Gewerkschaftsrechte weltweit - Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen - DGB Bildungswerk Bund

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Gewerkschaftsrechte weltweit - Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen - DGB Bildungswerk Bund
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Gewerkschaftsrechte weltweit
Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit
und Demokratie kämpfen müssen

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Gewerkschaftsrechte weltweit - Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen - DGB Bildungswerk Bund
Gewerkschaftsrechte weltweit - Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen - DGB Bildungswerk Bund
»Zur Freiheit der
Gewerkschaften gehört es,
dass sie unbequem sind.
Bequem sind
Gewerkschaften nur dort,
wo sie unter dem Zwang
von rechten oder linken
Diktaturen stehen.«
Richard von Weizsäcker, Bundespräsident der
Bundesrepublik Deutschand von 1984 bis 1994.

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IMPRESSUM

    Herausgeber: DGB Bildungswerk e. V.
    Vorsitzende: Elke Hannack
    Geschäftsführerin: Claudia Meyer
    Verantwortlich: Valerie Franze
    Redaktion: Beate Willms und Valerie Franze
    Gestaltung: schrenkwerk.de
    Druck: graphik und druck, Köln
    Titelfoto: Demonstration gegen Reformpläne
    der brasilianischen Regierung in São Paulo, Mai 2019.
    Foto: Cris Faga / ZUMA Wire / picture alliance

    Düsseldorf 2019 1. Auflage

    DGB Bildungswerk BUND e. V.
    Nord-Süd-Netz
    Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf
    Tel.: 0211 / 43 01 - 333, Fax: 0211 / 43 01 - 500
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    Für den Inhalt dieser Publikation ist allein das DGB Bildungswerk
    BUND e.V. verantwortlich. Die hier dargestellten Positionen geben
    nicht den Standpunkt von Engagement Global gGmbH und
    des Bundesministerium für wirtschaftliche und Zusammenarbeit
    und Entwicklung wieder.

    Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des

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Inhaltsverzeichnis:
Gewerkschaftsrechte weltweit
Vorwort                                                6

Einführung                                             8   Länder und Regionen                                   42

Die aktuelle Situation                                     Brasilien
Loredana Carta, IGB-ITUC                                   Antonio Lisboa, CUT Brasilien
GEWERKSCHAFTSRECHTE UNTER BESCHUSS                    10   BRASILIENS REGIERUNGSAGENDA:
                                                           ZUGLEICH ULTRALIBERAL UND RECHTSEXTREM                44
Das internationale Menschenrechtsschutzsystem
Folke Kayser, Deutsches Institut für Menschenrechte        Subsahara Afrika
GEWERKSCHAFTSRECHTE ALS MENSCHENRECHTE:                    Crecentia Mofokeng, BWI
SCHUTZ UND UMSETZUNG                                  14   SUBSAHARA AFRIKA: EINE GROSSE HERAUSFORDERUNG
                                                           IST CHINA                                     48
Internationale Arbeitsorganisation
Carolin Vollmann, DGB                                      Süd- und Südostasien
WÄCHTERIN DER GEWERKSCHAFTSRECHTE:                         Simiran Lalvani
100 JAHRE ILO                                         20   MIT VIER PUNKTEN IN DIE OFFENSIVE: STRATEGIEN
                                                           SÜD- UND SÜDOSTASIATISCHER GEWERKSCHAFTEN             51

Globalisierte Wirtschaft                              24
                                                           Auswahl frei zugänglicher Quellen und Informationen   55
Wertschöpfungs- und Lieferketten
Uwe Wötzel, ver.di                                         Verzeichnis der Infokästen                            58
NIE WIEDER RANA PLAZA! ABER WIE? VON DEN
UN-LEITPRINZIPEN ZUR INITIATIVE                            Abbildungsverzeichnis                                 58
LIEFERKETTENGESETZ.DE                                 26

Handelsabkommen
Valerie Franze, DGB Bildungswerk BUND
GEGEN DIE EIGENEN PRINZIPIEN: EU-HANDELSPOLITIK 30

Freihandel und Frieden in Kolumbien?
Alberto Orgulloso, ENS
JA ZU MEHR HANDEL – ABER MIT STÄRKEREN
ARBEITNEHMERRECHTEN UND IN FRIEDEN                    35

Globale Rahmenabkommen
Christina Hajagos-Clausen, IndustriALL
EINE ANTWORT AUF DIE GLOBALISIERUNG
DER UNTERNEHMEN                                       38

GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: INHALTSVERZEICHNIS                                                                       5
Gewerkschaftsrechte weltweit - Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen - DGB Bildungswerk Bund
Vorwort

    Weltweit nehmen Angriffe auf Gewerkschaftsrechte zu. In vie-       Statistik an. Umwelt- und Menschenrechtsaktivist_innen sind
    len Ländern kommen Regierungen ihrer Pflicht nicht ausrei-         ebenfalls betroffen. Die Angriffe auf Gewerkschaftsrechte
    chend nach, Menschenrechte und damit Gewerkschaftsrechte           gehen einher mit dem schwindenden Handlungsspielraum der
    zu schützen. Ganz im Gegenteil, oft unterlaufen geltende Ge-       Zivilgesellschaft generell. In den letzten zehn Jahren wird dieser
    setzgebung und Gesetzesänderungen das Recht auf Versamm-           Trend im entwicklungspolitischen Diskurs auch unter dem eng-
    lungs- und Vereinigungsfreiheit. Beispielsweise wurden in über     lischen Begriff Shrinking Space diskutiert. Zahlreiche Indizes,
    140 Ländern Anti-Terror-Gesetze erlassen, um die öffentliche       die in den meisten Ländern der Welt messen, wie es um die
    Sicherheit zu gewährleisten. Das dient in der Praxis oft der Le-   Demokratie und Freiheit steht (Freedomhouse), den Handlungs-
    gitimation, gegen Proteste und Streiks vorzugehen und mündet       spielraum der Zivilgesellschaft (CIVICUS) und die Gewerk-
    oft in ihrer brutalen Niederschlagung.                             schaftsrechte (Globaler Rechtsindex), belegen einen besorgnis-
                                                                       erregenden Abwärtstrend.
         Häufig sind die Arbeitnehmenden der Praxis von Unter-
    nehmen schutzlos ausgeliefert. Wenn Regelungen zum Arbeits-             Die Einengung zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraums
    schutz missachtet oder Arbeitnehmende wegen ihres gewerk-          wird oft durch die Betonung nationaler Souveränität gegen die
    schaftlichen Engagements entlassen werden, haben sie wenig         Einmischung des »Westens« legitimiert. Im globalen Süden re-
    zu befürchten. Denn in vielen Ländern des globalen Südens          sultiert dies historisch aus antikolonialen Kämpfen und wurde
    sind die rechtsstaatlichen Institutionen zu schwach. Bevor es      befeuert durch westliche militärische Interventionen etwa im
    zu einer Entscheidung kommt, vergehen Jahre. Das können sich       Irak und Afghanistan. Das Argument, progressiv demokratische
    die meisten Arbeiternehmenden nicht leisten.                       Akteure der Zivilgesellschaft seien ausländisch finanziert und
                                                                       somit auch gesteuert, wird hierzulande vielleicht besonders mit
         Um Investitionen anzuziehen, schaffen Regierungen selber
                                                                       Russland in Verbindung gebracht. Aber in vielen Ländern welt-
    Wirtschaftszonen, in denen das Arbeitsrecht beschnitten, das
                                                                       weit werden Geldtransfers für die Demokratieförderung an die
    Streikrecht manchmal gänzlich ausgehebelt wird.
                                                                       nationale Zivilgesellschaft zunehmend kritisch gesehen. Auch
         In einer globalisierten Wirtschaft, die derzeit ungenügend    demokratische Staaten wie etwa Indien, Kanada, Australien
    reguliert ist, werden die weltweiten Produktions- und Liefer-      führten externe Einmischung an, als sich lokale Aktivist_innen
    ketten dorthin verlagert, wo am billigsten produziert wird – auf   transnational vernetzten. Die Betonung der nationalen Souve-
    Kosten der Menschenrechte der Arbeitenden. Die politischen         ränität geht oft mit nationalen Ressentiments einher. Anderer-
    Rahmenbedingungen verhindern aktuell nicht, dass der tech-         seits erzeugen gerade eine starke Zivilgesellschaft und soziale
    nologische Fortschritt im Bereich Digitalisierung aber auch die    sowie ökologische Bewegungen die Konterreaktion von Regie-
    weltweite Migration zum Anstieg prekärer Arbeit führt. Dabei       rungen. Wenn sie Widerstand und Protest gegen die Ausbeu-
    finden sich Frauen überproportional in prekären Beschäfti-         tung von Natur und Mensch, große Infrastrukturprojekte, Amts-
    gungsverhältnissen und Arbeitsmigrant_innen sind von Ge-           missbrauch und Korruption leisten, versuchen Regierungen die
    werkschaftsrechten oft ausgeschlossen.                             bestehenden Systeme, Geschäftsmodelle und Projekte zu ver-
                                                                       teidigen, indem sie den zivilgesellschaftlichen Handlungsspiel-
         Über unmenschliche Arbeitsbedingungen hinaus, ist die
                                                                       raum einschränken.
    physische Gewalt bis hin zu Morden an Gewerkschafter_innen
    gestiegen. Die Philippinen und Kolumbien führen die traurige

