1| 2020 - Der Paritätische
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Schwerpunkt Inhalt Editorial 3 Schwerpunkt: Teilhabe von Menschen mit Behinderung Paritätischer erforscht Teilhabe von und mit Menschen mit Beeinträchtigungen 4 Interview zu 30 Jahren Paritätische Behindertenpolitik 6 Drei Fragen an das Netzwerk für Teilhabe und Beratung (NTB e.V.) 8 Studieren mit Behinderung – drei Städte, zwei Länder. Ein Erfahrungsbericht 9 Auch das Meer ist barrierefrei. 10 Drei Fragen an Katrin Weiland, Kompetenz-Zentrum Leichte Sprache 12 Partizipation mit digitalen Medien – gleichberechtigt und selbstbestimmt. 13 Teilhabe serviert mit sozialer Note 14 105 Nachhaltig teilhaben in Ostsachsen 16 Drei Fragen an Andreas von Hören, Medienprojekt Wuppertal 17 „Die einzige Voraussetzung ist, dass man stehen kann“ 18 Kommentar: Wählen mit Behinderung? Klar! 19 Der Weg zum und mit dem Führhund 20 Inklusion mit Fahrtwind 22 Hilfe für geflüchtete Menschen mit Behinderung 24 Sozialpolitik Ein Jahr Gute-Kita-Gesetz 25 Der Paritätische Armutsbericht 2019 26 Digitalisierung im Gesundheitswesen/ Soziale Plattform Klimaschutz 28 Verbandsrundschau Rosenbrock unterwegs 29 Position zur Kommerzialisierung im Gesundheitswesen30 Paritäter*innen auf der Straße 31 Tag gegen Menschenhandel / Verbandsposition zu 225 18 EU-Ratspräsidentschaft / 15 Jahre Hartz 4 32 Vermischtes, Verschiedenes. 33 Einkaufsvorteile nutzen! / Bildnachweise / Impressum 35 Nicht nur gedruckt sondern auch unter facebook.com/paritaet itaet bei Twitter unter @par t bei Instagram als paritae Dieses Magazin kann als barrierefreie pdf- 30 Datei im Internet heruntergeladen werden: www.paritaet.org 2 www.der-paritaetische.de 1 | 2020
Editorial Professor Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands Liebe Leser*innen, im März 2009 hat Deutschland die Be- um eine gleichberechtigte Teilhabe hinter steht meist kein böser Wille, hindertenrechtskonvention der Verein- von Menschen mit Behinderungen in sondern ein Mangel an Fachkräften, ten Nationen ratifiziert. Darin ver- den alltäglichen Lebensbereichen zu Stellen und Geld. Dadurch droht an pflichten sich die Vertragsstaaten zur gewährleisten. vielen Orten das gesamte Projekt der vollen Verwirklichung aller Menschen- Ein Blick in den Lebensbereich Kind- Inklusion in Verruf zu kommen. rechte und Grundfreiheiten für alle heit und Schule zeigt, dass es eine voll- Am 3. Dezember 2019 wurde der erste Menschen mit Behinderungen, ohne ständige Gleichberechtigung bei der Paritätische Teilhabebericht der Paritä- jede Diskriminierung. Die Vertrags- Wahrnehmung des Rechts auf Bildung tischen Forschungsstelle veröffentli- staaten sollen z. B. ein integratives Bil- zwischen Kindern mit und ohne Be- cht, welcher den Fokus auf die Beein- dungssystem auf allen Ebenen gewähr- hinderung noch nicht gibt. Die Bun- trächtigungen älterer Menschen legt. leisten und dazu u.a. den Zugang zu desländer setzen die Behinderten- Mit dem Paritätischen Teilhabebericht, einem integrativen, hochwertigen und rechtskonvention und mögliche Maß- der im Rahmen des Projektes „Teilha- unentgeltlichen Unterricht an Grund- nahmen für eine inklusive Bildung beforschung: Inklusion wirksam ge- schulen und weiterführenden Schulen unterschiedlich um. Während bspw. in stalten“ erstellt wurde, möchten wir sicherstellen. Kinder mit Behinderung Bremen ca. 83 Prozent der jetzt und in den kommenden Jahren sollen gleichberechtigt mit anderen Schüler*innen mit sonderpädago- auf der Basis sorgfältiger Teilhabefor- Kindern alle Menschenrechte und gischem Förderbedarf auf eine Regel- schung dazu beitragen, Handlungs- Grundfreiheiten genießen können. Be- schule gehen, sind es in Bayern 26 möglichkeiten zu identifizieren sowie zogen auf den Bereich des Erwerbsle- Prozent. Die aktuelle, föderale Ausge- mit und für Menschen mit Behinde- bens wollen die Vertragsstaaten das staltung der schulischen Bildungssys- rungen Barrieren auf dem Weg zu ei- Recht auf die Möglichkeit gewährleis- teme, in denen inklusive Bildung keine ner inklusiven Gesellschaft beseitigen. ten, den Lebensunterhalt durch solche Selbstverständlichkeit ist, verhindert, Arbeit zu verdienen, die in einem offe- dass für Kinder und Jugendliche mit Herzlich, ihr nen, integrativen und für Menschen Behinderung ein gleichberechtigter, mit Behinderungen zugänglichen Ar- diskriminierungsfreier Zugang zu beitsmarkt und Arbeitsumfeld frei ge- einem hochwertigen, inklusiven Bil- wählt oder angenommen werden kann. dungssystem besteht. Separierende Knapp elf Jahre nach der Ratifizierung Bildungsformen, zeitlich beschränkte ist zwar schon einiges erreicht worden, Förderangebote oder Missachtung des aber es müssen noch viel mehr Hür- Wunsch- und Wahlrechts sind leider den und Barrieren beseitigt werden, immer noch an der Tagesordnung. Da- www.der-paritaetische.de 1 | 2020 3
Schwerpunkt Paritätischer erforscht Teilhabe von und mit Menschen mit Beeinträchtigungen Der Paritätische Gesamtverband ver- tritt die Interessen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinde- rungen und ihre Organisationen und analysiert im Projekt „Teilhabefor- schung: Inklusion wirksam gestalten“ die Teilhabechancen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Ermöglicht wird dieses Vorhaben durch die Aktion Mensch Stiftung. Zum Internationalen Tag der Men- schen mit Behinderungen will der Pa- ritätische in den nächsten Jahren regel- mäßig einen Teilhabebericht zu den mit Beeinträchtigungen selbst zu Wort zeichnen, da davon auszugehen ist, Lebenslagen von Menschen mit Beein- – in Form von qualitativen Interviews dass Menschen in Einrichtungen und trächtigungen veröffentlichen. 2019 sowie unterschiedlichen Workshops. mit besonders starken Beeinträchti- liegt der Schwerpunkt dabei auf älteren Die Lebenslagen der Menschen mit Be- gungen nicht repräsentativ in der Da- Menschen mit Beeinträchtigungen, einträchtigungen in Privathaushalten tengrundlage erfasst sind. definiert als Personen, die über 65 Jah- werden für das Jahr 2016, aus dem die re alt sind. Insbesondere ihnen soll aktuellsten verfügbaren Daten sind, Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich (neben Frauen und Mädchen) laut Ar- anhand von 22 Indikatoren analysiert. wie folgt zusammenfassen: tikel 28 Absatz 2 der Behinderten- Neben allgemeinen soziodemogra- Menschen mit Beeinträchti- rechtskonvention der Vereinten Natio- fischen Merkmalen zu Menschen ohne 1 gungen über 65 Jahren in Pri- nen (UN-BRK) der Zugang zu Pro- und mit Beeinträchtigungen bzw. vathaushalten haben im Schnitt grammen des sozialen Schutzes und Schwerbehinderung werden die Be- weniger Einkommen und Vermögen in der Armutsbekämpfung zugesichert reiche materielle Situation, soziales Form von Wohneigentum oder Rück- werden. Netz, Gesundheit, Freizeit und Kultur, lagen für Notfälle zur Verfügung als Sicherheit sowie politische und gesell- Menschen