Nouvelle Vague - Kinofenster
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Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Jean-Luc Godard, François Truffaut, Agnès Varda und andere junge französische Regisseur/-innen forderten vor 60 Jahren die herkömmlichen Sehge- wohnheiten im Kino heraus. kinofenster.de blickt zurück auf die bahnbrechenden Filme der Nouvelle Vague. Wir geben eine Übersicht und richten den Fokus auf die Musik und das Frauenbild der Bewe- gung. Außerdem fragen wir nach ihrer Bedeutung für die Filmbildung. Darüber hinaus bietet das Dossi- er Filmbesprechungen und Unterrichtsmaterialien © ddp images ab Klasse 7.
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Inhalt EINFÜH R U N G FILMBESPRECHUNG 04 Nouvelle Vague – 19 Außer Atem Kino in der ersten Person FILMBESPRECHUNG Singular 21 Eine Frau ist eine Frau INTERV I E W FILMBESPRECHUNG 07 „Das Kino wurde als Bildungsort verstanden.“ 23 Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7 HINTER G R U N D ANREGUNGEN 09 Schön, stark und frei – die neuen Heldinnen der 25 Außerschulische Nouvelle Vague Filmarbeit zum Thema Nouvelle Vague HINTER G R U N D UNTERRICHTSMATERIAL 11 Der Sound der Nouvelle Vague 29 Arbeitsblatt Sie küssten und sie schlugen ihn FILMBE S P R E C H U N G - D I D A K T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T AR 13 Sie küssten und sie - AUFGABEN ZUM FILM AB KLASSE 9 schlugen ihn UNTERRICHTSMATERIAL FILMBE S P R E C H U N G 32 Arbeitsblatt 15 Hiroshima, mon amour Hiroshima, mon amour - D I D A K T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T AR - A U F G A B E N Z U M F I L M F Ü R D I E O B E R S TUFE FILMBE S P R E C H U N G 17 Hiroshima mon amour (franz. Version) www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague UNTERR I C H T S M A T E R I A L UNTERRICHTSMATERIAL 34 Arbeitsblatt 46 Arbeitsblatt Hiroshima mon amour „Die Frauenfiguren der (franz. Version) Nouvelle Vague“ - DIDAK T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T A R - D I D A K T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T AR - AUFGA B E N Z U M F I L M F Ü R D I E O B E R S T U F E - A U F G A B E N Z U M F I L M F Ü R D I E O B E R S TUFE UNTERR I C H T S M A T E R I A L UNTERRICHTSMATERIAL 35 Arbeitsblatt 48 Arbeitsblatt Ausser Atem „Die Darstellung der - DIDAK T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T A R Stadt in den Filmen der - AUFGA B E N Z U M F I L M F Ü R D I E O B E R S T U F E Nouvelle Vague“ - D I D A K T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T AR UNTERR I C H T S M A T E R I A L - A U F G A B E N Z U M F I L M A B D E R 9 . K L A SSE 38 Arbeitsblatt UNTERRICHTSMATERIAL Eine Frau ist eine Frau 3 - DIDAK T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T A R 51 Fiche de travail : (70) - AUFGA B E N Z U M F I L M F Ü R D I E O B E R S T U F E Représentation de la UNTERR I C H T S M A T E R I A L ville dans les films de la Nouvelle Vague 41 Arbeitsblatt - D I D A K T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T AR Cléo – Mittwoch - A U F G A B E N Z U M F I L M A B D E R 9 . K L A SSE zwischen 5 und 7 - DIDAK T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T A R 53 Filmglossar - AUFGA B E N Z U M F I L M A B D E R 9 . K L A S S E 66 Links und Literatur UNTERR I C H T S M A T E R I A L 45 Arbeitsblatt 70 Impressum CINÉCRITURE – AGNÈS VARDA UND DER AUTO- RENFILM - DIDAK T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T A R - AUFGA B E N Z U M F I L M A B D E R 9 . K L A S S E www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Einführung: Nouvelle Vague – Kino in der ersten Person Singular (1/3) 170 Debütfilme in drei Jahren Die Nouvelle Vague wurde endgültig zum Kinophänomen, als der 27-jährige François Truffaut im April 1959 auf dem Filmfesti- val von Cannes für seinen ersten Langfilm Sie küssten und sie schlugen ihn (Les 400 coups, 1959) den Regiepreis erhielt. Der Erfolg des autobiografisch inspirierten Films über einen vernachlässigten Jungen machte die "Neue Welle" des französischen Films auch im Ausland bekannt und er- mutigte in Frankreich Produzent/-innen jungen Filmemacher/-innen eine Chance zu geben. Bis 1962 drehten dort fast 170 Regisseur/-innen ihren Erstlingsfilm. Einen © ddp images Höhepunkt erreichte die Euphorie 1960 mit Jean-Luc Godards Ausser Atem (À bout de souffle). In der Rolle des Ganoven stieg Jean-Paul Belmondo zum Star auf und lös- te mit seinen schnoddrig coolen Posen un- Nouvelle Vague – Kino in der ter jungen Leuten eine Nachahmungswelle 4 aus, der Soziologen den Namen "Belmon- (70) ersten Person Singular disme" gaben. Der Boom ebbte zwar relativ bald wie- der ab – nur wenige Regieneulinge reali- Vor 60 Jahren erlebte die Nouvelle Vague ihren Höhepunkt. Aus diesem sierten einen zweiten oder dritten Film. Anlass blicken wir noch einmal ausführlich zurück auf die Erneuerungsbewe- Dennoch setzte die Nouvelle Vague mit ih- gung, die von Frankreich aus das Kino revolutionierte. ren ästhetischen Neuerungen und revolu- tionären Konzepten so nachhaltige Impul- se, dass sie den Beginn der Kinomoderne A nfang 1959 kamen zwei Filme eines erst 28-Jährigen in die Pariser Kinos: Die Enttäuschten (Le Beau Serge, 1958) Chabrols Provokation führte vor Augen, dass e ine ne ue Ge ne ration Filmemacher/-innen ins Kino drängte. von markierte. Von der Cinephilie zur Regie und Schrei, wenn Du kannst (Les Cousins, Erstmals berichteten die Medien über die Die Hauptakteure der Bewegung, zu denen 1958) von Claude Chabrol. Von ihm selbst Fachpresse hinaus von einer "Nouvelle neben Truffaut, Godard und Chabrol auch finanziert und mit geringem Aufwand pro- Vague" ("Neue Welle") im französischen Jacques Rivette und Eric Rohmer zählten, duziert, forderte Chabrol mit seinen Debüt- Film. Damit erfuhr der Begriff, den die hatten als Filmkritiker der Filmzeitschrift filmen die herrschende Moral heraus. Vor al- Journalistin Françoise Giroud geprägt Cahiers du Cinéma begonnen, zu der sie als lem galt das für Schrei, wenn Du kannst, der, hatte, eine Bedeutungsverschiebung. passionierte Kinogänger gestoßen waren. ohne zu werten, das Bild einer zynisch-he- Bislang hatte er eine junge Generation Paris war nach Ende des Zweiten Weltkrie- donistischen jungen Pariser Elite zeichnete. beschrieben, die sich für amerikanische ges Hauptstadt der Cinephilie, das Herz der Die Szene, in der Hauptdarsteller Jean-Clau- Populärkultur begeisterte und sich mit Kinokultur die Cinémathèque française, in de Brialy mit der Mütze eines Nazi-Offiziers freieren Vorstellungen von Moral und der Filme aus allen Epochen und Ländern auf dem Kopf eine Wagner-Oper auflegt, war Lebensführung fundamental von