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In zahlreichen Ländern haben Nationalisten, Populisten               Die vorliegende Broschüre beschäftigt sich zunächst damit,
und Rechtsextreme die Regierungsmacht erobert (Brasilien,             wie es um die Situation der Gewerkschaftsrechte weltweit steht,
Polen, Philippinen, USA etc.). Auch in Europa erstarken natio-        und versucht, folgende Fragen zu beantworten:
nalistische Kräfte, und populistische Parteien mit vermeintlich
                                                                           Wovon sprechen wir, wenn von Gewerkschaftsrechten die
einfachen Lösungsvorschlägen zu den aktuellen wirtschaftli-
                                                                      Rede ist, wie sind sie im internationalen Menschenrechtsschutz-
chen und sozialen Herausforderungen gewinnen an Zuspruch.
                                                                      system verankert und wie werden sie umgesetzt? Welche Rolle
In Deutschland erleben wir ebenso, wie geschickt Populisten
                                                                      spielt die Internationale Arbeitsorganisation, in der auch Ver-
ihre Propaganda über (soziale) Medien verbreiten und Aufmerk-
                                                                      tretungen der Arbeitnehmenden auf Ebene der Vereinten Na-
samkeit erlangen. Wer nicht zustimmt oder kritisch ist, wird
                                                                      tionen mitreden und mitbestimmen? Vor welchen Herausforde-
zum politischen Feind und zum Feind der Meinungsfreiheit er-
                                                                      rungen steht die ILO angesichts eines kriselnden Multilatera-
klärt. Die Verbreitung von Fake News und die Diffamierung
                                                                      lismus?
freier Presse zerstört das Vertrauen in recherchierte und beleg-
bare Nachrichten und Berichte und damit eine Grundlage un-                 Nach dieser Einführung geht es um mögliche Instrumente,
serer Demokratie – die Möglichkeit sachlich miteinander zu            Gewerkschaftsrechte in einer globalisierten Wirtschaft durch-
streiten.                                                             zusetzen. Was sind die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und
                                                                      Menschenrechte und was hat die jüngst lancierte Kampagne
     Wenngleich die Gründe für diese Entwicklungen teilweise
                                                                      für ein Lieferkettengesetz in Deutschland damit zu tun? Können
landesspezifisch sind, gibt es überall auch vergleichbare Ursa-
                                                                      Handelsabkommen ein Instrument sein, um Menschenrechte
chen. Das sind der politische Machterhalt und die Sicherung
                                                                      durchzusetzen? Was hat es mit globalen Rahmenabkommen,
der wirtschaftlichen Interessen einer Mehrheit der Eliten. Die
                                                                      einem von Gewerkschaften entwickelten Ansatz, auf sich?
innergesellschaftliche Zunahme sozialer Ungleichheit und die
mangelnde Aussicht auf sozialen Aufstieg, die Angst vorm Ab-               Schließlich schauen wir uns konkret die Lage von Gewerk-
stieg sowie Gefühle der kulturellen Bedrohung. Letztere werden        schaften im globalen Süden an. Es wird aus Brasilien berichtet,
politisch instrumentalisiert, um gegen ethnische Minderheiten         wo ein ultrarechtes und ein marktliberales Projekt zusammen-
zu hetzen, gegen soziale oder Minderheiten sexueller Orientie-        gehen und Gewerkschafts- und Arbeitsrechte sowie Demokratie
rung. Hinzu kommt ein schwindender Zuspruch zur Demokratie.           massiv untergraben. Mögliche Antworten auf die Herausforde-
Die Wahrnehmung, dass die politische Führung nicht im Stande          rung des chinesischen Engagements im Bausektor Subsahara
oder nicht Willens ist, eine zunehmend komplexe Welt zu len-          Afrikas werden erläutert und gewerkschaftliche Strategien
ken, lässt für einige vielleicht autokratische Alternativen attrak-   gegen Angriffe auf demokratische Werte und Rechte in Süd-
tiv erscheinen.                                                       und Südostasien vorgestellt.

     Demokratien zerfallen schleichend und die Signale stehen              Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren für ihre
auch in Deutschland auf Rot. Wir müssen daher jetzt für soziale       Beiträge und bei allen Beteiligten für ihr Mitwirken!
Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen! Gewerkschaften
                                                                                       Viel Spaß bei der Lektüre, Valerie Franze
kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, das belegen wissenschaft-
liche Studien und Demokratietheorien.

GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: VORWORT                                                                                                    7
Gewerkschaftsrechte weltweit - Warum wir jetzt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen müssen - DGB Bildungswerk Bund
Einführung

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GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG                              9
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Einführung I Die aktuelle Situation

     Gewerkschaftsrechte
     unter Beschuss
     Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) spricht von einer regelrechten Demokratiekrise:
     Weltweit schrumpfen demokratische Handlungsspielräume von Arbeitnehmenden, der
     Einfluss von Wirtschaftsunternehmen nimmt zu. Das passt in das gesamtpolitische Umfeld,
     in dem fast überall Nationalismus und die extreme Rechte erstarken und die wirtschaftliche
     Ungleichheit wächst. Deshalb hat der IGB-Vorstand im Oktober beschlossen, seine Arbeit
     auf den Frieden, die Verteidigung der Demokratie und einen neuen Gesellschaftsvertrag zu
     fokussieren. Loredana Carta berichtet über den Zustand von Arbeiterrechten weltweit.

     Tuti Tursilawati arbeitete als Arbeitsmigrantin in einem saudi-    litische Rechte aber auch generell nicht garantiert. Vor allem
     arabischen Haushalt, als sie 2011 angeblich ihren Arbeitgeber      in autokratischen Regimen wie Weißrussland, Ägypten und den
     tötete. Die Strafverfolgung fand heimlich statt, ebenso der        Philippinen werden Arbeitnehmerrechte wie Versammlungsfrei-
     Scharia-Prozess, in dem die zu dem Zeitpunkt 27-jährige Indo-      heit und politische Freiheiten wie die der Meinung nicht ge-
     nesierin ausgesagt haben soll, sie habe in Notwehr gehandelt,      schützt – im Gegenteil: Das brutale Niederschlagen der Arbei-
     als der Mann sie vergewaltigte. Die indonesischen Behörden         ter- und Volksproteste in Simbabwe und Hongkong offenbart
     erfuhren erst von dem Fall, nachdem Tuti Tursilawati im Oktober    die Fragilität von Frieden und Demokratie.
     2018 hingerichtet worden war.
                                                                             Weitere Trends sind der systematischen Abbau und die
          Konkrete Fälle wie dieser zeigen drastisch, wie absolut Ar-   willkürliche Auflösung unabhängiger Gewerkschaftsbewegun-
     beitnehmenden in vielen Ländern die Grundrechte verweigert         gen in repressiven Staaten wie Ägypten und Algerien. Viele Ge-
     werden. Am schlechtesten ist die Situation in der sogenannten
     MENA-Region, also dem Mittleren Osten und Nordafrika. In ei-
     nigen der Länder stammen fast 90 Prozent der Beschäftigten                            Drei Viertel der Länder
     aus dem Ausland. Das Kafala-System, das die Migration regu-                         der Region Asien-Pazifik
     lieren und kontrollieren soll, schließt die Wanderarbeiter_innen
     von jeglichem Arbeitsschutz und allen Arbeitsrechten aus. Sie
                                                                                     verhafteten Arbeitnehmende
     dürfen sich nicht organisieren, den Arbeitsplatz verlassen und                        während der Proteste.
     auch nicht frei reisen.

