Gewerkschaftsrechte weltweit - Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen - DGB Bildungswerk Bund
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NORD|SÜD-NETZ Gewerkschaftsrechte weltweit Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen www.nord-sued-netz.de NORD|SÜD N E T Z
»Zur Freiheit der Gewerkschaften gehört es, dass sie unbequem sind. Bequem sind Gewerkschaften nur dort, wo sie unter dem Zwang von rechten oder linken Diktaturen stehen.« Richard von Weizsäcker, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschand von 1984 bis 1994. 3
IMPRESSUM Herausgeber: DGB Bildungswerk e. V. Vorsitzende: Elke Hannack Geschäftsführerin: Claudia Meyer Verantwortlich: Valerie Franze Redaktion: Beate Willms und Valerie Franze Gestaltung: schrenkwerk.de Druck: graphik und druck, Köln Titelfoto: Demonstration gegen Reformpläne der brasilianischen Regierung in São Paulo, Mai 2019. Foto: Cris Faga / ZUMA Wire / picture alliance Düsseldorf 2019 1. Auflage DGB Bildungswerk BUND e. V. Nord-Süd-Netz Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf Tel.: 0211 / 43 01 - 333, Fax: 0211 / 43 01 - 500 nord-sued-netz@dgb-bildungswerk.de www.dgb-bildungswerk.de www.nord-sued-netz.de Für den Inhalt dieser Publikation ist allein das DGB Bildungswerk BUND e.V. verantwortlich. Die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt von Engagement Global gGmbH und des Bundesministerium für wirtschaftliche und Zusammenarbeit und Entwicklung wieder. Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des 4 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Inhaltsverzeichnis: Gewerkschaftsrechte weltweit Vorwort 6 Einführung 8 Länder und Regionen 42 Die aktuelle Situation Brasilien Loredana Carta, IGB-ITUC Antonio Lisboa, CUT Brasilien GEWERKSCHAFTSRECHTE UNTER BESCHUSS 10 BRASILIENS REGIERUNGSAGENDA: ZUGLEICH ULTRALIBERAL UND RECHTSEXTREM 44 Das internationale Menschenrechtsschutzsystem Folke Kayser, Deutsches Institut für Menschenrechte Subsahara Afrika GEWERKSCHAFTSRECHTE ALS MENSCHENRECHTE: Crecentia Mofokeng, BWI SCHUTZ UND UMSETZUNG 14 SUBSAHARA AFRIKA: EINE GROSSE HERAUSFORDERUNG IST CHINA 48 Internationale Arbeitsorganisation Carolin Vollmann, DGB Süd- und Südostasien WÄCHTERIN DER GEWERKSCHAFTSRECHTE: Simiran Lalvani 100 JAHRE ILO 20 MIT VIER PUNKTEN IN DIE OFFENSIVE: STRATEGIEN SÜD- UND SÜDOSTASIATISCHER GEWERKSCHAFTEN 51 Globalisierte Wirtschaft 24 Auswahl frei zugänglicher Quellen und Informationen 55 Wertschöpfungs- und Lieferketten Uwe Wötzel, ver.di Verzeichnis der Infokästen 58 NIE WIEDER RANA PLAZA! ABER WIE? VON DEN UN-LEITPRINZIPEN ZUR INITIATIVE Abbildungsverzeichnis 58 LIEFERKETTENGESETZ.DE 26 Handelsabkommen Valerie Franze, DGB Bildungswerk BUND GEGEN DIE EIGENEN PRINZIPIEN: EU-HANDELSPOLITIK 30 Freihandel und Frieden in Kolumbien? Alberto Orgulloso, ENS JA ZU MEHR HANDEL – ABER MIT STÄRKEREN ARBEITNEHMERRECHTEN UND IN FRIEDEN 35 Globale Rahmenabkommen Christina Hajagos-Clausen, IndustriALL EINE ANTWORT AUF DIE GLOBALISIERUNG DER UNTERNEHMEN 38 GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: INHALTSVERZEICHNIS 5
Vorwort Weltweit nehmen Angriffe auf Gewerkschaftsrechte zu. In vie- Statistik an. Umwelt- und Menschenrechtsaktivist_innen sind len Ländern kommen Regierungen ihrer Pflicht nicht ausrei- ebenfalls betroffen. Die Angriffe auf Gewerkschaftsrechte chend nach, Menschenrechte und damit Gewerkschaftsrechte gehen einher mit dem schwindenden Handlungsspielraum der zu schützen. Ganz im Gegenteil, oft unterlaufen geltende Ge- Zivilgesellschaft generell. In den letzten zehn Jahren wird dieser setzgebung und Gesetzesänderungen das Recht auf Versamm- Trend im entwicklungspolitischen Diskurs auch unter dem eng- lungs- und Vereinigungsfreiheit. Beispielsweise wurden in über lischen Begriff Shrinking Space diskutiert. Zahlreiche Indizes, 140 Ländern Anti-Terror-Gesetze erlassen, um die öffentliche die in den meisten Ländern der Welt messen, wie es um die Sicherheit zu gewährleisten. Das dient in der Praxis oft der Le- Demokratie und Freiheit steht (Freedomhouse), den Handlungs- gitimation, gegen Proteste und Streiks vorzugehen und mündet spielraum der Zivilgesellschaft (CIVICUS) und die Gewerk- oft in ihrer brutalen Niederschlagung. schaftsrechte (Globaler Rechtsindex), belegen einen besorgnis- erregenden Abwärtstrend. Häufig sind die Arbeitnehmenden der Praxis von Unter- nehmen schutzlos ausgeliefert. Wenn Regelungen zum Arbeits- Die Einengung zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraums schutz missachtet oder Arbeitnehmende wegen ihres gewerk- wird oft durch die Betonung nationaler Souveränität gegen die schaftlichen Engagements entlassen werden, haben sie wenig Einmischung des »Westens« legitimiert. Im globalen Süden re- zu befürchten. Denn in vielen Ländern des globalen Südens sultiert dies historisch aus antikolonialen Kämpfen und wurde sind die rechtsstaatlichen Institutionen zu schwach. Bevor es befeuert durch westliche militärische Interventionen etwa im zu einer Entscheidung kommt, vergehen Jahre. Das können sich Irak und Afghanistan. Das Argument, progressiv demokratische die meisten Arbeiternehmenden nicht leisten. Akteure der Zivilgesellschaft seien ausländisch finanziert und somit auch gesteuert, wird hierzulande vielleicht besonders mit Um Investitionen anzuziehen, schaffen Regierungen selber Russland in Verbindung gebracht. Aber in vielen Ländern welt- Wirtschaftszonen, in denen das Arbeitsrecht beschnitten, das weit werden Geldtransfers für die Demokratieförderung an die Streikrecht manchmal gänzlich ausgehebelt wird. nationale Zivilgesellschaft zunehmend kritisch gesehen. Auch In einer globalisierten Wirtschaft, die derzeit ungenügend demokratische Staaten wie etwa Indien, Kanada, Australien reguliert ist, werden die weltweiten Produktions- und Liefer- führten externe Einmischung an, als sich lokale Aktivist_innen ketten dorthin verlagert, wo am billigsten produziert wird – auf transnational vernetzten. Die Betonung der nationalen Souve- Kosten der Menschenrechte der Arbeitenden. Die politischen ränität geht oft mit nationalen Ressentiments einher. Anderer- Rahmenbedingungen verhindern aktuell nicht, dass der tech- seits erzeugen gerade eine starke Zivilgesellschaft und soziale nologische Fortschritt im Bereich Digitalisierung aber auch die sowie ökologische Bewegungen die Konterreaktion von Regie- weltweite Migration zum Anstieg prekärer Arbeit führt. Dabei rungen. Wenn sie Widerstand und Protest gegen die Ausbeu- finden sich Frauen überproportional in prekären Beschäfti- tung von Natur und Mensch, große Infrastrukturprojekte, Amts- gungsverhältnissen und Arbeitsmigrant_innen sind von Ge- missbrauch und Korruption leisten, versuchen Regierungen die werkschaftsrechten oft ausgeschlossen. bestehenden Systeme, Geschäftsmodelle und Projekte zu ver- teidigen, indem sie den zivilgesellschaftlichen Handlungsspiel- Über unmenschliche Arbeitsbedingungen hinaus, ist die raum einschränken. physische Gewalt bis hin zu Morden an Gewerkschafter_innen gestiegen. Die Philippinen und Kolumbien führen die traurige 6 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
