1| 2020 - Der Paritätische

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1| 2020 - Der Paritätische
D 20493 E

                  1| 2020

Nachrichten | Berichte | Reportagen
1| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt
                                                                                         Inhalt

                                                Editorial         3
                                                Schwerpunkt: Teilhabe von Menschen mit Behinderung
                                                Paritätischer erforscht Teilhabe von und mit
                                                Menschen mit Beeinträchtigungen                         4
                                                Interview zu 30 Jahren Paritätische Behindertenpolitik  6
                                                Drei Fragen an das Netzwerk
                                                für Teilhabe und Beratung (NTB e.V.)                    8
                                                Studieren mit Behinderung – drei Städte, zwei Länder.
                                                Ein Erfahrungsbericht                                   9
                                                Auch das Meer ist barrierefrei.                        10
                                                Drei Fragen an Katrin Weiland,
                                                Kompetenz-Zentrum Leichte Sprache                      12
                                                Partizipation mit digitalen Medien –
                                                gleichberechtigt und selbstbestimmt.                   13
                                                Teilhabe serviert mit sozialer Note                    14

                                          105
                                                Nachhaltig teilhaben in Ostsachsen                     16
                                                Drei Fragen an Andreas von Hören,
                                                Medienprojekt Wuppertal                                17
                                                „Die einzige Voraussetzung ist, dass man stehen kann“ 18
                                                Kommentar: Wählen mit Behinderung? Klar!               19
                                                Der Weg zum und mit dem Führhund                       20
                                                Inklusion mit Fahrtwind                                22
                                                Hilfe für geflüchtete Menschen mit Behinderung         24
                                                
                                                Sozialpolitik
                                                Ein Jahr Gute-Kita-Gesetz                              25
                                                Der Paritätische Armutsbericht 2019                    26
                                                Digitalisierung im Gesundheitswesen/
                                                Soziale Plattform Klimaschutz                          28

                                                Verbandsrundschau
                                                Rosenbrock unterwegs                                  29
                                                Position zur Kommerzialisierung im Gesundheitswesen30
                                                Paritäter*innen auf der Straße                       31
                                                Tag gegen Menschenhandel / Verbandsposition zu

                                          225
                                          18    EU-Ratspräsidentschaft / 15 Jahre Hartz 4	           32
                                                Vermischtes, Verschiedenes.			                       33
                                                Einkaufsvorteile nutzen! / Bildnachweise / Impressum 35

                                                                Nicht nur gedruckt
                                                                sondern auch unter
                                                              facebook.com/paritaet
                                                                                   itaet
                                                            bei Twitter unter @par
                                                                                      t
                                                             bei Instagram als paritae

                                                 Dieses Magazin kann als barrierefreie pdf-

                                          30     Datei im Internet heruntergeladen werden:
                                                              www.paritaet.org

2   www.der-paritaetische.de   1 | 2020
1| 2020 - Der Paritätische
Editorial

                                                       Professor Dr. Rolf Rosenbrock,
                                        Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands

Liebe Leser*innen,

im März 2009 hat Deutschland die Be-         um eine gleichberechtigte Teilhabe           hinter steht meist kein böser Wille,
hindertenrechtskonvention der Verein-        von Menschen mit Behinderungen in            sondern ein Mangel an Fachkräften,
ten Nationen ratifiziert. Darin ver-         den alltäglichen Lebensbereichen zu          Stellen und Geld. Dadurch droht an
pflichten sich die Vertragsstaaten zur       gewährleisten.                               vielen Orten das gesamte Projekt der
vollen Verwirklichung aller Menschen-        Ein Blick in den Lebensbereich Kind-         Inklusion in Verruf zu kommen.
rechte und Grundfreiheiten für alle          heit und Schule zeigt, dass es eine voll-    Am 3. Dezember 2019 wurde der erste
Menschen mit Behinderungen, ohne             ständige Gleichberechtigung bei der          Paritätische Teilhabebericht der Paritä-
jede Diskriminierung. Die Vertrags-          Wahrnehmung des Rechts auf Bildung           tischen Forschungsstelle veröffentli-
staaten sollen z. B. ein integratives Bil-   zwischen Kindern mit und ohne Be-            cht, welcher den Fokus auf die Beein-
dungssystem auf allen Ebenen gewähr-         hinderung noch nicht gibt. Die Bun-          trächtigungen älterer Menschen legt.
leisten und dazu u.a. den Zugang zu          desländer setzen die Behinderten-            Mit dem Paritätischen Teilhabebericht,
einem integrativen, hochwertigen und         rechtskonvention und mögliche Maß-           der im Rahmen des Projektes „Teilha-
unentgeltlichen Unterricht an Grund-         nahmen für eine inklusive Bildung            beforschung: Inklusion wirksam ge-
schulen und weiterführenden Schulen          unterschiedlich um. Während bspw. in         stalten“ erstellt wurde, möchten wir
sicherstellen. Kinder mit Behinderung        Bremen      ca.   83     Prozent     der     jetzt und in den kommenden Jahren
sollen gleichberechtigt mit anderen          Schüler*innen mit sonderpädago-              auf der Basis sorgfältiger Teilhabefor-
Kindern alle Menschenrechte und              gischem Förderbedarf auf eine Regel-         schung dazu beitragen, Handlungs-
Grundfreiheiten genießen können. Be-         schule gehen, sind es in Bayern 26           möglichkeiten zu identifizieren sowie
zogen auf den Bereich des Erwerbsle-         Prozent. Die aktuelle, föderale Ausge-       mit und für Menschen mit Behinde-
bens wollen die Vertragsstaaten das          staltung der schulischen Bildungssys-        rungen Barrieren auf dem Weg zu ei-
Recht auf die Möglichkeit gewährleis-        teme, in denen inklusive Bildung keine       ner inklusiven Gesellschaft beseitigen.
ten, den Lebensunterhalt durch solche        Selbstverständlichkeit ist, verhindert,
Arbeit zu verdienen, die in einem offe-      dass für Kinder und Jugendliche mit          Herzlich, ihr
nen, integrativen und für Menschen           Behinderung ein gleichberechtigter,
mit Behinderungen zugänglichen Ar-           diskriminierungsfreier Zugang zu
beitsmarkt und Arbeitsumfeld frei ge-        einem hochwertigen, inklusiven Bil-
wählt oder angenommen werden kann.           dungssystem besteht. Separierende
Knapp elf Jahre nach der Ratifizierung       Bildungsformen, zeitlich beschränkte
ist zwar schon einiges erreicht worden,      Förderangebote oder Missachtung des
aber es müssen noch viel mehr Hür-           Wunsch- und Wahlrechts sind leider
den und Barrieren beseitigt werden,          immer noch an der Tagesordnung. Da-

                                                                                         www.der-paritaetische.de   1 | 2020    3
1| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt

Paritätischer erforscht
Teilhabe von und mit
Menschen mit
Beeinträchtigungen
    Der Paritätische Gesamtverband ver-
    tritt die Interessen von Menschen mit
    Beeinträchtigungen und Behinde-
    rungen und ihre Organisationen und
    analysiert im Projekt „Teilhabefor-
    schung: Inklusion wirksam gestalten“
    die Teilhabechancen von Menschen mit
    Beeinträchtigungen. Ermöglicht wird
    dieses Vorhaben durch die Aktion
    Mensch Stiftung.