                                                                        werkschaften haben schon Schwierigkeiten bei der behördli-
     Regierungspraktiken sind besorgniserregend
                                                                        chen Registrierung, die wesentlich ist, um das Recht auf Verei-
     Weltweit sind Arbeitsmigrant_innen am häufigsten von Aus-          nigungsfreiheit einfordern zu können. Deshalb ist die offizielle
     beutung, Zwangsarbeit und täglichem physischen und psy-            Anerkennung immer der erste Schritt für Arbeitnehmerorgani-
     chischem Missbrauch betroffen. In vielen Ländern werden po-        sationen, wenn sie effizient arbeiten und ihre Mitglieder ange-
                                                                        messen vertreten wollen. 2019 behinderten die Behörden Ge-
                                                                        werkschaften in 86 Ländern dabei, sich anzumelden, sie mel-
       Die Autorin: Loredana Carta arbeitet als Juristin in der         deten längst registrierte Gewerkschaften offensiv ab oder lösten
       Abteilung Menschen- und Gewerkschaftsrechte des Inter-           sie willkürlich auf, beispielsweise in Argentinien, Weißrussland,
       nationalen Gewerkschaftsbunds (IGB-ITUC) und ist ver-            Burkina Faso, Guatemala und Honduras.
       antwortlich für die Erstellung des jährlichen IGB Global
                                                                             Viele Regierungen erhöhen auch den Druck auf Arbeitneh-
       Rights Index
                                                                        mende, die ihre Rechte geltend machen und ihre Gewerkschaf-
       www.ituc-csi.org/rights-index-2019?lang=en
                                                                        ten unterstützen wollen. Sie entsenden Polizei und Militär, die

10   DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Ziegelei in Ägypten. Arbeit unter widrigen Bedingungen und ohne jegliche Schutzkleidung. — Foto: Well-Bred Kannan (CC BY-NC-ND 2.0)

gewaltsam gegen Proteste und Streiks vorgehen, und nehmen
gezielt bekannte Gewerkschaftsführer_innen ins Visier. 2019                        Das Kafala-System
wurden in 64 vom IGB befragten Ländern Arbeitnehmende fest-
                                                                                   Kafala ist ein besonderes System der Bürgschaft und unter
genommen und inhaftiert. Drei Viertel der Länder der Region
                                                                                   anderem in den arabischen Golfstaaten weit verbreitet.
Asien-Pazifik verhafteten Arbeitnehmende während der Pro-
                                                                                   Arbeitswillige dürfen nur ins Land, wenn ihre Arbeitge-
teste, in Europa kam das in jedem vierten Land vor.
                                                                                   benden für sie bürgen. Ohne das Einverständnis des so-
      Und es bleibt nicht bei den willkürlichen Verhaftungen. Es                   genannten Sponsors dürfen die Wanderarbeiter_innen
gibt eine besorgniserregende Entwicklung zu mehr körperlicher                      weder den Arbeitsplatz wechseln noch das Land verlas-
Gewalt gegen Gewerkschaftsführer_innen, insbesondere durch                         sen. Zugleich können Arbeitgebende jederzeit die Be-
repressive Regime. Das schürt ein Klima der Einschüchterung                        schäftigung auflösen und damit die Aufenthaltserlaubnis
und Angst. Die Ansage: Wer sich für Gewerkschaften engagiert,                      entziehen. Verlassen die Arbeitsmigrant_innen Katar, dür-
setzt sein Leben aufs Spiel. 2018 wurden Gewerkschafter_in-                        fen sie zwei Jahre nicht zurückkehren, auch nicht mit
nen in mindestens zehn Ländern ermordet: in Bangladesch,                           einem neuen Sponsor. Das macht sie extrem anfällig für
Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Honduras, Italien, Pakistan,                      Zwangsarbeit. Das asymmetrische Machtverhältnis er-
den Philippinen, der Türkei und Simbabwe. Allein in Kolumbien                      möglicht den Arbeitgebenden zudem, die Arbeitnehmen-
wurden 34 Gewerkschafter umgebracht sowie zehn Fälle von                           den zu niedrig, verspätet oder gar nicht zu entlohnen.
Mordversuchen und 172 Fälle von Morddrohungen dokumen-                                  Breiter bekannt wurde das System, als Gewerkschaf-
tiert. Die meisten dieser Verbrechen sind nach wie vor unge-                       ten aufdeckten, dass Arbeitende auf den Baustellen für
klärt. Die Regierung versäumt es, die notwendigen Mittel für                       die Fußball WM 2022 in Katar in sklavenähnlichen Ver-
die zeitnahe Untersuchung und Verfolgung dieser Fälle bereit-                      hältnissen leben mussten. Im Oktober 2019 hat Katar Ar-
zustellen. Mit der Unterdrückung der Arbeiterbewegung und                          beitsreformen verkündet, nach denen das Kafala-System
der unabhängigen Gewerkschaften werden menschenwürdige                             moderner Sklaverei beendet werden soll: Neben einem
Arbeit und demokratische Rechte in fast allen Ländern ge-                          Mindestlohn regelt es, dass Arbeitskräfte keine Ausreise-
schwächt.                                                                          visa und keine Einverständniserklärung von Arbeitgeben-
                                                                                   den bei einem Jobwechsel mehr brauchen. Verträge sollen
Unternehmen versagen Gesellschaftsvertrag                                          transparenter und über Arbeitsgerichte einklagbar wer-
                                                                                   den. Das Reformprogramm ist Teil einer Vereinbarung Ka-
Das aktuelle Geschäftsmodell ist von wachsender Ungleichheit
                                                                                   tars mit der Internationalen Arbeitsorganisation über
geprägt. Wesentlich ursächlich dafür ist das Scheitern des Ge-
                                                                                   technische Zusammenarbeit.
sellschaftsvertrags, infolgedessen mehr Arbeitnehmende denn

GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DIE AKTUELLE SITUATION                                                                                               11
ITUC Global Rights Index: Die schlimmsten Länder der Welt für Arbeiter_innen

                                             Index:
                                              Rechte nicht garantiert wegen         Systematische Rechtsverletzungen
                                                Zusammenbruchs der                   Regelmäßige Rechtsverletzungen
                                                Rechtsstaatlichkeit                  Wiederholte Rechtsverletzungen
                                              Rechte nicht garantiert               Sporadische Rechtsverletzungen
                                                                                                                                            Quelle: ITUC

     je mit inakzeptablen Arbeitsbedingungen und Ausbeutung,                        Zudem verfolgen Unternehmen aktiv gewerkschaftsfeind-
     Lohnstagnation und eingeschränkter Macht über eigene Le-                  liche Strategien, damit sich die Arbeitnehmenden nicht orga-
     bensentscheidungen konfrontiert sind. Zugleich ist eine wach-             nisieren können. Einen besonders brisanten Fall hat der IGB
     sende Zahl von Beschäftigten vom arbeitsrechtlichen Schutz                gemeinsam mit koreanischen Gewerkschaften 2017 bei Sam-
     ausgeschlossen: 2,5 Milliarden Menschen in der informellen                sung aufgedeckt. Der Elektronikriese hatte ein ganzes System
     Wirtschaft, Millionen von Arbeitsmigrant_innen, noch mehr                 von Schmiergeldzahlungen auf der einen und Drohungen, Mob-
     Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zum Beispiel in der             bing, willkürliche Kündigungen und sogar Kidnapping auf der
     Plattformökonomie. Insgesamt haben bestimmte Kategorien                   anderen Seite aufgebaut, um die Arbeitnehmenden systema-
     von Arbeitnehmenden in 107 vom IGB befragten Ländern bei-                 tisch einzuschüchtern und völlig zu kontrollieren.
     spielsweise nicht das Recht, sich zu organisieren.
                                                                                    Auch bei der Gesetzgebung wird der Einfluss von Unter-
          Unternehmen nutzen die Veränderungen in der Arbeitswelt              nehmen und ausländischen Investoren immer deutlicher. In vie-
     proaktiv, um Arbeitsgesetze und -vorschriften zu umgehen und              len Ländern, darunter Moldawien und Rumänien, haben Un-
     so höhere Profite zu machen. Besonders deutlich ist das in                ternehmenslobbys die Regierungen stark in Richtung Reformen
     Europa. Sogenannte nicht standardisierte Beschäftigungsfor-               zum Nachteil des trilateralen sozialen Dialogs und der Arbeit-
     men stören die Organisationsmöglichkeiten der Gewerkschaf-                nehmerrechte gedrängt. In anderen Ländern verabschiedeten
     ten, da sie Beschäftigte meist physisch oder psychisch von Fest-          die Regierungen Gesetze, die Rechtsstaatlichkeit gefährden und
     angestellten isolieren. Dazu gehören Zeitarbeit, Teilzeitarbeit,          die Möglichkeiten der Arbeitnehmenden und ihrer Gewerk-
     Abrufarbeit und Verträge mit Null- oder variabler Arbeitszeit,            schaften untergraben, ihre Grundrechte am Arbeitsplatz zu si-
     Leiharbeit; außerdem versteckte und abhängige Selbstständig-              chern und durchzusetzen. Konkret haben in den letzten Jahren
     keit, bei der ein Großteil der Arbeitskräfte in Plattformarbeit,          die Regierungen in drei der bevölkerungsreichsten Länder der
     in Einzelaufträgen oder digitaler Arbeit zu finden ist.                   Welt – China, Indonesien und Brasilien – Gesetze verabschie-
                                                                               det, die den Arbeitnehmenden die Vereinigungsfreiheit verwei-