In zahlreichen Ländern haben Nationalisten, Populisten Die vorliegende Broschüre beschäftigt sich zunächst damit, und Rechtsextreme die Regierungsmacht erobert (Brasilien, wie es um die Situation der Gewerkschaftsrechte weltweit steht, Polen, Philippinen, USA etc.). Auch in Europa erstarken natio- und versucht, folgende Fragen zu beantworten: nalistische Kräfte, und populistische Parteien mit vermeintlich Wovon sprechen wir, wenn von Gewerkschaftsrechten die einfachen Lösungsvorschlägen zu den aktuellen wirtschaftli- Rede ist, wie sind sie im internationalen Menschenrechtsschutz- chen und sozialen Herausforderungen gewinnen an Zuspruch. system verankert und wie werden sie umgesetzt? Welche Rolle In Deutschland erleben wir ebenso, wie geschickt Populisten spielt die Internationale Arbeitsorganisation, in der auch Ver- ihre Propaganda über (soziale) Medien verbreiten und Aufmerk- tretungen der Arbeitnehmenden auf Ebene der Vereinten Na- samkeit erlangen. Wer nicht zustimmt oder kritisch ist, wird tionen mitreden und mitbestimmen? Vor welchen Herausforde- zum politischen Feind und zum Feind der Meinungsfreiheit er- rungen steht die ILO angesichts eines kriselnden Multilatera- klärt. Die Verbreitung von Fake News und die Diffamierung lismus? freier Presse zerstört das Vertrauen in recherchierte und beleg- bare Nachrichten und Berichte und damit eine Grundlage un- Nach dieser Einführung geht es um mögliche Instrumente, serer Demokratie – die Möglichkeit sachlich miteinander zu Gewerkschaftsrechte in einer globalisierten Wirtschaft durch- streiten. zusetzen. Was sind die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und was hat die jüngst lancierte Kampagne Wenngleich die Gründe für diese Entwicklungen teilweise für ein Lieferkettengesetz in Deutschland damit zu tun? Können landesspezifisch sind, gibt es überall auch vergleichbare Ursa- Handelsabkommen ein Instrument sein, um Menschenrechte chen. Das sind der politische Machterhalt und die Sicherung durchzusetzen? Was hat es mit globalen Rahmenabkommen, der wirtschaftlichen Interessen einer Mehrheit der Eliten. Die einem von Gewerkschaften entwickelten Ansatz, auf sich? innergesellschaftliche Zunahme sozialer Ungleichheit und die mangelnde Aussicht auf sozialen Aufstieg, die Angst vorm Ab- Schließlich schauen wir uns konkret die Lage von Gewerk- stieg sowie Gefühle der kulturellen Bedrohung. Letztere werden schaften im globalen Süden an. Es wird aus Brasilien berichtet, politisch instrumentalisiert, um gegen ethnische Minderheiten wo ein ultrarechtes und ein marktliberales Projekt zusammen- zu hetzen, gegen soziale oder Minderheiten sexueller Orientie- gehen und Gewerkschafts- und Arbeitsrechte sowie Demokratie rung. Hinzu kommt ein schwindender Zuspruch zur Demokratie. massiv untergraben. Mögliche Antworten auf die Herausforde- Die Wahrnehmung, dass die politische Führung nicht im Stande rung des chinesischen Engagements im Bausektor Subsahara oder nicht Willens ist, eine zunehmend komplexe Welt zu len- Afrikas werden erläutert und gewerkschaftliche Strategien ken, lässt für einige vielleicht autokratische Alternativen attrak- gegen Angriffe auf demokratische Werte und Rechte in Süd- tiv erscheinen. und Südostasien vorgestellt. Demokratien zerfallen schleichend und die Signale stehen Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren für ihre auch in Deutschland auf Rot. Wir müssen daher jetzt für soziale Beiträge und bei allen Beteiligten für ihr Mitwirken! Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen! Gewerkschaften Viel Spaß bei der Lektüre, Valerie Franze kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, das belegen wissenschaft- liche Studien und Demokratietheorien. GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: VORWORT 7
Einführung I Die aktuelle Situation Gewerkschaftsrechte unter Beschuss Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) spricht von einer regelrechten Demokratiekrise: Weltweit schrumpfen demokratische Handlungsspielräume von Arbeitnehmenden, der Einfluss von Wirtschaftsunternehmen nimmt zu. Das passt in das gesamtpolitische Umfeld, in dem fast überall Nationalismus und die extreme Rechte erstarken und die wirtschaftliche Ungleichheit wächst. Deshalb hat der IGB-Vorstand im Oktober beschlossen, seine Arbeit auf den Frieden, die Verteidigung der Demokratie und einen neuen Gesellschaftsvertrag zu fokussieren. Loredana Carta berichtet über den Zustand von Arbeiterrechten weltweit. Tuti Tursilawati arbeitete als Arbeitsmigrantin in einem saudi- litische Rechte aber auch generell nicht garantiert. Vor allem arabischen Haushalt, als sie 2011 angeblich ihren Arbeitgeber in autokratischen Regimen wie Weißrussland, Ägypten und den tötete. Die Strafverfolgung fand heimlich statt, ebenso der Philippinen werden Arbeitnehmerrechte wie Versammlungsfrei- Scharia-Prozess, in dem die zu dem Zeitpunkt 27-jährige Indo- heit und politische Freiheiten wie die der Meinung nicht ge- nesierin ausgesagt haben soll, sie habe in Notwehr gehandelt, schützt – im Gegenteil: Das brutale Niederschlagen der Arbei- als der Mann sie vergewaltigte. Die indonesischen Behörden ter- und Volksproteste in Simbabwe und Hongkong offenbart erfuhren erst von dem Fall, nachdem Tuti Tursilawati im Oktober die Fragilität von Frieden und Demokratie. 2018 hingerichtet worden war. Weitere Trends sind der systematischen Abbau und die Konkrete Fälle wie dieser zeigen drastisch, wie absolut Ar- willkürliche Auflösung unabhängiger Gewerkschaftsbewegun- beitnehmenden in vielen Ländern die Grundrechte verweigert gen in repressiven Staaten wie Ägypten und Algerien. Viele Ge- werden. Am schlechtesten ist die Situation in der sogenannten MENA-Region, also dem Mittleren Osten und Nordafrika. In ei- nigen der Länder stammen fast 90 Prozent der Beschäftigten Drei Viertel der Länder aus dem Ausland. Das Kafala-System, das die Migration regu- der Region Asien-Pazifik lieren und kontrollieren soll, schließt die Wanderarbeiter_innen von jeglichem Arbeitsschutz und allen Arbeitsrechten aus. Sie verhafteten Arbeitnehmende dürfen sich nicht organisieren, den Arbeitsplatz verlassen und während der Proteste. auch nicht frei reisen. werkschaften haben schon Schwierigkeiten bei der behördli- Regierungspraktiken sind besorgniserregend chen Registrierung, die wesentlich ist, um das Recht auf Verei- Weltweit sind Arbeitsmigrant_innen am häufigsten von Aus- nigungsfreiheit einfordern zu können. Deshalb ist die offizielle beutung, Zwangsarbeit und täglichem physischen und psy- Anerkennung immer der erste Schritt für Arbeitnehmerorgani- chischem Missbrauch betroffen. In vielen Ländern werden po- sationen, wenn sie effizient arbeiten und ihre Mitglieder ange- messen vertreten wollen. 