den Äl- zu sehen waren. Als Stammgäste in die- im Nachkriegsfrankreich, für dessen Selbst- teren abgrenzte. Jetzt stand er für eine sem "Gedächtnis des Kinos" eigneten sich verständnis die Resistance eine zentrale Rol- Kinorebellion gegen das Establishment. die späteren Nouvelle-Vague-Regisseure le spielte, ein kalkulierter Skandal. ein enzyklopädisches Wissen über Film www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Einführung: Nouvelle Vague – Kino in der ersten Person Singular (2/3) an, aber auch bestimmte Sichtweisen und ausführlichen Interviews und Werkanaly- lens und damit im Sichtbarmachen und Überzeugungen. Für die jungen Cinephilen sen. Die Cahiers trugen so maßgeblich zum Reflektieren der filmischen Form liegt die war das Kino eine Schule des Sehens. Hier Entstehen eines Klassikerbewusstseins im wohl revolutionärste Neuerung der Nou- schärften sie ihre Wahrnehmung, lernten Kino bei. In ihren späteren Filmen zitierten velle Vague. Hierin zeigt sich das Selbst- Filme vergleichend zu betrachten, die In- vor allem Godard, Truffaut und Chabrol verständnis dieser ersten Generation des szenierung und Ästhetik zu analysieren und ihre Idole. Sie etablierten damit eine Pra- Autorenfilms: mit der Kamera in der Hand zu diskutieren. Als Journalisten und als Fil- xis, die auch heute noch im Autorenkino, Filmkritik zu üben, Kino zu reflektieren. memacher führten sie die Reflektion in der etwa in den Filmen Quentin Tarantinos, Nicht zuletzt aus diesem Grund eignet sich Praxis fort. verbreitet ist. die Nouvelle Vague im besonderen Maße In ihren Texten verbreiteten die jungen als Gegenstand der Filmbildung. Kritiker der Cahiers ihre Ideen mit außer- Kino, das Kino reflektiert Auch einen neuen Sound brachte die gewöhnlicher Vehemenz. Erklärter Feind Die ersten Nouvelle-Vague-Filme ent- Nouvelle Vague ins Kino: Die Filme integ- war das etablierte französische Kino, dass standen mit sehr kleinen Budgets. Viele rierten Chansons und Popmusik auf der sie als steriles cinéma de qualité ("Quali- Jungfilmer/-innen versuchten sich zu- Handlungsebene, etwa indem sie mit Mu- tätskino") oder cinéma de papa ("Papas nächst an Kurzfilmen und orientierten sicalelementen spielten wie Godards Eine Kino") verhöhnten. Vor allem Truffaut sich in ihren Produktionsmethoden am Frau ist eine Frau (Une femme est und polemisierte gegen teure Studioproduk- italienischen Neorealismus und B-Movies: femme, 1960). George Delerues lyrische tionen mit Altstars wie Jean Gabin oder Sie drehten auf der Straße, in Cafés oder Filmmusiken oder auch jazzige Scores Michèle Morgan, die in bürgerlichen Krei- echten Wohnungen, mit kleinen Crews und brachen mit den emotionalisierenden sen als hohe Kunst galten. Für ihn und oft mit Laien. Das Equipment beschränkte symphonischen Klangteppichen des tradi- seine Mitstreiter war dieses Kino ästhe- sich in der Regel auf eine leichte Kamera, tionellen Kinos und verliehen den Filmen 5 tisch erstarrt – unpersönliches, auf große ein mobiles Tonbandgerät und ein einfa- einen ganz eigenen Charme. (70) Themen fixiertes Kunsthandwerk, das von ches Stativ. Der weitgehende Verzicht auf Die Innovationen der Nouvelle Vague einem kleinen Kreis renommierter Dreh- Kunstlicht unterstrich die dokumentari- beschränkten sich freilich nicht allein auf buchautoren dominiert wurde, denen das sche Anmutung. Wegweisend für diese Art formale Aspekte: Filme wie Vardas Cléo – Lebensgefühl der Jugend fremd war. zu filmen war Agnès Varda, die bereits 1955 zwischen 5 und 7 (Cléo de 5 à 7, 1961) oder Als Gegenmodell propagierten die mit kleinem Team und an Originalschau- Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour Cahiers die politique des auteurs ("Auto- plätzen La Point-Courte realisierte – gewis- (1959) zeichneten den Wandel in den Ge- rentheorie"), die den Regisseur und die sermaßen einen Prä-Nouvelle-Vague-Film. schlechterverhältnissen nach und ent- Regisseurin ins Zentrum des kreativen In ihre r Improvisationslust und Hinwe n- warfen ein modernes Frauenbild. Schau- Prozesses rückte. Deren Leitgedanken dung zur Alltagsrealität liegt ein Schlüssel spielerinnen wie Jeanne Moreau, Jeanne hatte Alexandre Astruc, ein weiterer Kriti- zur Attraktivität der Nouvelle Vague: Auch Seberg oder Anna Karina verkörperten ker des Magazins, bereits 1948 formuliert: heute noch vermitteln die Filme das Ge- aktive und selbstbestimmte Frauentypen Wie die Schreibmaschine oder der Feder- fühl, jung zu sein, das Leben und die Liebe und avancierten zu weiblichen Ikonen des halter für Literat/-innen, sollte die Kamera zu entdecken und das Kino zu lieben. Mit modernen Kinos. das Ausdrucksmittel der Filmemacher/-in- scheinbaren handwerklichen Fehlern – die nen sein. Ein Film wäre somit die persönli- Über- und Unterbelichtungen, Achsen- Das Erbe der Nouvelle Vague che Vision, die ästhetische Umsetzung die sprünge und Jump Cuts in Ausser Atem Trotz dieser Gemeinsamkeiten lässt sich Handschrift des auteur. "Kino in der ersten oder auch in Truffauts Schiessen Sie auf die Nouvelle Vague nicht eindeutig als Person Singular" nannte Truffaut diese Vi- den Pianisten (Tirez sur le pianiste, 1960) – Stilrichtung kategorisieren. Wiesen die sion. Vorbilder fanden die Kritiker in Holly- richteten sie sich demonstrativ gegen den Filme anfangs noch Übereinstimmungen wood-Größen wie Alfred Hitchcock, How- glatten Illusionismus des Qualitätskinos. auf, etwa die "notorischen" Querverwei- ard Hawks oder Orson Welles, aber auch Indem sie den düsteren Dramen des Film se auf Filme der Mitstreiter/-innen, diffe- unter B-Movie-Regisseuren und europä- noir ihre Referenz erwiesen, unterstrichen renzierten sich bald individuelle Ansätze ischen Individualisten wie Roberto Ros- die Regisseure den Statement-Charakter aus – was freilich der Logik des Autoren- sellini, Jean Renoir oder Ingmar Bergman. ihrer Filme. Im gezielten Verstoß gegen konzept entspricht. Mit der Politisierung Ihnen widmeten sie Spezialausgaben mit die Konvention des unsichtbaren Erzäh- der 1960er brach die Nouvelle Vague www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Einführung: Nouvelle Vague – Kino in der ersten Person Singular (3/3) als Bewegung auseinander: Während die Cahiers und auch Godard im Mai 1968 so- zialistische Positionen bezogen und ein revolutionäres Kino propagierten, näher- ten sich Chabrol, Truffaut und andere dem Unterhaltungskino an. Unabhängig davon inspirierte die Nouvelle Vague filmische Erneuerungsbewegungen in aller Welt: das New-Hollywood-Kino, die Tschechoslowa- kische Neue Welle, den Neuen Deutschen Film in der BRD und die "Kellerfilme" der Jahre 1965/66 in der DDR. Heute lebt das Erbe der Nouvelle Vague im internationa- len Independent-Kino fort. Die nach wie vor bestehende Cahiers du Cinéma war zumin- dest bis in die jüngste Vergangenheit die publizistische Heimat des unabhängigen Films. Die Übernahme des Magazins durch ein Medienkonsortium im April 2020 zeigt jedoch, dass der Kampf um eine lebendige Filmkultur genauso notwendig bleibt wie in 6 den Anfangstagen der Nouvelle Vague. (70) Autor: Jörn Hetebrügge, Filmjournalist und kinofenster.de-Redakteur, 16.12.2020 Foto: © ddp images www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Interview: Bettina Henzler „Das Kino wurde als Bildungsort verstanden.