Gleichheit - Schweizerische Evangelische Allianz
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Februar 2020 #01 Inspiriert denken – glauben – handeln ISSN-Nr. 1662-4661 / Schweizerische Evangelische Allianz SEA Gleichheit Kirche Freiheit Religionen Die Gleichstellung Wie im Sudan Sklaven Mickriger Glaube und die der Geschlechter befreit werden Gleichheit aller Menschen
INHALT 04 Forum/Humor Philosophie 05 Kolumnen «Ideologien, welche die 05 Medizin: Stress: gleich und doch anders Gleichheit der Freiheit 06 Philosophie: Gleichheit und Freiheit – vorzogen, haben am Ende zwei ungleiche Geschwister mit oft blutigster Gewalt 07 Politik: Alle sitzen im gleichen Boot – auch mit die Freiheit mit Füssen ungleichen Meinungen getreten.» 25 Musik: Der Unterschied zwischen den Herren West, Dylan und Müller Alexander Arndt auf Seite 6 26 Psychologie: Vielfalt heisst: Ich bin anders – Du auch! 27 Religionen: Mickriger Glaube und die «Gleichheit» in den Weltreligionen 28 Transformation Schweiz: Der Zauber des Anfangs Theologie 29 Kurzrezensionen «Einheit und Gerechtigkeit 30 Spiritualität: Glaube kann heissen... müssen sich in Liebe und 31 Intern Barmherzigkeit realisie- ren und können deshalb so- gar die situative Ungleich- behandlung von Menschen 08 Thema: Gleichheit erfordern.» 09 Oliver Dürr Oliver Dürr Bei Gott gibt es kein Ansehen der Person auf Seite 9 12 Daniela Baumann Das Licht nicht unter den Scheffel stellen 14 Philippe Messerli Von der antiken «Isonomia» zum modernen Sozialstaat 16 Interview mit Franco Majok «Für die Sklavenhalter ist eine Kuh kostbarer Leben mit als ein Sklave» Ungleichheit 18 Interview mit Simea Schwab «Eine psychische Behinderung ist schwieriger «Eine psychische Behinde- als eine körperliche» rung ist viel schwieriger als 20 Harald Seubert eine körperliche, dafür würde Was das Christentum einzigartig macht ich meine Hand ins Feuer le- 21 Matthias Kägi gen, wenn ich eine hätte.» Das Ziel ist, die Gaben sinnvoll einzusetzen Simea Schwab auf Seite 18 22 Dominic Roser Der Blick nach unten Vorschau: 2/20 Freude Das Magazin INSIST erscheint 4x jährlich. Impressum Verlag: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Tel. +41 43 344 72 00, info@each.ch. Co-Redaktionsleitung: Daniela Baumann, Kommunikationsverantwortliche SEA, Tel. +41 43 366 60 82, dbaumann@each.ch; Marc Jost, Generalsekretär SEA, Tel. +41 76 206 57 57, mjost@each.ch. Redaktionsschluss: Nr.2/20: 28.02.20. Redaktionskommis- sion: Daniela Baumann, Rolf Höneisen, Marc Jost, Ruth Maria Michel, Hanspeter Schmutz, Martina Seger-Bertschi. Layout: mj.design, Matthieu Jordi. Druck/Versand: Jordi das Medienhaus, Belp. B estellungen: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Josefstrasse 32, 8005 Zürich, Tel. +41 43 344 72 00, magazin@insist.ch. Preis: Fr. 50.– inkl. Versandkosten für vier Ausgaben (Richtpreis auf Spendenbasis). Inserate: Jordi AG, 3123 Belp, Tel. +41 31 818 01 46, inserate@insist.ch. Insertionsschluss: Nr. 2/20: 23.03.20. Bilder: Seite 1 und 8 © lassedesignen/AdobeStock; Seite 4 zVg; Seite 5 © stockphotosecrets.com; Seite 6 © SOMATUSCANI/AdobeStock; Seite 7 © Swiss Federal Assembly/Wikipedia; Seite 11 © Manuel A. Dürr; Seite 12 © stockphotosecrets.com; Seite 12 und 13 zVg; Seite 14 © Olesia Bilkei/AdobeStock; Seite 16 © Pexels. com; Seite 16 und 17 zVg; Seite 18 und 19 zVg; Seite 20 © stockphotosecrets.com; Seite 21 © Larisa/AdobeStock; Seite 22 © stockphotosecrets.com; Seite 25 © Matthew Field/Wikipedia; Seite 26 © stockphotosecrets.com; Seite 27 © stockphotosecrets.com; Seite 28 © stockphotosecrets.com; Seite 31 zVg/SEA 2 - Magazin INSIST 01 Februar 2020
EDITORIAL Immer dieses VerGLEICHen Es ist eine mir lieb gewordene Tradition, es mir am Sonntag mit meiner Lieblingszeitung auf dem Sofa gemütlich zu machen. Letzthin aber stellte ich diese Angewohnheit ernsthaft infrage. Ich hat- te gleich mehrere Artikel schockierenden Inhalts gelesen. Da ging es um die desolaten Lebens- bedingungen in einem total überbelegten Flüchtlingslager, eine sich abzeichnende humanitäre Katastrophe in einem kriegsversehrten Land und schliesslich die grauenvollen Erlebnisse einer Ho- locaust-Überlebenden. Hoffnungslosigkeit machte sich in mir breit, gepaart mit Schuldgefühlen: Wie kann ich ob all dieser Ungerechtigkeiten in der Welt scheinbar unbeteiligt mein bequemes, si- cheres Leben führen und mich mit – vergleichsweise – lächerlichen Problemen herumschlagen? Müsste ich stattdessen nicht unverzüglich mit den dringend benötigten Medikamenten und Lebens- mitteln im Gepäck nach Lesbos reisen? Ich stelle nicht zum ersten Mal fest, dass es für das eigene Be- finden nicht nur vorteilhaft ist, sich mit anderen zu verglei- chen. Ging ich nicht auch schon nach einem an sich schönen Zusammensein mit Freunden doch irgendwie unzufrieden nach Hause? Wie schnell kommt Neid auf, weil man etwas be- gehrt, was der andere hat – wie schnell fühlt man sich schuldig, weil