Zum Internationalen Tag der Men-
schen mit Behinderungen will der Pa-
ritätische in den nächsten Jahren regel-
mäßig einen Teilhabebericht zu den             mit Beeinträchtigungen selbst zu Wort     zeichnen, da davon auszugehen ist,
Lebenslagen von Menschen mit Beein-            – in Form von qualitativen Interviews     dass Menschen in Einrichtungen und
trächtigungen veröffentlichen. 2019            sowie unterschiedlichen Workshops.        mit besonders starken Beeinträchti-
liegt der Schwerpunkt dabei auf älteren        Die Lebenslagen der Menschen mit Be-      gungen nicht repräsentativ in der Da-
Menschen mit Beeinträchtigungen,               einträchtigungen in Privathaushalten      tengrundlage erfasst sind.
definiert als Personen, die über 65 Jah-       werden für das Jahr 2016, aus dem die
re alt sind. Insbesondere ihnen soll           aktuellsten verfügbaren Daten sind,       Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich
(neben Frauen und Mädchen) laut Ar-            anhand von 22 Indikatoren analysiert.     wie folgt zusammenfassen:
tikel 28 Absatz 2 der Behinderten-             Neben allgemeinen soziodemogra-                    Menschen mit Beeinträchti-
rechtskonvention der Vereinten Natio-          fischen Merkmalen zu Menschen ohne          1      gungen über 65 Jahren in Pri-
nen (UN-BRK) der Zugang zu Pro-                und mit Beeinträchtigungen bzw.                    vathaushalten haben im Schnitt
grammen des sozialen Schutzes und              Schwerbehinderung werden die Be-          weniger Einkommen und Vermögen in
der Armutsbekämpfung zugesichert               reiche materielle Situation, soziales     Form von Wohneigentum oder Rück-
werden.                                        Netz, Gesundheit, Freizeit und Kultur,    lagen für Notfälle zur Verfügung als
                                               Sicherheit sowie politische und gesell-   Menschen ohne Beeinträchtigungen.
Aktuell gibt es keine repräsentativ er-        schaftliche Partizipation analysiert.     Dieser Befund kommt nicht unerwar-
hobenen Daten zu den Lebenslagen               Neben Kennzahlen zur Teilhabe wer-        tet, obwohl berücksichtigt werden
der Menschen mit Beeinträchtigun-              den jeweils die Zufriedenheit bzw. die    muss, dass Beeinträchtigungen in der
gen. Ein Survey der Bundesregierung            Sorgen von Menschen mit und ohne          überwiegenden Zahl der Fälle im Le-
soll das in den kommenden Jahren än-           Beeinträchtigungen dokumentiert.          bensverlauf entstehen und auch nicht
dern. Ein Schwerpunkt im Teilhabebe-                                                     immer mit einem Ausscheiden aus
richt des Paritätischen liegt aufgrund         Dabei zeigt sich: In fast allen unter-    dem Beruf einhergehen. Dennoch
der Datendefizite auf der Teilhabe von         suchten Bereichen können Menschen         müssen ältere Menschen mit Beein-
Menschen in Privathaushalten. Stati-           mit Beeinträchtigungen bzw. Schwer-       trächtigungen im Durchschnitt dauer-
stische Daten allein genügen jedoch            behinderung in Privathaushalten we-       haft mit weniger materiellen Ressour-
nicht, um ein Bild von der Lebenssitu-         niger teilhaben als Menschen ohne         cen zurechtkommen. Daraus resultiert
ation von Menschen mit Beeinträchti-           Beeinträchtigungen. Dies schlägt sich     auch eine geringere Zufriedenheit mit
gungen zu bekommen. Zudem leben                auch auf ihre Zufriedenheit nieder        dem eigenen Einkommen und eine
Menschen mit Beeinträchtigungen                bzw. spiegelt sich in ihren Sorgen wi-    größere Sorge um die eigene wirt-
auch häufig nicht (mehr) in Privat-            der. Dabei dürften diese Zahlen eher      schaftliche Entwicklung. Diese Kluft
haushalten. Es kommen deshalb im               noch ein im Vergleich zur tatsäch-        gilt es zu schließen. Ein Mittel dazu
Rahmen des Projekts auch Menschen              lichen Lebenslage günstigeres Bild        muss es sein, die Anrechnung von Ein-

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1| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt

kommen und Vermögen weiter zu re-                  Auch bei der Zufriedenheit          Insgesamt zeigt sich: Der Weg in eine
duzieren. Des Weiteren werden Men-          3      mit der Freizeitgestaltung gibt     wirklich inklusive Gesellschaft ist
schen, die in der Vergangenheit von                es negative Unterschiede zwi-       noch weit. Es gab in der Vergangenheit
einer Erwerbsminderung betroffen          schen Menschen mit und ohne Beein-           aber auch Fortschritte. Gemeinsames,
wurden, durch die bestehende Sozial-      trächtigungen in Privathaushalten.           gesamtgesellschaftliches Engagement
gesetzgebung nicht immer dauerhaft        Bezüglich der Ursachen für das Aus-          für mehr Inklusion lohnt sich. Für die
vor Armut im Alter geschützt. Für die-    bleiben von Freizeitaktivitäten und Ur-      Umsetzung weiterer, notwendiger Re-
jenigen, die künftig von einer Erwerbs-   lauben lassen die vorliegenden Daten         formen ist das ein guter Ausgangs-
minderung betroffen sind, hat sich die    jedoch nur wenige Rückschlüsse zu –          punkt. Des Weiteren erlauben die neu
Rechtslage in den vergangenen Jahren      finanzielle Gründe sind zumindest            gewonnenen Informationen eine noch
erheblich verbessert. Nun geht es da-     meist nicht die Hauptursache. Die För-       präzisere Adressierung von Problemla-
rum, auch diejenigen, die schon vorher    derung von Barrierefreiheit im öffent-       gen und somit auch die Verbesserung
von diesem Schicksal betroffen waren,     lichen Raum sowie die Verbesserung           von Lebenslagen von Menschen mit
gleichzustellen.                          der Verkehrsinfrastruktur könnten so-        Beeinträchtigungen.
         Der Aspekt des Wohnens ist       mit Faktoren sein, um bestehende Un-
  2      für die Lebenszufriedenheit      terschiede zu vermeiden.                     Begleitet wird das Projekt von einem
         aller Menschen von erheb-                 Die Hälfte der Menschen mit         Beirat bestehend aus Vertretungen von
licher Bedeutung. Jeder soll die Mög-       4      Schwerbehinderungen in Pri-         Organisationen und Initiativen von
lichkeit haben, selbst zu entscheiden,             vathaushalten hat ein starkes       Menschen mit Behinderungen, Insti-
wo, wie und mit wem er oder sie leben     oder sogar sehr starkes Interesse an         tutionen und Wissenschaft. Zudem
will. Artikel 19 der UN-Behinderten-      Politik. Ihre Sorge um den Zusam-            wird es im ersten Halbjahr eine Ta-
rechtskonvention bestätigt dieses         menhalt der Gesellschaft ist ähnlich         gung geben, auf der die aktuellen Pro-
grundlegende Recht. An der Realisie-      hoch ausgeprägt wie bei Menschen             jektergebnisse vorgestellt und disku-
rung dieses Anspruchs mangelt es.         ohne Beeinträchtigungen. Quer durch          tiert sowie weitere Handlungsfelder
Aus der täglichen Arbeit der Mitglieder   alle Gruppen hinweg bestehen große           identifiziert werden.
des Paritätischen ist bekannt, dass       oder zumindest einige Sorgen um den
Menschen mit Beeinträchtigungen es        Zusammenhalt der Gesellschaft. Es ist                                  Anita Tiefensee
sowohl in Ballungszentren als auch in     deshalb wichtig, die spezifischen Inte-
ländlichen Regionen schwer haben,         ressen und Bedarfe von Menschen mit
eine geeignete Wohnung zu finden.         Beeinträchtigungen und Behinde-               Den Paritätischen Teilhabebericht 2019
Auch der Umzug in eine ambulante          rungen stärker in der Politik zu be-          und weitere Informationen zum Thema
Begleitung scheitert oft an der Suche     rücksichtigen und gleichzeitig, die be-       Teilhabe finden Sie unter:
nach geeignetem Wohnraum oder an          troffenen Menschen stärker einzubin-          www.der-paritaetische.de/teilhabe
Widerständen von z. B. Anwohner*in-       den und zu beteiligen.
nen, wenn der Wohnraum gefunden
wurde. Darauf muss politisch stärker
reagiert werden, indem bei der Förde-
rung neuen Wohnraums verstärkt auf
Barrierefreiheit und Zugang zu not-
wendigen       Infrastrukturleistungen
Sorge getragen wird. Auch das Miet-
recht muss angepasst werden: dass
Wohngruppen von Menschen mit Be-
einträchtigungen unter das Gewerbe-
mietrecht fallen und damit nur einen
sehr reduzierten Kündigungsschutz
haben, ist angesichts des besonders
vulnerablen Kreises der davon Betrof-
fenen nicht zu begründen und muss
dringend geändert werden. Zudem
muss das Wunsch- und Wahlrecht der
im Bundesteilhabegesetz (BTHG) voll       Die Verfasser*innen des Teilhabeberichtes (v.l.n.r.): Carolin Linckh (Referentin für So-
umfänglich gewährleistet werden, so       zialforschung und Statistik in der Paritätischen Forschungsstelle), Dr. Anita Tiefensee
dass Menschen mit Behinderung im-         (Projektleiterin „Teilhabeforschung“ in der Paritätischen Forschungsstelle) und Dr.
mer selbst entscheiden können, wo sie     Joachim Rock (Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa beim Paritätischen
leben möchten.                            Gesamtverband)

                                                                                     www.der-paritaetische.de     1 | 2020      5
1| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt

30 Jahre Paritätische Behindertenpolitik.
Ein Abschiedsinterview mit Claudia Scheytt
    Claudia Scheytt ist 1957 in Potsdam ge-
    boren. Seit 1990 war sie ehrenamtlich
    in der Selbsthilfe behindertenpolitisch
    aktiv und seit 1992 ist sie hauptamtlich
    beim Paritätischen beschäftigt – erst
    beim Paritätischen Landesverband
    Brandenburg und seit 2007 beim Pari-
    tätischen Gesamtverband als Referen-
    tin für Behinderten- und Psychiatriepo-
    litik. Im Interview spricht sie über ihre
    Erfahrungen in 30 Jahren Behinderten-
    politik, viele Veränderungen und große
    Herausforderungen.