2019 behinderten die Behörden Ge- werkschaften in 86 Ländern dabei, sich anzumelden, sie mel- Die Autorin: Loredana Carta arbeitet als Juristin in der deten längst registrierte Gewerkschaften offensiv ab oder lösten Abteilung Menschen- und Gewerkschaftsrechte des Inter- sie willkürlich auf, beispielsweise in Argentinien, Weißrussland, nationalen Gewerkschaftsbunds (IGB-ITUC) und ist ver- Burkina Faso, Guatemala und Honduras. antwortlich für die Erstellung des jährlichen IGB Global Viele Regierungen erhöhen auch den Druck auf Arbeitneh- Rights Index mende, die ihre Rechte geltend machen und ihre Gewerkschaf- www.ituc-csi.org/rights-index-2019?lang=en ten unterstützen wollen. Sie entsenden Polizei und Militär, die 10 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Ziegelei in Ägypten. Arbeit unter widrigen Bedingungen und ohne jegliche Schutzkleidung. — Foto: Well-Bred Kannan (CC BY-NC-ND 2.0) gewaltsam gegen Proteste und Streiks vorgehen, und nehmen gezielt bekannte Gewerkschaftsführer_innen ins Visier. 2019 Das Kafala-System wurden in 64 vom IGB befragten Ländern Arbeitnehmende fest- Kafala ist ein besonderes System der Bürgschaft und unter genommen und inhaftiert. Drei Viertel der Länder der Region anderem in den arabischen Golfstaaten weit verbreitet. Asien-Pazifik verhafteten Arbeitnehmende während der Pro- Arbeitswillige dürfen nur ins Land, wenn ihre Arbeitge- teste, in Europa kam das in jedem vierten Land vor. benden für sie bürgen. Ohne das Einverständnis des so- Und es bleibt nicht bei den willkürlichen Verhaftungen. Es genannten Sponsors dürfen die Wanderarbeiter_innen gibt eine besorgniserregende Entwicklung zu mehr körperlicher weder den Arbeitsplatz wechseln noch das Land verlas- Gewalt gegen Gewerkschaftsführer_innen, insbesondere durch sen. Zugleich können Arbeitgebende jederzeit die Be- repressive Regime. Das schürt ein Klima der Einschüchterung schäftigung auflösen und damit die Aufenthaltserlaubnis und Angst. Die Ansage: Wer sich für Gewerkschaften engagiert, entziehen. Verlassen die Arbeitsmigrant_innen Katar, dür- setzt sein Leben aufs Spiel. 2018 wurden Gewerkschafter_in- fen sie zwei Jahre nicht zurückkehren, auch nicht mit nen in mindestens zehn Ländern ermordet: in Bangladesch, einem neuen Sponsor. Das macht sie extrem anfällig für Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Honduras, Italien, Pakistan, Zwangsarbeit. Das asymmetrische Machtverhältnis er- den Philippinen, der Türkei und Simbabwe. Allein in Kolumbien möglicht den Arbeitgebenden zudem, die Arbeitnehmen- wurden 34 Gewerkschafter umgebracht sowie zehn Fälle von den zu niedrig, verspätet oder gar nicht zu entlohnen. Mordversuchen und 172 Fälle von Morddrohungen dokumen- Breiter bekannt wurde das System, als Gewerkschaf- tiert. Die meisten dieser Verbrechen sind nach wie vor unge- ten aufdeckten, dass Arbeitende auf den Baustellen für klärt. Die Regierung versäumt es, die notwendigen Mittel für die Fußball WM 2022 in Katar in sklavenähnlichen Ver- die zeitnahe Untersuchung und Verfolgung dieser Fälle bereit- hältnissen leben mussten. Im Oktober 2019 hat Katar Ar- zustellen. Mit der Unterdrückung der Arbeiterbewegung und beitsreformen verkündet, nach denen das Kafala-System der unabhängigen Gewerkschaften werden menschenwürdige moderner Sklaverei beendet werden soll: Neben einem Arbeit und demokratische Rechte in fast allen Ländern ge- Mindestlohn regelt es, dass Arbeitskräfte keine Ausreise- schwächt. visa und keine Einverständniserklärung von Arbeitgeben- den bei einem Jobwechsel mehr brauchen. Verträge sollen Unternehmen versagen Gesellschaftsvertrag transparenter und über Arbeitsgerichte einklagbar wer- den. Das Reformprogramm ist Teil einer Vereinbarung Ka- Das aktuelle Geschäftsmodell ist von wachsender Ungleichheit tars mit der Internationalen Arbeitsorganisation über geprägt. Wesentlich ursächlich dafür ist das Scheitern des Ge- technische Zusammenarbeit. sellschaftsvertrags, infolgedessen mehr Arbeitnehmende denn GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DIE AKTUELLE SITUATION 11
ITUC Global Rights Index: Die schlimmsten Länder der Welt für Arbeiter_innen Index: Rechte nicht garantiert wegen Systematische Rechtsverletzungen Zusammenbruchs der Regelmäßige Rechtsverletzungen Rechtsstaatlichkeit Wiederholte Rechtsverletzungen Rechte nicht garantiert Sporadische Rechtsverletzungen Quelle: ITUC je mit inakzeptablen Arbeitsbedingungen und Ausbeutung, Zudem verfolgen Unternehmen aktiv gewerkschaftsfeind- Lohnstagnation und eingeschränkter Macht über eigene Le- liche Strategien, damit sich die Arbeitnehmenden nicht orga- bensentscheidungen konfrontiert sind. Zugleich ist eine wach- nisieren können. Einen besonders brisanten Fall hat der IGB sende Zahl von Beschäftigten vom arbeitsrechtlichen Schutz gemeinsam mit koreanischen Gewerkschaften 2017 bei Sam- ausgeschlossen: 2,5 Milliarden Menschen in der informellen sung aufgedeckt. Der Elektronikriese hatte ein ganzes System Wirtschaft, Millionen von Arbeitsmigrant_innen, noch mehr von Schmiergeldzahlungen auf der einen und Drohungen, Mob- Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zum Beispiel in der bing, willkürliche Kündigungen und sogar Kidnapping auf der Plattformökonomie. Insgesamt haben bestimmte Kategorien anderen Seite aufgebaut, um die Arbeitnehmenden systema- von Arbeitnehmenden in 107 vom IGB befragten Ländern bei- tisch einzuschüchtern und völlig zu kontrollieren. spielsweise nicht das Recht, sich zu organisieren. Auch bei der Gesetzgebung wird der Einfluss von Unter- Unternehmen nutzen die Veränderungen in der Arbeitswelt nehmen und ausländischen Investoren immer deutlicher. In vie- proaktiv, um Arbeitsgesetze und -vorschriften zu umgehen und len Ländern, darunter Moldawien und Rumänien, haben Un- so höhere Profite zu machen. Besonders deutlich ist das in ternehmenslobbys die Regierungen stark in Richtung Reformen Europa. Sogenannte nicht standardisierte Beschäftigungsfor- zum Nachteil des trilateralen sozialen Dialogs und der Arbeit- men stören die Organisationsmöglichkeiten der Gewerkschaf- nehmerrechte gedrängt. In anderen Ländern verabschiedeten ten, da sie Beschäftigte meist physisch oder psychisch von Fest- die Regierungen Gesetze, die Rechtsstaatlichkeit gefährden und angestellten isolieren. Dazu gehören Zeitarbeit, Teilzeitarbeit, die Möglichkeiten der Arbeitnehmenden und ihrer Gewerk- Abrufarbeit und Verträge mit Null- oder variabler Arbeitszeit, schaften untergraben, ihre Grundrechte am Arbeitsplatz zu si- Leiharbeit; außerdem versteckte und abhängige Selbstständig- chern und durchzusetzen. Konkret haben in den letzten Jahren keit, bei der ein Großteil der Arbeitskräfte in Plattformarbeit, die Regierungen in drei der bevölkerungsreichsten Länder der in Einzelaufträgen oder digitaler Arbeit zu finden ist. Welt – China, Indonesien und Brasilien – Gesetze verabschie- det, die den Arbeitnehmenden die Vereinigungsfreiheit verwei- 12 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