man unverdient so viel mehr hat als der andere? Doch, und das wird in dieser Ausgabe über «Gleichheit» deutlich: Es ist gut, dass wir Menschen nicht alle gleich sind. Das heisst nicht, dass wir nicht alle gleichwertig sind. Gott spricht dem Men- schen einen intrinsischen Wert zu. Und das wiederum heisst, nicht die Augen zu verschliessen vor denjenigen, die ärmer sind als wir. Längst nicht nur um das Spannungsfeld zwischen Arm und Reich geht es auf den folgenden Seiten. Ebenso spannungsgeladene Themen sind die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wozu sich drei Frauen aus drei verschiedenen Kirchen äussern, sowie das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit. Die- sem nähern wir uns aus philosophischer Perspektive und ganz praktisch mit einem Bericht aus einem Land, in dem heute noch Menschen versklavt werden. Lassen Sie sich inspirieren von den vielen, «un- gleichen» Gedanken der zahlreichen Autoren und Gesprächspartnerinnen dieser Ausgabe! Und ich? Nein, ich ging an besagtem Sonntag nicht nach Lesbos, sondern in die Kirche, und Gott wusste mit einer Predigt über Hiob meine Hoffnungslosigkeit wieder in Hoffnung zu wenden. Doch was ist da- mit schon den Flüchtlingen geholfen, könnte man einwenden. Mir kommt ein Gedicht des mittelalterli- chen Mönchs Bernhard von Clairvaux in den Sinn, hier frei interpretiert: Wenn ich selber leer (hoff- nungslos) bin, habe ich nichts weiterzugeben. Wenn ich mich hingegen immer wieder an der Quelle aller Hoffnung auffüllen lasse wie eine Schale, die irgendwann voll ist und überfliesst, kann ich von die- ser Fülle weiterreichen, ohne selber leer zu werden. Daniela Baumann Kommunikationsverantwortliche SEA & Chefredaktorin INSIST 01 Februar 2020 Magazin INSIST - 3
FORUM/HUMOR Humor Wortlos (KMe) Der Chef weist den neuen Mitarbeiter ein: «Ich bin kein Freund vieler Worte. Wenn ich mit der Hand winke, sind Sie sofort da.» «Kein Problem, Chef, ich hab auch was gegen unnötiges Geschwätz. Wenn ich den Kopf schüttle, komme ich nicht.» Quelle: aus dem Internet Pendenzenlos Drei Wege, damit etwas erledigt wird: 1. Tu es selber. Willkommen 2. Stelle jemanden an, um es zu tun. 3. Verbiete es deinen Kindern. Lilian Studer Quelle: Homiletics (Jan.-Feb./96). Leadership, Vol. 17, no. 3 Sorglos Ich begleitete meinen vierjährigen Sohn Matt (DB) Das neue «INSIST-Jahr» bringt ein paar Veränderungen zu einer Abklärung, ob er sich eignet für den in der Autorenschaft mit sich: Die beiden Kolumnisten aus Kindergarten. Sein Gehör wurde getestet, seine der Politik, Philipp Hadorn und Gerhard Pfister, haben das Sicht, seine Sprache und die motorischen Magazin mit ihrem Blick aus dem Nationalrat bereichert und Fähigkeiten. Die letzte Station war eine geben nun den Stab weiter an die neugewählte EVP-Natio- Information der Kindergärtnerin, wo sie betonte, nalrätin Lilian Studer. Sie hat sich bereits für die vorliegende wie wichtig es sei, vor dem Essen die Hände zu Ausgabe ein erstes Mal ins Zeug gelegt (siehe Seite 7). waschen. «Sonst können Bakterien während Noch offen ist dagegen die Nachfolge von Hanspeter Hu- des Essens von den Händen auf das Essen gentobler als Pädagogik-Kolumnist, der im vergangenen gelangen.» «Oh», meinte Matt und strahlte sie Jahr seine Sicht als Schulpräsident und Bildungspolitiker beruhigend an, «darüber müssen Sie sich keine eingebracht hat. Die Redaktionskommission dankt allen ab- Sorgen machen. Wir benützen zuhause Messer tretenden Kolumnisten herzlich für ihr Engagement und und Gabel.» wünscht ihnen Gottes Segen in all ihren weiteren verantwor- tungsvollen Tätigkeiten. Quelle: Linda Economy, Floodwood, Minnesota. Christian Reader, «Kids of the Kingdom.» stammtisch Simon KrUSI 1/20 JEDER MENSCH UNTERSCHEIDET SICH GENETISCH VON SEINEN MITMENSCHEN! DOCH IN GEWISSEN DINGEN SIND WIR DOCH ALLE GLEICH! JEDER EINZELNE IST EINZIGARTIG, EINMALIG, EIN ORIGINAL! 4 - Magazin INSIST 01 Februar 2020
MEDIZIN Stress: gleich und doch anders Jeder Umgang mit Menschen macht deutlich: Es gibt zwar sehr viele Gemeinsamkeiten, doch ebenso bedeutend sind die individuellen Unterschiede von Personen. Diese zeigen sich im körperlichen wie auch im psychischen Bereich. Beide hängen eng miteinander zusammen, wie dies an der Art der Stressverarbeitung eines jeden Einzelnen erkennbar wird. Menschen stehen mit sich selbst wie auch mit der Umwelt in enger Interakti- on. Innere und äussere Faktoren haben sowohl Einflüsse auf die Psyche wie auch auf den Körper. In beiden Dimen- sionen gelten zwar gleichartige Grund- mechanismen und Grundprinzipien, doch ist gleichzeitig jedes Individuum in seiner Reaktion auf innere oder äus- sere Reize sehr unterschiedlich. Psychisch zeigt sich dies in einzig- artigen Mustern des Fühlens, des Den- kens und des Handelns. Sinneseindrü- cke und Einflüsse der Umwelt werden auf eine spezifische Art und Weise wahrgenommen und verarbeitet. Gleichartige Umwelteinflüsse oder