In Deutschland leben mehr als zehn Milli-         unserer Gesellschaft? Hat die nichtbehin-   nicht zufällig ein*e Mitschüler*in
onen Menschen mit einer Behinderung –             derte Mehrheitsgesellschaft überhaupt die   oder ein Familienmitglied eine Behin-
das sind 13 Prozent unserer Gesellschaft.         Chance, im Alltag auf Menschen mit Be-      derung hatte, gibt es immer noch zu
Wird dem Thema Behindertenpolitik im              hinderung zu treffen?                       wenig Bezugspunkte. Deshalb braucht
Vergleich zu früher mehr Aufmerksamkeit           Die Chancen bestehen, aber wir müs-         es schon in der vorgeburtlichen Phase
gewidmet und haben Menschen mit einer             sen auch ehrlich zueinander sein: Wir       Aufklärung. Es ist eine Entscheidung,
Behinderung heute mehr Chancen?                   haben es in Deutschland mit einer           die Eltern zutiefst persönlich betrifft.
Zunächst hat die Wiedervereinigung                Leistungsgesellschaft zu tun. Und die       Sie sollten diese für sich treffen und
der beiden deutschen Staaten für Men-             spannende Frage ist, wie diese Leis-        sich nicht rechtfertigen müssen, egal
schen mit einer Behinderung in den                tungsgesellschaft Menschen, deren           in welche Richtung diese getroffen
neuen Bundesländern zu mehr Chan-                 Leistungsfähigkeit schwächer ist, mit-      wird. Wie bereits gesagt, müssen in
cen und Teilhabe geführt. Menschen                nimmt. Da hat sich zwar schon viel          unserer Gesellschaft die Unterstüt-
mit einer geistigen Behinderung waren             getan, zum Beispiel, dass im Bereich        zungsleistungen oftmals immer noch
in der DDR dem Gesundheitswesen                   der Arbeitsmarktpolitik Nachteilsaus-       hart erstritten werden. Das ist absurd:
zugeordnet und hatten kein Recht auf              gleiche gewährt werden, aber auch hier      Es wird Unterstützung gegeben, Leben
Bildung. Erst mit der Wiedervereini-              stehen wir noch am Anfang. Gerade           zu verhindern, es wird aber zu wenig
gung hatten sie eine Förderperspektive            Menschen mit hohem Unterstützungs-          Unterstützung gegeben, das Leben mit
und konnten erstmalig in eine Förder-             bedarf werden in dieser Leistungsge-        einem Kind mit einer Behinderung
schule gehen. Mit dem, von den Be-                sellschaft nicht nur bei der Teilhabe       einfacher und somit auch schöner zu
hindertenverbänden hart erkämpften,               am Arbeitsleben zurückgelassen. Die         machen. Eltern von Kindern mit Be-
Beitritt zur UN-Behindertenrechtskon-             UN-Behindertenrechtskonvention hat          hinderungen brauchen mehr Unter-
vention 2009 von Deutschland haben                die Leitlinien vorgegeben, aber hierfür     stützung und Zuwendung von Staat
sich nochmals Chancen für massive                 müssen auch die Ressourcen bereitge-        und Gesellschaft.
Veränderungen eröffnet – vor allem                stellt werden. Es reicht nicht zu sagen,
zum Thema Selbstbestimmung. Wir                   wir wollen Inklusion, und dann werden       Mehr Möglichkeiten der Teilhabe und
müssen aber aufpassen, dass auch                  in den Schulen nicht genug Personal         mehr Selbstbestimmung für Menschen mit
Menschen mit sehr hohem Unterstüt-                oder passende Räumlichkeiten bereit-        Behinderungen – das verspricht das Bun-
zungsbedarf bei diesen Veränderun-                gestellt. Aber auch die Eltern brauchen     desteilhabegesetz. Nur gute Absichten
gen mitgenommen werden. Das Bun-                  Unterstützung. Es darf nicht sein, dass     oder hat sich tatsächlich etwas verbessert?
desteilhabegesetz verstößt hier gegen             sie jegliche Unterstützungsleistungen       Es hat sich auf jeden Fall etwas verbes-
die UN-Behindertenrechtskonvention.               in aufwendigen Gerichtsverfahren hart       sert. Wir haben zum Beispiel stärkere
                                                  erstreiten müssen.                          Mitbestimmungsrechte für Menschen
Wie inklusiv ist denn dieses Deutschland                                                      in den Werkstätten und eine verbes-
2020?                                             Eltern können ein Leben mit einem Kind      serte Heranziehung von Einkommen
Es steht immer noch am Anfang. Es                 mit einer Behinderung und die damit ver-    und Vermögen für Leistungen. Was
ist zwar eine Menge passiert, aber wir            bundenen Folgen oft nicht einschätzen.      mir aber Sorge bereitet, ist der Beschäf-
haben noch einen langen Weg vor uns.              Braucht es hier mehr Aufklärung?            tigungsbereich für Menschen mit ho-
                                                  Ja, wir brauchen Beratung und Vermitt-      hem Unterstützungsbedarf. Wenn sie
Wie funktioniert das Zusammenleben von            lung, damit sich Eltern überhaupt erst      nicht ein Mindestmaß an verwertbarer
Menschen mit und ohne Behinderung in              mal ein Bild machen können. Wenn            Arbeit erwirtschaften können, besteht

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1| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt

die Gefahr, dass sie ausgegliedert und         Allerdings können sie zwar mitwir-
nur der Pflege zugeordnet werden. Es           ken, sie haben aber kein Stimmrecht.
                                                                                               Bundesteilhabegesetz ab 2020
besteht nach meiner Einschätzung die           Die Themen sind inzwischen auch so
Gefahr, dass, wie vor der Wende in der         hochkomplex, dass in vielen Bundes-             Das BTHG steckt noch mitten in der Um-
DDR, nur die Leistungsfähigen mitge-           ländern die Menschen zwar beteiligt             setzung. 2019 wurden gleich drei Ge-
nommen und die leistungsschwachen              sind, aber hierfür kaum Ressourcen              setzesänderungen mit weitreichenden
Menschen zurückbleiben.                        bereitgestellt werden, zum Beispiel für         Folgen für Menschen mit Behinderungen,
                                               Schulungen. Die Beteiligung erfolgt             Angehörige und Einrichtungen ab dem
Was muss dann jetzt passieren?                 überwiegend ehrenamtlich, wenn sich             1.1.2020 beschlossen. Mit dem Angehöri-
Im Bundesteilhabegesetz gibt es im-            das nicht ändert, ist eine echte Beteili-       genentlastungsgesetz wird es u.a.
mer noch Regelungen, die gegen die             gung und Verantwortungsübernahme                • Entlastungen für Eltern und Kinder
UN-Behindertenrechtskonvention ver-            kaum möglich.                                        geben, die gegenüber Leistungsbezie-
stoßen: Das ist zum Beispiel der Mehr-                                                              hern von Hilfe zur Pflege unterhalts-
kostenvorbehalt, mit dem Menschen              Eine weitere Möglichkeit sich einzubrin-             verpflichtet sind, in dem die Unter-
gegen ihren Willen gezwungen werden            gen, ist, mit Demonstrationen Verände-               haltsheranziehung mit einem jewei-
können, in bestimmten Wohnformen               rung zu fordern. Hat sich da in den letzten          ligen Jahresbruttoeinkommen von bis
zu leben. Das betrifft insbesondere            Jahren etwas verändert?                              zu 100.000 Euro in der Sozialhilfe
Menschen mit hohem Unterstützungs-             Es gab immer schon kleinere Demons-                  ausgeschlossen wird.
bedarf. Diese Regelungen müssen                trationen. Aber in dem Umfang, wie              • Für Menschen mit Behinderungen im
verändert werden. Außerdem braucht             beim Bundesteilhabegesetz, das habe
                                                                                                    Eingangsverfahren und Berufsbil-
es einen offenen Umgang mit persön-            ich in all den Jahren, in denen ich in
                                                                                                    dungsbereich einer Werkstatt für be-
lichen Situationen und individuellen           der Behindertenpolitik aktiv bin, noch
                                                                                                    hinderte Menschen (WfbM) wird der
Bedarfen. Man kann in Leistungsbe-             nicht erlebt. Das Gesetz hatte das Ziel,
                                                                                                    Anspruch auf Leistungen der Grund-
schreibungen nicht alle Eventualitäten         die UN-Behindertenrechtskonvention
des alltäglichen Lebens erfassen. Wenn         umzusetzen, aber es durfte nichts kos-               sicherung im Alter und bei Erwerbs-
wir die soziale Teilhabe ernst nehmen,         ten. Daher gab es im Gesetzentwurf                   minderung eingeführt.
muss es möglich sein, flexibel auf die         Regelungen, die einen Rückschritt be-           • Die Ergänzende unabhängige Teilha-
Absicherung von persönlichen und               deutet hätten. Zum Beispiel hätten vie-              beberatung (EUTB) wird über das
sich verändernden Zielstellungen und           le Menschen überhaupt keinen Unter-                  Jahr 2022 hinaus dauerhaft finanziert
Bedarfen zu reagieren.                         stützungsbedarf mehr bekommen oder                   und die bislang geltende Befristung
                                               wären künftig nur auf Pflege- ohne                   aufgehoben.
Wie sieht es aus mit Reformen in anderen       Teilhabeleistungen angewiesen. Das              • Das Budget für Ausbildung für Men-
europäischen Ländern? Haben Menschen           alles konnte durch die Demonstratio-                 schen mit Behinderungen wird einge-
mit einer Behinderung dort ein besseres        nen und Protestaktionen, an denen der                führt.
Leben?                                         Paritätische maßgeblich beteiligt war,          • Ein Abweichen der festgelegten Perso-
Österreich hat sehr gute partizipati-          verhindert werden.                                   nalschlüssel bei den anderen Leistungs-
ve Ansätze. Das Land hat bereits die                                                                anbietern zur Teilhabe am Arbeitsle-
deutsche Übersetzung der UN-Behin-             Jetzt gehen Sie in Altersteilzeit und ver-           ben nach oben wird ermöglicht.
dertenrechtskonvention korrigiert, was         lassen den Paritätischen nach 28 Jahren.        Mit einem SGB IX-Änderungsgesetz wird
Deutschland bis heute nicht gemacht            Worauf freuen Sie sich besonders?               u.a. zur Vermeidung der sog. „Rentenlü-
hat. Dabei wurde die ursprüngliche             Zeit. Zeit für meine Familie und mich           cke“ für den Januar 2020 eine einmalige
Übersetzung von Anfang an von Behin-           selbst. Ich habe immer gerne und viel
                                                                                               Zahlungsmöglichkeit für die Sozialhilfeträger
dertenorganisationen und auch vom              gearbeitet. Die aktuellen Entwicklun-
                                                                                               geschaffen und in besonderen Wohnformen
Paritätischen kritisiert. In der deutsch-      gen werde ich sicher weiterverfolgen
                                                                                               werden Aufwendungen für Wohnraum
sprachigen Übersetzung heißt es zum            und mich auch weiterhin für positive
                                                                                               oberhalb der Angemessenheitsgrenze über-
Beispiel „Integration“ statt „Inklusion“       Veränderungen in der Behindertenpo-
oder auch „Zugänglichkeit“ statt „Bar-         litik einsetzen. Aber jetzt brauche ich         nommen, wenn dies erforderlich ist.
rierefreiheit“.                                erst mal Zeit für mich und meine Fa-            Mit einem weiteren Gesetz wurde das
                                               milie.                                          Ausbildungsgeld für junge Menschen mit
Der Staat ist in der Pflicht. Aber sehen Sie                                                   Behinderungen angehoben. Weil mit der
auch bei den Menschen mit einer Behin-         Dann wünschen wir Ihnen für Ihre Zu-            Anhebung des Ausbildungsgeldes der
derung die Verantwortung, sich, soweit         kunft alles Gute und danken Ihnen für Ihre      Grundbetrag auch im Entgelt der WfbM
möglich, einzubringen?                         wertvolle Arbeit beim Paritätischen.            steigt, hat der Bundestag die Bundesregie-
Das Bundesteilhabegesetz hat Grund-                                                            rung aufgefordert, innerhalb von vier Jah-
lagen gelegt, dass Menschen mit einer                 Das Interview führte Janina Yeung        ren unter Einbeziehung von Experten zu
Behinderung mehr einbezogen werden                                                             prüfen, wie ein transparentes, nachhal-
können, zum Beispiel bei den Rahmen-                                                           tiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem in
vertragsverhandlungen, wo es konkret                                                           der WfbM entwickelt werden kann.
um die Unterstützungsleistungen geht.

                                                                                             www.der-paritaetische.de      1 | 2020        7
1| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt
                                                                                                             Schwerpunkt

Drei Fragen an das Netzwerk
für Teilhabe und Beratung
 Das Netzwerk für Teilhabe und Beratung (NTB e.V.) und die EUTB Marburg-Bieden-
 kopf (mit Rechtsträgerschaft fib e.V.) ist eine Fachstelle für ergänzende unabhängige
 Teilhabeberatung (EUTB). Sie soll bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes
 Betroffenen helfen. Dazu befragten wir Herrn Bernd Gökeler (Vorsitzender der
 NTB e.V.) und Frau Mira Wiessalla (EUTB Marburg-Biedenkopf).

Seit 2018 gibt es die ersten EUTB-Stellen     hinderung ein Bild ihrer Situation und        zehn Prozent an der Gesamtbevölke-
in der Bundesrepublik. Wie wird das Be-       der daraus resultierenden Schwierig-          rung sind die Leistungsgrenzen jeder
ratungsangebot Ihrer EUTB Marburg-            keiten und Wünsche für ein möglichst          EUTB eng definiert. Es wäre hoch hilf-
Biedenkopf angenommen?                        selbstbestimmtes Leben machen kön-            reich, wenn aufsuchende Arbeit finan-
Im August 2018 hat die Beratungsstelle        nen. Diese Beratung muss frei von Ei-         ziert würde, auf die manche Ratsu-
EUTB Marburg-Biedenkopf Eröffnung             geninteressen erfolgen, wie es die Un-        chenden aufgrund ihrer Behinderung
gefeiert. Etwas mehr als ein Jahr Auf-        abhängigkeit dieser neuen Struktur            und Mobilitätseinschränkung ange-
bauarbeit, Vernetzung- und Beratungs-         EUTB gewährleistet.                           wiesen sind. Auch ist es wichtig, vor-
tätigkeit liegen hinter uns. Menschen         Bereits 1953 wurde die unabhängige            handene Kompetenzen und Experten-
mit den unterschiedlichsten Beein-            Verbraucherberatung gegründet, um             wissen, u.a. aus der ehrenamtlichen
trächtigungen oder Behinderungen              den Menschen bei Konsumfragen eine            Selbstvertretung von Menschen mit
kommen mit den vielfältigsten Anlie-          bessere Entscheidungsgrundlage und            Behinderung, einzubinden und ihnen
gen zu uns. Sowohl das hinter der             Transparenz zu bieten. Um wie viel            die Zahlung einer Aufwandsentschä-
EUTB stehende Netzwerk aus Selbsthil-         mehr ist es bei den Lebensfragen, die         digung zu ermöglichen. Für alle
fe und Anbietern der Behindertenhilfe         eine Behinderung mit sich bringt,             EUTB, die nicht von großen Trägern
als auch die fünf Peer-Berater*innen          zwingend notwendig, eine parteiische          gegründet wurden, sind fünf Prozent
erschließen für die Ratsuchenden viel         Beratung im Interesse der Menschen            Eigenanteil kaum finanzierbar.
Erfahrung und Kompetenz, um dem               mit Behinderung zu haben? Seit 2018           Ein besonderer Nachbesserungsbedarf
Auftrag als Lotsen im Sozialsystem für        gibt es jetzt die rund 500 EUTB bundes-       ergibt sich daraus, dass viele Men-
Menschen mit Behinderung bestmög-             weit. Das ist ein Meilenstein auf dem         schen mit Behinderung ihren Mitwir-
lich gerecht zu werden. Besonders der         Weg zu mehr Selbstbestimmung für              kungspflichten im Antragsverfahren
                                              Menschen mit Behinderung.Selbstbe-            nicht oder kaum nachkommen kön-
Peer-Aspekt wird von den Ratsuchen-
                                              stimmung setzt Wahlentscheidungen             nen. Besonders Menschen mit psychi-
den als sehr wertvoll wahrgenommen.
                                              voraus, die aber nur kompetent getrof-        scher Erkrankung, Suchterkrankung,
Dies spiegelt sich auch bundesweit in
                                                                                            Menschen mit schubförmigen Verläu-
der Auswertung der Feedbackbögen wi-          fen werden können, wenn möglichst
                                                                                            fen etc. sind nicht immer dazu in der
der. Es erschließt sich eine Ebene des        alle Optionen bekannt sind. Neben den
                                                                                            Lage, das selbst zu schaffen. Aber auch
Verstehens und Verstanden-Werdens             Informationen spielt die Stärkung der
                                                                                            Gehörlose haben im Verfahren außer-
durch eigene Betroffenheit. Steigender        Menschen in ihrem Recht, selbst be-
                                                                                            halb der Beratung kaum die Möglich-
Bekanntheitsgrad führte zu steigenden         stimmen zu dürfen, die bedeutsamste
                                                                                            keit eine Gebärdendolmetscher*in fi-
Beratungszahlen.                              Rolle. Selbstbestimmung ist das Gegen-
                                                                                            nanziert zu bekommen. Lösbar wäre
                                              teil von Fremdbestimmung, wie gut
                                                                                            dieses Problem durch eine Assistenz
Ziel des Bundesteilhabegesetzes mit der       auch immer diese gemeint war oder ist.
                                                                                            zur Erfüllung der Mitwirkungspflich-
Einführung der Ergänzenden unabhängi-
                                                                                            ten. Weitere Beispiele drängen sich auf
gen Teilhabeberatungen ist die „Stärkung      Gibt es aus Ihrer praktischen Erfahrung he-
                                                                                            u.a. bei Menschen mit Lernschwäche.
der Selbstbestimmung von Menschen mit         raus Nachbesserungsbedarf bei den EUTB
                                                                                            Kurzum: Zur Erlangung der personen-
Behinderung und von Behinderung be-           und für die Menschen mit Behinderung?
                                                                                            zentrierten Hilfe braucht es personen-
drohter Menschen“. Sehen Sie diese Ziele      Ganz klar, der vorgegebene Personal-          orientierte Assistenz und Begleitung.
erfüllt?                                      schlüssel und die damit verbundenen           Schon nach so kurzer Zeit ist die lang
Die Stärkung der Selbstbestimmung             Ressourcen sind in Anbetracht der             erkämpfte EUTB eine unverzichtbare
von Menschen mit Behinderung ist              zahlreichen Netzwerk- und Beratungs-          Bereicherung für Menschen mit Be-
eine stetige Aufgabe. Um diese besser         tätigkeiten der EUTB nachzubessern.           hinderung und darüber hinaus.
zu lösen, ist die EUTB ein überfälliger       Mit einer einzigen geförderten Voll-
Baustein. Vor allem die Erstberatung          zeitstelle auf 144.000 Einwohner*innen               Die Fragen stellte Philipp Meinert
vor Antragstellung ist unschätzbar            pro Region und einem Anteil von Men-                       Infos: netzwerk-teilhabe.de
wichtig, damit sich Menschen mit Be-          schen mit Schwerbehinderung von