ohne Beeinträchtigungen. Aktuell gibt es keine repräsentativ er- schaftliche Partizipation analysiert. Dieser Befund kommt nicht unerwar- hobenen Daten zu den Lebenslagen Neben Kennzahlen zur Teilhabe wer- tet, obwohl berücksichtigt werden der Menschen mit Beeinträchtigun- den jeweils die Zufriedenheit bzw. die muss, dass Beeinträchtigungen in der gen. Ein Survey der Bundesregierung Sorgen von Menschen mit und ohne überwiegenden Zahl der Fälle im Le- soll das in den kommenden Jahren än- Beeinträchtigungen dokumentiert. bensverlauf entstehen und auch nicht dern. Ein Schwerpunkt im Teilhabebe- immer mit einem Ausscheiden aus richt des Paritätischen liegt aufgrund Dabei zeigt sich: In fast allen unter- dem Beruf einhergehen. Dennoch der Datendefizite auf der Teilhabe von suchten Bereichen können Menschen müssen ältere Menschen mit Beein- Menschen in Privathaushalten. Stati- mit Beeinträchtigungen bzw. Schwer- trächtigungen im Durchschnitt dauer- stische Daten allein genügen jedoch behinderung in Privathaushalten we- haft mit weniger materiellen Ressour- nicht, um ein Bild von der Lebenssitu- niger teilhaben als Menschen ohne cen zurechtkommen. Daraus resultiert ation von Menschen mit Beeinträchti- Beeinträchtigungen. Dies schlägt sich auch eine geringere Zufriedenheit mit gungen zu bekommen. Zudem leben auch auf ihre Zufriedenheit nieder dem eigenen Einkommen und eine Menschen mit Beeinträchtigungen bzw. spiegelt sich in ihren Sorgen wi- größere Sorge um die eigene wirt- auch häufig nicht (mehr) in Privat- der. Dabei dürften diese Zahlen eher schaftliche Entwicklung. Diese Kluft haushalten. Es kommen deshalb im noch ein im Vergleich zur tatsäch- gilt es zu schließen. Ein Mittel dazu Rahmen des Projekts auch Menschen lichen Lebenslage günstigeres Bild muss es sein, die Anrechnung von Ein- 4 www.der-paritaetische.de 1 | 2020
Schwerpunkt kommen und Vermögen weiter zu re- Auch bei der Zufriedenheit Insgesamt zeigt sich: Der Weg in eine duzieren. Des Weiteren werden Men- 3 mit der Freizeitgestaltung gibt wirklich inklusive Gesellschaft ist schen, die in der Vergangenheit von es negative Unterschiede zwi- noch weit. Es gab in der Vergangenheit einer Erwerbsminderung betroffen schen Menschen mit und ohne Beein- aber auch Fortschritte. Gemeinsames, wurden, durch die bestehende Sozial- trächtigungen in Privathaushalten. gesamtgesellschaftliches Engagement gesetzgebung nicht immer dauerhaft Bezüglich der Ursachen für das Aus- für mehr Inklusion lohnt sich. Für die vor Armut im Alter geschützt. Für die- bleiben von Freizeitaktivitäten und Ur- Umsetzung weiterer, notwendiger Re- jenigen, die künftig von einer Erwerbs- lauben lassen die vorliegenden Daten formen ist das ein guter Ausgangs- minderung betroffen sind, hat sich die jedoch nur wenige Rückschlüsse zu – punkt. Des Weiteren erlauben die neu Rechtslage in den vergangenen Jahren finanzielle Gründe sind zumindest gewonnenen Informationen eine noch erheblich verbessert. Nun geht es da- meist nicht die Hauptursache. Die För- präzisere Adressierung von Problemla- rum, auch diejenigen, die schon vorher derung von Barrierefreiheit im öffent- gen und somit auch die Verbesserung von diesem Schicksal betroffen waren, lichen Raum sowie die Verbesserung von Lebenslagen von Menschen mit gleichzustellen. der Verkehrsinfrastruktur könnten so- Beeinträchtigungen. Der Aspekt des Wohnens ist mit Faktoren sein, um bestehende Un- 2 für die Lebenszufriedenheit terschiede zu vermeiden. Begleitet wird das Projekt von einem aller Menschen von erheb- Die Hälfte der Menschen mit Beirat bestehend aus Vertretungen von licher Bedeutung. Jeder soll die Mög- 4 Schwerbehinderungen in Pri- Organisationen und Initiativen von lichkeit haben, selbst zu entscheiden, vathaushalten hat ein starkes Menschen mit Behinderungen, Insti- wo, wie und mit wem er oder sie leben oder sogar sehr starkes Interesse an tutionen und Wissenschaft. Zudem will. Artikel 19 der UN-Behinderten- Politik. Ihre Sorge um den Zusam- wird es im ersten Halbjahr eine Ta- rechtskonvention bestätigt dieses menhalt der Gesellschaft ist ähnlich gung geben, auf der die aktuellen Pro- grundlegende Recht. An der Realisie- hoch ausgeprägt wie bei Menschen jektergebnisse vorgestellt und disku- rung dieses Anspruchs mangelt es. ohne Beeinträchtigungen. Quer durch tiert sowie weitere Handlungsfelder Aus der täglichen Arbeit der Mitglieder alle Gruppen hinweg bestehen große identifiziert werden. des Paritätischen ist bekannt, dass oder zumindest einige Sorgen um den Menschen mit Beeinträchtigungen es Zusammenhalt der Gesellschaft. Es ist Anita Tiefensee sowohl in Ballungszentren als auch in deshalb wichtig, die spezifischen Inte- ländlichen Regionen schwer haben, ressen und Bedarfe von Menschen mit eine geeignete Wohnung zu finden. Beeinträchtigungen und Behinde- Den Paritätischen Teilhabebericht 2019 Auch der Umzug in eine ambulante rungen stärker in der Politik zu be- und weitere Informationen zum Thema Begleitung scheitert oft an der Suche rücksichtigen und gleichzeitig, die be- Teilhabe finden Sie unter: nach geeignetem Wohnraum oder an troffenen Menschen stärker einzubin- www.der-paritaetische.de/teilhabe Widerständen von z. B. Anwohner*in- den und zu beteiligen. nen, wenn der Wohnraum gefunden wurde. Darauf muss politisch stärker reagiert werden, indem bei der Förde- rung neuen Wohnraums verstärkt auf Barrierefreiheit und Zugang zu not- wendigen Infrastrukturleistungen Sorge getragen wird. Auch das Miet- recht muss angepasst werden: dass Wohngruppen von Menschen mit Be- einträchtigungen unter das Gewerbe- mietrecht fallen und damit nur einen sehr reduzierten Kündigungsschutz haben, ist angesichts des besonders vulnerablen Kreises der davon Betrof- fenen nicht zu begründen und muss dringend geändert werden. Zudem muss das Wunsch- und Wahlrecht der im Bundesteilhabegesetz (BTHG) voll Die Verfasser*innen des Teilhabeberichtes (v.l.n.r.): Carolin Linckh (Referentin für So- umfänglich gewährleistet werden, so zialforschung und Statistik in der Paritätischen Forschungsstelle), Dr. Anita Tiefensee dass Menschen mit Behinderung im- (Projektleiterin „Teilhabeforschung“ in der Paritätischen Forschungsstelle) und Dr. mer selbst entscheiden können, wo sie Joachim Rock (Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa beim Paritätischen leben möchten. Gesamtverband) www.der-paritaetische.de 1 | 2020 5