Wird eine Situation als bedrohlich bewertet, wird das Stresssystem im Gehirn aktiviert. Konstellationen können für den einen Menschen belastend sein und Stress Gehirn (Amygdala) aktiviert. Der Kör- men. Andere wiederum schätzen enge bedeuten, ein anderer reagiert kaum per bereitet sich vor auf Kampf (fight), Gemeinschaft und den Austausch mit darauf und auf einen dritten wirken sie Flucht (flight) oder zeigt eine Tot-Stell- anderen. Diese Menschen erleben es positiv stimulierend. Reaktion (freeze). Die Reaktionsmus- als Stress, wenn sie viel alleine sind. Durch Lebenserfahrungen, die ter des Organismus auf Bedrohungen schon in der vorgeburtlichen Phase be- sind für jeden gleichartig. Es werden Lernfähig und veränderbar ginnen, entwickelt jeder Mensch ein- dann physiologische Stresskaskaden Für jede Person ist es sehr wichtig, sich zigartige Muster im Fühlen und ganz im Herz- und Kreislaufsystem akti- seiner Einzigartigkeit bewusst zu wer- individuelle Reaktionsweisen. Diese viert, mit Muskelanspannung und mit den. Dazu helfen beispielsweise Per- entstehen auch unter dem Einfluss erb- Ausschüttung von Adrenalin und Corti- sönlichkeitstests wie der mehrpers- licher Faktoren. Ab den früheren Kind- sol. Wie eine Situation jedoch bewertet pektivische Test «permOt». Individuelle heitsjahren bilden sich dazu Denksche- wird, ist höchst individuell und hängt Persönlichkeitsprofile und Fähigkeiten mata, die im Laufe des Lebens durch vom bisher Erlebten und Erlernten ab. bereichern das Miteinander und sind Lernen ständig ergänzt, erweitert und Moderne Persönlichkeitsmodelle für jede Gemeinschaft lebensnotwen- verändert werden. Hinzu kommen für erlauben es, Menschen anhand stan- dig. Doch können einige persönliche jeden Menschen seine Motivationen, dardisierter Kriterien zu beschreiben. Muster auch störend oder sogar behin- die das Handeln prägen. Diese ganz in- So lassen sich auch typische Stress- dernd sein. In Beratung und Therapie dividuellen Muster sind das Grundge- muster aufzeigen. Beispielsweise ha- werden solche dysfunktionalen Eigen- rüst der einmaligen Persönlichkeit und ben einige Menschen ein grosses schaften und Verhaltensweisen aufge- führen auch zu ganz individuellen Sicherheitsbedürfnis und erleben Unsi- deckt und bearbeitet. Dies ist möglich, Stresserfahrungen. cherheiten oder Unvorhersehbares als weil das Geschöpf Mensch lernfähig Stress. Andere fühlen sich von Plänen, ist und sich verändert, von der Zeugung Unterschiedliche Bewertung Regeln und Ordnungen eingeengt und bis zum Lebensende. – gleichartige Reaktionen suchen lieber Überraschendes, Spass Jeder Sinneseindruck wird vom zent- oder Abenteuer. Auch in Bezug auf Be- ralen Nervensystem auf dem Boden der ziehungen oder zwischenmenschliche Dr. med. Albrecht Seiler ist Chefarzt der angelegten Muster innerhalb von Se- Interaktionen unterscheiden sich Men- Klinik SGM Langenthal, einer christlichen kundenbruchteilen bewertet. Signali- schen. Einige reagieren bei viel Fachklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. siert das Gehirn eine Gefahr, wird das menschlicher Nähe oder zu wenig au- Stresssystem in den Mandelkernen im tonomem Freiraum mit Stresssympto- b info@klinik-sgm.ch 01 Februar 2020 Magazin INSIST - 5
PHILOSOPHIE Gleichheit und Freiheit – zwei ungleiche Geschwister Gleichheit und Freiheit waren zwei Kernlosungen mutmasslich aufgeklärter Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts. Ih- nen verdanken wir das moderne Rechtsverständnis vom bürgerlichen Subjekt. Gleichheit und Freiheit stehen aber auch in einer Spannung, die nur durch ein vermittelndes Drittes zu lösen ist. dem Einkaufszettel das Stichwort ralischen Bewusstseins, der Empathie «Obst» abhaken möchte, kommt um und des Glaubens an die rechtliche den Vergleich von Äpfeln und Birnen Gleichstellung. nicht herum. Dies im Herzen zu kultivieren, ist nicht leicht. Noch schwieriger ist es, Gleichheit begrenzt Freiheit Menschen zu dieser Einsicht zu zwin- Darin lag das revolutionäre Potenzi- gen. Entsprechend haben Ideologien, al der zitierten Unabhängigkeitserklä- welche die Gleichheit der Freiheit vor- rung. Alle Menschen sind «gleich er- zogen, am Ende mit oft blutigster Ge- schaffen» bezieht sich nicht auf die walt die Freiheit mit Füssen getreten. offensichtlichen, äusseren Unterschie- Sie haben auf Uniformität und Gleich- de in Körpergrösse, Geschlecht, Haut- schritt gesetzt, nur um am Ende nicht und Augenfarbe, sondern auf «gewisse, im egalitären Paradies, sondern in der unveräusserliche Rechte», mit denen Willkürherrschaft zu landen, in der es Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten «alle Menschen» ausgestattet sind. weder Freiheit noch rechtliche Gleich- Staaten über Gleichheit und Freiheit. Dennoch wird auch heute in erhitz- heit gab. George Orwells Parabel über ten Debatten oft so getan, als würde es die Revolution der Farmtiere endet fol- Der erste Satz der