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1| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt

Studieren mit Behinderung – drei Städte, zwei Länder.
Ein Erfahrungsbericht                      Andrea Schöne bei einem
                                            Im Universitätsleben war ich kom-                                      Ausflug nach Rimini
Andrea Schöne ist kleinwüchsig, aber die
                                            plett eingebunden. Ich ging zu Partys,                                       während ihres
Welt ist auf größere Menschen ausgerich-
                                            Kneipenabenden, organisierte als Teil                                      Erasmus-Jahres
tet. Universitäten machen da keine Aus-
                                            der Amnesty International Hochschul-
nahme. Uns erzählt Frau Schöne von Ihren
                                            gruppe Aktionen. Im Universitätsradio
Erfahrungen im Studium.
                                            war ich leidenschaftlich als Reporterin
                                            dabei, ein Jahr auch Chefredakteurin.
                                            Dabei wurde ich oftmals sehr respekt-
Immer wieder bekomme ich erstaunte          los behandelt. Wie ich später erfahren
Blicke und bewundernde Kommentare           musste, nahmen mich nicht alle Stu-
für meine Erfahrungen im Studium            dierenden als Autoritätsperson wegen
und wie ich das mit meiner Behinde-         meiner Behinderung ernst. Die Berüh-
rung schaffe. Zugegeben, es ist auch        rungsängste waren dabei oft spürbar für
für nichtbehinderte Studierende etwas       mich.
außergewöhnlich, so viel Zeit im Studi-
um im Ausland zu verbringen.                Leben als Erasmus-Austauschstudentin
                                            in Forlì
Bachelorstudium in Eichstätt – bewegtes     Meine Universität hat mich von Anfang
Kleinstadtleben                             an sehr unterstützt, zwei Auslandsse-
Ich habe in Eichstätt mein Abitur ge-       mester zu machen. In meinem Studi-
macht. Daher kannte ich die Umge-           engang war auch ein Pflichtauslandsse-
bung gut und konnte einschätzen,            mester vorgeschrieben. Die Zweigstelle
welche Hürden in der Stadt auf mich         der Universität Bologna in Forlì ist sehr
warten. Das Studierendenwohnheim            barrierearm. In jedem Stockwerk gab
war zwar nicht für behinderte Men-          es eine Toilette für Rollstuhlfahrer*in-
schen ausgelegt, aber meine WG-Mit-         nen, sogar nach Geschlechtern ge-
bewohner*innen waren meist sehr             trennt. In einem Neubau gab es sogar
hilfsbereit zu mir.                         ein Leitsystem für blinde Studierende
Die Universitätsgebäude waren nur teil-     und einen Gebäudeplan in Braille. Das
weise barrierefrei. Zu Beginn meines        Studierendenwohnheim war für Roll-
Studiums traf ich mich mit dem Be-          stuhlfahrer*innen ebenfalls ausgestat-
hindertenbeauftragten der Universität.      tet; auch die meisten Locations in der
Ironischerweise ist das Büro nicht für      Innenstadt, außer einem Studieren-
Rollstuhlfahrer*innen barrierefrei zu-      dentreffpunkt.
gänglich. Fehlende Barrierefreiheit blieb
                                                                                         Meine Fakultät liegt auf einem Hügel,
über mein gesamtes Bachelorstudium          In Forlì fragte man mich auch zum            den ich mit meinem Rad gerade noch
ein beherrschendes Thema. Ich musste        ersten Mal in meiner ganzen Bildungs-        bewältigen kann. Dafür wird meine
mir immer merken, welche Wege, Räu-         laufbahn, was ich mit meiner Behin-          Kondition von Tag zu Tag besser. In
me und Gebäude inwieweit barrierefrei       derung benötigte. Damit war ich sehr         meiner Fakultät gibt es in jedem Stock-
waren, um darauf reagieren zu können.       überfordert, da ich im deutschen Bil-        werk Hinweisschilder zur Barrierefrei-
Beispielsweise führt zum größten Ver-       dungssystem immer das Gefühl hatte,          heit. Bei der Vergabe der Seminarräu-
anstaltungsraum nur eine Treppe. Ge-        möglichst nur geringe Forderungen            me achtet man auf Barrierefreiheit und
gen Ende meines Studiums schaffte ein       stellen zu dürfen.                           notfalls wird der Raum gewechselt. Es
führender Mitarbeiter des Gebäudema-
                                                                                         gibt auch einen Service für Studieren-
nagements eine Art Rettungsstuhl an,        Internationale Studentin mit Behinderung     de mit Behinderung und beim Bewer-
um Studierenden mit Gehbehinderung          an der Universität Bologna                   bungssystem gab es immer Hinweise
den Raum zugänglich zu machen. Das          Seit Oktober studiere ich nun als Mas-       auf Nachweise zum Nachteilsausgleich
hat auch sehr gut funktioniert. Es war      terstudentin in Bologna „Global Cultu-       oder Möglichkeiten aufgrund einer Be-
häufig sehr zeitaufwendig, alle Seminar-    res“. Meine Auslandssemester haben           hinderung von den Studiengebühren
räume so zu organisieren, dass diese für    mir einen ganz neuen und viel selbst-        befreit zu werden.
mich barrierefrei zugänglich waren. Al-     bewussteren Blick auf mich und mei-          Somit ist Bologna sehr schnell zu mei-
lerdings war meine Universität immer        ne Behinderung gegeben. Daher habe           ner neuen Heimat geworden und ich
bereit, Räume für mich zu tauschen,         ich mich auch entschlossen, für mein         freue mich auf alles, was mich hier
sodass ich an allen Veranstaltungen teil-   Masterstudium komplett in Italien zu         noch erwartet.
nehmen konnte.                              studieren.                                                            Andrea Schöne

                                                                                        www.der-paritaetische.de       1 | 2020          9
1| 2020 - Der Paritätische
Auch das Meer ist barrierefrei

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                                                                                               Downsyndrom oder Sehbehin-
                                                                                               derte, bei Sail United kann
                                                                                               jede*r Wassersport erleben.
                                                                                               Der Verein erfüllt den Wunsch
                                                                                               der Teilnehmenden nach Selbst-
                                                                                               bestimmung und Teilhabe und
                                                                                               bringt Menschen mit und ohne
                                                                                               Behinderung aus aller Welt zu-
                                                                                               sammen.