Schwerpunkt 30 Jahre Paritätische Behindertenpolitik. Ein Abschiedsinterview mit Claudia Scheytt Claudia Scheytt ist 1957 in Potsdam ge- boren. Seit 1990 war sie ehrenamtlich in der Selbsthilfe behindertenpolitisch aktiv und seit 1992 ist sie hauptamtlich beim Paritätischen beschäftigt – erst beim Paritätischen Landesverband Brandenburg und seit 2007 beim Pari- tätischen Gesamtverband als Referen- tin für Behinderten- und Psychiatriepo- litik. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen in 30 Jahren Behinderten- politik, viele Veränderungen und große Herausforderungen. In Deutschland leben mehr als zehn Milli- unserer Gesellschaft? Hat die nichtbehin- nicht zufällig ein*e Mitschüler*in onen Menschen mit einer Behinderung – derte Mehrheitsgesellschaft überhaupt die oder ein Familienmitglied eine Behin- das sind 13 Prozent unserer Gesellschaft. Chance, im Alltag auf Menschen mit Be- derung hatte, gibt es immer noch zu Wird dem Thema Behindertenpolitik im hinderung zu treffen? wenig Bezugspunkte. Deshalb braucht Vergleich zu früher mehr Aufmerksamkeit Die Chancen bestehen, aber wir müs- es schon in der vorgeburtlichen Phase gewidmet und haben Menschen mit einer sen auch ehrlich zueinander sein: Wir Aufklärung. Es ist eine Entscheidung, Behinderung heute mehr Chancen? haben es in Deutschland mit einer die Eltern zutiefst persönlich betrifft. Zunächst hat die Wiedervereinigung Leistungsgesellschaft zu tun. Und die Sie sollten diese für sich treffen und der beiden deutschen Staaten für Men- spannende Frage ist, wie diese Leis- sich nicht rechtfertigen müssen, egal schen mit einer Behinderung in den tungsgesellschaft Menschen, deren in welche Richtung diese getroffen neuen Bundesländern zu mehr Chan- Leistungsfähigkeit schwächer ist, mit- wird. Wie bereits gesagt, müssen in cen und Teilhabe geführt. Menschen nimmt. Da hat sich zwar schon viel unserer Gesellschaft die Unterstüt- mit einer geistigen Behinderung waren getan, zum Beispiel, dass im Bereich zungsleistungen oftmals immer noch in der DDR dem Gesundheitswesen der Arbeitsmarktpolitik Nachteilsaus- hart erstritten werden. Das ist absurd: zugeordnet und hatten kein Recht auf gleiche gewährt werden, aber auch hier Es wird Unterstützung gegeben, Leben Bildung. Erst mit der Wiedervereini- stehen wir noch am Anfang. Gerade zu verhindern, es wird aber zu wenig gung hatten sie eine Förderperspektive Menschen mit hohem Unterstützungs- Unterstützung gegeben, das Leben mit und konnten erstmalig in eine Förder- bedarf werden in dieser Leistungsge- einem Kind mit einer Behinderung schule gehen. Mit dem, von den Be- sellschaft nicht nur bei der Teilhabe einfacher und somit auch schöner zu hindertenverbänden hart erkämpften, am Arbeitsleben zurückgelassen. Die machen. Eltern von Kindern mit Be- Beitritt zur UN-Behindertenrechtskon- UN-Behindertenrechtskonvention hat hinderungen brauchen mehr Unter- vention 2009 von Deutschland haben die Leitlinien vorgegeben, aber hierfür stützung und Zuwendung von Staat sich nochmals Chancen für massive müssen auch die Ressourcen bereitge- und Gesellschaft. Veränderungen eröffnet – vor allem stellt werden. Es reicht nicht zu sagen, zum Thema Selbstbestimmung. Wir wir wollen Inklusion, und dann werden Mehr Möglichkeiten der Teilhabe und müssen aber aufpassen, dass auch in den Schulen nicht genug Personal mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Menschen mit sehr hohem Unterstüt- oder passende Räumlichkeiten bereit- Behinderungen – das verspricht das Bun- zungsbedarf bei diesen Veränderun- gestellt. Aber auch die Eltern brauchen desteilhabegesetz. Nur gute Absichten gen mitgenommen werden. Das Bun- Unterstützung. Es darf nicht sein, dass oder hat sich tatsächlich etwas verbessert? desteilhabegesetz verstößt hier gegen sie jegliche Unterstützungsleistungen Es hat sich auf jeden Fall etwas verbes- die UN-Behindertenrechtskonvention. in aufwendigen Gerichtsverfahren hart sert. Wir haben zum Beispiel stärkere erstreiten müssen. Mitbestimmungsrechte für Menschen Wie inklusiv ist denn dieses Deutschland in den Werkstätten und eine verbes- 2020? Eltern können ein Leben mit einem Kind serte Heranziehung von Einkommen Es steht immer noch am Anfang. Es mit einer Behinderung und die damit ver- und Vermögen für Leistungen. Was ist zwar eine Menge passiert, aber wir bundenen Folgen oft nicht einschätzen. mir aber Sorge bereitet, ist der Beschäf- haben noch einen langen Weg vor uns. Braucht es hier mehr Aufklärung? tigungsbereich für Menschen mit ho- Ja, wir brauchen Beratung und Vermitt- hem Unterstützungsbedarf. Wenn sie Wie funktioniert das Zusammenleben von lung, damit sich Eltern überhaupt erst nicht ein Mindestmaß an verwertbarer Menschen mit und ohne Behinderung in mal ein Bild machen können. Wenn Arbeit erwirtschaften können, besteht 6 www.der-paritaetische.de 1 | 2020
Schwerpunkt die Gefahr, dass sie ausgegliedert und Allerdings können sie zwar mitwir- nur der Pflege zugeordnet werden. Es ken, sie haben aber kein Stimmrecht. Bundesteilhabegesetz ab 2020 besteht nach meiner Einschätzung die Die Themen sind inzwischen auch so Gefahr, dass, wie vor der Wende in der hochkomplex, dass in vielen Bundes- Das BTHG steckt noch mitten in der Um- DDR, nur die Leistungsfähigen mitge- ländern die Menschen zwar beteiligt setzung. 2019 wurden gleich drei Ge- nommen und die leistungsschwachen sind, aber hierfür kaum Ressourcen setzesänderungen mit weitreichenden Menschen zurückbleiben. bereitgestellt werden, zum Beispiel für Folgen für Menschen mit Behinderungen, Schulungen. Die Beteiligung erfolgt Angehörige und Einrichtungen ab dem Was muss dann jetzt passieren? überwiegend ehrenamtlich, wenn sich 1.1.2020 beschlossen. Mit dem Angehöri- Im Bundesteilhabegesetz gibt es im- das nicht ändert, ist eine echte Beteili- genentlastungsgesetz wird es u.a. mer noch Regelungen, die gegen die gung und Verantwortungsübernahme • Entlastungen für Eltern und Kinder UN-Behindertenrechtskonvention ver- kaum möglich. geben, die gegenüber Leistungsbezie- stoßen: Das ist zum Beispiel der Mehr- hern von Hilfe zur Pflege unterhalts- kostenvorbehalt, mit dem Menschen Eine weitere Möglichkeit sich einzubrin- verpflichtet sind, in dem die Unter- gegen ihren Willen gezwungen werden gen, ist, mit Demonstrationen Verände- haltsheranziehung mit einem jewei- können, in bestimmten Wohnformen rung zu fordern. Hat sich da in den letzten ligen Jahresbruttoeinkommen von bis zu leben. Das betrifft insbesondere Jahren etwas verändert? zu 100.000 Euro in der Sozialhilfe Menschen mit hohem Unterstützungs- Es gab immer schon kleinere Demons- ausgeschlossen wird. bedarf. Diese Regelungen müssen trationen. Aber in dem Umfang, wie • Für Menschen mit Behinderungen im verändert werden. Außerdem braucht beim Bundesteilhabegesetz, das habe Eingangsverfahren und Berufsbil- es einen offenen Umgang mit persön- ich in all den Jahren, in denen ich in dungsbereich einer Werkstatt für be- lichen Situationen und individuellen der Behindertenpolitik aktiv bin, noch hinderte Menschen (WfbM) wird der Bedarfen. Man kann in Leistungsbe- nicht erlebt. Das Gesetz hatte das Ziel, Anspruch auf Leistungen der Grund- schreibungen nicht alle Eventualitäten die UN-Behindertenrechtskonvention des alltäglichen Lebens erfassen. Wenn umzusetzen, aber es durfte nichts kos- sicherung im Alter und bei Erwerbs- wir die soziale Teilhabe