12   DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
gern und ihre Meinungsfreiheit einschränken. Zugleich erlaub-
ten sie, das Militär zur Unterbindung von Arbeitskämpfen ein-                 Globaler Rechtsindex
zusetzen.
                                                                              Anhand von 97 international anerkannten Indikatoren –
                                                                              wie der Verletzung des Streikrechts über Beschränkung
Kampf um Demokratie
                                                                              der Versammlungsfreiheit bis zu Morden an Gewerkschaf-
Woher das alles kommt, liegt auf der Hand: Die Gewerkschaf-                   ter_innen – untersucht der IGB jedes Jahr, wie es in ver-
ten spielen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung demokrati-               schiedenen Ländern um die Arbeitnehmerrechte bestellt
scher Rechte und Freiheiten und der Umverteilung von Macht                    ist. Dabei fragt er sowohl nach der Gesetzgebung als auch
und Wohlstand. Sie stehen an vorderster Front bei allen Kämp-                 nach der Praxis. Die Ergebnisse werden im Globalen
fen zur Eindämmung von Profitgier und Konzernmacht und Re-                    Rechtsindex zusammengefasst. 2019 bewertete der IGB
gierungen, die darin verstrickt sind. Das macht sie zu Schlüs-                145 Länder. Die 10 schlimmsten Länder für Arbeitneh-
selzielen für politische Vergeltungsmaßnahmen. Und der enge                   mende waren Algerien, Bangladesch, Brasilien, Kolum-
Zusammenhang zwischen Arbeitnehmerrechten und Demokra-                        bien, Guatemala, Kasachstan, die Philippinen, Saudi-Ara-
tie erklärt, warum Regierungen, die sich vor freien und fairen                bien, die Türkei und Simbabwe. Für Brasilien und Sim-
demokratischen Prozessen fürchten, besonders daran interes-                   babwe war die schlechte Platzierung eine Premiere.
siert sind, die Stimme der Arbeitnehmenden zu unterdrücken.

     Dass Gewerkschaften auch eine Reihe von positiven Ver-
                                                                            nach 12 Monaten bei ihren Arbeitgebenden um einen neuen
änderungen maßgeblich initiiert und vorangetrieben haben be-
                                                                            Vertrag mit sicheren Arbeitszeiten bemühen.
legt in Island ein Gesetz zur Beseitigung des Lohngefälles zwi-
schen den Geschlechtern, in Kanada die Verabschiedung von                       Es ist höchste Zeit, die Regeln zu ändern, da Menschen
bezahltem Urlaub in Fällen häuslicher Gewalt und in Neusee-                 das Vertrauen in Demokratie verlieren. Wir brauchen einen
land die Aufhebung repressiver Arbeitsgesetze. In Irland ver-               neuen Sozialvertrag zwischen Arbeitnehmenden, Regierungen
abschiedete das Parlament im März 2019 das Beschäftigungs-                  und Unternehmen. —
gesetz, dem zufolge Nullstundenverträge außer in Situationen
echter Gelegenheitsarbeit verboten sind. Dieser Rechtsakt ist
ein bedeutender Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingun-
gen für Arbeitnehmende mit unsicheren Verträgen oder varia-
blen Arbeitszeiten. Er ist das Ergebnis eines langen Kampfes
von Arbeitnehmenden und Gewerkschaftsaktivist_innen von
Dunnes Stores, die sich in den letzten vier Jahren für die Ab-
schaffung der Nullstundenverträge eingesetzt haben. Dank die-
ser Gesetzgebung können sich nun Tausende von Beschäftigten

Sechsjährige globale Trends: Verstärkter Einsatz von Gewalt, Verhaftung und Inhaftierung

50%
                                                                                                                 Länder, die Gewerkschafts-
                                                                                                                 mitglieder willkürlich
                                                                                                                 festnehmen und inhaftieren.
40%
                                                                                                                 Länder, die Arbeitnehmende
                                                                                                                 physischer Gewalt aussetzen

30%

20%

         2014              2015               2016               2017                2018             2019
       139 Länder        141 Länder         141 Länder         139 Länder          144 Länder       145 Länder                                 Quelle: ITUC

GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DIE AKTUELLE SITUATION                                                                                        13
Einführung I Das internationale Menschenrechtsschutzsystem

     Gewerkschaftsrechte
     als Menschenrechte:
     Schutz und Umsetzung
     In der globalisierten Wirtschaft geraten Gewerkschaftsrechte vielerorts unter Druck.
     Welche grundlegenden Rechte haben Gewerkschaften und die Arbeitenden überhaupt –
     und wie wird ihre Einhaltung überwacht? Folke Kayser beantwortet die wichtigsten Fragen.

     Was sind Menschenrechte? Menschenrechte sind grundle-                     Wie entstehen Menschenrechtsabkommen auf UN-Ebene?
     gende Rechte, die die Würde des einzelnen Menschen schützen          Menschenrechtsabkommen werden zwischenstaatlich auf Ver-
     und ihm ein freies selbstbestimmtes Leben in Gemeinschaft mit        tragsstaatenkonferenzen ausgehandelt und in der Generalver-
     anderen ermöglichen sollen. Dazu gehören bürgerliche, politi-        sammlung der Vereinten Nationen (UN) von den Mitgliedstaa-
     sche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Menschen-      ten verabschiedet.
     rechte sind universell, unveräußerlich und unteilbar. Die Uni-
                                                                               Welche Rolle spielen Gewerkschaften bei der Verwirkli-
     versalität bezieht sich auf die Geltung, nicht jedoch auf die Ver-
                                                                          chung von Menschenrechten? Der Zusammenschluss von Ar-
     wirklichung der Menschenrechte, die freilich durch die einzel-
                                                                          beitnehmenden schafft Durchsetzungskraft und Augenhöhe in
     nen Staaten sehr unterschiedlich umgesetzt werden.
                                                                          Verhandlungen mit Arbeitgebenden. So können Arbeitneh-
        Für wen gelten die Menschenrechte? Rechtsinhaber der              mende ihre Rechte und Interessen durchsetzen. Gewerkschaf-
     Menschenrechte sind alle Menschen.                                   ten haben auch eine große Bedeutung für das Funktionieren
                                                                          einer demokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
          Wer trägt die Verantwortung für die Menschenrechte?
                                                                          Sie bewirken die Umverteilung von Macht und Wohlstand in
     Menschenrechtliche Pflichtenträger sind alle staatlichen Insti-
                                                                          die Breite der Gesellschaft.
     tutionen. Sie sind dazu verpflichtet, die Menschenrechte zu ach-
     ten, vor Beeinträchtigungen durch Dritte (z. B. Unternehmen)              Was sind Gewerkschaftsrechte? Gewerkschaftsrechte sind
     zu schützen und sie zu gewährleisten. Unternehmen tragen             der Kern der Rechte der Arbeitenden, weil durch sie alle ande-
     ebenfalls eine Verantwortung: Sie müssen mit menschenrecht-          ren Arbeiterrechte erstritten werden können. Sie beinhalten ers-
     licher Sorgfalt agieren, um möglichen negativen Auswirkungen         tens das Recht eines oder einer jeden, Gewerkschaften zu bil-
     auf die Menschenrechte vorzubeugen oder diese zu mindern.            den und einer Gewerkschaft eigener Wahl beizutreten, und
     Im Falle von Menschenrechtsbeeinträchtigungen haben die              zweitens das Recht der Gewerkschaften, sich frei zu betätigen
     Opfer Anspruch auf Wiedergutmachung. Letztlich tragen alle           sowie nationale oder internationale Verbände zu gründen und
     gesellschaftlichen Akteure wie auch Nichtregierungsorganisa-         ihnen beizutreten. Außerdem gehören dazu das Recht zu Kol-
     tionen, Medien, Kirchen und Gewerkschaften Verantwortung             lektivverhandlungen und das Streikrecht, soweit es in Überein-
     für die Menschenrechte.                                              stimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt
                                                                          wird.
          Wo sind die Menschenrechte festgeschrieben? Die Verein-
     ten Nationen (UN) haben 1948 die Allgemeine Erklärung der                 Wo sind diese Gewerkschaftsrechte festgelegt? Seit 1948
     Menschenrechte verabschiedet, die ein wichtiges politisches          gibt es die wichtigste rechtliche Grundlage für Gewerkschafts-
     Instrument ist, jedoch nicht rechtlich bindend ist. Deshalb          rechte, das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorga-
     haben die UN 1966 zwei Menschenrechtspakte verabschiedet,            nisation (ILO) über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des
     die die Menschenrechte in einer für alle Unterzeichnerstaaten
     rechtsverbindlichen Form festlegen: den Internationalen Pakt
     über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, auch »UN-         Die Autorin: Folke Kayser ist Wissenschaftliche Mitarbei-
     Sozialpakt« genannt, und den Internationalen Pakt über bür-            terin am Deutschen Institut für Menschenrechte
     gerliche und politische Rechte, kurz »UN-Zivilpakt«.