amerikanischen beim Ringen um die rechtliche Gleich- gerichtig: «Alle Tiere sind gleich, aber Unabhängigkeitserklärung von 1776 stellung gesellschaftlicher Gruppen da- manche sind gleicher.» gibt eindrucksvoll die Bedeutung von rum gehen, alles «gleich machen» zu Gleichheit und Freiheit wieder: «Wir wollen. Wie kommt es zu diesem Miss- Der Höchste und der Nächste halten diese Wahrheiten für ausge- verständnis? Gleichheit und Freiheit dürfen nicht macht, dass alle Menschen gleich er- Freiheit steht immer in dialekti- gegeneinander ausgespielt werden. Die schaffen worden, dass sie von ihrem scher Spannung zur rechtlichen Spannung zwischen beiden ist nicht Schöpfer mit gewissen unveräusserli- Gleichheit. In der Freiheit entfalten zu lösen, sofern nicht ein vermitteln- chen Rechten begabt worden, worunter sich Kreativität, Produktivität, Fantasie des Drittes hinzutritt. Stand in der ame- sind Leben, Freiheit und das Bestreben und Potenzial. Idealerweise sollte die rikanischen Unabhängigkeitserklä- nach Glückseligkeit.» eigene Freiheit aufhören, wo die des rung der Verweis auf den Schöpfer an Freiheit und Gleichheit sind mehr- Nächsten beginnt. Dies ist, wo der erster Stelle, so erweiterte die franzö- deutig. Man kann zum Beispiel frei von Gleichheitsgedanke einsetzt. Durch sische Aufklärung die beiden Begriffe Unterdrückung, Sucht und Schmerzen rechtliche Gleichstellung soll verhin- um die Forderung nach Brüderlichkeit, sein. Dem steht die positive Freiheit ge- dert werden, dass Menschen ihre Frei- moderner vielleicht «Geschwisterlich- genüber: Freiheit, die bevorzugte Partei heit gegen andere missbrauchen, denn keit». Beide Ansätze erinnern daran, zu wählen, sein Leben zu gestalten, sei- sonst nimmt sich der Mächtigere mehr dass die Aufklärung ihre naturrecht- nen Glauben frei auszuüben. Freiheiten heraus zum eigenen Vorteil. liche Begründung von Gleichheit und Auch mit der Gleichheit ist es nicht Dieses Regulativ kann als einschrän- Freiheit aus ihrem religiösen Erbe zog, eindeutig. Damit zwei Dinge qualitativ kend empfunden werden. die Beziehung zum Höchsten und zum gleich sind, müssen sie gleiche Eigen- Im Unterschied zur Freiheit ist Nächsten somit Ursache und Zweck schaften aufweisen – daher die Re- Gleichheit auch nicht unmittelbar fass- von beiden sind. densart, man könne Äpfel und Birnen bar. Ich bin frei, wenn ich eine Wahl nicht vergleichen. Tatsächlich tun wir habe, fühle mich unfrei, wenn ich nicht Alexander Arndt hat Geschichte, Literatur- das aber im Alltag. Wir vergleichen, wo handeln darf, wie ich möchte. Dass und Kulturwissenschaft studiert und arbeitet im Büro der EMK Baden. Zudem einander Ähnliches Unterschiede auf- mein Nächster dasselbe Anrecht auf ist er in der Erwachsenenbildung sowie weist, die es abzuwägen gilt, während Würde, Anerkennung und Freiheit be- als Online-Redaktor für das «Jerusalem Center for Public Affairs» tätig. das ihnen gemeinsame Gleiche den sitzen soll – das erfahre ich meist nicht Vergleich überhaupt anregt. Wer auf unmittelbar. Dazu bedarf es eines mo- b alex.arndt@gmx.net 6 - Magazin INSIST 01 Februar 2020
POLITIK Alle sitzen im gleichen Boot – auch mit ungleichen Meinungen Alle im letzten Herbst neu gewählten Nationalräte und Ständerätinnen haben dieselbe Ausgangslage: Die Abläufe im Par- lament müssen zuerst verstanden, der Umgang mit der vielen Post eingeübt und zur Priorisierung von Themen und Einla- dungen ein gangbarer Weg gefunden werden. Dieser Gedanke hat mir schon einige Zurück zum Parlament. Zu lange bin Male zur Gelassenheit verholfen, wenn ich schon in der Politik und weiss um ich zu Beginn den Durchblick in mei- die grosse Unterschiedlichkeit von Hal- ner neuen Tätigkeit als Nationalrätin tungen und Meinungen. Toll finde ich nicht hatte – und immer noch nicht die Momente, wenn alle «am Tisch» sit- vollständig habe. Umso mehr hat es zenden Personen die diversen Ge- mich gefreut, wenn ich einer Kollegin sichtspunkte berücksichtigen und ge- oder einem Kollegen schon etwas er- meinsam versuchen, eine gute Lösung klären konnte, wo sie oder er im Rats- zu erarbeiten. Immer wieder gibt es betrieb Hilfe benötigte. Umgekehrt aber auch einfach unterschiedliche Lö- ging es ihnen ähnlich, nehme ich an. sungsansätze. Hier braucht es eine Ab- Neben der Erkenntnis, dass wir wägung diverser Kriterien, um sich dasselbe Amt innehaben und ähnliche dann für einen Weg zu entscheiden. Herausforderungen kennen, gab es Schwieriger wird es häufig bei un- aber auch andere Vergleichsmomente. terschiedlichen Welt- und Menschen- Bewusst habe ich darum schon einige bildern sowie Werthaltungen. Dabei Male während meiner ersten Session muss mir stets bewusst sein: Meine über die Vielfalt und Unterschiedlich- Kolleginnen und Kollegen kann ich keit der Gewählten nachgedacht. Jede nicht ändern. Es wäre auch nicht rich- gewählte Person hat einen anderen tig, wenn alle gleich wären, auch wenn Werdegang zum Amt in die