gern und ihre Meinungsfreiheit einschränken. Zugleich erlaub- ten sie, das Militär zur Unterbindung von Arbeitskämpfen ein- Globaler Rechtsindex zusetzen. Anhand von 97 international anerkannten Indikatoren – wie der Verletzung des Streikrechts über Beschränkung Kampf um Demokratie der Versammlungsfreiheit bis zu Morden an Gewerkschaf- Woher das alles kommt, liegt auf der Hand: Die Gewerkschaf- ter_innen – untersucht der IGB jedes Jahr, wie es in ver- ten spielen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung demokrati- schiedenen Ländern um die Arbeitnehmerrechte bestellt scher Rechte und Freiheiten und der Umverteilung von Macht ist. Dabei fragt er sowohl nach der Gesetzgebung als auch und Wohlstand. Sie stehen an vorderster Front bei allen Kämp- nach der Praxis. Die Ergebnisse werden im Globalen fen zur Eindämmung von Profitgier und Konzernmacht und Re- Rechtsindex zusammengefasst. 2019 bewertete der IGB gierungen, die darin verstrickt sind. Das macht sie zu Schlüs- 145 Länder. Die 10 schlimmsten Länder für Arbeitneh- selzielen für politische Vergeltungsmaßnahmen. Und der enge mende waren Algerien, Bangladesch, Brasilien, Kolum- Zusammenhang zwischen Arbeitnehmerrechten und Demokra- bien, Guatemala, Kasachstan, die Philippinen, Saudi-Ara- tie erklärt, warum Regierungen, die sich vor freien und fairen bien, die Türkei und Simbabwe. Für Brasilien und Sim- demokratischen Prozessen fürchten, besonders daran interes- babwe war die schlechte Platzierung eine Premiere. siert sind, die Stimme der Arbeitnehmenden zu unterdrücken. Dass Gewerkschaften auch eine Reihe von positiven Ver- nach 12 Monaten bei ihren Arbeitgebenden um einen neuen änderungen maßgeblich initiiert und vorangetrieben haben be- Vertrag mit sicheren Arbeitszeiten bemühen. legt in Island ein Gesetz zur Beseitigung des Lohngefälles zwi- schen den Geschlechtern, in Kanada die Verabschiedung von Es ist höchste Zeit, die Regeln zu ändern, da Menschen bezahltem Urlaub in Fällen häuslicher Gewalt und in Neusee- das Vertrauen in Demokratie verlieren. Wir brauchen einen land die Aufhebung repressiver Arbeitsgesetze. In Irland ver- neuen Sozialvertrag zwischen Arbeitnehmenden, Regierungen abschiedete das Parlament im März 2019 das Beschäftigungs- und Unternehmen. — gesetz, dem zufolge Nullstundenverträge außer in Situationen echter Gelegenheitsarbeit verboten sind. Dieser Rechtsakt ist ein bedeutender Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingun- gen für Arbeitnehmende mit unsicheren Verträgen oder varia- blen Arbeitszeiten. Er ist das Ergebnis eines langen Kampfes von Arbeitnehmenden und Gewerkschaftsaktivist_innen von Dunnes Stores, die sich in den letzten vier Jahren für die Ab- schaffung der Nullstundenverträge eingesetzt haben. Dank die- ser Gesetzgebung können sich nun Tausende von Beschäftigten Sechsjährige globale Trends: Verstärkter Einsatz von Gewalt, Verhaftung und Inhaftierung 50% Länder, die Gewerkschafts- mitglieder willkürlich festnehmen und inhaftieren. 40% Länder, die Arbeitnehmende physischer Gewalt aussetzen 30% 20% 2014 2015 2016 2017 2018 2019 139 Länder 141 Länder 141 Länder 139 Länder 144 Länder 145 Länder Quelle: ITUC GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DIE AKTUELLE SITUATION 13
Einführung I Das internationale Menschenrechtsschutzsystem Gewerkschaftsrechte als Menschenrechte: Schutz und Umsetzung In der globalisierten Wirtschaft geraten Gewerkschaftsrechte vielerorts unter Druck. Welche grundlegenden Rechte haben Gewerkschaften und die Arbeitenden überhaupt – und wie wird ihre Einhaltung überwacht? Folke Kayser beantwortet die wichtigsten Fragen. Was sind Menschenrechte? Menschenrechte sind grundle- Wie entstehen Menschenrechtsabkommen auf UN-Ebene? gende Rechte, die die Würde des einzelnen Menschen schützen Menschenrechtsabkommen werden zwischenstaatlich auf Ver- und ihm ein freies selbstbestimmtes Leben in Gemeinschaft mit tragsstaatenkonferenzen ausgehandelt und in der Generalver- anderen ermöglichen sollen. Dazu gehören bürgerliche, politi- sammlung der Vereinten Nationen (UN) von den Mitgliedstaa- sche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Menschen- ten verabschiedet. rechte sind universell, unveräußerlich und unteilbar. Die Uni- Welche Rolle spielen Gewerkschaften bei der Verwirkli- versalität bezieht sich auf die Geltung, nicht jedoch auf die Ver- chung von Menschenrechten? Der Zusammenschluss von Ar- wirklichung der Menschenrechte, die freilich durch die einzel- beitnehmenden schafft Durchsetzungskraft und Augenhöhe in nen Staaten sehr unterschiedlich umgesetzt werden. Verhandlungen mit Arbeitgebenden. So können Arbeitneh- Für wen gelten die Menschenrechte? Rechtsinhaber der mende ihre Rechte und Interessen durchsetzen. Gewerkschaf- Menschenrechte sind alle Menschen. ten haben auch eine große Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Wer trägt die Verantwortung für die Menschenrechte? Sie bewirken die Umverteilung von Macht und Wohlstand in Menschenrechtliche Pflichtenträger sind alle staatlichen Insti- die Breite der Gesellschaft. tutionen. Sie sind dazu verpflichtet, die Menschenrechte zu ach- ten, vor Beeinträchtigungen durch Dritte (z. B. Unternehmen) Was sind Gewerkschaftsrechte? Gewerkschaftsrechte sind zu schützen und sie zu gewährleisten. Unternehmen tragen der Kern der Rechte der Arbeitenden, weil durch sie alle ande- ebenfalls eine Verantwortung: Sie müssen mit menschenrecht- ren Arbeiterrechte erstritten werden können. Sie beinhalten ers- licher Sorgfalt agieren, um möglichen negativen Auswirkungen tens das Recht eines oder einer jeden, Gewerkschaften zu bil- auf die Menschenrechte vorzubeugen oder diese zu mindern. den und einer Gewerkschaft eigener Wahl beizutreten, und Im Falle von Menschenrechtsbeeinträchtigungen haben die zweitens das Recht der Gewerkschaften, sich frei zu betätigen Opfer Anspruch auf Wiedergutmachung. Letztlich tragen alle sowie nationale oder internationale Verbände zu gründen und gesellschaftlichen Akteure wie auch Nichtregierungsorganisa- ihnen beizutreten. Außerdem gehören dazu das Recht zu Kol- tionen, Medien, Kirchen und Gewerkschaften Verantwortung lektivverhandlungen und das Streikrecht, soweit es in Überein- für die Menschenrechte. stimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird. Wo sind die Menschenrechte festgeschrieben? Die Verein- ten Nationen (UN) haben 1948 die Allgemeine Erklärung der Wo sind diese Gewerkschaftsrechte festgelegt? Seit 1948 Menschenrechte verabschiedet, die ein wichtiges politisches gibt es die wichtigste rechtliche Grundlage für Gewerkschafts- Instrument ist, jedoch nicht rechtlich bindend ist. Deshalb rechte, das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorga- haben die UN 1966 zwei Menschenrechtspakte verabschiedet, nisation (ILO) über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des die die Menschenrechte in einer für alle Unterzeichnerstaaten rechtsverbindlichen Form festlegen: den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, auch »UN- Die Autorin: Folke Kayser ist Wissenschaftliche Mitarbei- Sozialpakt« genannt, und den Internationalen Pakt über bür- terin am Deutschen Institut für Menschenrechte gerliche und politische Rechte, kurz »UN-Zivilpakt«. 