Tobias Michelsen hat es eilig. Er spricht    Kreativität keine Grenzen gesetzt: „Wir   Frau haben „die Alpen gegen das Meer
über die Fernsprechanlage seines Au-         müssen immer individuell schauen,         getauscht“. Jetzt leben sie in einem
tos und eilt zum nächsten Termin. Er         was die Menschen brauchen. Manch-         „kleinen Häuschen mit großen Pano-
hat noch viel zu tun und Großes vor.         mal müssen wir etwas rumbasteln           ramafenstern“ in Scharbeutz an der
Am nächsten Tag wird er mit fünf             oder auch mal was ganz Neues erfin-       Ostsee. So nah war Hobel dem Meer
Rollstuhlfahrer*innen und zwei bein-         den“, sagt Michelsen und fügt selbstbe-   schon lange nicht mehr.
amputierten Teilnehmer*innen zum             wusst hinzu: „Bisher haben wir das
Sitz-Kitesurfen, Strandsegeln und Tau-       immer hingekriegt und mussten noch        Im Meer spielt die Behinderung
chen nach Ägypten fliegen. „Menschen         nie jemanden aufgrund der Schwere         keine Rolle
mit oder ohne Behinderung haben ge-          seiner Behinderung wieder nach Hau-       Als Hobel zwölf Jahre alt war, sind sei-
nauso viel Spaß, auch im Winter Was-         se schicken.“                             ne Eltern nach Australien ausgewan-
sersport auszuüben“, sagt Michelsen.         Ob Rollstuhlfahrer*innen, Sehbehin-       dert. Seine, wie er selbst sagt, „prä-
Weltweit würde es bisher keinen Reise-       derte oder Menschen mit Downsyn-          genden Jahre“ hat Hobel auf dem weit
anbieter geben, der inklusive Abenteu-       drom, bei Sail United kann jede*r Was-    entfernten Kontinent gelebt, ist dort
er- und Action-Sport-Reisen durchfüh-        sersport erleben. So auch Erich Hobel.    zur Schule gegangen, hat studiert, sei-
re. „Und da dachten wir uns, wir gu-         Der gebürtige Münchner ist Fisch vom      ne Lehrerausbildung gemacht und die
cken mal, wie sowas funktioniert.“           Sternzeichen und das Wasser ist, wie      ersten Jahre unterrichtet. Sein stetiger
Wenn Michelsen nicht gerade auf dem          er selbst sagt, sein Lebenselixier. Die   Begleiter dabei – das Meer: „Ich habe
Weg nach Ägypten ist, bietet er seine        Wassersport- und Segelvereine in Bay-     das Meer in Australien geliebt“, erin-
Wassersportkurse für Menschen mit            ern habe er als sehr elitär erlebt. Für   nert sich Hobel. Vielleicht auch gerade
und ohne Behinderung im Ostseeheil-          Menschen mit einer Behinderung sei        wegen seiner Behinderung. Hobel hat
bad Großenbrode an. Der Gründer des          es sehr schwierig, dort Anschluss zu      als eines der letzten Kinder 1957 die
Vereins Sail United e.V. hat eine klare      finden.                                   Kinderlähmung bekommen. Zwei Wo-
Mission: Nicht nur bei ihm in Schles-        Als Hobel das erste Mal von Sail Uni-     chen nachdem er ins Krankenhaus
wig-Holstein, auch bundesweit sollen         ted erfuhr, war ihm sofort klar: „Wenn    musste, wurde auch an seiner Schule
Menschen mit einer Behinderung in            wir an die Ostsee ziehen, werde ich da    die Impfpflicht eingeführt. Seine bei-
Wassersportschulen willkommen sein           mitmachen und mich einbringen“. Im        den Beine sind fast vollständig ge-
und an allen Aktivitäten teilhaben kön-      Spätsommer letzten Jahres war es          lähmt. Im Meer spiele das keine Rolle.
nen. Dafür sind Anpassungen der              dann soweit. Seine drei Kinder wurden     „Man fühlt sich so leicht im Wasser,
Sportgeräte notwendig, aber auch der         gerade alle „flügge“ und er und seine     kann sich fortbewegen und braucht

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Schwerpunkt

seine Beine nicht“, sagt Hobel, der sich   Und die Behinderung muss beim Erler-                   Freut sich schon auf‘s Wasser:
selbst als starken Schwimmer bezeich-      nen einer Wassersportart nicht unbe-                             Erich Hobel (vorne).
net und bis heute mehrmals die Woche       dingt von Nachteil sein. Manche Men-
im Schwimmbad trainiert.                   schen mit einer Sehbehinderung wür-
Gleichzeitig sei es für Menschen mit       den das Windsurfen laut Michelsen
einer Behinderung sehr umständlich,        schneller erlernen, als Menschen, die
im Meer schwimmen zu gehen. „Mit           sehen können. „Das ist ein kinästhe-
dem Rollstuhl an den Strand und das        tischer Sport. Gefühle und ein gutes
ganze Umziehen ist ein riesiger Akt“,      Gleichgewicht sind hier sehr wichtig.“
erklärt Hobel, „das schreckt viele Men-    Menschen im Rollstuhl würden hinge-
schen ab“. Ihn nicht. „Ich habe mich in    gen „action“ suchen – hohe Geschwin-
diesem Element, das in Australien          digkeiten beim Sitzkitesurfen, Sitzwa-
auch nicht ungefährlich ist, unglaub-      keboarden oder Segeln.
lich wohl gefühlt“, sagt Hobel und er-     Und so kommt es, dass auch Erich Ho-
innert sich stolz: „Ich habe mir ein       bel inzwischen alleine mit dem Kata-
Bodyboard besorgt und mich in die          maran aufs Meer rausfährt und seinen
großen Wellen gestürzt.“                   Segelschein macht. „Es ist sehr auf-
Bei Sail United kann er jetzt auch an-     wändig“, gibt er zu, „man braucht im-
dere Wassersportarten ausprobieren –       mer Leute, die einem helfen, zum Bei-
und Tobias Michelsen macht es mög-         spiel das Boot zum Wasser ziehen.“          Vorurteile werden abgebaut
lich. Als „unkompliziert“ und „frei von    Möglich machen das die vielen ehren-        Michelsen bringt bei Sail United Men-
Ängsten“ beschreibt Hobel seinen neu-      amtlichen Helfer*innen, die Tobias Mi-      schen mit und ohne Behinderung aus
en Freund. „Die Leute haben immer so       chelsen bei Sail United unterstützen.       aller Welt zusammen. „Wassersport ist
wahnsinnig Angst, sie denken, du           Einige verbringen ihren ganzen Som-         super für das Teambuilding“, sagt er.
brichst dir alle Knochen, wenn du aus      merurlaub in Großenbrode. Je nach           Die Teilnehmer*innen und Ehrenamt-
dem Rollstuhl fällst.“ Michelsen sei da    Schwere der Behinderung, brauche es         lichen würden sich von Anfang an auf
ganz anders. „Er sieht einen als Mensch    bis zu fünf Ehrenamtliche, die dabei        Augenhöhe treffen und einen kumpel-
und nicht als Behinderten. Er überlässt    helfen, dass jede*r am Wassersport teil-    haften Umgang pflegen. „Alle Teilneh-
dir Verantwortung, lässt dich experi-      haben kann. „Und die Erwartungshal-         menden ohne Behinderung verlieren
mentieren und an deine Grenzen ge-         tung ist hoch“, erzählt Michelsen, „alle    sofort ihre Berührungsängste, von der
hen“.                                      Teilnehmer*innen wollen am liebsten         Erkenntnis an: denen macht genau das
Die Angst davor, nicht mehr teilhaben      gleichzeitig aufs Wasser.“ „Man muss        gleiche Spaß, wie mir.“
zu können, kennt Michelsen gut. Er         sehr geduldig sein“, weiß auch Erich        Bei Sail United gibt es nicht mehr den
hatte selbst schon zwei schwere Wir-       Hobel zu berichten. Er ist nicht mehr       Menschen mit Behinderung, dafür
belsäulenfrakturen und ist damit nur       nur Teilnehmer, sondern unterstützt         aber Surfer, Kiter, Segler. Es gilt das
knapp der Querschnittslähmung ent-         den Verein jetzt auch ehrenamtlich –        Buddy Prinzip: Die Teilnehmer*innen
kommen. Es sei der Wassersport gewe-       hilft bei der Anmeldung, gibt Einfüh-       gehen gemeinsam ins Wasser und pas-
sen, der ihm in der Reha geholfen          rungen und verteilt Ausrüstung.             sen aufeinander auf. „So verflüchtigen
habe. „Wasser hat eine unglaublich                                                     sich Vorurteile und Bedenken und
therapeutische Wirkung“, sagt Michel-                                                  werden ersetzt durch Verständnis und
sen. „Kein Element ist uns so vertraut.                                                Akzeptanz“, sagt Michelsen.
Wir fühlen uns wohl – mit dem Spritz-
wasser im Gesicht und den Wellenbe-                                                    Und um jetzt noch mal der kalten Ost-
wegungen, die durch unseren Körper                                                     see und den dicken Neoprenanzügen
gehen“.                                                                                zu entkommen, geht es mit Surfbret-
                                                                                       tern und Tauchausrüstung im Gepäck
Behinderung muss nicht von Nachteil sein                                               nach Ägypten. Erich Hobel wird das
Michelsen erzählt von schwer geistig-                                                  Sitzkitesurfen ausprobieren. „Das hat-
und körperbehinderten Menschen, die                                                    te ich bisher gar nicht auf dem Schirm“,
zu Hause kaum ein Wort sprechen                                                        sagt er, „es ist eine wirklich große He-
konnten. „Und auf dem Meer plappern                                                    rausforderung, aber alles was neu ist
sie plötzlich wie ein Wasserfall“. Das                                                 und angeboten wird, möchte ich versu-
Wasser hebe die Menschen auf eine                                                      chen“. Sein Ziel: 50 Meter am Stück zu
höhere Kommunikationsebene, ver-                                                       kiten. „Wenn ich das schaffe, dann
bessere die Körperwahrnehmung und                                                      habe ich viel erreicht.“
helfe, Ängste und Phobien abzubauen.                                                                                Janina Yeung