nationale man es sich bei diversen Anliegen Politik. Aber auch der persönliche und wahrscheinlich wünschen würde. Ich berufliche Rucksack ist breit und bunt kann aber ein Mitmensch sein. Dies ist gefüllt. Ich persönlich habe deshalb meine Verantwortung. Schliesslich schon einige spannende und lehrrei- leiste ich durch meine Art und Weise, che Gespräche führen dürfen. wie ich politisch mitgestalte, meine Meinung vertrete und hoffentlich über- Tragfähige Lösungen für alle zeuge, wie ich auf meine Kollegen und Nationalratssaal in Bern. Vergleiche wie «wir sind im sel- Kolleginnen zugehe, ihnen zuhöre und ben Boot», aber auch «wir sind unter- Gutes unterstütze, einen wichtigen und kennen, dass wir alle Menschen sind. schiedlich» – also sich «die Gleich- gelingenden Beitrag für tragfähige Lö- Niemand mehr oder weniger Wert hat. heit» und «die Ungleichheit» vor sungen. Und auch: Die Unterschiedlichkeit der Augen zu führen – sind für mich im Begabungen und Lebensumstände zu politischen Alltag wichtig. Dies gilt Wertschätzung gegenüber erkennen. Im politischen Alltag ist mir auch in Bezug auf die politischen Ge- Menschen und Umwelt diese Haltung eine Leitplanke für die schäfte. Die Aufgabe der Politik be- Von einem Medium wurde ich zum Zusammenarbeit, meine Entscheidun- steht darin, Lösungen und Rah- Jahresbeginn gefragt, was ich mir von gen und meine Anliegen, für die ich menbedingungen für die gesamte der Schweiz wünsche. «Wertschätzung mich einsetze. Bevölkerung zu suchen und zu finden geben: der Umwelt/Schöpfung, sich und dabei die Vielfalt der Regionen selbst, den Mitmenschen etc.», dies war und Menschen, unter anderem ihre Fä- meine Antwort. Wertschätzend zu le- Lilian Studer ist Nationalrätin der EVP higkeiten und ihre Lebenssituationen ben, ist mir wichtig, da ich überzeugt des Kantons Aargau und Geschäftsfüh- rerin des Blauen Kreuzes Aargau/Luzern. zu berücksichtigen. Mit anderen Wor- bin, dass dies positive Auswirkungen Zwischen 2002 und 2019 war sie Gross ten: die Bevölkerung – unsere Gesell- auf unsere Lebensqualität hat – sei dies rätin des Kantons Aargau, zwischen 2005 und 2009 Präsidentin der Jungen EVP. schaft – «gleich» zu setzen und trotz- für mich persönlich wie für die Gesell- dem die «Ungleichheit» zu beachten. schaft. Wertschätzung heisst, anzuer- b lilian.studer@parl.ch 01 Februar 2020 Magazin INSIST - 7
THEMA ZUR THEOLOGIE DER GLEICHHEIT Bei Gott gibt es kein Ansehen der Person Im christlichen Glauben geht es weniger um Gleichheit der Menschen als um Gerechtigkeit und Einheit in der Bezie- hung mit Gott und den Mitmenschen. Damit ist das christliche Verständnis von Gleichheit mit den Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit vereinbar, es steht aber in einer gewissen Spannung sowohl zur antiken Welt, in der es entdeckt wur- de, als auch zur gegenwärtigen, die es radikal infrage stellt. Wer in unserer spätmodernen Gegenwartskultur über stets unterschiedlichen Konfigurationen prägte eine solche Gleichheit redet, tut dies unweigerlich in einem Kontext, der gestuft organisierte Ordnung das menschliche Zusammenle- von der rechtlichen Sphäre geprägt ist. Gleichheit bedeutet ben bis in die Neuzeit hinein – sie wurde damals als irdische hier vor allem: Gleichberechtigung aller Menschen.1 Dieses Entsprechung zur wesensmässigen Hierarchie in den himm- Anliegen erhält seine Virulenz je neu im Angesicht von Men- lischen Sphären verstanden. schenrechtsverletzungen und Diskriminierungen, von de- nen die Zeitungen täglich berichten. Im Hintergrund stehen Gerechtigkeit unter veränderten Vorzeichen fundamentale Fragen nach Gerechtigkeit und den Mitteln ih- Wenn also heute etwas zur Theologie der Gleichheit gesagt rer Verwirklichung. Die Idee der Gleichberechtigung findet werden soll, dann muss erstens dieser Kontext mitbedacht ihren für die moderne Welt wohl bedeutendsten Ausdruck in werden und zweitens fällt dann der Rückgriff auf die Quel- der Erklärung der Menschen- und len des christlichen Glaubens eher Bürgerrechte vom 26. August 1789. Eine gestufte Ordnung des mager aus – und zwar weil es sich Bereits im ersten Artikel steht dort hier um ein zutiefst modernes An- der programmatische Satz: «Von menschlichen liegen handelt. Unsere Vorfah- ihrer Geburt an sind und bleiben Zusammenlebens wurde als ren waren mit dem egalitären An- die Menschen frei und an Rechten liegen in Bezug auf alle Menschen einander gleich.»2 Diese neue For- irdische Entsprechung zur kaum beschäftigt bzw. unter ganz derung wendet sich zunächst ein- Hierarchie in den himmlischen anderen Vorzeichen. Dabei muss mal gegen die alte Ständeordnung Sphären verstanden. aber betont werden: Ihre Welt un- mit ihren als ungerecht empfun- terscheidet sich von der gegen- denen Privilegien für Klerus und Adel im Gegensatz zum be- wärtigen nicht dadurch, dass Gerechtigkeit für sie kein Anlie- nachteiligten dritten Stand. Das Ancien Régime war hierar- gen gewesen wäre. Von der Sehnsucht danach ist ja die Bibel chisch und asymmetrisch verfasst gewesen. Wenn auch in durchzogen. Der Unterschied bezieht sich eher auf den Ge- halt von Gerechtigkeit, die Mittel ihrer Verwirklichung und die 1 vgl. Art. 8 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. Menschengruppe, der sie zugutekommt. Diese Differenz zeigt April 1999 SR. 101 (BV) 2 Kuhn, Axel: Die Französische Revolution, Stuttgart, 2012, Reclam Verlag, S. 124 sich beispielsweise in der antiken Deutung der Vorstellung, 01 Februar 2020 Magazin INSIST - 9