“ (1/2) „DAS KINO WURDE ALS Die kulturellen Praktiken dieser Zeit ha- ben also die Art und Weise, wie bis heute BILDUNGSORT VERSTANDEN.“ über Film gesprochen wird, geprägt. Wel- che Grundsätze der französischen Film- Das Kino war für die Akteure und Akteurinnen der Nouvelle Vague eine bildung finden ihren Ursprung in der Zeit Schule des Sehens. Im Gespräch erläutert die Filmwissenschaftlerin der Nouvelle Vague? Bettina Henzler, wie die Nouvelle Vague die Filmbildung und ihre Ver- Zunächst einmal die Überzeugung, dass mittlungsansätze beeinflusst hat. Film eine Kunstform ist, und dass die Film- vermittlung mit der Filmauswahl beginnt. In welchen Zusammenhang stehen Nou- Es ist ganz wichtig, dass man nicht nur mit velle Vague und Bildung? zeitgenössischen Filmen arbeitet, son- Die Nouvelle Vague ist im Kontext der dern mit Filmen, die aus unterschiedlichen Filmclubbewegung der Nachkriegszeit zu Kulturen und Zeiten stammen. Unsere verstehen, die für die Entstehung der fran- Sehgewohnheiten bestimmen, wie wir die zösischen Cinephilie, der Liebe zum Kino, Welt wahrnehmen. Wenn ich meine eigene © Privat maßgeblich war. Diese war Teil einer grö- Position heute befragen will, dann ist Di- ßeren gesamtgesellschaftlichen Volksbil- versität entscheidend. Hinzu kommt das dungsbewegung, in der unterschiedliche vergleichende Sehen: In der Cinémathéque zivilgesellschaftliche Gruppen sich dafür française wurden damals an einem Abend Bettina Henzler eingesetzt haben, durch kulturelle Bildung drei Filme gezeigt, Werke aus unterschied- ist wissenschaftliche Mitarbeiterin die Demokratie zu fördern. Ein wesentliches lichen Kontexten. So konnten Cinephile, 7 am Institut für Kunstwissenschaft – Medium war dabei das Kino als Bildungsort: die diese Filme hintereinander geschaut (70) Filmwissenschaft – Kunstpädagogik Filme wurden nicht nur gezeigt, sie wurden haben, Querverbindungen herstellen, die der Universität Bremen und hat eingeführt, diskutiert und es wurde über sie nicht inhaltlicher oder filmgeschichtlicher, zum ästhetischen Filmvermitt- geschrieben. sondern filmästhetischer Art waren. Dies lungsansatz von Alain Bergala im sind die grundlegenden Prinzipien der fran- Kontext der französischen Cinephilie Inwiefern war das Kino auch für die Film- zösischen Filmbildung, wie sie Alain Bergala promoviert. schaffenden der Nouvelle Vague selbst dann in seinem Buch "Kino als Kunst" dar- ein Bildungsort? gelegt hat. Drittens, das Zusammenspiel Die Regisseure und Regisseurinnen der von Filmschauen und Filme machen. Das Nouvelle Vague waren Autodidakten. Ihre wird von der Cinémathèque française heu- heute bekanntesten Vertreter waren als te in dem Projekt "Le cinéma, cent ans de Kritiker bei der Filmzeitschrift Cahiers du ci- jeunesse" mit Klassen aller Altersgruppen néma tätig und haben dort für die Filmthe- verwirklicht. orie wegweisende Artikel geschrieben. Sie bezeichneten selbst, etwas zugespitzt, die Bergala, der sich in "Kino als Kunst" auf Cinémathèque française als ihre Filmhoch- Kritiker der Cahiers du cinéma ebenso schule. Dahinter steckt die Idee, dass beim wie auf Regisseure der Nouvelle Vague Filme schauen die Wahrnehmung geschult bezieht, schreibt den Lehrenden eine wird – und zwar nicht nur wie ich Filme, besondere Rolle zu. Warum ist diese Ver- sondern wie ich auf die Wirklichkeit schaue. mittlerrolle gerade in der ästhetischen Zum anderen geht es um die Aneignung ei- Filmbildung so wichtig? nes filmhistorischen Wissens, auf dessen Es ge ht um die Be zie hung zwische n Basis man sich selbst als Filmschaffende Vermittler/-in, Film und Schüler/-innen. Für positionieren kann. eine gelingende Filmvermittlung ist es wich- tig, dass man keinen dieser Faktoren unter- bewertet. Das heißt, ich sollte nicht nur www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Interview: Bettina Henzler „Das Kino wurde als Bildungsort verstanden.“ (2/2) die Sicht der Schüler einbeziehen, sondern oder zwischen Mann und Frau gestaltet. Die als Vermittlerin auch meinen eigenen Blick Filme zeigen, dass Emanzipation schon da- auf den Film deutlich machen. Denn wer bil- mals ein Thema war ebenso wie die Frage, det sich nur in Auseinandersetzung mit sich wie wir Menschen begegnen, die uns fremd selbst, oder dem, was ohnehin schon ver- sind. traut ist? Wir bilden uns in der Konfrontati- on mit Dingen, die über uns hinausreichen, Autorin: die uns befremden. Lisa Haußmann, Filmwissenschaftlerin und freie Filmvermittlerin, 16.12.2020 Bergala hat auch den Vergleich von Film- ausschnitten in den Mittelpunkt gerückt. Foto: Welche Rolle spielt dieser für die ästheti- © Privat sche Filmvermittlung? Wichtig ist, dass ich mich nicht nur mit den Themen und Geschichten eines Films be- fasse. Wenn ich Filme in ihrer Komplexität erschließen möchte, muss ich meinen Blick auf die Verknüpfung von Bildern und Tönen richten. Das kann ich am besten, wenn ich ins Detail gehe, wenn ich Ausschnitte an- schaue. So kann ich viel darüber erfahren, 8 wie Film funktioniert und eine Haltung ge- (70) genüber dem ausdrückt, was er zeigt und thematisiert. Warum können die Filme der Nouvelle Vague auch heute noch Jugendliche be- geistern? Die Nouvelle Vague war in gewissem Sinne eine Jugendbewegung. Die damals jungen Regisseurinnen und Regisseure wollten Fil- me machen, die individueller waren und das Lebensgefühl ihrer eigenen Generation aus- drückten. Sie drehten mit Laiendarsteller/- innen an realen Schauplätzen, brachen mit den Konventionen des Studiosystems. Dadurch haben viele dieser Filme ihre Fri- sche bewahrt. Es ist kein Zufall, dass einer der großen Erfolge der Nouvelle Vague Sie küssten und sie schlugen ihn von François Truffaut war, der ein Kind als Hauptfigur hat und der deren Streben nach Freiheit ernst- nimmt. Man kann die Filme auch als Doku- mente ihrer Zeit anschauen und in Bezug zu Fragen setzen, die heute relevant sind – zum Beispiel was es heißt, jung zu sein, wie sich das Verhältnis zwischen Generationen www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Hintergrund: Schön, stark und frei – die neuen