                                                                                      www.der-paritaetische.de   1 | 2020    11
Schwerpunkt

Drei Fragen an Katrin Weiland,
Kompetenz-Zentrum Leichte Sprache
 Das Kompetenz-Zentrum Leichte Sprache in Westerburg bietet eine breite Palette
 professioneller Dienstleistungen im Bereich Leichte Sprache. Hierzu gehört neben
 der Übersetzung und Bebilderung von Texten auch die Unterstützung beim Er-
 stellen leichtsprachlicher und barrierefreier Webseiten. Katrin Weiland ist zertifi-
 zierte Übersetzerin für Leichte Sprache und beantwortet unsere Fragen.

Frau Weiland, manche denken, dass             Viele Kritiker der Leichten Sprache        ren, wie der Textinhalt eigentlich ge-
Leichte Sprache das Weglassen von             missverstehen das grundsätzliche           meint ist und was Ironie überhaupt ist.
Fremdwörtern und Schachtelsätzen ist.         Konzept: Das primäre Ziel der Leich-       Auch Texte in Leichter Sprache können
Doch was gehört noch dazu, damit mög-         ten Sprache ist Verständlichkeit. Die      schön und ansprechend gestaltet sein.
lichst alle einen Text lesen können?          verständliche Darstellung und Ver-         Mit leichten Anpassungen und etwas
Bei der Leichten Sprache muss man             mittlung von Informationen und In-         Kreativität kann man zum Beispiel das
ganz viele Dinge beachten. Sie folgt          halten. Ja, es stimmt, Stilmittel des      Corporate Design meist auch in Texte
festen Regeln auf der Wort-, Satz-, Text-     Textes gehen bei Übersetzungen in          in Leichter Sprache übernehmen.
und Layout-Ebene. Das primäre Ziel            Leichte Sprache oftmals verloren. Aber
dieser Regeln ist die verständliche Auf-      dafür erreicht der Inhalt des Textes den   Ist unsere Sprache allgemein in Ihren Au-
bereitung von Informationen. Die Re-          Empfänger. Die Leichte Sprache will        gen eher hinderlich oder eher förderlich
geln der deutschen Standardsprache            niemanden verdummen oder „rich-            für die Teilhabe von Menschen mit Behin-
werden dabei weitestgehend befolgt            tiges“ Deutsch ersetzen. Leichte Spra-     derung?
(zum Beispiel mit leichten Anpas-             che ist immer als ein Zusatzangebot zu     Das kann man schwer pauschal beant-
sungen bei der Nutzung von Bindestri-         verstehen. Sie soll Menschen mit einer     worten. Ja, Sprache kann eine Barriere
chen zur besseren Lesbarkeit). Die            geringen Lese- und/ oder Sprachkom-        sein. Und zwar eine besonders demü-
Grammatik und der Wortschatz sind             petenz zu einem besseren Verständnis       tigende und enttäuschende Barriere
jedoch extrem reduziert und verein-           und mehr Teilhabe verhelfen. Sie dient     für den Menschen, der sich vor dieser
facht. Dadurch ist die Leichte Sprache        lediglich als ein Hilfsmittel, um Barri-   befindet. Denn: Diese Barriere kann
weniger komplex und leichter zu ver-          erefreiheit herzustellen oder das Um-      nicht umfahren werden, wie zum Bei-
stehen. Setzt man den europäischen            feld zumindest barriere-ärmer zu ge-       spiel eine Treppe.
Referenzrahmen an, bewegt sich die            stalten. Niemand zweifelt einen Auf-       Es gibt nicht „den“ Menschen mit Be-
Leichte Sprache meist auf dem Niveau          zug als Hilfsmittel an. Die Treppe wäre    hinderung. Jeder Mensch ist verschie-
A1 bis A2. Wenn Fachwörter, Fremd-            für den gesunden „Standard-Men-            den. Jede Behinderung ist anders. Für
wörter oder ähnliches benutzt werden,         schen“ sicher der passende oder natür-     Menschen mit kognitiven Einschrän-
dann wird deren Bedeutung in ein-             liche Weg. Manch einer mag sagen:          kungen oder Lernschwierigkeiten
fachen Worten erläutert.                      Der bessere Weg. Aber ein Mensch im        stellt oft schon unsere Alltagssprache
Texte in Leichter Sprache benutzen im-        Rollstuhl benötigt nun mal die Hilfe       ein unüberwindbares Hindernis dar,
mer auch erklärende Bilder oder Gra-          des Aufzugs, um sein Ziel im oberen        ganz zu schweigen von der Fachspra-
fiken, die den Inhalt des Textes noch         Stockwerk zu erreichen. Für den Men-       che. Leichte Sprache will und kann da
einmal aufgreifen oder verdeutlichen.         schen mit dem gebrochenen Bein stellt      ein Hilfsmittel sein.
Das Layout ist klar strukturiert und          der Aufzug auch eine Erleichterung         Texte in Leichte Sprache zu übersetzen
übersichtlich, die Schrift groß (Refe-        dar. Und die Eltern mit Kinderwagen        oder sie zu verfassen geht nicht ohne
renz: mindestens Arial 14) und serifen-       freuen sich ebenfalls über die Möglich-    Personen aus der Zielgruppe. Also
los. Der Hintergrund ist hell, die            keit des Aufzuges. Vielleicht geht         nicht ohne die Hilfe von Personen mit
Schrift dunkel, damit ein guter Kon-          durch diesen Aufzug etwas von der ar-      Lernschwierigkeiten oder sogenann-
trast zum Lesen vorhanden ist. Das            chitektonischen Ästhetik des Gebäu-        ten geistigen Behinderungen. Bei der
Papier soll matt sein, um störende            des verloren, aber dadurch wird auch       Arbeit mit unseren Prüfgruppen stel-
Spiegelungen zu vermeiden.                    das gesamte Bauwerk zugänglicher           len wir immer wieder ganz eindeutig
                                              und Teilhabe wird ermöglicht.              fest: Ja, die (Standard-)Sprache ist sehr
Es gibt immer wieder Kritik an leichter       Wenn Ironie für einen Text sehr wichtig    oft hinderlich für die Teilhabe.
Sprache. Zum Beispiel, dass Stilmittel wie    ist, dann kann man diese Ironie durch-
Ironie verloren gingen. Was entgegnen         aus in die Übersetzung übernehmen.                Die Fragen stellte Philipp Meinert
Sie Kritikern?                                Man muss dann aber gleichzeitig erklä-               Infos: www.leicht-sprechen.de

12    www.der-paritaetische.de     1 | 2020
Schwerpunkt

Partizipation mit digitalen Medien –
gleichberechtigt und selbstbestimmt
 Digitale Medien stellen einen wesent-
 lichen Zugang zum öffentlichen und
 kulturellen Leben dar. Sie sind (Ver-)
 Mittler von Bildung und Information,
 erweitern unsere Erfahrungs- und
 Handlungsräume und machen die orts-
 und zeitunabhängige Kommunikation
 mit unseren Mitmenschen möglich. Für
 Menschen mit Behinderungen schaf-
 fen digitale Medien neue Zugänge und
 haben das Potential, bei Leistungsein-
 schränkungen zu unterstützen.