THEMA dass Gleichheit – verstanden als rechtlicher Imperativ zur Rechnen mit dem Unverfügbaren Gleichbehandlung – meistens nicht zu Gerechtigkeit führen Dieser antiessentialistische9 Impuls, so berechtigt er in vie- kann, weil nicht alle in jeder relevanten Hinsicht gleich sind. lerlei Hinsicht auch sein mag, untergräbt dabei aber mit dem Anliegen, alle Wirklichkeit verfügbar zu machen, eine zent- Fairness bedeutet nicht immer rale Intuition moderner Rechtsstaatlichkeit: nämlich dass Gleichbehandlung es Institutionen gibt, die der Mensch nicht fabrizieren und Dieser Gedanke wurde schon bei Aristoteles grundgelegt, der Staat nicht selber setzen, sondern nur anerkennen kann wenn er in der Nikomachischen Ethik schreibt, dass sich und daher achten und schützen muss. Ein gutes Beispiel da- Streitigkeiten und Anklagen erst ergeben, «wenn Gleiche un- für ist die Menschenwürde10, wie sie in der Allgemeinen Er- gleiche Anteile oder Ungleiche gleiche Anteile haben und klärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 zugeteilt bekommen»3. Deshalb ist im antiken Denken poli- (im Anschluss an diejenige von 1789) festgehalten wurde: tische Gerechtigkeit nicht als uniforme, sondern als propor- «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten tionale Gleichheit zu verstehen: Gerechtigkeit heisst, dass je- geboren.»11 Mit der Menschenwürde sind dabei Bedeutung der Mensch das verhältnismässig ihm Angemessene erhält und Wert jedes einzelnen menschlichen Wesens bezeich- und entsprechend behandelt wird.4 Demgemäss wird noch net.12 Dieser Wert ist im Sinne der naturrechtlichen Reflexi- heute in der Schweiz der Gleich- on unverlierbar und nicht an die heitssatz («Alle Menschen sind Im antiken Denken heisst Ausübung bestimmter Fähigkeiten vor dem Gesetz gleich»5) dahin- Gerechtigkeit, dass jeder oder an den Besitz gewisser Merk- gehend angewandt, dass gilt: male gebunden. Vielmehr gründet «Rechtsetzende Behörden müs- Mensch das verhältnismässig er sich in dem, was alle Menschen sen Gleiches nach Massgabe sei- ihm Angemessene erhält und jenseits individueller Perspektiven ner Gleichheit gleich und Un- entsprechend behandelt wird. und Handlungen verbindet. Die hier gleiches nach Massgabe seiner nicht gesetzte, sondern eben vor- Ungleichheit ungleich behandeln.»6 So kann im Sinne des ausgesetzte Würde aller Menschen ergibt sich weder aus der Schweizer Gesetzes eine Ungleichbehandlung gerechtfer- antiken Philosophie allein noch aus einem spätmodernen tigt sein (das Gesetz sieht z.B. entsprechende «Massnahmen Antiessentialismus. Begründet werden kann sie aber nicht zur Beseitigung der Benachteiligungen von Behinderten»7 zuletzt aus den Quellen des christlichen Glaubens. vor) und umgekehrt kann sogar eine «Diskriminierung durch Gleichbehandlung» rechtlich eingeklagt werden.8 Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit Nicholas Wolterstorff argumentiert für die Wirklichkeit von Der grosse Umbruch: Weltbilder im natürlichen Rechten, die im intrinsischen Wert der Dinge Widerstreit und der Menschen begründet sind und ihnen gegenüber ein Was sich aber verändert hat zwischen der politischen Visi- bestimmtes Verhalten fordern.13 Er sieht eine solche Pers- on des Aristoteles und unserer Verfassung, ist – grob ver- pektive auf den Menschen bereits in den biblischen Schrif- kürzt – die Auflösung des Glaubens an eine kosmisch-hier- ten grundgelegt, und zwar insofern diese nicht nur über archische Ordnung zugunsten einer horizontal eingeebneten Gottes Selbstverpflichtung zur Gerechtigkeit reden, son- Vorstellung von der Wirklichkeit. In der Welt des Aristote- dern auch darüber, dass der sich hier offenbarende Gott les wurde noch deutlich und wertend unterschieden zwi- auch den Menschen zur Rechenschaft zieht und in die Ver- schen dem qualifizierten Leben der (männlichen) Bürger und antwortung nimmt, ebenfalls gerecht zu leben.14 Das alttes- demjenigen von Frauen, Kindern und Tieren (siehe auch his- tamentliche Gebot der Nächstenliebe15, wie es von Jesus im torischer Beitrag auf Seite 14). Dagegen denken heute viele, Markus-Evangelium aufgegriffen und als Doppelgebot der dass grundsätzlich alle Menschen gleich und sämtliche Un- Gottes- und Nächstenliebe erläutert wurde16, konkretisiert terschiede zwischen ihnen nachträglich kulturell und sozial diese biblische Aufforderung zur Gerechtigkeit. konstruiert