauen im Management des          Führungspersönlichkeiten, Fachleuten und
schaftlicher, politischer und wirtschaftlicher   Fussballs. Herausragende weibliche Füh-         Vorbildern aus Fussball, Sport und Gesell-
Schranken war der Fussball das Einzige, das      rungskräfte gaben sich die Ehre, wie Lydia      schaft etabliert.
mich von den vielen Herausforderungen des        Nsekera, die betonte, Männer und Frauen         Wie in den Vorjahren greifen wir erneut ein
Alltags ablenken konnte und mich Mauern          müssten sich „unbedingt gemeinsam für           aktuelles globales Thema auf und widmen
und Grenzen vergessen liess. Fussball gab        Frauen in leitenden Positionen einsetzen“.      uns diesmal der Frage der Integration.
mir ein Gefühl der Freiheit.                     2016 lag der Fokus auf der Gleichstellung       Gemeinsam werden wir untersuchen, was
Von diesem einfachen Spiel, das so viele         durch Reformen und der Bekämpfung von           die Fussballwelt tun kann, um Flüchtlinge zu
Menschen weltweit begeistert, geht eine          Vorurteilen. Unter den illustren Gästen war     unterstützen und ihnen durch das Spiel zu
grosse Kraft aus. Der Fussball spricht eine      die Tennislegende Billie Jean King, die         Zukunftsperspektiven und Gleichberechti-
universelle Sprache, die unterschiedlichste      erklärte: „Den Frauen meiner Generation         gung zu verhelfen.
Kulturen und Mentalitäten zusammenbringt.        ging es noch darum, überhaupt mit am Tisch      „Spiel ab – Hoffnung durch Fussball“, das
Er eröffnet den weniger Privilegierten unter     sitzen zu dürfen. Doch diese Zeiten sind        Motto der diesjährigen Konferenz, ist unser
uns neue Wege und Möglichkeiten, verbin-         vorbei. Jetzt wollen wir auch mitreden.“        Aufruf zum Handeln. Wir möchten alle, die
det uns alle durch die gemeinsame Freude                                                         im Fussball tätig sind, dazu auffordern, das
am Spiel und schlägt Brücken der Zusam-                                                          Spiel zu nutzen, um Menschen in aller Welt
menarbeit, Solidarität und Hoffnung.                                                             neue Möglichkeiten zu eröffnen, ihre Gleich-
Bei unserer ersten Konferenz vor drei Jahren                                                     berechtigung und Inklusion zu fördern und
stand die Welt vor riesigen Herausforderun-                                                      ihre Leben zum Positiven zu verändern.
gen, und auch heute noch leiden unzählige                                                        Als kleines Mädchen, das in den Strassen
Menschen unter Kriegen, Konflikten, Hun-                                                         Bethlehems Fussball spielte, ahnte ich nicht,
ger, Armut, Missbrauch und Naturkatastro-                                                        wie der Fussball mein Leben verändern und
phen. Millionen von Menschen, die gewalt-                                                        meine Zukunft prägen sollte. Ohne ihn wäre
sam aus ihren Heimatländern vertrieben                                                           ich nicht da, wo ich heute bin.
wurden, müssen sich in einer fremden                                                             Bei der FIFA-Konferenz für Gleichstellung
Umgebung ein neues Leben aufbauen, und                                                           und Barrierefreiheit dreht sich alles um die
rund um den Globus geniessen viele Frauen                                                        Kraft des Fussballs, die so vieles bewirken
und Minderheiten noch immer nicht die                                                            kann. Unser Ziel muss es sein, dieses Potenzi-
                                                 Tennislegende Billie Jean King (rechts) und
Rechte, Freiheiten und Chancengleichheiten,      Honey Thaljieh bei der zweiten FIFA-Konferenz   al auszuschöpfen, neue Ideen und Konzepte
die ihnen zustehen.                              für Gleichstellung und Barrierefreiheit 2016.   zu entwickeln und sie überall auf der Welt an
Genau daran wollen wir mithilfe des Fussballs                                                    die nächsten Generationen weiterzugeben.
etwas ändern. Geschichten wie meine zeigen       Vor einem Jahr schliesslich richteten wir
auf, welchen Beitrag das Spiel zum Überwin-      unter dem Motto „Gleichstellung zur Reali-
den von Schwierigkeiten leisten kann, und        tät machen“ den Blick auf konkrete Mass-
sollen anderen als Inspiration dienen.           nahmen zur Förderung der Inklusion im und
                                                 durch den Sport. Erneut durften wir beein-      Honey Thaljieh war Mitbegründerin des
HOCHKARÄTIGE GÄSTE                               druckende Persönlichkeiten begrüssen, unter     Frauenfussballs in Palästina und die erste
Mit ihrer jährlichen Konferenz für Gleichstel-   ihnen Khalida Popal, ehemalige Spielführerin    Spielführerin des palästinensischen Frauen-
lung und Barrierefreiheit bietet die FIFA eine   des afghanischen Frauennationalteams.           nationalteams. Heute ist sie in der Unterneh-
Plattform für offene Diskussionen über diese     „Seid laut, verschafft euch Gehör!“, lautete    menskommunikation der FIFA tätig und
wichtigen Themen und unterstreicht das           ihre Botschaft. „Denkt daran: Niemand gibt      Initiantin sowie Leiterin der jährlichen
Potenzial des Sports, positive gesellschaftli-   euch einfach so eure Rechte – ihr müsst         FIFA-Konferenz für Gleichstellung und
                                                                                                                                                  FIFA

che Veränderungen zu bewirken und so die         aufstehen und sie einfordern.“                  Barrierefreiheit.