14 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Vereinigungsrechtes (Abkommen Nr. 87). Alle anderen Rechts- Druck ausüben, haben aber keine Zwangsmittel um internatio- quellen beziehen sich darauf und müssen konform ausgelegt nales Recht in souveränen Staaten durchzusetzen. Sehr wohl werden. Ein weiteres grundlegendes ILO-Übereinkommen ist können sie feststellen, was und was nicht normenkonform ist das Abkommen Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze und somit zur Rechtsklarheit beitragen. Die Rechenschafts- des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhand- pflicht von Staaten gegenüber den internationalen Gremien lungen. Die Gewerkschaftsrechte sind darüber hinaus sowohl schafft Transparenz über Missstände und Menschenrechtsver- im UN-Sozialpakt (Artikel 8) als auch im UN-Zivilpakt (Artikel letzungen. Auf die Berichte können sich wiederum Akteur_in- 22) festgeschrieben. nen der Zivilgesellschaft berufen, wenn sie Forderungen an die nationale Regierung stellen. Wie entstehen ILO-Übereinkommen? Alle Übereinkommen der ILO werden mit Vertreter_innen aus Regierungen, von Ar- Sind die Gewerkschaftsrechte im Rahmen der UN und der beitnehmenden und Arbeitgebenden in einem Unterausschuss ILO rechtlich bindend? Von der Regierung unterzeichnete Völ- der Internationalen Arbeitskonferenz verhandelt. Die Mitglieder kerrechtsabkommen – das gilt sowohl für Menschenrechtsab- der ebenfalls dreigliedrig besetzten Arbeitskonferenz verab- kommen als auch für ILO-Übereinkommen – müssen in schieden es dann und fordern die Mitgliedstaaten zur Ratifizie- Deutschland dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden. rung auf. Erst ratifizierte Abkommen sind rechtlich bindend. Die nationale Gesetzgebung ist mit den Inhalten des Abkommens in Einklang Was können internationales Recht und seine Gremien leis- zu bringen. ten? Das internationale Recht und internationale Normen bil- den den Referenzrahmen für nationales Recht und Politik. So- Woher wissen die Staaten, wie sie die Gewerkschaftsrechte ziale Bewegungen können sich darauf berufen und so ihre For- auszulegen haben? Die ILO hat praktisch zu jedem Überein- derungen legitimieren. Entscheidend ist, dass Beschäftigte Ge- kommen eine Empfehlung erlassen, wie es zu interpretieren werkschafts- und Arbeitsrechte auf nationaler Ebene immer und umzusetzen sei. Die UN-Fachausschüsse zu den einzelnen wieder rechtlich und politisch erstreiten und verteidigen. Inter- Menschenrechtsabkommen verabschieden sogenannte Allge- nationale Organisationen können bei Missständen politischen meine Bemerkungen zur Auslegung einzelner Menschenrechte. Internationale Menschenrechte und ILO-Übereinkommen Menschenrechtswächter: Gerichte, nationale Menschen- rechtsinstitutionen, Organe der UN, Medien, andere Pflicht: Rechte achten, schützen, gewährleisten Rechenschaft Fordern Verantwortung: Rechte achten Pflichtenträger Rechteinhaber Menschenrechtsprinzipien: (alle staatlichen (BürgerInnen & R Nichtdiskriminierung Institutionen) alle Menschen) R Partizipation R Transparenz & Rechenschaft Prinzipien der ILO: Verantwortungsträger R Vereinigungsfreiheit (Unternahmen, andere R Tripartismus & sozialer Dialog nicht-staatliche Akteure) Unterstützen Zugang zu und Einfordern von Rechten Menschenrechtsverteidiger: (und zu Abhilfe falls notwendig) NROs, Gewerkschaften, Medien, andere GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DAS INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSSCHUTZSYSTEM 15
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Mehrfach wurden hier auch Fälle zu Arbeits- und Gewerkschaftsrechten verhandelt. — Foto: Tim Reckmann (CC BY 2.0) Für die Gewerkschaftsarbeit relevant sind die Allgemeinen Be- Wie überwacht die ILO die Gewerkschaftsrechte? Als spe- merkungen zum UN-Sozialpakt zum Recht auf Arbeit (Nr. 18), zialisierte Sonderorganisation der Vereinten Nationen für alle zum Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen (Nr. Fragen rund um Arbeit und Beschäftigung ist die ILO die wich- 23) und zu den Pflichten der Vertragsstaaten des Sozialpakts tigste internationale Instanz zum Schutz der Arbeiter- und Ge- im Kontext unternehmerischen Handelns (Nr. 24). Eine Ausle- werkschaftsrechte. Das Normenkontrollverfahren der ILO gilt gung der Rechte geschieht auch durch die Rückmeldungen der im Vergleich zu anderen UN-Verfahren als relativ wirksam. Das UN-Organe, die die staatliche Umsetzung überprüfen sowie Erfolgsrezept ist die enge Einbindung von Gewerkschaften und durch die nationalen Verfassungsgerichte und regionalen Men- schenrechtsgerichtshöfe. Das Erfolgsrezept ist die enge Ist es möglich, Gewerkschaftsrechte im Zuge der nationa- len Umsetzung der Rahmenvorgaben gesetzlich einzuschrän- Einbindung von Gewerkschaften ken? Gesetzliche Einschränkungen sind theoretisch nur zuläs- und Arbeitgeberorganisationen. sig, wenn sie im Interesse der nationalen Sicherheit, der öffent- lichen Ordnung oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten an- Arbeitgeberorganisationen in alle Gremien und Verfahren der derer erforderlich sind. Sie können grundsätzlich eingeschränkt ILO. Es gibt zwei grundlegende Verfahren zur Überprüfung der sein für Streitkräfte und Polizei und beim Streikrecht für Ange- Umsetzung der ILO-Übereinkommen, das reguläre Normenkon- hörige der öffentlichen Verwaltung, die hoheitliche Befugnisse trollverfahren und das zusätzliche Verfahren zum Schutz der ausüben Vereinigungsfreiheit. Was zeigt die Praxis? Die vermeintliche Gefährdung von Wie funktionieren diese Verfahren im Einzelnen? Im Rah- nationaler Sicherheit und öffentlicher Ordnung als Begründung men des regulären Normenkontrollverfahrens müssen die Mit- für Ausnahmen öffnet ein Einfallstor, das zum Missbrauch ein- gliedstaaten der ILO in regelmäßigen Abständen über den lädt: So gibt es derzeit in mehr als 140 Ländern Anti-Terror-Ge- Stand der Umsetzung der von ihnen ratifizierten Übereinkom- setze. Autoritäre Regierungen nutzen sie, um Protest, Streik und men berichten. Der unabhängige Sachverständigenausschuss Opposition unter anderem von Gewerkschaften zu unterdrü- für die Anwendung der Normen und Empfehlungen der ILO ver- cken und die eigene Macht zu erhalten. öffentlicht jedes Jahr einen Bericht zur Einhaltung der ILO Nor- 16 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