seien. In dieser Perspektive kann eine Ungleich- Das Neue Testament spricht darüber hinaus dem Men- behandlung zweier Individuen letztlich nicht gerechtfertigt schen explizit einen intrinsischen Wert zu. Jesus ermutigt werden und muss als gewaltförmig erscheinen. Wenn aber – seine Jüngerinnen und Jünger in den Evangelien mehrmals, so wird dann argumentiert – Gleichheit hergestellt werden könnte in Bezug auf Status, Chancen und die Prozesse der 9 Mit «Antiessentialismus» wird hier die Überzeugung bezeichnet, dass es in der Selbstbestimmung, dann würde sich im Ergebnis auch Ge- Wirklichkeit letztlich keine Essenzen oder Wesenheiten gibt, dass jeder Anspruch, sie zu kennen, mit Machtansprüchen verbunden und missbräuchlich ist und dass alle rechtigkeit einstellen. Wirklichkeit vom Menschen konstruiert ist. 10 vgl. Art. 7 BV 11 Vereinte Nationen, A/RES/217 A (III), Art. 1, https://www.un.org/depts/german/ 3 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Reinbek, 2017, Rowohlt Verlag, V,1131a, S. 167 menschenrechte/aemr.pdf (3.1.2020) 4 vgl. ebd, V,1128b-1136a und V,1137a-1138a 12 vgl. Kilner, John: Human Dignity. In: Encyclopedia of Bioethics. Third Edition, Vol. 2, 5 Art. 8 Abs. 1 BV New York, Macmillan Reference USA, S. 1193 6 Bemerkungen zu Art. 8 BV, https://bv-art.ch/8 (3.1.2020) 13 vgl. Wolterstorff, Nicholas: Justice. Rights and Wrongs, Princeton, New Jersey, 2008, 7 Art. 8 Abs. 4 BV Princeton University Press, S. 385-393 8 vgl. Waldmann, Bernhard/Belser, Eva Maria/Epiney, Astrid (Hrsg.): Schweizerische 14 vgl. ebd, S. 129 (vgl. dazu exemplarisch Mi 6,8) Bundesverfassung (BV). Basler Kommentar, Basel, 2015, Helbing & Lichtenhahn 15 vgl. 3 Mose 19,18 Verlag, Art. 8, 64, S. 198 16 vgl. Mk 12,29-31 (vgl. dazu auch die Goldene Regel in Mt 7,12) 10 - Magazin INSIST 01 Februar 2020
THEMA sich keine Sorgen um das eigene Leben zu machen, und be- gründet dies folgendermassen: «Achtet auf die Raben: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie haben weder Vorratskammer noch Scheune: Gott ernährt sie. Ihr seid doch viel mehr wert als die Vögel!»17 Wenn sich Gott um die Tiere und Pflanzen kümmert, wie viel mehr dann um den Menschen, den er in seinem Ebenbild geschaffen hat.18 Wolterstorff argumentiert nun, dass der Mensch durch sein Menschsein allein schon bedeutsam ist und dass aus diesem Wert begründet werden kann, wie er behandelt werden soll.19 Dieses göttliche Bild des Menschen, das heute im Begriff der Menschenwürde hervorgehoben wird, ist nach Henri de Lubac «eben nicht in diesem so und in jenem anders beschaffen: es ist in allen das gleiche»20. Daraus ergibt sich im Sinne der christlichen Tra- dition nicht zwingend die Gleichheit aller Menschen, wohl aber deren Gleichwertigkeit.21 Fürsorge als Ausdruck von All-Einheit und Gerechtigkeit Paulus macht genau diese Gleichwertigkeit der Menschen im Lichte ihrer faktischen Ungleichheit stark: Im 1. Korin- therbrief zeichnet er am Beispiel des einen Leibes Chris- ti das Bild einer All-Einheit, die gerade in ihrer Vielfalt und der Fülle ihrer Diversität das Abbild Gottes verwirklicht.22 Diese All-Einheit zielt nicht auf Gleichschaltung ab, son- dern vielmehr auf eine organische Einheit, welche die Ei- gentümlichkeit ihrer vielen Teile wahrt und schützt. Zur Würdigung dieser Eigenarten gehört deshalb – so Paulus – auch die besondere Achtung und Ehrerbietung gegenüber Das Bild «Fortuna» ist von Manuel A. Dürr. Dazu gehört der Spruch aus Brechts denjenigen Gliedern, die schwach, benachteiligt oder unan- Dreigroschenoper: «Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.» sehnlich sind.23 www.manuelandreas.com Menschsein im Ebenbild des glanz dieses göttlichen Lebens sein, das die Vielfalt in lie- dreieinen Gottes bender Einheit zusammenhalten kann. Die theologische Reflexion der darauffolgenden Jahrhun- Zusammenfassend kann also noch einmal gesagt wer- derte bestätigte diesen frühchristlichen Impuls im Glauben den: Der Theologie geht es in gewissem Sinne weniger um an den dreieinen und dreifaltigen Gott, wie er in den christ- Gleichheit als um Einheit und Gerechtigkeit. Diese müssen lichen Glaubensbekenntnissen sich in Liebe und Barmherzigkeit überliefert wird. Christen glauben Die Menschenwürde ist realisieren und können deshalb an einen Gott in drei Personen: Va- unverlierbar und nicht an die sogar die situative Ungleichbe- ter, Sohn und Heiliger Geist. Fas- handlung bzw. Bevorzugung ge- zinierenderweise ist gerade deren Ausübung bestimmter wisser Menschen erfordern. Es personale Unterschiedenheit ge- Fähigkeiten oder an den Besitz sind nicht alle Menschen einfach nauso Teil des Glaubensbekennt- gewisser Merkmale gebunden. gleich, aber in ihrer Würde als nisses wie ihre wesensmässige Ebenbilder Gottes sind alle gleich- Gleichheit. Alle Differenz ist geeint in Gottes interpersona- wertig und entsprechend sollen sie behandelt werden, denn: ler Liebe: Jede der drei Personen