Heldinnen der Nouvelle Vague (1/2) Als Vorbilder moralischer Selbstbestim- mung dienen stattdessen Françoise Sagan und Brigitte Bardot, die ersten weiblichen Stars der Populärkultur, deren Siegeszug in den 1950er-Jahren begann. „Mädchen, wie wir sie lieben“ Das Freiheitsversprechen dieser Gene- ration findet in den Filmen der Nouvelle Vague ihren ästhetischen Ausdruck. Barfuß und mit fliegendem Rock radelt die junge Bernadette Lafont am Anfang von Fran- çois Truffauts erstem Kurzfilm Die Unver- schämten (Les mistons, 1958) durch die © ddp images sonnenbeschienenen Straßen von Nîmes; die Kamera feiert in einer langen Fahrtauf- nahme die Unbeschwertheit der Jugend. In Jean-Luc Godards Debütfilm Ausser Atem (À bout de souffle, 1960) schlendert Schön, stark und frei – Jean Seberg mit Garçon-Haarschnitt neben Jean-Paul Belmondo nonchalant über die 9 die neuen Heldinnen der Champs-Élysées und wird zur modernen (70) Stil-Ikone. Nouvelle Vague Die Frauenfiguren der Nouvelle Vague bestechen auch heute noch durch jugend- lichen Charme und erfrischende Sinnlich- Mit der Nouvelle Vague hielt ein modernes Frauenbild Einzug keit. Der dokumentarische Stil der Filme, ins Kino: Schauspielerinnen wie Jeanne Moreau und Anna Karina die oft mit der Handkamera und ohne verkörperten starke und aktive Heldinnen. künstliche Beleuchtung gedreht sind, lässt sie authentisch wirken. Zahlreiche Groß- "La nouvelle vague arrive!" ("Hier kommt er reichweitenstarker Kulturformate wie aufnahmen fangen die natürliche Schön- die neue Welle!") titelte das Wochenma- Fernsehen, Publikumszeitschrift, Taschen- heit der jungen, kaum geschminkten Ge- gazin L’Express im Oktober 1957 unter dem buch und Vinyl-Schallplatte drängen sie sichter ein, in denen eine subtile Erotik zum hübschen Gesicht einer lächelnden jungen nach Freiheit und Selbstverwirklichung, Ausdruck kommt. Frau. Gemeint war damit nicht die filmi- suchen die romantische Liebe und leben Im Gegensatz zum etablierten Kino mit sche Nouvelle Vague, die erst ein gutes Jahr eine freizügigere Sexualmoral, auch wenn seinen künstlich wirkenden Schauspiele- später Furore machen sollte, sondern ein Verhütungsmittel in Frankreich erst 1967 rinnen zeigen die jungen männlichen Re- gesellschaftliches Phänomen der 1950er- legalisiert werden sollten. Bezüglich der gisseure "Mädchen, wie wir sie lieben" (Go- Jahre, das in der Ausgabe porträtiert wird: Geschlechterrollen bleiben die jungen dard). Bei Godard ist das durchaus wörtlich die junge Generation der zwischen 1927 Männer unabhängig ihrer sozialen Herkunft gemeint: In seinen ersten Filmen nach Au- und 1939 Geborenen, in der die Frauen eine überwiegend konservativen Vorstellungen sser Atem lässt er seine Ehefrau Anna Ka- starke und aktive Rolle einnehmen. verhaftet. Die jungen Frauen jedoch sehen rina die weiblichen Hauptrollen spielen. In In Abgrenzung zur kriegsversehrten El- sich in einer Epoche der weiblichen Eman- Der kleine Soldat (Le petit soldat, 1960) terngeneration zeichnen sich die Jungen zipation und streben nach gesellschaftli- umkreist die Kamera wie in verliebter Fas- durch politisches Desinteresse aus, das cher Gleichstellung. Die überkommenen zination die junge Frau. In Die Geschichte auch typisch für die filmische Nouvelle Geschlechterbilder des traditionellen Ki- der Nana S. (Vivre sa vie, 1962) halten ge- Vague sein sollte. Unter dem Einfluss neu- nos taugen ihnen nicht zur Identifikation. radezu fetischistische Großaufnahmen www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Hintergrund: Schön, stark und frei – die neuen Heldinnen der Nouvelle Vague (2/2) ihr Gesicht fest. Dieser bewundernde Blick in den 1950ern bereits über 40 Prozent der diert weibliche Perspektive auf die neuen des Künstlers auf sein Modell steht in der Französinnen berufstätig, streben zuneh- Frauen inszenieren lediglich Paula Delsol Tradition der malerischen Muse, eine Be- mend nach qualifizierten Positionen und mit ihrem fast unsichtbar gebliebenen De- ziehung, die etwa Pablo Picasso mit Dora überholen im Abiturjahrgang 1964 erstmals bütfilm Treibgut (La Dérive, 1962), sowie Maar vorlebte. zahlenmäßig ihre männlichen Kollegen. Agnès Varda mit Cléo – Mittwoch zwischen Viele Filme der Nouvelle Vague vermit- 5 und 7 (Cléo de 5 à 7, 1961), die einzigen Liebende Heldinnen teln, dass sich der Mann vor der lieben- beiden Regiefrauen dieser Generation. Der Blick auf die Frauen, die im Schnitt den Frau zu hüten hat. In Claude Chabrols zehn Jahre jünger sind als die Darstellerin- ersten Filmen Die Enttäuschten (Le beau Autorin: nen des etablierten Populärkinos, bleibt Serge, 1958) und Schrei, wenn du kannst Dr. Almut Steinlein, freie Autorin fast ausnahmslos männlich. Mithilfe der (Les Cousins, 1959) bleiben die jeweils von und Dozentin, 16.12.2020 Kamera lenken die Filme die Identifikation Gérard Blain gespielten Protagonisten an des Publikums auf den männlichen Prota- der Liebe der Frauen haften und verraten Foto: gonisten als Alter Ego des Regisseurs. Den- die eigenen Ambitionen. Und selbst wenn © ddp images noch zeigt sich in den Filmen der Nouvelle sie es noch so gut mit ihrem Mann meinen, Vague ein Gespür für die sich ändernden wie Léna (Marie Dubois) und Thérésa (Ni- Geschlechterrollen. Die große Mehrheit der cole Berger) in Truffauts Schiessen Sie auf Filme handelt "die Liebe und die Beziehung den Pianisten (Tirez sur le pianiste, 1960) zwischen Männern und Frauen" (Truffaut) mit Charlie/Édouard (Charles Aznavour), mit ihren neuen Spielregeln aus. treten die Frauen ungewollt das fatale Auch den weiblichen Figuren wird ein Schicksal los, das über die männlichen Hel- 10 freizügigeres Liebesleben mit wechselnden den hereinbricht. So steuert auch Catheri- (70) Partnern zugestanden. Das ist revolutionär, ne (Jeanne Moreau) in Truffauts Jules und denn im klassischen Kino waren amouröse Jim (Jules et Jim, 1962) die beiden Männer, Abenteuer den männlichen Protagonis- mit denen sie in einer offenen Beziehung ten vorbehalten – oder allenfalls Femmes "die Liebe neu erfindet", in eine Tragödie. In fatales, die dafür freilich büßen mussten. Umkehrung des herkömmlichen Abhängig- In Godards Eine Frau ist eine Frau (Une keitsverhältnisses der Geschlechter sehen femme est une femme, 1961) zwingt Angela sich Jules und Jim den unvorhersehbaren (Anna Karina) ihren Partner (Jean-Claude Launen der idealisierten Frau ausgeliefert. Brialy) durch die Androhung eines Seiten- Trotz der Zwiespältigkeit sollte Jeanne sprungs mit dessen besten Freund (Jean- Moreau mit ihrer Figur maßgeblich das Paul Belmondo) zu einem gemeinsamen Bild moderner Weiblichkeit prägen: leiden- Kind. In Jean-Pierre Mockys Ehe franzö- schaftlich, stark