14   DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Vereinigungsrechtes (Abkommen Nr. 87). Alle anderen Rechts-              Druck ausüben, haben aber keine Zwangsmittel um internatio-
quellen beziehen sich darauf und müssen konform ausgelegt                nales Recht in souveränen Staaten durchzusetzen. Sehr wohl
werden. Ein weiteres grundlegendes ILO-Übereinkommen ist                 können sie feststellen, was und was nicht normenkonform ist
das Abkommen Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze                    und somit zur Rechtsklarheit beitragen. Die Rechenschafts-
des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhand-             pflicht von Staaten gegenüber den internationalen Gremien
lungen. Die Gewerkschaftsrechte sind darüber hinaus sowohl               schafft Transparenz über Missstände und Menschenrechtsver-
im UN-Sozialpakt (Artikel 8) als auch im UN-Zivilpakt (Artikel           letzungen. Auf die Berichte können sich wiederum Akteur_in-
22) festgeschrieben.                                                     nen der Zivilgesellschaft berufen, wenn sie Forderungen an die
                                                                         nationale Regierung stellen.
     Wie entstehen ILO-Übereinkommen? Alle Übereinkommen
der ILO werden mit Vertreter_innen aus Regierungen, von Ar-                   Sind die Gewerkschaftsrechte im Rahmen der UN und der
beitnehmenden und Arbeitgebenden in einem Unterausschuss                 ILO rechtlich bindend? Von der Regierung unterzeichnete Völ-
der Internationalen Arbeitskonferenz verhandelt. Die Mitglieder          kerrechtsabkommen – das gilt sowohl für Menschenrechtsab-
der ebenfalls dreigliedrig besetzten Arbeitskonferenz verab-             kommen als auch für ILO-Übereinkommen – müssen in
schieden es dann und fordern die Mitgliedstaaten zur Ratifizie-          Deutschland dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden.
rung auf.                                                                Erst ratifizierte Abkommen sind rechtlich bindend. Die nationale
                                                                         Gesetzgebung ist mit den Inhalten des Abkommens in Einklang
     Was können internationales Recht und seine Gremien leis-
                                                                         zu bringen.
ten? Das internationale Recht und internationale Normen bil-
den den Referenzrahmen für nationales Recht und Politik. So-                 Woher wissen die Staaten, wie sie die Gewerkschaftsrechte
ziale Bewegungen können sich darauf berufen und so ihre For-             auszulegen haben? Die ILO hat praktisch zu jedem Überein-
derungen legitimieren. Entscheidend ist, dass Beschäftigte Ge-           kommen eine Empfehlung erlassen, wie es zu interpretieren
werkschafts- und Arbeitsrechte auf nationaler Ebene immer                und umzusetzen sei. Die UN-Fachausschüsse zu den einzelnen
wieder rechtlich und politisch erstreiten und verteidigen. Inter-        Menschenrechtsabkommen verabschieden sogenannte Allge-
nationale Organisationen können bei Missständen politischen              meine Bemerkungen zur Auslegung einzelner Menschenrechte.

Internationale Menschenrechte und ILO-Übereinkommen
                                                                                                             Menschenrechtswächter:
                                                                                                            Gerichte, nationale Menschen-
                                                                                                            rechtsinstitutionen, Organe der
                                                                                                                 UN, Medien, andere
                                             Pflicht: Rechte achten, schützen, gewährleisten
                                                                                                                        Rechenschaft
                                                                                                                          Fordern

                                           Verantwortung: Rechte achten

                                                                                                                  Pflichtenträger
        Rechteinhaber                                 Menschenrechtsprinzipien:                                    (alle staatlichen
         (BürgerInnen &                               R Nichtdiskriminierung                                        Institutionen)
         alle Menschen)                               R Partizipation
                                                      R Transparenz & Rechenschaft
                                                      Prinzipien der ILO:                                    Verantwortungsträger
                                                      R Vereinigungsfreiheit                                   (Unternahmen, andere
                                                      R Tripartismus & sozialer Dialog                        nicht-staatliche Akteure)
              Unterstützen

                                                   Zugang zu und Einfordern von Rechten
 Menschenrechtsverteidiger:                            (und zu Abhilfe falls notwendig)
    NROs, Gewerkschaften,
       Medien, andere

GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DAS INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSSCHUTZSYSTEM                                                       15
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Mehrfach wurden hier auch Fälle zu Arbeits- und Gewerkschaftsrechten verhandelt.
                                                                                                                               — Foto: Tim Reckmann (CC BY 2.0)

     Für die Gewerkschaftsarbeit relevant sind die Allgemeinen Be-                      Wie überwacht die ILO die Gewerkschaftsrechte? Als spe-
     merkungen zum UN-Sozialpakt zum Recht auf Arbeit (Nr. 18),                   zialisierte Sonderorganisation der Vereinten Nationen für alle
     zum Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen (Nr.                  Fragen rund um Arbeit und Beschäftigung ist die ILO die wich-
     23) und zu den Pflichten der Vertragsstaaten des Sozialpakts                 tigste internationale Instanz zum Schutz der Arbeiter- und Ge-
     im Kontext unternehmerischen Handelns (Nr. 24). Eine Ausle-                  werkschaftsrechte. Das Normenkontrollverfahren der ILO gilt
     gung der Rechte geschieht auch durch die Rückmeldungen der                   im Vergleich zu anderen UN-Verfahren als relativ wirksam. Das
     UN-Organe, die die staatliche Umsetzung überprüfen sowie                     Erfolgsrezept ist die enge Einbindung von Gewerkschaften und
     durch die nationalen Verfassungsgerichte und regionalen Men-
     schenrechtsgerichtshöfe.
                                                                                            Das Erfolgsrezept ist die enge
          Ist es möglich, Gewerkschaftsrechte im Zuge der nationa-
     len Umsetzung der Rahmenvorgaben gesetzlich einzuschrän-
                                                                                         Einbindung von Gewerkschaften
     ken? Gesetzliche Einschränkungen sind theoretisch nur zuläs-                        und Arbeitgeberorganisationen.
     sig, wenn sie im Interesse der nationalen Sicherheit, der öffent-
     lichen Ordnung oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten an-
                                                                                  Arbeitgeberorganisationen in alle Gremien und Verfahren der
     derer erforderlich sind. Sie können grundsätzlich eingeschränkt
                                                                                  ILO. Es gibt zwei grundlegende Verfahren zur Überprüfung der
     sein für Streitkräfte und Polizei und beim Streikrecht für Ange-
                                                                                  Umsetzung der ILO-Übereinkommen, das reguläre Normenkon-
     hörige der öffentlichen Verwaltung, die hoheitliche Befugnisse
                                                                                  trollverfahren und das zusätzliche Verfahren zum Schutz der
     ausüben
                                                                                  Vereinigungsfreiheit.
          Was zeigt die Praxis? Die vermeintliche Gefährdung von
                                                                                       Wie funktionieren diese Verfahren im Einzelnen? Im Rah-
     nationaler Sicherheit und öffentlicher Ordnung als Begründung
                                                                                  men des regulären Normenkontrollverfahrens müssen die Mit-
     für Ausnahmen öffnet ein Einfallstor, das zum Missbrauch ein-
                                                                                  gliedstaaten der ILO in regelmäßigen Abständen über den
     lädt: So gibt es derzeit in mehr als 140 Ländern Anti-Terror-Ge-
                                                                                  Stand der Umsetzung der von ihnen ratifizierten Übereinkom-
     setze. Autoritäre Regierungen nutzen sie, um Protest, Streik und
                                                                                  men berichten. Der unabhängige Sachverständigenausschuss
     Opposition unter anderem von Gewerkschaften zu unterdrü-
                                                                                  für die Anwendung der Normen und Empfehlungen der ILO ver-
     cken und die eigene Macht zu erhalten.
                                                                                  öffentlicht jedes Jahr einen Bericht zur Einhaltung der ILO Nor-