Die UN-Behindertenrechtskonventi-          zu neuen Ausschlüssen von Personen.          Was es bedeutet, inklusive
on weist Medien bei der Umsetzung          Auch die vielfältigen Techniken und          Medienbildung zu betreiben
„gleichberechtigter Teilhabe und In-       Technologien, die den Zugang zu den          Digitale Medien können die indivi-
klusion“ eine Querschnittsfunktion zu.     Medien unterstützen, schaffen noch kei-      duelle Förderung von Lernenden er-
Sie sollen Zugänge zum öffentlichen        ne digitale Mündigkeit. Wenn der Fort-       möglichen, da sie, im Gegensatz zum
Diskurs und Informationen schaffen,        schritt zu einer aktiveren Beteiligung       Frontalunterricht, individuelle Lern-
Bildung fördern und die Teilhabe an        führt, muss diese ausreichend durch          wege und das Lernen in unterschiedli-
Kultur, Erholung, Freizeit und Aktivi-     Kompetenzvermittlung und Unterstüt-          cher Geschwindigkeit und bei diverser
täten ermöglichen. Insbesondere die        zungsstrukturen begleitet werden.            Themensetzung unterstützen. Diese
Suche nach Informationen sowie die                                                      Qualitäten kommen der Umsetzung
Kommunikation mit anderen wird von         Selbstbestimmung in der                      eines inklusiven Bildungssystems ent-
Menschen mit Behinderung intensiv          Mediennutzung                                gegen. Anders als bei klassischen Un-
wahrgenommen, so eine Studie der Ak-       Das Individuum bestimmt eigenmäch-           terrichtsformaten greifen hier keine
tion Mensch. Während sich Blinde und       tig, welche Medien es zu welchem Zweck       standardisierten Verfahren. Die Art der
motorisch eingeschränkte Menschen          nutzt. Medienkompetenz ist bisher et-        Behinderung beeinflusst die Art der
über Wikis informieren, können Ge-         was, dass höchstens im Schulkontext          Vermittlung von Inhalten, den Betreu-
hörlose schriftliche Kommunikations-       gelehrt wird. Egal ob mit oder ohne geis-    ungsbedarf und die Schulung der Leh-
formate nutzen, um über größere Di-        tige oder körperliche Einschränkung,         renden. Neben barrierefreien Räum-
stanzen Kontakt zu halten. Auch wird       eine chancengleiche Mediennutzung            lichkeiten oder Vorlese-Anwendungen
von vielen die Anonymität im Netz ge-      erfordert zum einen das Wissen über          für die Computer werden oft spezielle
schätzt, da sie gegenüber Gesprächen       die vorhandenen Medienformate, zum           assistive Technologien benötigt, viel-
in Präsenz eine vorurteilsfreie und of-    anderen ihre selbstbestimmte und kri-        leicht auch ein*e Gebärdensprachen-
fene Kommunikation ermöglicht.             tische Anwendung. Um die Vorausset-          dolmetscher*in. Die begleitenden Ma-
                                           zungen für eine souveräne Mediennut-         terialien müssen in Leichter Sprache
Gleichberechtigter Zugang zu Information   zung zu schaffen, ist die gleichwertige      verfasst sein und für jede Gruppe gilt
und Kommunikation                          Aufklärung in den genannten Belangen         es, Regeln der gegenseitigen Unterstüt-
Für den politischen Diskurs, aber auch     erforderlich. Hinsichtlich dieses Bestre-    zung zu definieren. Bei der Konzeption
bei der Kommunikation im berufli-          bens wird viel Hoffnung in die inklusive     von inklusiven Bildungsangeboten gilt
chen und privaten Leben sind digitale      Medienbildung des Schulsystems ge-           es, von einer defizitorientierten Sicht-
Medien zu dem bedeutendsten Kom-           setzt. Die Heterogenität an deutschen        weise zu der Stärkung von Gemein-
munikationskanal der zweiten Moder-        Schulen soll mit Artikel 24 der UN-Kon-      samkeiten zu gelangen. Dafür braucht
ne geworden. Zahlreiche Diskussionen       vention zum Standard werden und auch         es eine gründliche Vorbereitung, bei
werden online geführt, Abstimmungen        der Digitalpakt wird allmählich Wirk-        der individuelle Leistungseinschrän-
und das Teilen von Informationen fin-      lichkeit. Doch das Zusammendenken            kungen in den Entwicklungsprozess
den im Netz statt. Das reiche Angebot      beider Bestrebungen wird bislang nicht       einbezogen werden und kompetentes,
an Partizipationsmöglichkeiten bietet      ausreichend praktiziert. Bei der Konzep-     geschultes Personal unterstützt.
für Menschen mit Behinderungen vie-        tion der Medienentwicklungspläne von                                   Lilly Oesterreich
le Potentiale, führt bei fehlender pro-    Schulen muss die inklusive Medienbil-        Projektreferentin Digitale Kommunikation
fessioneller Begleitung jedoch schnell     dung zum festen Bestandteil werden.                  beim Paritätischen Gesamtverband

                                                                                       www.der-paritaetische.de    1 | 2020     13
Schwerpunkt

Teilhabe serviert mit sozialer Note
Lebenswelten gibt allen Menschen eine Chance
und findet einen Platz für sie.
Ein Blick auf die Homepage der Berli-       wie er berlinernd hinzufügt. Stoll war      chie geben. Und deshalb haben wir das
ner Firma „Lebenswelten Catering &          1986 Mitbegründer des Restaurant            auch alsbald umgestellt in ein hierar-
Events“ in Berlin macht zunächst ein-       L’ETOILE, einem kleinen inklusiven          chisches System, aber in ein freund-
mal hungrig: Schön angerichtete an-         Restaurant in Kreuzberg. „Schon da-         lich-hierarchisches      System     mit
sprechende Speisen in satten Farben         mals ging es um die Kombination von         menschlichem Antlitz, das dem Men-
sind zu sehen. Dazu Bilder von Events,      sozialer Arbeit auf einem hohen             schen zugewandt ist.“ Von Anfang an,
bei denen Teams von „Lebenswelten“          Dienstleistungsniveau. Diesen An-           so Stoll, ging es nicht um Mitleid mit
Catering betrieben haben. Wohl ein          spruch haben wir uns erhalten“, er-         den (behinderten) Mitarbeiter*innen,
ganz normaler Caterer und außerdem          zählt er. Das Wort Inklusion gab es zur     sondern um die perfekte Dienstlei-
Kantinenbetreiber, wie man ihn gera-        damaligen Zeit zwar noch nicht, aller-      stung und die Zufriedenheit der Gäste.
de in der Bundeshauptstadt häufiger         dings schon ein Umdenken in der so-         Denn auch eine Küche von „Lebens-
findet. Erst nach einigen Klicks findet     zialen Arbeit mit behinderten Men-          welten“ ist ein Dienstleister, der zur
man die Besonderheit: Hinter der            schen. Man hinterfragte zunehmend           Zufriedenheit der Kunden funktionie-
GmbH steckt auch ein gemeinnütziger         das „Aufbewahren“ von ihnen und             ren muss. Deswegen findet man den
Verein, der sich besonders auf Inklusi-     dachte über Möglichkeiten der Teilha-       Hinweis darauf, dass die GmbH ein
on und Teilhabe von Menschen mit            be am normalen Leben und zur Selbst-        Inklusivbetrieb ist, auch nicht auf An-
Behinderung am Arbeitsmarkt spezia-         hilfe nach. Aus dieser Idee heraus ent-     hieb: „Dass es draußen dransteht, dass
lisiert hat. Und der hat eine lange Ge-     stand die Initiative, behinderte Men-       wir inklusiv sind, ist eigentlich ganz
schichte. Für diese treffe ich in der       schen im gastronomischen Bereich            neu“, erklärt Herr Stoll. Aber: „Das be-
Kantine des Gesundheits- und Sozial-        arbeiten zu lassen – und zwar auf Au-       sondere bei uns ist, dass alles ganz
zentrums (GSZM) Berlin-Moabit, im           genhöhe mit ihren nichtbehinderten          normal ist. Das ist auch die Kunst da-
Haus des Landesamtes für Gesundheit         Kolleg*innen.                               bei.“
und      Soziales    (LaGeSo),      drei    Hier liegen die Wurzeln des heutigen
Mitarbeiter*innen von „Lebenswelten“,       Lebenswelten catering & events, auch        Fernsehköche haben nichts
um mir erklären zu lassen, wie Küche        wenn sich einiges getan hat: „Zuerst        mit der Realität zu tun
und Inklusion zusammengehen.                waren wir kollektiv aufgestellt – bis wir   Eine weitere Person am Tisch ist Rosa
Michael Stoll ist Geschäftsführer der       gemerkt haben: Das ist Mist. Gerade         Wingels. Sie arbeitet seit 15 Jahren bei
Lebenswelten Restaurations GmbH,            Gastronomie funktioniert im Kollektiv       „Lebenswelten“. Schon während ihres
„und auch Gründer von det janzen“,          überhaupt nicht. Es muss die Hierar-        Studiums arbeitete sie im Gastro-Be-

14    www.der-paritaetische.de   1 | 2020
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