men. Darüber hinaus sendet er konkrete Verbesserungsvor- Wie funktioniert das Allgemeine Regelmäßige Überprü- schläge unmittelbar an die Regierungen des betroffenen Mit- fungsverfahren des UN-Menschenrechtsrats? Der UN Men- gliedstaates. schenrechtsrat hat 2007 ein allgemeines regelmäßiges Über- prüfungsverfahren (Universal Periodic Review, UPR) eingerich- Aufgrund der besonderen Bedeutung der Vereinigungsfrei- tet, dem alle Mitgliedstaaten alle vier bis fünf Jahre unterzogen heit und des Rechts auf Kollektivverhandlungen werden Ver- werden. Betrachtet werden die Menschenrechte aus allen rati- stöße gegen die Kernarbeitsnormen 87 und 98 durch den drei- fizierten UN-Menschenrechtsabkommen. Andere Staaten über- gliedrig besetzten Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der ILO prüfen jeweils den Staatenbericht, Berichte von zivilgesell- gesondert debattiert. Dieser legt der betroffenen Regierung schaftlichen Organisationen und Informationen aus dem UN- einen Bericht mit Verbesserungsvorschlägen zur Stellungnahme System, also auch aus der ILO. Am Ende des Verfahrens formu- vor. Bestimmte Fälle werden dem Sachverständigenausschuss lieren sie Empfehlungen an den überprüften Staat, die dieser übermittelt. annehmen oder ablehnen kann. Welche Verletzungen der Gewerkschaftsrechte mahnt die Gibt es auch hierfür ein aktuelles Beispiel? Panama ILO in Deutschland an? Deutschland wird sowohl vom Sach- brachte 2018 die Empfehlung ein, Aserbaidschan solle Kollek- verständigenausschuss als auch vom Ausschuss für Vereini- tivverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber- gungsfreiheit seit Jahrzehnten immer wieder dafür gerügt, dass organisationen fördern. Die aserbaidschanische Regierung deutschen Beamten pauschal das Streikrecht verwehrt wird, nahm an. auch wenn sie – wie etwa Lehrer_innen – in keinem Bereich tätig sind, in dem sie genuin hoheitliche Befugnisse ausüben. Bleiben noch die Sonderverfahren des UN Menschen- rechtsrats. Was hat es damit auf sich? Der UN Menschen- Wie überwacht das UN-Menschenrechtssystem Gewerk- rechtsrat kann außerdem Sonderberichterstatter_innen oder schaftsrechte? Weil Gewerkschaftsrechte Menschenrechte Arbeitsgruppen zu kritischen Themen oder problematischen sind, hat auch das Menschenrechtsschutzsystem der UN eine Bedeutung für ihren Schutz. Es gibt Verfahren, die an einzelne Menschenrechtsabkommen gebunden sind und welche, die di- rekt dem Menschenrechtsrat, einem Nebenorgan der UN-Ge- Wo sind Gewerkschaftsrechte neralversammlung, unterstehen. Dazu gehören das Staatenbe- international verankert? richtsverfahren für einzelne Abkommen, das Allgemeine Regel- mäßige Überprüfungsverfahren und Sonderverfahren. Internationale Abkommen R ILO-Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit Noch einmal im Einzelnen: Was ist das Staatenberichtsver- und den Schutz des Vereinigungsrechtes (C87) fahren für einzelne Abkommen? Staaten, die einem Abkom- R ILO-Übereinkommen über die Anwendung der Grund- men beigetreten sind, müssen regelmäßig über den Umset- sätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kol- zungsstand in ihrem Land berichten. Zivilgesellschaftliche Or- lektivverhandlungen (C98) ganisationen können zusätzlich sogenannte Parallelberichte R UN Sozialpakt Artikel 8 einreichen. Jedes Menschenrechtsabkommen hat einen Fach- R UN Zivilpakt Artikel 22 ausschuss aus Expert_innen als Vertragsorgan, der die Umset- R UN Behindertenrechtskonvention Artikel 27.1.c zung prüft. Die UN-Fachausschüsse begutachten die Staaten- R Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel berichte und Parallelberichte, stellen Rückfragen und formulie- 23.4 ren sogenannte Abschließende Bemerkungen. Darin fordern sie Regionale Menschenrechtsabkommen prioritäre Maßnahmen von Regierungen zur vollständigen Um- R Europäische Menschenrechtskonvention (des Europa- setzung des Abkommens. rates) Artikel 11 Gibt es aktuelle Beispiele, in denen Gewerkschaftsrechte R Europäische Sozialcharta (des Europarates) Artikel 5 eine Rolle spielen? Gewerkschaftsrechte werden in sehr vielen und 6 Abschließenden Bemerkungen zum Sozialpakt und Zivilpakt an- R Charta der Grundrechte der Europäischen Union Arti- gesprochen. So wird Nigeria beispielsweise ermahnt, effektiver kel 12, 27 und 28 dagegen vorzugehen, dass Gewerkschafter_innen bedroht und R Amerikanische Menschenrechtskonvention Artikel 16 ermordet werden. Mauritius ist aufgefordert, die Gewerk- R Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte schaftsrechte in Freihandelszonen besser zu schützen und Süd- der Völker Artikel 10 afrika wird empfohlen, das Streikrecht einschränkende Ände- R Arabische Charta der Menschenrechte Artikel 29 rungen des Gewerkschaftsgesetzes zurückzunehmen. R ASEAN-Erklärung der Menschenrechte Artikel 27.2 GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DAS INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSSCHUTZSYSTEM 17
Ländern einsetzen. Diese Sonderverfahren analysieren die ak- 47 Mitgliedern. Ihm angegliedert ist der Europäische Gerichts- tuellen Herausforderungen und machen Empfehlungen zu ihrer hof für Menschenrechte, der die Umsetzung der Europäischen Überwindung. Für Gewerkschaftsrechte sind zwei besonders Menschenrechtskonvention überwacht. Individuen oder Perso- relevant. Der Sonderberichterstatter zum Recht auf Versamm- nengruppen können Beschwerde bei ihm einlegen, wenn sie lungs- und Vereinigungsfreiheit geht in jedem seiner Berichte sich in ihren Rechten verletzt sehen. Der Europäische Gerichts- auch auf die Situation der Gewerkschaftsrechte ein. Er sieht als hof für Menschenrechte kann Staaten zu Strafzahlungen an das globalen Trend die zunehmende Verengung des Freiraums für Opfer verurteilen, nationale Rechtsprechung aber nicht rück- zivilgesellschaftliche Organisationen, von der auch Gewerk- gängig machen. schaften betroffen sind. Wie relevant ist dieser Europäische Gerichtshof für Men- Was ist das zweite aktuell für Gewerkschaftsrechte beson- schenrechte? Das Verfahren ist vergleichsweise wirksam, weil ders relevante Sonderverfahren? Eine Arbeitsgruppe befasst es viel in Anspruch genommen wird und in vielen tausend Fäl- sich mit der Umsetzung der UN Leitprinzipien für Wirtschaft len Recht gesprochen hat. Mehrfach wurden hier auch Fälle zu und Menschenrechte. Sie hat sich in letzter Zeit vor allem damit Arbeits- und Gewerkschaftsrechten verhandelt – besonders beschäftigt, wie Opfer von Rechtsverletzungen in globalen Lie- viele zum Thema Gewerkschaftsfreiheit von Angehörigen des ferketten einen verbesserten Zugang zu Abhilfe und Wieder- Öffentlichen Dienstes in der Türkei. Ein anderes Beispiel ist der gutmachung erhalten können. Der Prozess, hier zu einem bin- Fall einer deutschen Beschwerdeführerin: Der Altenpflegerin denden Abkommen (»Binding Treaty«) zu kommen, läuft seit war fristlos gekündigt worden, weil sie Strafanzeige gegen 2014, kommt aber nicht so recht voran, weil wichtige Staaten ihren Arbeitgeber erstattet hatte mit der Begründung, Pflege- und Verbünde sich an den Verhandlungen nicht beteiligen. bedürftige und ihre Angehörigen erhielten wegen Personal- Dazu gehört neben den USA auch Deutschland. mangels keine angemessene Gegenleistung für die von ihnen getragenen Kosten. Der Gerichtshof entschied zu ihren Guns- Welche Rolle spielen regionale Menschenrechtsschutzsys- ten. teme? Für Europa ist dies zum einen der Europarat mit seinen Der Prozess um das »Binding Treaty« »Die globale Macht der Unternehmen übersteigt alles, was vertreten und versteckt sich hinter seiner EU-Mitgliedschaft – wir bisher gesehen haben«, schreibt beispielsweise Jenny die EU könne »nur mit einer Stimme sprechen«. Tatsächlich Holdcroft, stellvertretende Generalsekretärin bei dem globalen hat die EU-Kommission dazu aber gar kein Mandat. Gewerkschaftsverband IndustriALL. Und das gehe auf Kosten 2018 hat der ecuadorianische Vorsitz erstmals einen Ent- der Beschäftigten und der Umwelt. Dieser Einschätzung ist wurf vorgelegt und diesen 2019 noch einmal überarbeitet. auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Zwar Anders als in früheren Konzepten vorgesehen, sollen die Sorg- gibt es seit 2011 die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und faltspflichten nicht nur für transnationale, sondern prinzipiell Menschenrechte, sie bedeuten aber keine rechtliche Verpflich- für alle Geschäfte gelten. Ein Vorrang für Menschenrechte vor tung für die Unternehmen. 