ernst nehmen, ten. Daher gab es im Gesetzentwurf minderung eingeführt. muss es möglich sein, flexibel auf die Regelungen, die einen Rückschritt be- • Die Ergänzende unabhängige Teilha- Absicherung von persönlichen und deutet hätten. Zum Beispiel hätten vie- beberatung (EUTB) wird über das sich verändernden Zielstellungen und le Menschen überhaupt keinen Unter- Jahr 2022 hinaus dauerhaft finanziert Bedarfen zu reagieren. stützungsbedarf mehr bekommen oder und die bislang geltende Befristung wären künftig nur auf Pflege- ohne aufgehoben. Wie sieht es aus mit Reformen in anderen Teilhabeleistungen angewiesen. Das • Das Budget für Ausbildung für Men- europäischen Ländern? Haben Menschen alles konnte durch die Demonstratio- schen mit Behinderungen wird einge- mit einer Behinderung dort ein besseres nen und Protestaktionen, an denen der führt. Leben? Paritätische maßgeblich beteiligt war, • Ein Abweichen der festgelegten Perso- Österreich hat sehr gute partizipati- verhindert werden. nalschlüssel bei den anderen Leistungs- ve Ansätze. Das Land hat bereits die anbietern zur Teilhabe am Arbeitsle- deutsche Übersetzung der UN-Behin- Jetzt gehen Sie in Altersteilzeit und ver- ben nach oben wird ermöglicht. dertenrechtskonvention korrigiert, was lassen den Paritätischen nach 28 Jahren. Mit einem SGB IX-Änderungsgesetz wird Deutschland bis heute nicht gemacht Worauf freuen Sie sich besonders? u.a. zur Vermeidung der sog. „Rentenlü- hat. Dabei wurde die ursprüngliche Zeit. Zeit für meine Familie und mich cke“ für den Januar 2020 eine einmalige Übersetzung von Anfang an von Behin- selbst. Ich habe immer gerne und viel Zahlungsmöglichkeit für die Sozialhilfeträger dertenorganisationen und auch vom gearbeitet. Die aktuellen Entwicklun- geschaffen und in besonderen Wohnformen Paritätischen kritisiert. In der deutsch- gen werde ich sicher weiterverfolgen werden Aufwendungen für Wohnraum sprachigen Übersetzung heißt es zum und mich auch weiterhin für positive oberhalb der Angemessenheitsgrenze über- Beispiel „Integration“ statt „Inklusion“ Veränderungen in der Behindertenpo- oder auch „Zugänglichkeit“ statt „Bar- litik einsetzen. Aber jetzt brauche ich nommen, wenn dies erforderlich ist. rierefreiheit“. erst mal Zeit für mich und meine Fa- Mit einem weiteren Gesetz wurde das milie. Ausbildungsgeld für junge Menschen mit Der Staat ist in der Pflicht. Aber sehen Sie Behinderungen angehoben. Weil mit der auch bei den Menschen mit einer Behin- Dann wünschen wir Ihnen für Ihre Zu- Anhebung des Ausbildungsgeldes der derung die Verantwortung, sich, soweit kunft alles Gute und danken Ihnen für Ihre Grundbetrag auch im Entgelt der WfbM möglich, einzubringen? wertvolle Arbeit beim Paritätischen. steigt, hat der Bundestag die Bundesregie- Das Bundesteilhabegesetz hat Grund- rung aufgefordert, innerhalb von vier Jah- lagen gelegt, dass Menschen mit einer Das Interview führte Janina Yeung ren unter Einbeziehung von Experten zu Behinderung mehr einbezogen werden prüfen, wie ein transparentes, nachhal- können, zum Beispiel bei den Rahmen- tiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem in vertragsverhandlungen, wo es konkret der WfbM entwickelt werden kann. um die Unterstützungsleistungen geht. www.der-paritaetische.de 1 | 2020 7
Schwerpunkt Schwerpunkt Drei Fragen an das Netzwerk für Teilhabe und Beratung Das Netzwerk für Teilhabe und Beratung (NTB e.V.) und die EUTB Marburg-Bieden- kopf (mit Rechtsträgerschaft fib e.V.) ist eine Fachstelle für ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB). Sie soll bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes Betroffenen helfen. Dazu befragten wir Herrn Bernd Gökeler (Vorsitzender der NTB e.V.) und Frau Mira Wiessalla (EUTB Marburg-Biedenkopf). Seit 2018 gibt es die ersten EUTB-Stellen hinderung ein Bild ihrer Situation und zehn Prozent an der Gesamtbevölke- in der Bundesrepublik. Wie wird das Be- der daraus resultierenden Schwierig- rung sind die Leistungsgrenzen jeder ratungsangebot Ihrer EUTB Marburg- keiten und Wünsche für ein möglichst EUTB eng definiert. Es wäre hoch hilf- Biedenkopf angenommen? selbstbestimmtes Leben machen kön- reich, wenn aufsuchende Arbeit finan- Im August 2018 hat die Beratungsstelle nen. Diese Beratung muss frei von Ei- ziert würde, auf die manche Ratsu- EUTB Marburg-Biedenkopf Eröffnung geninteressen erfolgen, wie es die Un- chenden aufgrund ihrer Behinderung gefeiert. Etwas mehr als ein Jahr Auf- abhängigkeit dieser neuen Struktur und Mobilitätseinschränkung ange- bauarbeit, Vernetzung- und Beratungs- EUTB gewährleistet. wiesen sind. Auch ist es wichtig, vor- tätigkeit liegen hinter uns. Menschen Bereits 1953 wurde die unabhängige handene Kompetenzen und Experten- mit den unterschiedlichsten Beein- Verbraucherberatung gegründet, um wissen, u.a. aus der ehrenamtlichen trächtigungen oder Behinderungen den Menschen bei Konsumfragen eine Selbstvertretung von Menschen mit kommen mit den vielfältigsten Anlie- bessere Entscheidungsgrundlage und Behinderung, einzubinden und ihnen gen zu uns. Sowohl das hinter der Transparenz zu bieten. Um wie viel die Zahlung einer Aufwandsentschä- EUTB stehende Netzwerk aus Selbsthil- mehr ist es bei den Lebensfragen, die digung zu ermöglichen. Für alle fe und Anbietern der Behindertenhilfe eine Behinderung mit sich bringt, EUTB, die nicht von großen Trägern als auch die fünf Peer-Berater*innen zwingend notwendig, eine parteiische gegründet wurden, sind fünf Prozent erschließen für die Ratsuchenden viel Beratung im Interesse der Menschen Eigenanteil kaum finanzierbar. Erfahrung und Kompetenz, um dem mit Behinderung zu haben? Seit 2018 Ein besonderer Nachbesserungsbedarf Auftrag als Lotsen im Sozialsystem für gibt es jetzt die rund 500 EUTB bundes- ergibt sich daraus, dass viele Men- Menschen mit Behinderung bestmög- weit. Das ist ein Meilenstein auf dem schen mit Behinderung ihren Mitwir- lich gerecht zu werden. Besonders der Weg zu mehr Selbstbestimmung für kungspflichten im Antragsverfahren Menschen mit Behinderung.Selbstbe- nicht oder kaum nachkommen kön- Peer-Aspekt wird von den Ratsuchen- stimmung setzt Wahlentscheidungen nen. Besonders Menschen mit psychi- den als sehr wertvoll wahrgenommen. voraus, die aber nur kompetent getrof- scher Erkrankung, Suchterkrankung, Dies spiegelt sich auch bundesweit in Menschen mit schubförmigen Verläu- der Auswertung der Feedbackbögen wi- fen werden können, wenn möglichst fen etc. sind nicht immer dazu in der der. Es erschließt sich eine Ebene des alle Optionen bekannt sind. Neben den Lage, das selbst zu schaffen. Aber auch Verstehens und Verstanden-Werdens Informationen spielt die Stärkung der Gehörlose haben im Verfahren außer- durch eigene Betroffenheit. Steigender Menschen in ihrem Recht, selbst be- halb der Beratung kaum die Möglich- Bekanntheitsgrad führte zu steigenden stimmen zu dürfen, die bedeutsamste keit eine