35   / FIFA 1904
GLEICHSTELLUNG UND INTEGRATION

  „DEN EINFLUSS NUTZEN,
UM POSITIVES ZU BEWIRKEN“

                                         Óscar Romero
Früher Fussballstar, heute Förderer und Wohltäter: Frédéric Kanouté gibt mit
einer Fussballakademie und einem Waisendorf Hunderten von Kindern eine
Zukunftsperspektive. „Sie brauchen Liebe, Zuwendung und Anerkennung“,
sagt er. „So wachsen sie hoffentlich zu starken, selbstbewussten Menschen
heran und verwirklichen ihre eigenen Träume.“
Von Alan Schweingruber

                                       Frédéric, Sie leben heute in Dubai. Was            Bamako viele Waisenkinder gesehen. So
                                       machen Sie da?                                     beschloss ich, für die bedürftigsten Kinder ein
                                       Frédéric Kanouté: Nach dem Ende meiner             Dorf zu gründen, wo sie möglichst viel Unter-
                                       Profikarriere zog ich nach Dubai und gründete      stützung, Zuwendung und Bildung erhalten. In
                                       vor vier Jahren die Kanouté Football Academy       Sakina leben die Kinder mit Pflegemüttern
                                       („Kafo Academy“), weil ich sehr gerne mit          zusammen. Es gibt einen Kindergarten, eine
                                       Kindern und Jugendlichen arbeite. Der Fuss-        Primar- und Sekundarschule, ein Berufsbil-
                                       ball ist hier unglaublich beliebt, hat aber noch   dungsprogramm sowie ein Gesundheitszent-
                                       viel Entwicklungspotenzial. Zurzeit trainieren     rum. All diese Angebote stehen auch den
                                       wir rund 200 Kinder zwischen fünf und              Kindern aus den umliegenden Gemeinden
                                       fünfzehn Jahren. Sie kommen aus unter-             offen. Und ganz wichtig: Wir haben ein
                                       schiedlichen Verhältnissen und bringen             Landwirtschafts-, Vieh- und Handelsprogramm
                                       verschiedenste Talente mit – das macht die         eingeführt, damit das Dorf in Zukunft auf
                                       Arbeit mit ihnen so bereichernd. Zusammen          eigenen Beinen stehen kann. Das ist für uns
                                       haben wir schon viel gelernt und riesige           eine Priorität.
                                       Fortschritte erzielt.
                                                                                          Was ist Ihres Erachtens das Wichtigste für
                                       In Mali haben Sie das Kinderdorf Sakina            Waisenkinder?
                                       gegründet. Können Sie uns mehr darüber             Am wichtigsten ist es, zuerst die Bedürfnisse
                                       erzählen?                                          jedes einzelnen Kindes abzuklären. Man kann
                                       Ich hatte die Idee dazu, als ich Anfang zwanzig    nicht einfach von „den Waisenkindern“
                                       war und in England spielte. Erziehung, Bildung,    sprechen. Sie sind alle einzigartig. Sie haben
                                       Herkunft, Glaube und Familie – sie alle haben      unterschiedliche Geschichten und Erfahrun-
                                       meine Weltanschauung und meinen Lebens-            gen, darunter auch traumatische. Wie alle
                                       weg geprägt. Und als ich Profifussballer           Kinder brauchen auch sie Liebe, Zuwendung
                                       wurde, fühlte ich eine zusätzliche Verantwor-      und Anerkennung – das ist ihr gutes Recht.
                                       tung. Nach einigen Besuchen in Mali, von wo        So wachsen sie hoffentlich zu starken,
                                       mein Vater stammt, spürte ich immer stärker        selbstbewussten Menschen heran und
                                       das Bedürfnis, etwas Gutes zu tun und so zu        verwirklichen ihre eigenen Träume und Ziele.
                                       einem Wandel beizutragen. Für mich war klar:       Dabei wollen wir sie nach besten Kräften
                                       Nachhaltige Veränderungen sind nur durch           unterstützen.
                                       Bildung und den Fokus auf Menschen, insbe-
                                       sondere Kinder, möglich.                           Kennen die Kinder Sie?
Frédéric Kanouté, 40 „Der Fussball                                                        Ja, sie kennen mich gut und nennen mich
ist meine Leidenschaft, aber er ist
nicht alles. Als Individuum, Bürger    Was wussten Sie über Waisenkinder?                 „Papa Kanouté“! Sie wollen, dass ich Zeit mit
und gläubige Person bin ich Gott und   Mein Vater war selbst Waise, und ich hatte         ihnen verbringe. Oft spielen wir mitten im Dorf
meinen Mitmenschen Rechenschaft
schuldig.“                             auch auf den Strassen von Malis Hauptstadt         zusammen Fussball.

                                                                                                                           FIFA 1904 /   37
Sie können auch lesen