2014 setzte der UN-Menschen- Handels- und Investitionsabkommen findet sich in dem Ent- rechtsrat deshalb eine offene interregionale Arbeitsgruppe wurf aber ebenso wenig wie der Vorschlag eines internatio- ein. Sie soll ein rechtsverbindliches internationales Instrument nalen Gerichtshofs für Menschenrechte und transnationale zu Konzernen und anderen Wirtschaftsunternehmen in Bezug Konzerne. Die Gewerkschaften bemängeln darüber hinaus auf die Menschenrechte entwickeln. Diese Initiative für ein unter anderem, dass nicht klar ist, wie Verpflichtungen der »Binding Treaty« ging von Ecuador und Südafrika aus, gegen Konzerne überwacht und durchgesetzt werden sollen, zumal die Stimmen Deutschlands, der USA und weiterer Industrie- Arbeitsrechte in vielen Ländern ohnehin schon nicht umge- länder. Das Binding Treaty soll globale Schlupflöcher schließen setzt werden. Auch die Haftung in der Lieferkette bleibe zu und gewährleisten, dass Unternehmen für Menschenrechts- offen, die Definition liefere zu viele Möglichkeiten, sich aus verletzungen und Umweltkriminalität voll verantwortlich ge- der Verantwortung zu ziehen. macht werden. Nichtregierungsorganisationen und Gewerk- Erläuterung der Redaktion schaften sehen das als »historische Chance«. Die vollständigen Papiere: Seitdem trifft sich die Arbeitsgruppe jedes Jahr in Genf. Überarbeiteter Entwurf: www.business-humanrights.org/en/revised- Allerdings schicken bei weitem nicht alle Länder tatsächlich draft-of-proposed-binding-treaty-on-business-human-rights auch redeberechtigte Vertreter_innen. Deutschland beispiels- Positionspapier Gewerkschaften: www.ituc-csi.org/IMG/pdf/joint_ weise ist in der Regel nur mit sogenannten Beobachter_innen trade_union_un_treaty_statement.pdf 18 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Was unterscheidet den Gerichtshof der Europäischen Zur Verteidigung der Union vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ist das oberste Menschenrechte und der Freiräume Rechtsprechungsorgan der EU. Er ist für die Wahrung des EU- ist es für Gewerkschaften wichtig, Rechts bei der Auslegung und Anwendung der europäischen Allianzen zu bilden. Verträge und Rechtsvorschriften zuständig. Seine Zuständigkeit umfasst alle Rechtsgebiete, darunter auch das Verfassungs-, Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialrecht. Der EuGH kann von log die an der Afrikanischen Union angesiedelte Afrikanische einem Mitgliedstaat, einem Organ der EU sowie von unmittel- Kommission und den Afrikanischen Gerichtshof für die Men- bar und individuell betroffenen natürlichen und juristischen Per- schenrechte und Rechte der Völker mit Individualbeschwerde- sonen angerufen werden. Seine Urteile und Vorabentscheidun- möglichkeit. Für Asien gibt es bisher keinen regionalen Schutz- gen zur Auslegung des Unionsrechts bei Rechtsstreitigkeiten mechanismus für Menschenrechte. vor nationalen Gerichten sind direkt rechtlich bindend. Der EuGH hat schon mehrfach Fälle mit Bezug zu Gewerkschafts- Wie können die Gewerkschaften selbst aktiv werden, um rechten verhandelt und entschieden. für eine bessere Verankerung ihrer Rechte und die der Arbei- tenden zu sorgen? Zur Verteidigung der Gewerkschaftsrechte, Ein Beispiel für eine Entscheidung des EuGH zu Gewerk- der Menschenrechte und der zivilgesellschaftlichen Freiräume schaftsrechten? Anlässlich einer Anrufung durch eine finnische ist es für Gewerkschaften wichtig, nationale und globale Alli- Gewerkschaft hat der EuGH entschieden, dass die Arbeitneh- anzen mit anderen Akteur_innen der Zivilgesellschaft zu bilden. menden bei einer Arbeitnehmerentsendung aus einem Her- Beispiele dafür in Deutschland sind die Beteiligung von Ge- kunftsland innerhalb der EU Anspruch auf den Mindestlohn im werkschaften an den #unteilbar-Demonstrationen für Gleich- Zielstaat haben und die Branchengewerkschaft im Zielstaat eine heit und soziale Rechte oder der jüngst lancierten Kampagne tarifrechtliche Zuständigkeit für diese Arbeitnehmenden hat. für ein verbindliches Lieferkettengesetz in Deutschland. Ein be- Gibt es auf anderen Kontinenten vergleichbare Institutio- kanntes Beispiel internationaler Vernetzung ist das Weltsozial- nen, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen? Zur forum, ein globales Bündnis und jährliches Treffen von Globa- Überwachung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention lisierungskritiker_innen. Die internationalen Menschenrechte ist die Interamerikanische Menschenrechtskommission zustän- und die Dokumente aus dem Menschenrechtsschutzsystem sind dig, ein Sonderorgan der Organisation Amerikanischer Staaten. oft der gemeinsame Bezugspunkt und Bindeglied solcher Alli- Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof verhandelt anzen und Bewegungen. — auch Individualbeschwerden. Darunter gab es auch etliche Fälle zu Gewerkschaftsrechten. Zur Überwachung der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker gibt es ana- Gemeinsam für Gleichheit und soziale Rechte: Gewerkschaften und andere Teile der Zivilgesellschaft bei der #unteilbar-Demo 2019 in Dresden — Foto: Dehmel / DGB GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DAS INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSSCHUTZSYSTEM 19
Einführung I Internationale Arbeitsorganisation Wächterin der Gewerkschaftsrechte: 100 Jahre ILO Sie hat das Mandat, internationale Arbeitsstandards zu setzen und damit einen Beitrag zu leisten, den Schutz und die Rechte von Beschäftigten nicht zum Gegenstand internationaler Konkurrenz und marktwirtschaftlicher Kräfte zu machen. Damit ist die Internationale Arbeitsorganisation in Genf die wichtigste Organisation der Vereinten Nationen für die Gewerkschaftsbewegung. Ihre Kernarbeitsnormen sind als Menschenrechte anerkannt. Wie und warum die ILO auch jetzt wieder um ihren Einfluss kämpft, erklärt Carolin Vollmann. Einen Erfolg der Internationalen Arbeitsorganisation (engl: In- Zusammenarbeit zunehmend erschweren, indem der Konsens ternational Labour Organisation, ILO) gab es zum Jahrhundert- als Arbeitsgrundlage mehr und mehr in Frage gestellt wird. Dies jubiläum 2019. Im Juni beschlossen die Teilnehmenden der In- geschieht zu einer Zeit in der Gewerkschaftsrechte immer öfter ternationalen Arbeitskonferenz zwei neue Arbeitsstandards: das verletzt werden und die Arbeit der ILO daher umso wichtiger Übereinkommen (C190) und die Empfehlung (R206) zu Gewalt ist. und Belästigung gegen Frauen und Männer in der Arbeitswelt. Zum anderen birgt auch die Reform des UN-Systems neue Diese waren die jüngsten Standards