Gebärdendolmetscher*in fi- Beratungszahlen. Rolle. Selbstbestimmung ist das Gegen- nanziert zu bekommen. Lösbar wäre teil von Fremdbestimmung, wie gut dieses Problem durch eine Assistenz Ziel des Bundesteilhabegesetzes mit der auch immer diese gemeint war oder ist. zur Erfüllung der Mitwirkungspflich- Einführung der Ergänzenden unabhängi- ten. Weitere Beispiele drängen sich auf gen Teilhabeberatungen ist die „Stärkung Gibt es aus Ihrer praktischen Erfahrung he- u.a. bei Menschen mit Lernschwäche. der Selbstbestimmung von Menschen mit raus Nachbesserungsbedarf bei den EUTB Kurzum: Zur Erlangung der personen- Behinderung und von Behinderung be- und für die Menschen mit Behinderung? zentrierten Hilfe braucht es personen- drohter Menschen“. Sehen Sie diese Ziele Ganz klar, der vorgegebene Personal- orientierte Assistenz und Begleitung. erfüllt? schlüssel und die damit verbundenen Schon nach so kurzer Zeit ist die lang Die Stärkung der Selbstbestimmung Ressourcen sind in Anbetracht der erkämpfte EUTB eine unverzichtbare von Menschen mit Behinderung ist zahlreichen Netzwerk- und Beratungs- Bereicherung für Menschen mit Be- eine stetige Aufgabe. Um diese besser tätigkeiten der EUTB nachzubessern. hinderung und darüber hinaus. zu lösen, ist die EUTB ein überfälliger Mit einer einzigen geförderten Voll- Baustein. Vor allem die Erstberatung zeitstelle auf 144.000 Einwohner*innen Die Fragen stellte Philipp Meinert vor Antragstellung ist unschätzbar pro Region und einem Anteil von Men- Infos: netzwerk-teilhabe.de wichtig, damit sich Menschen mit Be- schen mit Schwerbehinderung von 8 www.der-paritaetische.de 1 | 2020
Schwerpunkt Studieren mit Behinderung – drei Städte, zwei Länder. Ein Erfahrungsbericht Andrea Schöne bei einem Im Universitätsleben war ich kom- Ausflug nach Rimini Andrea Schöne ist kleinwüchsig, aber die plett eingebunden. Ich ging zu Partys, während ihres Welt ist auf größere Menschen ausgerich- Kneipenabenden, organisierte als Teil Erasmus-Jahres tet. Universitäten machen da keine Aus- der Amnesty International Hochschul- nahme. Uns erzählt Frau Schöne von Ihren gruppe Aktionen. Im Universitätsradio Erfahrungen im Studium. war ich leidenschaftlich als Reporterin dabei, ein Jahr auch Chefredakteurin. Dabei wurde ich oftmals sehr respekt- Immer wieder bekomme ich erstaunte los behandelt. Wie ich später erfahren Blicke und bewundernde Kommentare musste, nahmen mich nicht alle Stu- für meine Erfahrungen im Studium dierenden als Autoritätsperson wegen und wie ich das mit meiner Behinde- meiner Behinderung ernst. Die Berüh- rung schaffe. Zugegeben, es ist auch rungsängste waren dabei oft spürbar für für nichtbehinderte Studierende etwas mich. außergewöhnlich, so viel Zeit im Studi- um im Ausland zu verbringen. Leben als Erasmus-Austauschstudentin in Forlì Bachelorstudium in Eichstätt – bewegtes Meine Universität hat mich von Anfang Kleinstadtleben an sehr unterstützt, zwei Auslandsse- Ich habe in Eichstätt mein Abitur ge- mester zu machen. In meinem Studi- macht. Daher kannte ich die Umge- engang war auch ein Pflichtauslandsse- bung gut und konnte einschätzen, mester vorgeschrieben. Die Zweigstelle welche Hürden in der Stadt auf mich der Universität Bologna in Forlì ist sehr warten. Das Studierendenwohnheim barrierearm. In jedem Stockwerk gab war zwar nicht für behinderte Men- es eine Toilette für Rollstuhlfahrer*in- schen ausgelegt, aber meine WG-Mit- nen, sogar nach Geschlechtern ge- bewohner*innen waren meist sehr trennt. In einem Neubau gab es sogar hilfsbereit zu mir. ein Leitsystem für blinde Studierende Die Universitätsgebäude waren nur teil- und einen Gebäudeplan in Braille. Das weise barrierefrei. Zu Beginn meines Studierendenwohnheim war für Roll- Studiums traf ich mich mit dem Be- stuhlfahrer*innen ebenfalls ausgestat- hindertenbeauftragten der Universität. tet; auch die meisten Locations in der Ironischerweise ist das Büro nicht für Innenstadt, außer einem Studieren- Rollstuhlfahrer*innen barrierefrei zu- dentreffpunkt. gänglich. Fehlende Barrierefreiheit blieb Meine Fakultät liegt auf einem Hügel, über mein gesamtes Bachelorstudium In Forlì fragte man mich auch zum den ich mit meinem Rad gerade noch ein beherrschendes Thema. Ich musste ersten Mal in meiner ganzen Bildungs- bewältigen kann. Dafür wird meine mir immer merken, welche Wege, Räu- laufbahn, was ich mit meiner Behin- Kondition von Tag zu Tag besser. In me und Gebäude inwieweit barrierefrei derung benötigte. Damit war ich sehr meiner Fakultät gibt es in jedem Stock- waren, um darauf reagieren zu können. überfordert, da ich im deutschen Bil- werk Hinweisschilder zur Barrierefrei- Beispielsweise führt zum größten Ver- dungssystem immer das Gefühl hatte, heit. Bei der Vergabe der Seminarräu- anstaltungsraum nur eine Treppe. Ge- möglichst nur geringe Forderungen me achtet man auf Barrierefreiheit und gen Ende meines Studiums schaffte ein stellen zu dürfen. notfalls wird der Raum gewechselt. Es führender Mitarbeiter des Gebäudema- gibt auch einen Service für Studieren- nagements eine Art Rettungsstuhl an, Internationale Studentin mit Behinderung de mit Behinderung und beim Bewer- um Studierenden mit Gehbehinderung an der Universität Bologna bungssystem gab es immer Hinweise den Raum zugänglich zu machen. Das Seit Oktober studiere ich nun als Mas- auf Nachweise zum Nachteilsausgleich hat auch sehr gut funktioniert. Es war terstudentin in Bologna „Global Cultu- oder Möglichkeiten aufgrund einer Be- häufig sehr zeitaufwendig, alle Seminar- res“. Meine Auslandssemester haben hinderung von den Studiengebühren räume so zu organisieren, dass diese für mir einen ganz neuen und viel selbst- befreit zu werden. mich barrierefrei zugänglich waren. Al- bewussteren Blick auf mich und mei- Somit ist Bologna sehr schnell zu mei- lerdings war meine Universität immer ne Behinderung gegeben. Daher habe ner neuen Heimat geworden und ich bereit, Räume für mich zu tauschen, ich mich auch entschlossen, für mein freue mich auf alles, was mich hier sodass ich an allen Veranstaltungen teil- Masterstudium komplett in Italien zu noch erwartet. nehmen konnte. studieren. Andrea Schöne www.der-paritaetische.de 1 | 2020 9