und intelligent. sisch (Un couple, 1960) und Louis Malles Die Liebenden (Les Amants, 1958) verlas- Der Platz hinter der Kamera sen Anne (Juliette Mayniel) und Jeanne bleibt männlich (Jeanne Moreau) ihre Männer und die Si- Das Frauenbild der Nouvelle Vague bleibt cherheit der gutbürgerlichen Ehe für einen letztlich ambivalent in seiner Mischung aus Liebhaber. Bezeichnenderweise finden die Modernität und Archaismus, aus echtem Frauen hier ihre Freiheit nicht etwa in be- Interesse an weiblicher Emanzipation und ruflicher Selbstverwirklichung, sondern in männlicher Fantasievorstellung. Die Filme der Liebe zu einem fremden Mann. Anders teilen mit ihren fast immer männlichen Hel- ist weibliche Emanzipation im Kino jener den eine zumindest unbewusste Verunsi- Zeit offensichtlich noch nicht vorstellbar. cherung gegenüber den neuen Geschlech- In der Gesellschaft hingegen gewinnt sie terrollen. Hinter der Kamera bleiben die zusehends an Dynamik: Tatsächlich sind Männer weitgehend unter sich. Eine dezi- www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Hintergrund: Der Sound der Nouvelle Vague (1/2) logisch, ist die Nouvelle Vague doch Teil des Aufstiegs der Jugendkultur nach dem Zweiten Weltkrieg. So verwenden auch die Filmemacher/-innen die Musik nicht mehr nur als Untermalung, sondern identitäts- stiftend und in Abgrenzung zur Film-Kultur der vorangegangenen Generation. Die Musik wird nicht vornehmlich als Beglei- tung, Kommentar und Emotionsverstärker verwendet, sondern oft auch diegetisch, das heißt als Teil der erzählten Welt, ein- © ddp/Everett Collection gesetzt. Musik gehört immer wieder zu den vielen Alltagsgeräuschen, die bewusst auf der Tonspur belassen werden, um die Authentizität der Szene zu unterstreichen. Und Musik wird immer wieder Teil der Handlung: Protagonist/-innen legen Plat- ten auf, singen Lieder, spielen Instrumen- te, sprechen über Musik oder tanzen zum Der Sound der Nouvelle Vague Song aus der Jukebox. Musik wird gewis- sermaßen zur Akteurin. 11 (70) Am zeitlosen Charme der Nouvelle-Vague-Filme hat die Musik Kontrapunktischer Jazz und einen entscheidenenden Anteil. Einige der Regisseur/-innen verfolgten sentimentale Klänge dabei völlig neue Konzepte. Den zu seiner Zeit gewagtesten Umgang mit der Musik pflegte ein Film, der zwar oft der Nouvelle Vague zugerechnet wird, "Ich habe meine Filme so gemacht, wie Allerdings gilt für den Einsatz der Musik strenggenommen aber ein Vorläufer der zwei Jazzmusiker arbeiten", hat Jean-Luc im Speziellen, was auch für alle filmischen Bewegung ist. Als Miles Davis auf seiner Godard einmal gesagt, "man gibt sich ein Mittel richtig ist: Die Nouvelle Vague lässt Trompete in Echtzeit zum laufenden Bild Thema, man spielt und dann organisiert sich nicht auf einzelne stilistische Merk- den Soundtrack zu Louis Malles Fahr- es sich von selbst." Das Zitat erzählt da- male festlegen. Wacklige Handkamera, stuhl zum Schafott (Ascenseur pour von, wie der Regisseur Godard und seine Dreh an Originalschauplätzen, nichtli- l’échafaud, 1958) improvisierte, war der Kolleg/-innen der Nouvelle Vague an das neare Erzählweise, Selbstreflektion und filmhistorische Startschuss der Nouvelle Filmemachen herangingen – mit einer Filmzitate: Kein Film erfüllt alle Kriterien, Vague, Truffauts Sie küssten und sie großen Lust an der Improvisation. Es lässt manche nicht mal ein einziges, sie alle schlugen ihn (Les Quatre Cents Coups, auch erahnen, wie sehr der Jazz von Miles zählen aber doch zur Nouvelle Vague. Und 1959), noch ein Jahr entfernt. Davis, Charlie Parker oder John Coltrane, so geht auch jeder Film mit dem Einsatz In beiden Filmen spielt der Soundtrack der damals gerade die absolute Moderne von Musik anders um: viele überraschend, eine ungemein wichtige Rolle, aber doch symbolisierte, die Akteur/-innen jener einige avantgardistisch, manche gerade- funktioniert die Musik vollkommen anders. Revolution des französischen Kinos faszi- zu klassisch. Malle setzt gültige Konventionen außer nierte. Sie kannten und schätzten die da- Kraft und lässt dem damals 31-jährigen mals aus den USA herüberschwappende Populärkultur hören und sehen Davis völlig freie Hand. Statt von einem Populärkultur – und das ist in den Filmen Eins aber haben fast alle Nouvelle-Vague- Orchester den Gefühlshaushalt der Filmfi- der Nouvelle Vague auch zu hören und Filme gemeinsam: Musik spielt in ihnen guren nur unterstreichen zu lassen, erzählt nicht zuletzt zu sehen. eine prägendere Rolle, als man es bis der Trompeter mit seinem Instrument eine dahin im Kino gewohnt war. Das ist nur zweite Geschichte, die die Filmhand- www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Hintergrund: Der Sound der Nouvelle Vague (2/2) lung kommentiert, sie ergänzt und Kont- dem Musical Die Regenschirme von Cher- Folgerichtig ist es auch Godard, der in Die rapunkte setzt. Nicht so Truffaut: Für seine bourg (Les Parapluies de Cherbourg, Aussenseiterbande (Bande à part, 1964) erste lange Regiearbeit ließ sich der ehe- 1964), für das Michel Legrand die Musik die wohl berühmteste Musik-Sequenz der malige Filmkritiker der Cahiers du Cinéma schrieb. Legrand sollte nicht nur der am Nouvelle Vague inszeniert. In der knapp von Jean Constantin, der sich bis dahin vor meisten beschäftigte Komponist der Nou- vier Minuten langen Plansequenz, in der allem einen Namen als Songwriter für Stars velle Vague werden, sondern später auch die Hauptcharaktere Odile, Franz und Ar- wie Edith Piaf oder Zizi Jeanmarie gemacht in Hollywood Karriere machen. Er hat ins- thur in einem voll besetzten Café zu lautem hatte, eine vergleichsweise konventionell gesamt mehr als 200 Filme vertont und Jazz, der immer wieder abrupt unterbro- anmutende Filmmusik komponieren, der drei Academy Awards – unter anderem für chen wird von der Stimme des Erzählers, Truffauts sentimentale Erinnerungen an Yentl (1983) - gewonnen. eine cool fingerschnippende Choreografie seine eigene Jugend adäquat untermalt. improvisieren, stellt Godard wieder einmal Trotzdem tritt auch hier die Musik immer Die Musik emanzipiert sich Sehgewissheiten auf den Kopf: Musik ist wieder in den Vordergrund, begrüßt die vom Dialog nicht nur Verstärkung und Untermalung, Charaktere mit wiederkehrenden, ihnen Die Nouvelle Vague revolutionierte das stattdessen folgen Bild und Handlung ih- zuzurechnenden Motiven und trägt ent- filmische Erzähle n und prägt unse re rem Rhythmus. Damals, 1964, war die Sze- scheidend zur bisweilen märchenhaften Sehgewohnheiten bis heute. Nur wenige ne eine Sensation, die die Kinobesucher/- Stimmung des Films bei. Regisseur/-innen erneuerten die Filmmu- innen irritierte und seitdem immer wieder sik jedoch so radikal wie