16   DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
men. Darüber hinaus sendet er konkrete Verbesserungsvor-                    Wie funktioniert das Allgemeine Regelmäßige Überprü-
schläge unmittelbar an die Regierungen des betroffenen Mit-           fungsverfahren des UN-Menschenrechtsrats? Der UN Men-
gliedstaates.                                                         schenrechtsrat hat 2007 ein allgemeines regelmäßiges Über-
                                                                      prüfungsverfahren (Universal Periodic Review, UPR) eingerich-
     Aufgrund der besonderen Bedeutung der Vereinigungsfrei-
                                                                      tet, dem alle Mitgliedstaaten alle vier bis fünf Jahre unterzogen
heit und des Rechts auf Kollektivverhandlungen werden Ver-
                                                                      werden. Betrachtet werden die Menschenrechte aus allen rati-
stöße gegen die Kernarbeitsnormen 87 und 98 durch den drei-
                                                                      fizierten UN-Menschenrechtsabkommen. Andere Staaten über-
gliedrig besetzten Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der ILO
                                                                      prüfen jeweils den Staatenbericht, Berichte von zivilgesell-
gesondert debattiert. Dieser legt der betroffenen Regierung
                                                                      schaftlichen Organisationen und Informationen aus dem UN-
einen Bericht mit Verbesserungsvorschlägen zur Stellungnahme
                                                                      System, also auch aus der ILO. Am Ende des Verfahrens formu-
vor. Bestimmte Fälle werden dem Sachverständigenausschuss
                                                                      lieren sie Empfehlungen an den überprüften Staat, die dieser
übermittelt.
                                                                      annehmen oder ablehnen kann.
     Welche Verletzungen der Gewerkschaftsrechte mahnt die
                                                                           Gibt es auch hierfür ein aktuelles Beispiel? Panama
ILO in Deutschland an? Deutschland wird sowohl vom Sach-
                                                                      brachte 2018 die Empfehlung ein, Aserbaidschan solle Kollek-
verständigenausschuss als auch vom Ausschuss für Vereini-
                                                                      tivverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber-
gungsfreiheit seit Jahrzehnten immer wieder dafür gerügt, dass
                                                                      organisationen fördern. Die aserbaidschanische Regierung
deutschen Beamten pauschal das Streikrecht verwehrt wird,
                                                                      nahm an.
auch wenn sie – wie etwa Lehrer_innen – in keinem Bereich
tätig sind, in dem sie genuin hoheitliche Befugnisse ausüben.             Bleiben noch die Sonderverfahren des UN Menschen-
                                                                      rechtsrats. Was hat es damit auf sich? Der UN Menschen-
     Wie überwacht das UN-Menschenrechtssystem Gewerk-
                                                                      rechtsrat kann außerdem Sonderberichterstatter_innen oder
schaftsrechte? Weil Gewerkschaftsrechte Menschenrechte
                                                                      Arbeitsgruppen zu kritischen Themen oder problematischen
sind, hat auch das Menschenrechtsschutzsystem der UN eine
Bedeutung für ihren Schutz. Es gibt Verfahren, die an einzelne
Menschenrechtsabkommen gebunden sind und welche, die di-
rekt dem Menschenrechtsrat, einem Nebenorgan der UN-Ge-                  Wo sind Gewerkschaftsrechte
neralversammlung, unterstehen. Dazu gehören das Staatenbe-               international verankert?
richtsverfahren für einzelne Abkommen, das Allgemeine Regel-
mäßige Überprüfungsverfahren und Sonderverfahren.                        Internationale Abkommen
                                                                         R ILO-Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit
     Noch einmal im Einzelnen: Was ist das Staatenberichtsver-
                                                                            und den Schutz des Vereinigungsrechtes (C87)
fahren für einzelne Abkommen? Staaten, die einem Abkom-
                                                                         R ILO-Übereinkommen über die Anwendung der Grund-
men beigetreten sind, müssen regelmäßig über den Umset-
                                                                            sätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kol-
zungsstand in ihrem Land berichten. Zivilgesellschaftliche Or-
                                                                            lektivverhandlungen (C98)
ganisationen können zusätzlich sogenannte Parallelberichte
                                                                         R UN Sozialpakt Artikel 8
einreichen. Jedes Menschenrechtsabkommen hat einen Fach-
                                                                         R UN Zivilpakt Artikel 22
ausschuss aus Expert_innen als Vertragsorgan, der die Umset-
                                                                         R UN Behindertenrechtskonvention Artikel 27.1.c
zung prüft. Die UN-Fachausschüsse begutachten die Staaten-
                                                                         R Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel
berichte und Parallelberichte, stellen Rückfragen und formulie-
                                                                            23.4
ren sogenannte Abschließende Bemerkungen. Darin fordern sie
                                                                         Regionale Menschenrechtsabkommen
prioritäre Maßnahmen von Regierungen zur vollständigen Um-
                                                                         R Europäische Menschenrechtskonvention (des Europa-
setzung des Abkommens.
                                                                            rates) Artikel 11
     Gibt es aktuelle Beispiele, in denen Gewerkschaftsrechte            R Europäische Sozialcharta (des Europarates) Artikel 5
eine Rolle spielen? Gewerkschaftsrechte werden in sehr vielen               und 6
Abschließenden Bemerkungen zum Sozialpakt und Zivilpakt an-              R Charta der Grundrechte der Europäischen Union Arti-
gesprochen. So wird Nigeria beispielsweise ermahnt, effektiver              kel 12, 27 und 28
dagegen vorzugehen, dass Gewerkschafter_innen bedroht und                R Amerikanische Menschenrechtskonvention Artikel 16
ermordet werden. Mauritius ist aufgefordert, die Gewerk-                 R Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte
schaftsrechte in Freihandelszonen besser zu schützen und Süd-               der Völker Artikel 10
afrika wird empfohlen, das Streikrecht einschränkende Ände-              R Arabische Charta der Menschenrechte Artikel 29
rungen des Gewerkschaftsgesetzes zurückzunehmen.                         R ASEAN-Erklärung der Menschenrechte Artikel 27.2

GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DAS INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSSCHUTZSYSTEM                                                   17
Ländern einsetzen. Diese Sonderverfahren analysieren die ak-          47 Mitgliedern. Ihm angegliedert ist der Europäische Gerichts-
     tuellen Herausforderungen und machen Empfehlungen zu ihrer            hof für Menschenrechte, der die Umsetzung der Europäischen
     Überwindung. Für Gewerkschaftsrechte sind zwei besonders              Menschenrechtskonvention überwacht. Individuen oder Perso-
     relevant. Der Sonderberichterstatter zum Recht auf Versamm-           nengruppen können Beschwerde bei ihm einlegen, wenn sie
     lungs- und Vereinigungsfreiheit geht in jedem seiner Berichte         sich in ihren Rechten verletzt sehen. Der Europäische Gerichts-
     auch auf die Situation der Gewerkschaftsrechte ein. Er sieht als      hof für Menschenrechte kann Staaten zu Strafzahlungen an das
     globalen Trend die zunehmende Verengung des Freiraums für             Opfer verurteilen, nationale Rechtsprechung aber nicht rück-
     zivilgesellschaftliche Organisationen, von der auch Gewerk-           gängig machen.
     schaften betroffen sind.
                                                                                Wie relevant ist dieser Europäische Gerichtshof für Men-
          Was ist das zweite aktuell für Gewerkschaftsrechte beson-        schenrechte? Das Verfahren ist vergleichsweise wirksam, weil
     ders relevante Sonderverfahren? Eine Arbeitsgruppe befasst            es viel in Anspruch genommen wird und in vielen tausend Fäl-
     sich mit der Umsetzung der UN Leitprinzipien für Wirtschaft           len Recht gesprochen hat. Mehrfach wurden hier auch Fälle zu
     und Menschenrechte. Sie hat sich in letzter Zeit vor allem damit      Arbeits- und Gewerkschaftsrechten verhandelt – besonders
     beschäftigt, wie Opfer von Rechtsverletzungen in globalen Lie-        viele zum Thema Gewerkschaftsfreiheit von Angehörigen des
     ferketten einen verbesserten Zugang zu Abhilfe und Wieder-            Öffentlichen Dienstes in der Türkei. Ein anderes Beispiel ist der
     gutmachung erhalten können. Der Prozess, hier zu einem bin-           Fall einer deutschen Beschwerdeführerin: Der Altenpflegerin
     denden Abkommen (»Binding Treaty«) zu kommen, läuft seit              war fristlos gekündigt worden, weil sie Strafanzeige gegen
     2014, kommt aber nicht so recht voran, weil wichtige Staaten          ihren Arbeitgeber erstattet hatte mit der Begründung, Pflege-
     und Verbünde sich an den Verhandlungen nicht beteiligen.              bedürftige und ihre Angehörigen erhielten wegen Personal-
     Dazu gehört neben den USA auch Deutschland.                           mangels keine angemessene Gegenleistung für die von ihnen
                                                                           getragenen Kosten. Der Gerichtshof entschied zu ihren Guns-
         Welche Rolle spielen regionale Menschenrechtsschutzsys-
                                                                           ten.
     teme? Für Europa ist dies zum einen der Europarat mit seinen