Auch das Meer ist barrierefrei Ob Menschen im Rollstuhl, mit Downsyndrom oder Sehbehin- derte, bei Sail United kann jede*r Wassersport erleben. Der Verein erfüllt den Wunsch der Teilnehmenden nach Selbst- bestimmung und Teilhabe und bringt Menschen mit und ohne Behinderung aus aller Welt zu- sammen. Tobias Michelsen hat es eilig. Er spricht Kreativität keine Grenzen gesetzt: „Wir Frau haben „die Alpen gegen das Meer über die Fernsprechanlage seines Au- müssen immer individuell schauen, getauscht“. Jetzt leben sie in einem tos und eilt zum nächsten Termin. Er was die Menschen brauchen. Manch- „kleinen Häuschen mit großen Pano- hat noch viel zu tun und Großes vor. mal müssen wir etwas rumbasteln ramafenstern“ in Scharbeutz an der Am nächsten Tag wird er mit fünf oder auch mal was ganz Neues erfin- Ostsee. So nah war Hobel dem Meer Rollstuhlfahrer*innen und zwei bein- den“, sagt Michelsen und fügt selbstbe- schon lange nicht mehr. amputierten Teilnehmer*innen zum wusst hinzu: „Bisher haben wir das Sitz-Kitesurfen, Strandsegeln und Tau- immer hingekriegt und mussten noch Im Meer spielt die Behinderung chen nach Ägypten fliegen. „Menschen nie jemanden aufgrund der Schwere keine Rolle mit oder ohne Behinderung haben ge- seiner Behinderung wieder nach Hau- Als Hobel zwölf Jahre alt war, sind sei- nauso viel Spaß, auch im Winter Was- se schicken.“ ne Eltern nach Australien ausgewan- sersport auszuüben“, sagt Michelsen. Ob Rollstuhlfahrer*innen, Sehbehin- dert. Seine, wie er selbst sagt, „prä- Weltweit würde es bisher keinen Reise- derte oder Menschen mit Downsyn- genden Jahre“ hat Hobel auf dem weit anbieter geben, der inklusive Abenteu- drom, bei Sail United kann jede*r Was- entfernten Kontinent gelebt, ist dort er- und Action-Sport-Reisen durchfüh- sersport erleben. So auch Erich Hobel. zur Schule gegangen, hat studiert, sei- re. „Und da dachten wir uns, wir gu- Der gebürtige Münchner ist Fisch vom ne Lehrerausbildung gemacht und die cken mal, wie sowas funktioniert.“ Sternzeichen und das Wasser ist, wie ersten Jahre unterrichtet. Sein stetiger Wenn Michelsen nicht gerade auf dem er selbst sagt, sein Lebenselixier. Die Begleiter dabei – das Meer: „Ich habe Weg nach Ägypten ist, bietet er seine Wassersport- und Segelvereine in Bay- das Meer in Australien geliebt“, erin- Wassersportkurse für Menschen mit ern habe er als sehr elitär erlebt. Für nert sich Hobel. Vielleicht auch gerade und ohne Behinderung im Ostseeheil- Menschen mit einer Behinderung sei wegen seiner Behinderung. Hobel hat bad Großenbrode an. Der Gründer des es sehr schwierig, dort Anschluss zu als eines der letzten Kinder 1957 die Vereins Sail United e.V. hat eine klare finden. Kinderlähmung bekommen. Zwei Wo- Mission: Nicht nur bei ihm in Schles- Als Hobel das erste Mal von Sail Uni- chen nachdem er ins Krankenhaus wig-Holstein, auch bundesweit sollen ted erfuhr, war ihm sofort klar: „Wenn musste, wurde auch an seiner Schule Menschen mit einer Behinderung in wir an die Ostsee ziehen, werde ich da die Impfpflicht eingeführt. Seine bei- Wassersportschulen willkommen sein mitmachen und mich einbringen“. Im den Beine sind fast vollständig ge- und an allen Aktivitäten teilhaben kön- Spätsommer letzten Jahres war es lähmt. Im Meer spiele das keine Rolle. nen. Dafür sind Anpassungen der dann soweit. Seine drei Kinder wurden „Man fühlt sich so leicht im Wasser, Sportgeräte notwendig, aber auch der gerade alle „flügge“ und er und seine kann sich fortbewegen und braucht 10 www.der-paritaetische.de 1 | 2020
Schwerpunkt seine Beine nicht“, sagt Hobel, der sich Und die Behinderung muss beim Erler- Freut sich schon auf‘s Wasser: selbst als starken Schwimmer bezeich- nen einer Wassersportart nicht unbe- Erich Hobel (vorne). net und bis heute mehrmals die Woche dingt von Nachteil sein. Manche Men- im Schwimmbad trainiert. schen mit einer Sehbehinderung wür- Gleichzeitig sei es für Menschen mit den das Windsurfen laut Michelsen einer Behinderung sehr umständlich, schneller erlernen, als Menschen, die im Meer schwimmen zu gehen. „Mit sehen können. „Das ist ein kinästhe- dem Rollstuhl an den Strand und das tischer Sport. Gefühle und ein gutes ganze Umziehen ist ein riesiger Akt“, Gleichgewicht sind hier sehr wichtig.“ erklärt Hobel, „das schreckt viele Men- Menschen im Rollstuhl würden hinge- schen ab“. Ihn nicht. „Ich habe mich in gen „action“ suchen – hohe Geschwin- diesem Element, das in Australien digkeiten beim Sitzkitesurfen, Sitzwa- auch nicht ungefährlich ist, unglaub- keboarden oder Segeln. lich wohl gefühlt“, sagt Hobel und er- Und so kommt es, dass auch Erich Ho- innert sich stolz: „Ich habe mir ein bel inzwischen alleine mit dem Kata- Bodyboard besorgt und mich in die maran aufs Meer rausfährt und seinen großen Wellen gestürzt.“ Segelschein macht. „Es ist sehr auf- Bei Sail United kann er jetzt auch an- wändig“, gibt er zu, „man braucht im- dere Wassersportarten ausprobieren – mer Leute, die einem helfen, zum Bei- und Tobias Michelsen macht es mög- spiel das Boot zum Wasser ziehen.“ Vorurteile werden abgebaut lich. Als „unkompliziert“ und „frei von Möglich machen das die vielen ehren- Michelsen bringt bei Sail United Men- Ängsten“ beschreibt Hobel seinen neu- amtlichen Helfer*innen, die Tobias Mi- schen mit und ohne Behinderung aus en Freund. „Die Leute haben immer so chelsen bei Sail United unterstützen. aller Welt zusammen. „Wassersport ist wahnsinnig Angst, sie denken, du Einige verbringen ihren ganzen Som- super für das Teambuilding“, sagt er. brichst dir alle Knochen, wenn du aus merurlaub in Großenbrode. Je nach Die Teilnehmer*innen und Ehrenamt- dem Rollstuhl fällst.“ Michelsen sei da Schwere der Behinderung, brauche es lichen würden sich von Anfang an auf ganz anders. „Er sieht einen als Mensch bis zu fünf Ehrenamtliche, die dabei Augenhöhe treffen und einen kumpel- und nicht als Behinderten. Er überlässt helfen, dass jede*r am Wassersport teil- haften Umgang pflegen. „Alle Teilneh- dir Verantwortung, lässt dich experi- haben kann. „Und die Erwartungshal- menden ohne Behinderung verlieren mentieren und an deine Grenzen ge- tung ist hoch“, erzählt Michelsen, „alle sofort ihre Berührungsängste, von der hen“. Teilnehmer*innen wollen am liebsten Erkenntnis an: denen macht genau das Die Angst davor, nicht mehr teilhaben gleichzeitig aufs Wasser.“ „Man muss gleiche Spaß, wie mir.“ zu können, kennt Michelsen gut. Er sehr geduldig sein“, weiß auch Erich Bei Sail United gibt es nicht mehr den hatte selbst schon zwei schwere Wir- Hobel zu berichten. Er ist nicht mehr Menschen mit Behinderung, dafür belsäulenfrakturen und ist damit nur nur Teilnehmer, sondern unterstützt aber Surfer, Kiter, Segler. Es gilt das knapp der Querschnittslähmung ent- den Verein jetzt auch ehrenamtlich – Buddy Prinzip: Die Teilnehmer*innen kommen. Es sei der Wassersport gewe- hilft bei der Anmeldung, gibt Einfüh- gehen gemeinsam ins Wasser und pas- sen, der ihm in der Reha geholfen rungen und verteilt Ausrüstung. sen aufeinander auf. „So verflüchtigen habe. „Wasser hat eine unglaublich sich Vorurteile und Bedenken und therapeutische Wirkung“, sagt Michel- werden ersetzt durch Verständnis und sen. „Kein Element ist uns so vertraut. Akzeptanz“, sagt Michelsen. Wir fühlen uns wohl – mit dem Spritz- wasser im Gesicht und den Wellenbe- Und um jetzt noch mal der kalten Ost- wegungen, die durch unseren Körper see und den dicken Neoprenanzügen gehen“. zu entkommen, geht es mit Surfbret- tern und Tauchausrüstung im Gepäck Behinderung muss nicht von Nachteil sein nach Ägypten. Erich Hobel wird das Michelsen erzählt von schwer geistig- Sitzkitesurfen ausprobieren. „Das hat- und körperbehinderten Menschen, die te ich bisher gar nicht auf dem Schirm“, zu Hause kaum ein Wort sprechen sagt er, „es ist eine wirklich große He- konnten. „Und auf dem Meer plappern rausforderung, aber alles was neu ist sie plötzlich wie ein Wasserfall“. Das und angeboten wird, möchte ich versu- Wasser hebe die Menschen auf eine chen“. Sein Ziel: 50 Meter am Stück zu höhere Kommunikationsebene, ver- kiten. „Wenn ich das schaffe, dann bessere die Körperwahrnehmung und habe ich viel erreicht.“ helfe, Ängste und Phobien abzubauen. Janina Yeung www.der-paritaetische.de 1 | 2020 11