Jean-Luc Godard. zitiert worden ist: von Hal Hartley (Simple Musiker/-innen als Godard hat zwar selbst einmal behauptet, Men, 1992) über Quentin Tarantino (Pulp Schauspieler/-innen er habe Musik „meistens konventionell Fiction, 1994) bis zu Roger Michell (Le Schon ein Jahr später in Schiessen Sie verwendet“ – und doch bricht er so sys- Week-End, 2013). Sie zählt zu den Szenen, 12 auf den Pianisten (Tirez sur le pianiste, tematisch wie kein anderer mit der Domi- mit denen sich die Nouvelle Vague in die (70) 1960) geht Truffaut ganz anders mit der nanz des Filmdialogs. Stattdessen setzt er Filmgeschichte eingeschrieben hat. Musik um. Die Hauptperson ist ein Musiker Musik, Klänge, Geräusche gleichberech- und wird überdies von dem Chansonnier tigt zum gesprochenen Wort ein, mitunter Autor: Charles Aznavour verkörpert – und so wird übertönen sie dieses sogar. Thomas Winkler, Film- und Musik- die Musik geradezu zwangsläufig oft die- Schon in seinem Spielfilmdebüt Au- journalist, 18.01.2021 getisch eingesetzt. Genauso wie in Cléo – sser Atem (À bout de souffle, 1960) lässt Mittwoch zwischen 5 und 7 (Cléo de 5 à 7, er Martial Solal nicht nur eine Begleitmusik Foto: 1961), in dem Regisseurin Agnes Varda komponieren, die geprägt ist vom avant- © ddp/Everett Collection dem Komponisten des Soundtracks, Mi- gardistischen Cool Jazz, dessen Tonfolgen chel Legrand, gar eine Rolle als Pianist bisweilen ähnlich sprunghaft erscheinen gibt: Er schreibt das Chanson, das die Ti- wie die damals revolutionären Jump-Cuts telheldin in der melodramatischen Klimax des Films. Die Protagonistin Patricia legt des Films singt. Auch in Jean-Luc Godards auch mehrfach Schallplatten mit klassi- Masculin – Feminin oder: Die Kinder von scher Musik auf, die dann zum Soundtrack Marx und Coca-Cola (Masculin – fémi- der Szene werden. So unvermittelt wie die nin: 15 faits précis, 1966) spielt Musik Stimmungen des flüchtenden Kleinkrimi- eine tragende Rolle: Nicht nur, weil die die nellen Michel wechselt auch die Musik von Protagonistin Madelaine (gespielt von der der nichtdiegetischen zur diegetischen Popsängerin Chantal Goya) als Sängerin Ebene. Nur ein Jahr später wiederholt Go- Karriere machen will, sondern auch, weil dard dieses Prinzip, als er seine damalige Musik allgegenwärtig in der Lebenswelt Ehefrau Anna Karina in Eine Frau ist eine der jungen Leute ist, die sowohl über Bach Frau (Une femme est une femme, 1961) als auch Bob Dylan diskutieren. Jacques den „Chanson d‘Angela“ singen lässt, wo- Demy gewinnt schließlich in Cannes sogar bei er ironisch den US-amerikanischen die Goldene Palme für den besten Film mit Revue-Film zitiert. www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Filmbesprechung: Sie küssten und sie schlugen ihn (1/2) Les Quatre Cents Coups Deutschland 1972/74 Literaturverfilmung, Drama Frankreich 1959 Drama Distributionsform: DVD, VoD Verfügbarkeit: Zweitausendeins Edition Film, Concorde Video (DVD), Rakuten TV © ddp/Everett Collection Regie: François Truffaut Drehbuch: François Truffaut, Marcel Moussy Darsteller/innen: Jean-Pierre Léaud, Claire Maurier, Albert Rémy, Patrick Auffay, Guy Decomble, Pierre Repp, Jacques Monod u.a. Sie küssten und sie Kamera: Henri Decae Laufzeit: 99 min, dt. F., OmU 13 Format: 35mm, Schwarzweiß schlugen ihn (70) Filmpreise: IFF Cannes 1959: Regiepreis (François Truffaut) François Truffauts Film über einen vernachlässigten und unverstandenen FSK: ab 12 J. Jungen war der erste große Erfolg der Nouvelle Vague. Altersempfehlung: ab 12 J. Klassenstufen: ab 7. Klasse Themen: Coming-of-Age, Jugend/ "Wenn mir die Wahrheit niemand glaubt", Schreibmaschine stiehlt, um sie irgendwie Jugendliche/Jugendkultur, erklärt der 13-jährige Antoine Doinel ei- zu Geld zu machen, ist das Maß voll. An- Familie, Schule, Filmgeschichte ner Psychologin, "erzähle ich eben eine toine kommt in eine Erziehungsanstalt. Unterrichtsfächer: Französisch, Lüge". Sein Leben gleicht einem ständigen Natürlich ergreift er die erste sich bietende Deutsch, Ethik, Politik, Kunst Kampf mit den Autoritäten. In seiner Klas- Gelegenheit zur Flucht. se ist der aufmüpfige Junge keineswegs Sie küssten und sie schlugen ihn der Schlimmste, aber der Sündenbock für (1959) ist ein Klassiker der Nouvelle Vague, alles. Zuhause streiten sich die Eltern ent- aber vielleicht noch bedeutender als Mei- weder mit ihm oder untereinander. Immer lenstein in der Darstellung von Kindern und wieder treiben ihn die ewigen Vorwürfe Jugendlichen im Film. Die Kindheit wurde aus der engen Wohnung, erkundet er mit zum Lebensthema des französischen Auto- seinem Freund René die Kinos, Spielhal- renfilmers François Truffaut, dessen Spiel- len und Vergnügungsetablissements von filmdebüt stark autobiografisch geprägt Paris – der Glanz des Verbotenen befeuert ist. Wie der kleine Antoine wurde er vom seine Flucht vor der Realität. Im tristen All- eigenen Stiefvater auf die Polizeiwache tag bringt ihn die vorgegaukelte Entschul- geschleppt und durchlief mehrere Erzie- digung für sein Fehlen im Unterricht, seine hungsheime. Schließlich fand er im Kino Mutter sei gestorben, in arge Schwierigkei- die wahre Schule des Lebens. Truffauts ten. Als er im Büro seines Stiefvaters eine Blick auf eine maßgeblich fremdbestimm- www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Filmbesprechung: Sie küssten und sie schlugen ihn (2/2) te Kindheit ist erfrischend unsentimental, Autor: sein Misstrauen gegenüber Autoritäten Philipp Bühler, freier Filmjournalist dem Zeitgeist der 1950er-Jahre diametral und Redakteur, 18.01.2021 entgegengesetzt. Entscheidend für den Erfolg des Films bei Publikum und Kritik Foto: war die Besetzung mit dem Energiebün- ddp/Everett Collection del Jean-Pierre Léaud. Später hat Truffaut die Figur des Antoine Doinel immer wieder als Mischung ihrer beider Persönlichkeiten beschrieben – Léauds Temperament trug wesentlich zu dieser Figur bei, der Truffaut schließlich einen ganzen Antoine-Doinel- Zyklus widmete: In vier weiteren Filmen, darunter die Komödie Geraubte Küsse (Baisers volés, 1968), erfährt man vom Heranreifen des widerspenstigen Antoine zum jungen Mann. Der Filmemacher wurde zu einem gütigen Ziehvater des "Problem- kinds" Jean-Pierre Léaud, wie er ihn sich selbst gewünscht hätte. Im Film freilich ist Antoines weitere Ent- 14 wicklung so ungewiss wie die des ganzen (70) Landes zu der damaligen Zeit. "Wie soll Frankreich bloß in zehn Jahren aussehen?", stöhnt sein Lehrer einmal, zu hören nur auf der französischen Originaltonspur. Es braucht indes keine soziologische Deutung, um im noch sehr kindlichen Antoine einen möglichen Protagonisten der rebellischen Jugend von 1968 zu sehen. Am deutlichs- ten