       Der Prozess um das »Binding Treaty«
       »Die globale Macht der Unternehmen übersteigt alles, was           vertreten und versteckt sich hinter seiner EU-Mitgliedschaft –
       wir bisher gesehen haben«, schreibt beispielsweise Jenny           die EU könne »nur mit einer Stimme sprechen«. Tatsächlich
       Holdcroft, stellvertretende Generalsekretärin bei dem globalen     hat die EU-Kommission dazu aber gar kein Mandat.
       Gewerkschaftsverband IndustriALL. Und das gehe auf Kosten               2018 hat der ecuadorianische Vorsitz erstmals einen Ent-
       der Beschäftigten und der Umwelt. Dieser Einschätzung ist          wurf vorgelegt und diesen 2019 noch einmal überarbeitet.
       auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Zwar            Anders als in früheren Konzepten vorgesehen, sollen die Sorg-
       gibt es seit 2011 die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und         faltspflichten nicht nur für transnationale, sondern prinzipiell
       Menschenrechte, sie bedeuten aber keine rechtliche Verpflich-      für alle Geschäfte gelten. Ein Vorrang für Menschenrechte vor
       tung für die Unternehmen. 2014 setzte der UN-Menschen-             Handels- und Investitionsabkommen findet sich in dem Ent-
       rechtsrat deshalb eine offene interregionale Arbeitsgruppe         wurf aber ebenso wenig wie der Vorschlag eines internatio-
       ein. Sie soll ein rechtsverbindliches internationales Instrument   nalen Gerichtshofs für Menschenrechte und transnationale
       zu Konzernen und anderen Wirtschaftsunternehmen in Bezug           Konzerne. Die Gewerkschaften bemängeln darüber hinaus
       auf die Menschenrechte entwickeln. Diese Initiative für ein        unter anderem, dass nicht klar ist, wie Verpflichtungen der
       »Binding Treaty« ging von Ecuador und Südafrika aus, gegen         Konzerne überwacht und durchgesetzt werden sollen, zumal
       die Stimmen Deutschlands, der USA und weiterer Industrie-          Arbeitsrechte in vielen Ländern ohnehin schon nicht umge-
       länder. Das Binding Treaty soll globale Schlupflöcher schließen    setzt werden. Auch die Haftung in der Lieferkette bleibe zu
       und gewährleisten, dass Unternehmen für Menschenrechts-            offen, die Definition liefere zu viele Möglichkeiten, sich aus
       verletzungen und Umweltkriminalität voll verantwortlich ge-        der Verantwortung zu ziehen.
       macht werden. Nichtregierungsorganisationen und Gewerk-                                              Erläuterung der Redaktion
       schaften sehen das als »historische Chance«.                       Die vollständigen Papiere:
            Seitdem trifft sich die Arbeitsgruppe jedes Jahr in Genf.     Überarbeiteter Entwurf: www.business-humanrights.org/en/revised-
       Allerdings schicken bei weitem nicht alle Länder tatsächlich       draft-of-proposed-binding-treaty-on-business-human-rights
       auch redeberechtigte Vertreter_innen. Deutschland beispiels-       Positionspapier Gewerkschaften: www.ituc-csi.org/IMG/pdf/joint_
       weise ist in der Regel nur mit sogenannten Beobachter_innen        trade_union_un_treaty_statement.pdf

18   DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Was unterscheidet den Gerichtshof der Europäischen                                          Zur Verteidigung der
    Union vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? Der
    Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ist das oberste
                                                                                      Menschenrechte und der Freiräume
    Rechtsprechungsorgan der EU. Er ist für die Wahrung des EU-                        ist es für Gewerkschaften wichtig,
    Rechts bei der Auslegung und Anwendung der europäischen                                           Allianzen zu bilden.
    Verträge und Rechtsvorschriften zuständig. Seine Zuständigkeit
    umfasst alle Rechtsgebiete, darunter auch das Verfassungs-,
    Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialrecht. Der EuGH kann von
                                                                                     log die an der Afrikanischen Union angesiedelte Afrikanische
    einem Mitgliedstaat, einem Organ der EU sowie von unmittel-
                                                                                     Kommission und den Afrikanischen Gerichtshof für die Men-
    bar und individuell betroffenen natürlichen und juristischen Per-
                                                                                     schenrechte und Rechte der Völker mit Individualbeschwerde-
    sonen angerufen werden. Seine Urteile und Vorabentscheidun-
                                                                                     möglichkeit. Für Asien gibt es bisher keinen regionalen Schutz-
    gen zur Auslegung des Unionsrechts bei Rechtsstreitigkeiten
                                                                                     mechanismus für Menschenrechte.
    vor nationalen Gerichten sind direkt rechtlich bindend. Der
    EuGH hat schon mehrfach Fälle mit Bezug zu Gewerkschafts-                              Wie können die Gewerkschaften selbst aktiv werden, um
    rechten verhandelt und entschieden.                                              für eine bessere Verankerung ihrer Rechte und die der Arbei-
                                                                                     tenden zu sorgen? Zur Verteidigung der Gewerkschaftsrechte,
          Ein Beispiel für eine Entscheidung des EuGH zu Gewerk-
                                                                                     der Menschenrechte und der zivilgesellschaftlichen Freiräume
    schaftsrechten? Anlässlich einer Anrufung durch eine finnische
                                                                                     ist es für Gewerkschaften wichtig, nationale und globale Alli-
    Gewerkschaft hat der EuGH entschieden, dass die Arbeitneh-
                                                                                     anzen mit anderen Akteur_innen der Zivilgesellschaft zu bilden.
    menden bei einer Arbeitnehmerentsendung aus einem Her-
                                                                                     Beispiele dafür in Deutschland sind die Beteiligung von Ge-
    kunftsland innerhalb der EU Anspruch auf den Mindestlohn im
                                                                                     werkschaften an den #unteilbar-Demonstrationen für Gleich-
    Zielstaat haben und die Branchengewerkschaft im Zielstaat eine
                                                                                     heit und soziale Rechte oder der jüngst lancierten Kampagne
    tarifrechtliche Zuständigkeit für diese Arbeitnehmenden hat.
                                                                                     für ein verbindliches Lieferkettengesetz in Deutschland. Ein be-
          Gibt es auf anderen Kontinenten vergleichbare Institutio-                  kanntes Beispiel internationaler Vernetzung ist das Weltsozial-
    nen, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen? Zur                       forum, ein globales Bündnis und jährliches Treffen von Globa-
    Überwachung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention                          lisierungskritiker_innen. Die internationalen Menschenrechte
    ist die Interamerikanische Menschenrechtskommission zustän-                      und die Dokumente aus dem Menschenrechtsschutzsystem sind
    dig, ein Sonderorgan der Organisation Amerikanischer Staaten.                    oft der gemeinsame Bezugspunkt und Bindeglied solcher Alli-
    Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof verhandelt                      anzen und Bewegungen. —
    auch Individualbeschwerden. Darunter gab es auch etliche Fälle
    zu Gewerkschaftsrechten. Zur Überwachung der Afrikanischen
    Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker gibt es ana-

Gemeinsam für Gleichheit und soziale Rechte: Gewerkschaften und andere Teile der Zivilgesellschaft bei der #unteilbar-Demo 2019 in Dresden — Foto: Dehmel / DGB

    GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | DAS INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSSCHUTZSYSTEM                                                                       19
Einführung I Internationale Arbeitsorganisation

     Wächterin der
     Gewerkschaftsrechte:
     100 Jahre ILO
     Sie hat das Mandat, internationale Arbeitsstandards zu setzen und damit einen Beitrag zu
     leisten, den Schutz und die Rechte von Beschäftigten nicht zum Gegenstand internationaler
     Konkurrenz und marktwirtschaftlicher Kräfte zu machen. Damit ist die Internationale
     Arbeitsorganisation in Genf die wichtigste Organisation der Vereinten Nationen für die
     Gewerkschaftsbewegung. Ihre Kernarbeitsnormen sind als Menschenrechte anerkannt. Wie
     und warum die ILO auch jetzt wieder um ihren Einfluss kämpft, erklärt Carolin Vollmann.