Schwerpunkt Drei Fragen an Katrin Weiland, Kompetenz-Zentrum Leichte Sprache Das Kompetenz-Zentrum Leichte Sprache in Westerburg bietet eine breite Palette professioneller Dienstleistungen im Bereich Leichte Sprache. Hierzu gehört neben der Übersetzung und Bebilderung von Texten auch die Unterstützung beim Er- stellen leichtsprachlicher und barrierefreier Webseiten. Katrin Weiland ist zertifi- zierte Übersetzerin für Leichte Sprache und beantwortet unsere Fragen. Frau Weiland, manche denken, dass Viele Kritiker der Leichten Sprache ren, wie der Textinhalt eigentlich ge- Leichte Sprache das Weglassen von missverstehen das grundsätzliche meint ist und was Ironie überhaupt ist. Fremdwörtern und Schachtelsätzen ist. Konzept: Das primäre Ziel der Leich- Auch Texte in Leichter Sprache können Doch was gehört noch dazu, damit mög- ten Sprache ist Verständlichkeit. Die schön und ansprechend gestaltet sein. lichst alle einen Text lesen können? verständliche Darstellung und Ver- Mit leichten Anpassungen und etwas Bei der Leichten Sprache muss man mittlung von Informationen und In- Kreativität kann man zum Beispiel das ganz viele Dinge beachten. Sie folgt halten. Ja, es stimmt, Stilmittel des Corporate Design meist auch in Texte festen Regeln auf der Wort-, Satz-, Text- Textes gehen bei Übersetzungen in in Leichter Sprache übernehmen. und Layout-Ebene. Das primäre Ziel Leichte Sprache oftmals verloren. Aber dieser Regeln ist die verständliche Auf- dafür erreicht der Inhalt des Textes den Ist unsere Sprache allgemein in Ihren Au- bereitung von Informationen. Die Re- Empfänger. Die Leichte Sprache will gen eher hinderlich oder eher förderlich geln der deutschen Standardsprache niemanden verdummen oder „rich- für die Teilhabe von Menschen mit Behin- werden dabei weitestgehend befolgt tiges“ Deutsch ersetzen. Leichte Spra- derung? (zum Beispiel mit leichten Anpas- che ist immer als ein Zusatzangebot zu Das kann man schwer pauschal beant- sungen bei der Nutzung von Bindestri- verstehen. Sie soll Menschen mit einer worten. Ja, Sprache kann eine Barriere chen zur besseren Lesbarkeit). Die geringen Lese- und/ oder Sprachkom- sein. Und zwar eine besonders demü- Grammatik und der Wortschatz sind petenz zu einem besseren Verständnis tigende und enttäuschende Barriere jedoch extrem reduziert und verein- und mehr Teilhabe verhelfen. Sie dient für den Menschen, der sich vor dieser facht. Dadurch ist die Leichte Sprache lediglich als ein Hilfsmittel, um Barri- befindet. Denn: Diese Barriere kann weniger komplex und leichter zu ver- erefreiheit herzustellen oder das Um- nicht umfahren werden, wie zum Bei- stehen. Setzt man den europäischen feld zumindest barriere-ärmer zu ge- spiel eine Treppe. Referenzrahmen an, bewegt sich die stalten. Niemand zweifelt einen Auf- Es gibt nicht „den“ Menschen mit Be- Leichte Sprache meist auf dem Niveau zug als Hilfsmittel an. Die Treppe wäre hinderung. Jeder Mensch ist verschie- A1 bis A2. Wenn Fachwörter, Fremd- für den gesunden „Standard-Men- den. Jede Behinderung ist anders. Für wörter oder ähnliches benutzt werden, schen“ sicher der passende oder natür- Menschen mit kognitiven Einschrän- dann wird deren Bedeutung in ein- liche Weg. Manch einer mag sagen: kungen oder Lernschwierigkeiten fachen Worten erläutert. Der bessere Weg. Aber ein Mensch im stellt oft schon unsere Alltagssprache Texte in Leichter Sprache benutzen im- Rollstuhl benötigt nun mal die Hilfe ein unüberwindbares Hindernis dar, mer auch erklärende Bilder oder Gra- des Aufzugs, um sein Ziel im oberen ganz zu schweigen von der Fachspra- fiken, die den Inhalt des Textes noch Stockwerk zu erreichen. Für den Men- che. Leichte Sprache will und kann da einmal aufgreifen oder verdeutlichen. schen mit dem gebrochenen Bein stellt ein Hilfsmittel sein. Das Layout ist klar strukturiert und der Aufzug auch eine Erleichterung Texte in Leichte Sprache zu übersetzen übersichtlich, die Schrift groß (Refe- dar. Und die Eltern mit Kinderwagen oder sie zu verfassen geht nicht ohne renz: mindestens Arial 14) und serifen- freuen sich ebenfalls über die Möglich- Personen aus der Zielgruppe. Also los. Der Hintergrund ist hell, die keit des Aufzuges. Vielleicht geht nicht ohne die Hilfe von Personen mit Schrift dunkel, damit ein guter Kon- durch diesen Aufzug etwas von der ar- Lernschwierigkeiten oder sogenann- trast zum Lesen vorhanden ist. Das chitektonischen Ästhetik des Gebäu- ten geistigen Behinderungen. Bei der Papier soll matt sein, um störende des verloren, aber dadurch wird auch Arbeit mit unseren Prüfgruppen stel- Spiegelungen zu vermeiden. das gesamte Bauwerk zugänglicher len wir immer wieder ganz eindeutig und Teilhabe wird ermöglicht. fest: Ja, die (Standard-)Sprache ist sehr Es gibt immer wieder Kritik an leichter Wenn Ironie für einen Text sehr wichtig oft hinderlich für die Teilhabe. Sprache. Zum Beispiel, dass Stilmittel wie ist, dann kann man diese Ironie durch- Ironie verloren gingen. Was entgegnen aus in die Übersetzung übernehmen. Die Fragen stellte Philipp Meinert Sie Kritikern? Man muss dann aber gleichzeitig erklä- Infos: www.leicht-sprechen.de 12 www.der-paritaetische.de 1 | 2020
Schwerpunkt Partizipation mit digitalen Medien – gleichberechtigt und selbstbestimmt Digitale Medien stellen einen wesent- lichen Zugang zum öffentlichen und kulturellen Leben dar. Sie sind (Ver-) Mittler von Bildung und Information, erweitern unsere Erfahrungs- und Handlungsräume und machen die orts- und zeitunabhängige Kommunikation mit unseren Mitmenschen möglich. Für Menschen mit Behinderungen schaf- fen digitale Medien neue Zugänge und haben das Potential, bei Leistungsein- schränkungen zu unterstützen. Die UN-Behindertenrechtskonventi- zu neuen Ausschlüssen von Personen. Was es bedeutet, inklusive on weist Medien bei der Umsetzung Auch die vielfältigen Techniken und Medienbildung zu betreiben „gleichberechtigter Teilhabe und In- Technologien, die den Zugang zu den Digitale Medien können die indivi- klusion“ eine Querschnittsfunktion zu. Medien unterstützen, schaffen noch kei- duelle Förderung von Lernenden er- Sie sollen Zugänge zum öffentlichen ne digitale Mündigkeit. Wenn der Fort- möglichen, da sie, im Gegensatz zum Diskurs und Informationen schaffen, schritt zu einer aktiveren