spricht ohnehin das berühmt gewor- dene, ambivalente Schlussbild: Atemlos ist der Junge, seinen Aufpassern entkommen, ans Meer geflüchtet, nach dem er sich im- mer gesehnt hatte. Hier muss er stehen bleiben, das Meer ist nur eine weitere Gren- ze. Doch er hat den Horizont gesehen und vielleicht darüber hinaus, und diesen Blick wirft er nun, in einem spektakulär einge- frorenen Bild, in die Kamera und damit auf die Zuschauenden zurück. Sein unbändiger Freiheitsdrang ist hier die einzige Wirklich- keit, die zählt. www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Filmbesprechung: Hiroshima, mon amour (1/2) Hiroshima mon amour Frankreich, Japan 1959 Drama Distributionsform: DVD, Blu-ray, VoD Verfügbarkeit: YouTube, Google Play, Amazon Prime u.a. © ddp images/Capital Pictures/FB Regie: Alain Resnais Drehbuch: Marguerite Duras Darsteller/innen: Emmanuèle Riva, Eiji Okada, Stella Dassas, Pierre Barbaud, Bernard Fresson u.a. Kamera: Michio Takahashi, Sacha Vierny Laufzeit: 90 min, dt.F., OF, OmU Format: 35mm, Schwarzweiß Hiroshima, mon amour Filmpreise: Prix du Syndicat Français de la Critique 1960: 15 Bester Film, New York Film (70) Alain Resnais' Film über zwei Liebende und ihre Erinnerungen an den Krieg Critics Circle Awards 1960: verknüpft auf poetische Weise kollektive und individuelle Traumata. Bester fremdsprachiger Film FSK: ab 16 J. FBW-Prädikat: Besonders E ine französische Schauspielerin dreht 1957 in Hiroshima einen Film über den Frieden. Kurz vor Abschluss der Dreharbei- Aus dem französischen Kino der 1950er- Jahre sticht Hiroshima, mon amour durch seine Intellektualität und visuelle wertvoll Altersempfehlung: ab 16 J. Klassenstufen: ab 11. Klasse ten hat sie eine Affäre mit einem japani- Kühnheit heraus. Alain Resnais gibt sei- Themen: Filmgeschichte, Zweiter schen Architekten. Diese Begegnung weckt ne Drehbücher bei Schriftsteller/-innen Weltkrieg, Trauma, Liebe, in ihr die verdrängte Erinnerung an ihre der literarischen Avantgarde in Auftrag – Individuum (und Gesellschaft) erste Liebe zu einem deutschen Soldaten in diesem Fall Marguerite Duras, deren Unterrichtsfächer: Französisch, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Auf beschwörende Dialoge sich mit Resnais' Deutsch, Ethik, Geschichte, komplexe Weise verflechtet Hiroshima, sinnlichen Bildern zu einem radikal mo- Kunst mon amour drei diegetische Ebenen oder dernen Film vereinen. Anders als in den raumzeitliche Blöcke: Zunächst das wieder- Filmen der Nouvelle Vague üblich, legt aufgebaute Hiroshima der Gegenwart des der politisch engagierte Regisseur größ- Jahres 1957, dann die von der Atombombe ten Wert auf die zeitgeschichtliche Per- zerstörte Stadt von 1945, die in historischen spektive seiner Filme. Die "horizontale Dokumenten im ersten Teil des Films gezeigt Kollaboration" aus der Sicht einer ge- wird, und schließlich die französische Klein- schorenen Frau war im damaligen Frank- stadt Nevers im Jahr 1944, wo die Liebe zwi- reich ein äußerst provokantes Thema, zu schen der jungen Französin und dem Deut- dem die offizielle Geschichtsschreibung schen nach der Okkupationszeit tragisch schwieg. Im Kontrast zu dieser organisie- endet: Er wird ermordet, sie geschoren und ren Duras und Resnais ihre Erzählung aus monatelang in einen Keller gesperrt. dem individuellen Gedächtnis. www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Filmbesprechung: Hiroshima, mon amour (2/2) Als ein Sinnbild für den Horror des 20. Jahr- politisch, oder wie Godard in Bezug auf hunderts ist die Atombombe für Außenste- die Szene sagte: "Kamerafahrten sind eine hende und Nachgeborene in der Einzigar- Frage der Moral". tigkeit ihres Schreckens nicht vergleichbar und nicht verstehbar. Im berühmten Pro- Autorin: log des Films sind historische Fotografien Dr. Almut Steinlein, freie Autorin und "wahrheitsgetreue Nachbildungen" und Dozentin, 18.01.2021 der verwüsteten Stadt kontrapunktisch zu den Liebkosungen des Paares geschnit- Foto: ten. Den Beteuerungen der Französin, sich © ddp images/Capital Pictures/FB daraus ein Bild des atomaren Martyriums gemacht zu haben, entgegnet der japani- sche Liebhaber: "Du hast nichts gesehen in Hiroshima." Wenn es auch unmöglich ist, sich die Katastrophe von Hiroshima vorzustellen, so nähert sich der Film dem Trauma der Atombombe in einer metapho- rischen Verschiebung. Hiroshima ist der Ort, an dem die Französin in der Wiederho- lung einer "unerlaubten Liebe" ihr eigenes Trauma schmerzlich erinnern wird, um es 16 vergessen zu können. (70) Das Kennenlernen des Japaners be- zeichnet sie selbst als ein Wiedersehen; es wird unerwartete Erinnerungen auslösen und "Vergangenheitsschichten" (Gilles Deleuze) an die Oberfläche bringen. Eine erste Reminiszenz löst die Hand des schla- fenden Liebhabers aus, deren Position die Erinnerung an den sterbenden deutschen Soldaten weckt. Als verdrängtes Ereignis im psychoanalytischen Sinne wird der Ort Nevers durch das insistierende Nachfragen des Japaners in der filmischen Gegenwart zunehmend Raum greifen. Resnais' visuel- les Genie zeigt sich in der Szene des nächt- lichen Herumirrens durch Hiroshimas Straßen, in die perfekt korrespondierende Kamerafahrten von Nevers geschnitten sind, welche die Vergangenheit völlig in der Gegenwart aufgehen lassen. In ihnen ver- wächst das Trauma der persönlichen Tra- gödie mit dem der Weltgeschichte in Form einer Analogie: Was Nevers für die Franzö- sin, ist Hiroshima für die Menschheit. Filmi- sche Ästhetik ist bei Resnais immer auch www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Filmbesprechung: Hiroshima, mon amour (1/2) Hiroshima mon amour Frankreich, Japan 1959 Drama Distributionsform: DVD, Blu-ray, VoD Verfügbarkeit: YouTube, © ddp images/Capital Pictures/FB Google Play, Amazon Prime u.a. Regie: Alain Resnais Drehbuch: Marguerite Duras Darsteller/innen: Emmanuèle Riva, Eiji Okada, Stella Dassas, Pierre Barbaud, Bernard Fresson u.a. Kamera: Michio Takahashi, Sacha Vierny Laufzeit: 90 min, dt.F., OF, OmU Format: 35mm, Schwarzweiß Hiroshima, mon amour Filmpreise: Prix du Syndicat Français de la Critique 1960: 17 Le film d’Alain Resnais, racontant l’histoire de deux amants et Bester Film, New York Film (70) leurs souvenirs respectifs de la guerre, entremêle de façon poétique Critics Circle Awards 1960: le traumatisme collectif et individuel. Bester fremdsprachiger Film FSK: ab 16 J. FBW-Prädikat: Besonders E n 1957, une actrice française passe quelques semaines à Hiroshima pour tourner un film consacré à la paix. Juste Parmi les films français des années 1950, Hiroshima mon amour se singularise par son engagement politique et une esthé- wertvoll Altersempfehlung: ab 16 J. Klassenstufen: ab 11. Klasse avant son retour en France, elle vit une tique audacieuse et novatrice. Alain Res- Themen: Filmgeschichte, Zweiter brève histoire d’amour avec un architecte nais sollicite fréquemment des écrivain·e·s Weltkrieg, Trauma, Liebe, japonais. Cette rencontre réveille le sou- de l’avant-garde littéraire pour écrire les Individuum (und Gesellschaft) venir refoulé de son premier amour avec scénarios de ses films, dans le cas pré- Unterrichtsfächer: Französisch, un soldat allemand à la fin de la Seconde sent, Marguerite Duras. Les dialogues en- Deutsch, Ethik, Geschichte, Guerre mondiale. Hiroshima mon amour voûtants de Duras s’harmonisent avec les Kunst entremêle de façon complexe trois niveaux images sensuelles de Resnais dans un film diégétiques ou blocs spatio-temporels : radicalement moderne. Se démarquant D’abord la ville reconstruite d’Hiroshima de la tendance dominante de la Nouvelle en 1957, puis la ville détruite par la bombe Vague, le cinéaste engagé situe ses films atomique en 1945 via diverses archives his- dans un contexte historique qui est au cen- toriques montrés dans la première partie tre de l’histoire. La « collaboration horizon- du film, et enfin la petite ville française de tale » vécue du point de vue de la femme Nevers en 1944, où l’histoire d’amour ent- tondue est alors un sujet extrêmement re la jeune Française et l’officier allemand provocateur sur lequel l’histoire officielle prend une fin tragique : il est abattu ; elle se tait. Contrastant cette dernière, Duras est tondue et enfermée dans une cave pen- et Resnais organisent leur récit à travers la dant plusieurs mois. mémoire individuelle. www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Filmbesprechung: Hiroshima, mon amour (2/2) Le bombardement d’Hiroshima a marqué Autorin: à jamais le XXème siècle de son horreur Dr. Almut Steinlein, freie Autorin und incommensurable. Le célèbre prologue du Dozentin, 18.01.2021 film construit un contrepoint d’une inten- sité sidérante entre les images de la ville Foto: détruite d’un côté et l’étreinte des deux © ddp images/Capital Pictures/FB amoureux de l’autre. Peut-on concevoir ce qui s’est passé à Hiroshima ? L’affirmation de la Française d’avoir pu se faire une idée de la tragédie est contredite par son amant japonais, dans sa célèbre réplique réitérée : « Tu n’as rien vu à Hiroshima. » Partant de cette impossibilité d’approcher la catast- rophe d’Hiroshima, le film évoque le trau- matisme atomique par un déplacement métaphorique. Hiroshima sera le lieu où la Française, dans la répétition d’un « amour impossible », se souviendra de son propre traumatisme refoulé. Elle-même vit cet amour japonais 18 comme un souvenir ; cette aventure intime (70) fait surgir des « nappes de passé » (Gilles Deleuze). La main de l’amant endormi, dont la position rappelle le souvenir du soldat allemand mourant, ouvre une première réminiscence. Par le questionnement insis- tant de l’amant japonais à la manière d’un thérapeute, la ville de Nevers, événement refoulé au sens psychanalytique, se déploie dans le présent d’Hiroshima. La séquence de la déambulation nocturne dans les rues d’Hiroshima témoigne du génie visuel de Resnais : le montage fait alterner des plans de la ville japonaise avec des travellings de Nevers dans une correspondance parfaite. Le passé resurgit dans le présent. Dans cette scène, le traumatisme de l’histoire indivi- duelle se fond dans le traumatisme de l’his- toire collective. Nevers représente pour la Française ce qu’Hiroshima représente pour l’humanité. La force de l’esthétique filmique de Resnais arme son engagement politique. En parlant de ce film, Godard a déclaré : « Les travellings sont affaire de morale. » www.kinofenster.de
Themendossier Dezember 2020/Januar 2021 Nouvelle Vague Filmbesprechung: Außer Atem (1/2) À bout de souffle Frankreich 1959 Drama, Kriminalfilm Distributionsform: VoD auf amazon, iTunes, maxdome u.a. Regie: Jean-Luc Godard Drehbuch: Jean-Luc Godard nach einer Story von François © ddp/interTOPICS/mptv Truffaut Darsteller/innen: Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg, Daniel Boulanger, Jean-Pierre Melvil- le, Henri-Jacques Huet, Van Doude u. a. Kamera: Raoul Coutard Laufzeit: 87 min, dt.F., OmU Format: 35mm, Schwarzweiß Außer Atem Filmpreise: Auswahl: Berliner Filmfestspiele 1960: Silberner Ein Meilenstein der Filmgeschichte: das Regiedebüt von Jean-Luc Godard mit Bär für die beste Regie; Prix 19 Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in den Hauptrollen. Jean Vigo 1960 (70) FSK: ab 16 J. Altersempfehlung: ab 16 J. D er Kleinganove Michel gerät in einem gestohlenen Auto in eine Verkehrs- kontrolle und erschießt im Affekt einen künstliches Licht, Handkameraaufnahmen auf offener Straße, asynchrone Verknüp- fungen von Ton und Bild und vor allem die Klassenstufen: ab 11. Klasse Themen: Filmgeschichte, Film- sprache, Liebe, Kriminalität, Polizisten. In Paris untergetaucht, knüpft er berühmten Jump Cuts – galten damals als Rollenbilder, Verrat weiter kriminelle Kontakte und pflegt sei- technische Tabubrüche. Die Mischung aus Unterrichtsfächer: Deutsch, ne Frauenbekanntschaften. Er ist vernarrt authentischen Mitteln und künstlerischen Französisch, Kunst, Ethik in Patricia, doch die junge Amerikanerin Verfremdungseffekten ist jedoch kein ist sich ihrer Liebe zu ihm nicht sicher. Mi- Selbstzweck, sondern kennzeichnet auch chels Verführungskünste erscheinen ihr als die Figuren: Jean-Paul Belmondos Michel, angenehmes Spiel ohne ernsthaften Hin- der die Gesten Humphrey Bogarts imitiert, tergrund. Als sie von dem Mord an dem Po- ist verliebt in das Image des coolen Gangs- lizisten erfährt, verstärkt sich ihr Konflikt; ters. Auf ähnliche Weise verkörpert Jean schließlich verrät sie ihn an die Polizei. Auf Seberg als Patricia das Bild der modernen der Flucht niedergeschossen, stirbt Michel jungen Frau, ohne sich dieser neuen Rolle vor Patricias Augen. vollständig gewiss zu sein. Godards Film- Jean-Luc Godards Ausser Atem, eine sprache, die elliptische Erzählweise und die Hommage an den amerikanischen Gangs- Story verleihen dieser existentialistischen terfilm des Film Noir und zugleich dessen Selbstsuche eine ureigene Poesie, die bis Kritik, gilt als frühes Meisterwerk der fran- heute fasziniert. zösischen Autorenfilmbewegung Nouvelle Auf die Ästhetik des modernen Spiel- Vague, die zu Beginn der 1960er-Jahre films und vor allem des Videoclips hatten nach neuen Erzählformen suchte. Einige Godards Neuerungen unmittelbaren Ein- Stilmittel in Godards Film – Verzicht auf fluss. Damals Avantgarde, gehören sie www.kinofenster.de
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