     Einen Erfolg der Internationalen Arbeitsorganisation (engl: In-      Zusammenarbeit zunehmend erschweren, indem der Konsens
     ternational Labour Organisation, ILO) gab es zum Jahrhundert-        als Arbeitsgrundlage mehr und mehr in Frage gestellt wird. Dies
     jubiläum 2019. Im Juni beschlossen die Teilnehmenden der In-         geschieht zu einer Zeit in der Gewerkschaftsrechte immer öfter
     ternationalen Arbeitskonferenz zwei neue Arbeitsstandards: das       verletzt werden und die Arbeit der ILO daher umso wichtiger
     Übereinkommen (C190) und die Empfehlung (R206) zu Gewalt             ist.
     und Belästigung gegen Frauen und Männer in der Arbeitswelt.
                                                                               Zum anderen birgt auch die Reform des UN-Systems neue
     Diese waren die jüngsten Standards seit 2011, als die ILO-Kon-
                                                                          Herausforderungen für die Arbeit der ILO. Kritiker_innen sehen
     vention für Hausangestellte verabschiedet wurde.
                                                                          den Zugang und Einfluss der Sozialpartner vor Ort und in den
          Die Aushandlung von internationalen Arbeitsstandards ist        Entscheidungsgremien schwinden. Zu befürchten ist auch, dass
     eine der wesentlichen Aufgaben der ILO, die eine Sonderorga-         sich die Prioritäten der ILO-Arbeit verschieben.
     nisation der Vereinten Nationen (engl. United Nations, UN) ist
     und mit ihrer dreigliedrigen Verwaltungsstruktur eine Beson-         Internationale Standards setzen und überwachen
     derheit hat: In keiner anderen UN-Organisation besitzen Ge-
                                                                          Für die Gewerkschaftsarbeit ist die ILO von herausragender Be-
     werkschaften und Arbeitgebervertretungen gemeinsam die
                                                                          deutung. Nachdem Arbeits- und Sozialstandards in ihrem Rah-
     Hälfte aller Stimmen und arbeiten auf Augenhöhe mit Regie-
                                                                          men ausgehandelt wurden, können sie von Regierungen ratifi-
     rungsvertretungen zusammen. Die erfolgreiche Verabschiedung
                                                                          ziert werden. Das verpflichtet sie dann zur Überführung in natio-
     der C190 und der R206 kann aber nicht darüber hinwegtäu-
                                                                          nales Recht. Bis heute wurden insgesamt 190 solcher Überein-
     schen, dass die ILO wie viele andere internationale Organisa-
                                                                          kommen, 206 Empfehlungen und sechs Protokolle verhandelt.
     tionen in der Krise steckt. Aktuell sieht sie sich vor allem zwei
     großen Herausforderungen gegenüber:                                       Besonders wichtig sind die sogenannten Kernarbeitsnor-
                                                                          men, die auch als Menschenrechte anerkannt sind. Für die Ge-
          Zum einen gibt es nach wie vor keine Lösung in der seit
                                                                          werkschaftsarbeit von herausragender Bedeutung sind vor
     2012 schwelenden Uneinigkeit über die Existenz eines interna-
                                                                          allem zwei der insgesamt acht Kernarbeitsnormen: Konvention
     tionalen Streikrechts. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie Re-
                                                                          87 zur Vereinigungsfreiheit und 98 zur Tariffreiheit. Sie bilden
     gierungen und vor allem die Gruppe der Arbeitgebenden die
                                                                          die Grundlage für die Arbeit von freien und unabhängigen Ge-
                                                                          werkschaften und werden häufig als »enabling rights« (befä-
                                                                          higende Rechte) bezeichnet. Die weiteren Kernarbeitsnormen
       Die Autorin: Carolin Vollmann ist Referatsleiterin in der          betreffen das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und
       Abteilung für Internationale und Europäische Gewerk-               Beruf und die Beseitigung von Kinder- und Sklavenarbeit.
       schaftspolitik des DGB
                                                                              Ihre besondere Stellung geht auf die »Erklärung über die

20   DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ
Internationale Arbeitsorganisation: Organe

         Int. Arbeitskonferenz (IAK)                           Verwaltungsrat                              Int. Arbeitsamt (IAK)
                  Legislative                                     Exekutive                                       Operative

 R Übereinkommen und Empfehlungen                  R Koordination der ILO-Aktivitäten             R Technische Zusammenarbeit
 R Resolutionen                                    R Umsetzung der Beschlüsse der IAK             R Hilfe für Mitglieder
 R Arbeitsprogramm                                 R Beschwerdesystem                             R Dokumentation
 R Haushalt                                                                                       R Forschung
                                                                                                  R inhaltliche Vorbereitung der Konferenzen,
                                                                                                    Übereinkommen und des Haushalts

Quelle: ILO

grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit« von 1998              kräfte in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen gefangen (siehe
zurück, die sie als universell gültig und für alle Mitgliedstaaten        Kasten Seite 22).
der ILO verbindlich festlegt. Im Durchschnitt wurden die Kern-
                                                                                Derzeit werden grundlegende Gewerkschaftsrechte jedoch
arbeitsnormen von 172 Ländern der insgesamt 187 Mitglieder
                                                                          weltweit immer weniger geachtet und eingehalten. Zugleich
ratifiziert. Das ist schon sehr gut. Bedauerlicherweise wird aber
                                                                          steht der Verhandlungsprozess des Normenkontrollausschusses
ausgerechnet das Übereinkommen zur Vereinigungsfreiheit mit
                                                                          unter Beschuss. Der brasilianische Regierungsvertreter forderte
nur 155 Ratifizierungen am wenigsten weitreichend anerkannt.
                                                                          2019, dass Regierungsvertretungen bei der Festlegung der Län-
Auch wichtige Industrie- und Schwellenländer wie Brasilien,
                                                                          derliste und dem Aushandeln der Schlussfolgerungen einge-
China, Indien und die USA fallen hierrunter.
                                                                          bunden werden. Eine betroffene Regierung hätte dann die
      Die ILO überwacht die Durchsetzung der Übereinkommen.               Möglichkeit, durch internationalen Druck auf die anderen, be-
Jede Regierung ist verpflichtet, der Organisation in Genf regel-          teiligten Regierungen die Auswahl der Fälle und Folgemaßnah-
mäßig Bericht zu erstatten. Die Sozialpartner können die Be-
richte anschließend kommentieren und Verstöße melden. Auf
dieser Grundlage erstellt der Sachverständigenrat der ILO, der
aus 20 unabhängigen Rechtsexpert_innen besteht, seinen jähr-
                                                                             Kernarbeitsnormen
lichen Bericht. Bei der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf             und »Enabling Rights«
tritt der dreigliedrige Normenkontrollausschuss zusammen. Die
                                                                             Die auch als Menschenrechte anerkannten Kernarbeits-
Sozialpartner verhandeln zunächst eine Länderliste von 24 Fäl-
                                                                             normen der ILO regeln die Vereinigungsfreiheit, das Recht
len. Anschließend werden diese im gesamten Ausschuss disku-
                                                                             zu Kollektivverhandlungen, das Verbot von Zwangsarbeit,
tiert. Es sind wieder die Sozialpartner, die anschließend die
                                                                             die Entgeltgleichheit und den generellen Antidiskriminie-
Maßnahmen aushandeln, mit denen die Verstöße beendet wer-
                                                                             rungsgrundsatz, das Mindestalter sowie die Abschaffung
den sollen. Eine solche Maßnahme kann sein, dass die Regie-
                                                                             der schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Für die Gewerk-
rung weitergehend Bericht erstatten muss. Man kann ebenso
                                                                             schaftsarbeit entscheidend sind vor allem die beiden Kon-
beschließen, dass die ILO technische Unterstützung leistet, bei-
                                                                             ventionen zu Vereinigungsfreiheit (Nr. 87) und zum Recht
spielsweise wenn es darum geht, Gesetzestexte zu formulieren.
                                                                             auf Kollektivverhandlungen (Nr. 98), denn sie befähigen
Es kann aber auch vereinbart werden, eine Untersuchungskom-
                                                                             Gewerkschaften dazu, sich frei von staatlicher Einfluss-
mission einzusetzen, die ins Land reist, um sich vor Ort ein Bild
                                                                             nahme zu gründen und ihre gewerkschaftlichen Aufgaben
zu machen.
                                                                             zu erfüllen, ohne Gewalt oder Repression befürchten zu
     Eine Sanktionierung sieht der Normenkontrollausschuss al-               müssen. Das Recht, sich zu organisieren und kollektiv zu
lerdings nicht vor. Er zielt in erster Linie darauf ab, die jeweilige        verhandeln, ist ein wesentliches Fundament einer Demo-
Regierung international an den Pranger zu stellen. Damit ist                 kratie, eines funktionierenden sozialen Dialogs, und der
der Druck, den er ausüben kann, begrenzt.                                    Verwirklichung von menschenwürdiger Arbeit.
                                                                             www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO:121
     Gleichwohl gibt es auch Erfolge, wie jüngst in Katar, wo
                                                                             00:P12100_INSTRUMENT_ID:312232:NO
auf internationalen Druck und mit Unterstützung des Normen-
                                                                             www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO:121
kontrollausschusses das Kafala-System – zumindest teilweise
                                                                             00:P12100_INSTRUMENT_ID:312243:NO
– abgeschafft wurde. Dieses System hält ausländische Arbeits-

GEWERKSCHAFTRECHTE WELTWEIT: EINFÜHRUNG | INTERNATIONALE ARBEITSORGANISATION                                                                    21
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