Beteiligung Frontalunterricht, individuelle Lern- Bildung fördern und die Teilhabe an führt, muss diese ausreichend durch wege und das Lernen in unterschiedli- Kultur, Erholung, Freizeit und Aktivi- Kompetenzvermittlung und Unterstüt- cher Geschwindigkeit und bei diverser täten ermöglichen. Insbesondere die zungsstrukturen begleitet werden. Themensetzung unterstützen. Diese Suche nach Informationen sowie die Qualitäten kommen der Umsetzung Kommunikation mit anderen wird von Selbstbestimmung in der eines inklusiven Bildungssystems ent- Menschen mit Behinderung intensiv Mediennutzung gegen. Anders als bei klassischen Un- wahrgenommen, so eine Studie der Ak- Das Individuum bestimmt eigenmäch- terrichtsformaten greifen hier keine tion Mensch. Während sich Blinde und tig, welche Medien es zu welchem Zweck standardisierten Verfahren. Die Art der motorisch eingeschränkte Menschen nutzt. Medienkompetenz ist bisher et- Behinderung beeinflusst die Art der über Wikis informieren, können Ge- was, dass höchstens im Schulkontext Vermittlung von Inhalten, den Betreu- hörlose schriftliche Kommunikations- gelehrt wird. Egal ob mit oder ohne geis- ungsbedarf und die Schulung der Leh- formate nutzen, um über größere Di- tige oder körperliche Einschränkung, renden. Neben barrierefreien Räum- stanzen Kontakt zu halten. Auch wird eine chancengleiche Mediennutzung lichkeiten oder Vorlese-Anwendungen von vielen die Anonymität im Netz ge- erfordert zum einen das Wissen über für die Computer werden oft spezielle schätzt, da sie gegenüber Gesprächen die vorhandenen Medienformate, zum assistive Technologien benötigt, viel- in Präsenz eine vorurteilsfreie und of- anderen ihre selbstbestimmte und kri- leicht auch ein*e Gebärdensprachen- fene Kommunikation ermöglicht. tische Anwendung. Um die Vorausset- dolmetscher*in. Die begleitenden Ma- zungen für eine souveräne Mediennut- terialien müssen in Leichter Sprache Gleichberechtigter Zugang zu Information zung zu schaffen, ist die gleichwertige verfasst sein und für jede Gruppe gilt und Kommunikation Aufklärung in den genannten Belangen es, Regeln der gegenseitigen Unterstüt- Für den politischen Diskurs, aber auch erforderlich. Hinsichtlich dieses Bestre- zung zu definieren. Bei der Konzeption bei der Kommunikation im berufli- bens wird viel Hoffnung in die inklusive von inklusiven Bildungsangeboten gilt chen und privaten Leben sind digitale Medienbildung des Schulsystems ge- es, von einer defizitorientierten Sicht- Medien zu dem bedeutendsten Kom- setzt. Die Heterogenität an deutschen weise zu der Stärkung von Gemein- munikationskanal der zweiten Moder- Schulen soll mit Artikel 24 der UN-Kon- samkeiten zu gelangen. Dafür braucht ne geworden. Zahlreiche Diskussionen vention zum Standard werden und auch es eine gründliche Vorbereitung, bei werden online geführt, Abstimmungen der Digitalpakt wird allmählich Wirk- der individuelle Leistungseinschrän- und das Teilen von Informationen fin- lichkeit. Doch das Zusammendenken kungen in den Entwicklungsprozess den im Netz statt. Das reiche Angebot beider Bestrebungen wird bislang nicht einbezogen werden und kompetentes, an Partizipationsmöglichkeiten bietet ausreichend praktiziert. Bei der Konzep- geschultes Personal unterstützt. für Menschen mit Behinderungen vie- tion der Medienentwicklungspläne von Lilly Oesterreich le Potentiale, führt bei fehlender pro- Schulen muss die inklusive Medienbil- Projektreferentin Digitale Kommunikation fessioneller Begleitung jedoch schnell dung zum festen Bestandteil werden. beim Paritätischen Gesamtverband www.der-paritaetische.de 1 | 2020 13
Schwerpunkt Teilhabe serviert mit sozialer Note Lebenswelten gibt allen Menschen eine Chance und findet einen Platz für sie. Ein Blick auf die Homepage der Berli- wie er berlinernd hinzufügt. Stoll war chie geben. Und deshalb haben wir das ner Firma „Lebenswelten Catering & 1986 Mitbegründer des Restaurant auch alsbald umgestellt in ein hierar- Events“ in Berlin macht zunächst ein- L’ETOILE, einem kleinen inklusiven chisches System, aber in ein freund- mal hungrig: Schön angerichtete an- Restaurant in Kreuzberg. „Schon da- lich-hierarchisches System mit sprechende Speisen in satten Farben mals ging es um die Kombination von menschlichem Antlitz, das dem Men- sind zu sehen. Dazu Bilder von Events, sozialer Arbeit auf einem hohen schen zugewandt ist.“ Von Anfang an, bei denen Teams von „Lebenswelten“ Dienstleistungsniveau. Diesen An- so Stoll, ging es nicht um Mitleid mit Catering betrieben haben. Wohl ein spruch haben wir uns erhalten“, er- den (behinderten) Mitarbeiter*innen, ganz normaler Caterer und außerdem zählt er. Das Wort Inklusion gab es zur sondern um die perfekte Dienstlei- Kantinenbetreiber, wie man ihn gera- damaligen Zeit zwar noch nicht, aller- stung und die Zufriedenheit der Gäste. de in der Bundeshauptstadt häufiger dings schon ein Umdenken in der so- Denn auch eine Küche von „Lebens- findet. Erst nach einigen Klicks findet zialen Arbeit mit behinderten Men- welten“ ist ein Dienstleister, der zur man die Besonderheit: Hinter der schen. Man hinterfragte zunehmend Zufriedenheit der Kunden funktionie- GmbH steckt auch ein gemeinnütziger das „Aufbewahren“ von ihnen und ren muss. Deswegen findet man den Verein, der sich besonders auf Inklusi- dachte über Möglichkeiten der Teilha- Hinweis darauf, dass die GmbH ein on und Teilhabe von Menschen mit be am normalen Leben und zur Selbst- Inklusivbetrieb ist, auch nicht auf An- Behinderung am Arbeitsmarkt spezia- hilfe nach. Aus dieser Idee heraus ent- hieb: „Dass es draußen dransteht, dass lisiert hat. Und der hat eine lange Ge- stand die Initiative, behinderte Men- wir inklusiv sind, ist eigentlich ganz schichte. Für diese treffe ich in der schen im gastronomischen Bereich neu“, erklärt Herr Stoll. Aber: „Das be- Kantine des Gesundheits- und Sozial- arbeiten zu lassen – und zwar auf Au- sondere bei uns ist, dass alles ganz zentrums (GSZM) Berlin-Moabit, im genhöhe mit ihren nichtbehinderten normal ist. Das ist auch die Kunst da- Haus des Landesamtes für Gesundheit Kolleg*innen. bei.“ und Soziales (LaGeSo), drei Hier liegen die Wurzeln des heutigen Mitarbeiter*innen von „Lebenswelten“, Lebenswelten catering & events, auch Fernsehköche haben nichts um mir erklären zu lassen, wie Küche wenn sich einiges getan hat: „Zuerst mit der Realität zu tun und Inklusion zusammengehen. waren wir kollektiv aufgestellt – bis wir Eine weitere Person am Tisch ist Rosa Michael Stoll ist Geschäftsführer der gemerkt haben: Das ist Mist. Gerade Wingels. Sie arbeitet seit 15 Jahren bei Lebenswelten Restaurations GmbH, Gastronomie funktioniert im Kollektiv „Lebenswelten“. Schon während ihres „und auch Gründer von det janzen“, überhaupt nicht. Es muss die Hierar- Studiums arbeitete sie im Gastro-Be- 14 www.der-paritaetische.de 1 | 2020
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