seit 2011, als die ILO-Kon- Herausforderungen für die Arbeit der ILO. Kritiker_innen sehen vention für Hausangestellte verabschiedet wurde. den Zugang und Einfluss der Sozialpartner vor Ort und in den Die Aushandlung von internationalen Arbeitsstandards ist Entscheidungsgremien schwinden. Zu befürchten ist auch, dass eine der wesentlichen Aufgaben der ILO, die eine Sonderorga- sich die Prioritäten der ILO-Arbeit verschieben. nisation der Vereinten Nationen (engl. United Nations, UN) ist und mit ihrer dreigliedrigen Verwaltungsstruktur eine Beson- Internationale Standards setzen und überwachen derheit hat: In keiner anderen UN-Organisation besitzen Ge- Für die Gewerkschaftsarbeit ist die ILO von herausragender Be- werkschaften und Arbeitgebervertretungen gemeinsam die deutung. Nachdem Arbeits- und Sozialstandards in ihrem Rah- Hälfte aller Stimmen und arbeiten auf Augenhöhe mit Regie- men ausgehandelt wurden, können sie von Regierungen ratifi- rungsvertretungen zusammen. Die erfolgreiche Verabschiedung ziert werden. Das verpflichtet sie dann zur Überführung in natio- der C190 und der R206 kann aber nicht darüber hinwegtäu- nales Recht. Bis heute wurden insgesamt 190 solcher Überein- schen, dass die ILO wie viele andere internationale Organisa- kommen, 206 Empfehlungen und sechs Protokolle verhandelt. tionen in der Krise steckt. Aktuell sieht sie sich vor allem zwei großen Herausforderungen gegenüber: Besonders wichtig sind die sogenannten Kernarbeitsnor- men, die auch als Menschenrechte anerkannt sind. Für die Ge- Zum einen gibt es nach wie vor keine Lösung in der seit werkschaftsarbeit von herausragender Bedeutung sind vor 2012 schwelenden Uneinigkeit über die Existenz eines interna- allem zwei der insgesamt acht Kernarbeitsnormen: Konvention tionalen Streikrechts. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie Re- 87 zur Vereinigungsfreiheit und 98 zur Tariffreiheit. Sie bilden gierungen und vor allem die Gruppe der Arbeitgebenden die die Grundlage für die Arbeit von freien und unabhängigen Ge- werkschaften und werden häufig als »enabling rights« (befä- higende Rechte) bezeichnet. Die weiteren Kernarbeitsnormen Die Autorin: Carolin Vollmann ist Referatsleiterin in der betreffen das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Abteilung für Internationale und Europäische Gewerk- Beruf und die Beseitigung von Kinder- und Sklavenarbeit. schaftspolitik des DGB Ihre besondere Stellung geht auf die »Erklärung über die 20 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Internationale Arbeitsorganisation: Organe Int. Arbeitskonferenz (IAK) Verwaltungsrat Int. Arbeitsamt (IAK) Legislative Exekutive Operative R Übereinkommen und Empfehlungen R Koordination der ILO-Aktivitäten R Technische Zusammenarbeit R Resolutionen R Umsetzung der Beschlüsse der IAK R Hilfe für Mitglieder R Arbeitsprogramm R Beschwerdesystem R Dokumentation R Haushalt R Forschung R inhaltliche Vorbereitung der Konferenzen, Übereinkommen und des Haushalts Quelle: ILO grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit« von 1998 kräfte in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen gefangen (siehe zurück, die sie als universell gültig und für alle Mitgliedstaaten Kasten Seite 22). der ILO verbindlich festlegt. Im Durchschnitt wurden die Kern- Derzeit werden grundlegende Gewerkschaftsrechte jedoch arbeitsnormen von 172 Ländern der insgesamt 187 Mitglieder weltweit immer weniger geachtet und eingehalten. Zugleich ratifiziert. Das ist schon sehr gut. Bedauerlicherweise wird aber steht der Verhandlungsprozess des Normenkontrollausschusses ausgerechnet das Übereinkommen zur Vereinigungsfreiheit mit unter Beschuss. Der brasilianische Regierungsvertreter forderte nur 155 Ratifizierungen am wenigsten weitreichend anerkannt. 2019, dass Regierungsvertretungen bei der Festlegung der Län- Auch wichtige Industrie- und Schwellenländer wie Brasilien, derliste und dem Aushandeln der Schlussfolgerungen einge- China, Indien und die USA fallen hierrunter. bunden werden. Eine betroffene Regierung hätte dann die Die ILO überwacht die Durchsetzung der Übereinkommen. Möglichkeit, durch internationalen Druck auf die anderen, be- Jede Regierung ist verpflichtet, der Organisation in Genf regel- teiligten Regierungen die Auswahl der Fälle und Folgemaßnah- mäßig Bericht zu erstatten. Die Sozialpartner können die Be- richte anschließend kommentieren und Verstöße melden. Auf dieser Grundlage erstellt der Sachverständigenrat der ILO, der aus 20 unabhängigen Rechtsexpert_innen besteht, seinen jähr- Kernarbeitsnormen lichen Bericht. Bei der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf und »Enabling Rights« tritt der dreigliedrige Normenkontrollausschuss zusammen. Die Die auch als Menschenrechte anerkannten Kernarbeits- Sozialpartner verhandeln zunächst eine Länderliste von 24 Fäl- normen der ILO regeln die Vereinigungsfreiheit, das Recht len. Anschließend werden diese im gesamten Ausschuss disku- zu Kollektivverhandlungen, das Verbot von Zwangsarbeit, tiert. Es sind wieder die Sozialpartner, die anschließend die die Entgeltgleichheit und den generellen Antidiskriminie- Maßnahmen aushandeln, mit denen die Verstöße beendet wer- rungsgrundsatz, das Mindestalter sowie die Abschaffung den sollen. Eine solche Maßnahme kann sein, dass die Regie- der schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Für die Gewerk- rung weitergehend Bericht erstatten muss. Man kann ebenso schaftsarbeit entscheidend sind vor allem die beiden Kon- beschließen, dass die ILO technische Unterstützung leistet, bei- ventionen zu Vereinigungsfreiheit (Nr. 87) und zum Recht spielsweise wenn es darum geht, Gesetzestexte zu formulieren. auf Kollektivverhandlungen (Nr. 98), denn sie befähigen Es kann aber auch vereinbart werden, eine Untersuchungskom- Gewerkschaften dazu, sich frei von staatlicher Einfluss- mission einzusetzen, die ins Land reist, um sich vor Ort ein Bild nahme zu gründen und ihre gewerkschaftlichen Aufgaben zu machen. zu erfüllen, ohne Gewalt oder Repression befürchten zu Eine Sanktionierung sieht der Normenkontrollausschuss al- müssen. Das Recht, sich zu organisieren und kollektiv zu lerdings nicht vor. Er zielt in erster Linie darauf ab, die jeweilige verhandeln, ist ein wesentliches Fundament einer Demo- Regierung international an den Pranger zu stellen. Damit ist kratie, eines funktionierenden sozialen Dialogs, und der der Druck, den er ausüben kann, begrenzt. Verwirklichung von menschenwürdiger Arbeit. www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO:121 Gleichwohl gibt es auch Erfolge, wie jüngst in Katar, wo 00:P12100_INSTRUMENT_ID:312232:NO auf internationalen Druck und mit Unterstützung des Normen- www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO:121 kontrollausschusses das Kafala-System – zumindest teilweise 00:P12100_INSTRUMENT_ID:312243:NO – abgeschafft wurde. Dieses System hält ausländische Arbeits- GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | INTERNATIONALE ARBEITSORGANISATION 21
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