vollzieht gerade in ihrer Ei- Nur in dieser in Liebe geeinten Vielfalt wird der unsichtbare gentümlichkeit diese Liebe von den jeweils anderen her und Gott sichtbar. auf sie hin in einer ewigen göttlichen Gemeinschaft. Das menschliche Leben in Gemeinschaft soll letztlich ein Ab- Oliver Dürr, geboren 1993, verheiratet, hat Theologie und Geschichte studiert und ist Diplomassistent am Lehrstuhl 17 Lk 12,24 (vgl. auch Mt 6,25-34; Mt 10,31; Mt 12,11 f.) für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der 18 vgl. 1 Mose 1,27 Universität Fribourg. Er ist Mitarbeiter des 19 vgl. Wolterstorff, S. 130 f. 20 De Lubac, Henri: Glauben aus der Liebe, Einsiedeln, 1992, Johannes Verlag, S. 26 Studienzentrums für Glaube und Gesellschaft und Teil der 21 Genauso wird übrigens auch der Art. 8 BV gedeutet (vgl. Waldmann/Belser/Epiney, Gemeindeleitung der «Landeskirchlichen Gemeinschaft Basler Kommentar, S. 213) jahu» in Biel. 22 1 Kor 12,12-31 (vgl. auch Kol 1,15-22) 23 vgl. 1 Kor 12,22-25 b oliver.duerr@unifr.ch 01 Februar 2020 Magazin INSIST - 11
THEMA FRAUEN IN DER KIRCHE Das Licht nicht unter den Scheffel stellen Aufgezeichnet von Daniela Baumann | Es ist unverkennbar – nicht erst seit dem grossen Frauenstreiktag im letzten Sommer: Die Gleichstellung und -berechtigung der Geschlechter bewegt die Gesellschaft auch noch im 21. Jahrhundert. Wie es um diese Frage in den Kirchen steht, lässt sich nicht pauschal sagen. Drei Frauen in verantwortungsvollen Positionen in der römisch-katholischen Kirche, der reformierten Kirche und in einer Freikirche geben einen persönlichen Einblick. Yvonne Szedlàk-Michel: Für mich war bis vor ein paar Jah- ihren Einstellungen und Haltungen geprägt. Und diese las- ren klar, dass Frauen und Männer in unserer Gesellschaft sen sich nicht von oben vorschreiben und von heute auf mor- grundsätzlich gleichgestellt sind und dass es die Genera- gen verändern. Ich wünsche mir eine Veränderung in dem tionen vor mir waren, die diesen Kampf ausgefochten hat- Sinn, dass grundsätzlich jeder Mensch – jede Pfarrerin, jeder ten. Erst mit dem Einstieg in den Pfarrberuf wurde die Ge- Pfarrer – so genommen wird, wie er ist. Wir sind als Frau und schlechtergleichstellung für mich zum Thema; ich merkte, Mann in der Gottesebenbildlichkeit neben- und füreinander dass es doch noch mehr zu tun gibt als gedacht. Trotz der ge- geschaffen. Vor diesem theologischen Hintergrund sollte die nau gleichen Ausbildung wie meine männlichen Kollegen Kirche aktiv auf eine Veränderung hinwirken, aber ohne dem war und bin ich im Pfarramts-Alltag teilweise mit Erwartun- Feminismus zu verfallen. Denn der Sache ist auch nicht ge- gen konfrontiert, die mich befremden. So zum Beispiel, wenn dient, wenn Jesus zur Frau erklärt wird. Es geht darum, automatisch davon ausgegangen wird, dass ich als Pfarre- Gleichwertigkeit zu leben. rin auch einen Zopf zum Kirchenkaffee mitbringe – was von einem Pfarrer nie erwartet würde. Ich nehme auch gewisse Vorurteile wahr, wenn es als untypisch erachtet wird, dass ich als Frau die Leitung übernehmen möchte. Ich denke, dies hängt mit Klischees und Frauenbildern zusammen, die auch – aber längst nicht nur – in der Kirche stark präsent und ext- rem schwierig «auszurotten» sind. Ich habe inzwischen gelernt, spielerisch und fast schon lustvoll mit diesen klischeehaften Rollen umzugehen. So bringe ich auch mal einen Zopf mit, von mir oder von mei- nem Mann gebacken. Damit kann ich manchmal ein Augen- Yvonne Szedlàk-Michel ist Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde Ittigen (BE). Ihre öffner sein: Menschen realisieren plötzlich, dass ihre Erwar- Botschaft an die Frauen in der Kirche: Das Frau- tungen wenig reflektiert sind. Sein ist nicht das einzige, was uns definiert. Wir Es ist nicht so, dass in der reformierten Kirche insgesamt dürfen unsere Gaben als Frauen leben, aber wir sind immer mehr als «nur» Frauen. Lasst uns Frauen nicht gleichberechtigt wären. Doch die lokalen Aus- entspannt mit dem Frau-Sein umgehen. prägungen von Kirche werden von den Menschen vor Ort mit 12 - Magazin INSIST 01 Februar 2020
Milena Šelemba: Als ich vor gut 20 Jahren das Theologiestu- dium auf Chrischona begann, war der Pastorenberuf in den Chrischona-Gemeinden für Frauen noch nicht zugänglich. Milena Šelemba ist Pastorin der Chrischona Beringen (SH). Ihre Botschaft an die Frauen in der In dieser Situation setzte ich mich erstmals mit der Gleich- Kirche: Lasst uns gemäss unseren Gaben und stellung der Geschlechter auseinander und auch in der Chri- Persönlichkeiten vermehrt unseren Platz einnehmen, und dies auf eine gewinnende Art und schona kam die Frage damals erst so richtig auf. Im Verlauf Weise. Stellen wir unser Licht nicht unter den dieses Prozesses wuchs in mir die Überzeugung, dass mein Scheffel. Weg auch biblisch-theologisch richtig ist und ich die pas- senden Gaben für den Pastorenberuf habe. Das biblische Ge- meindeverständnis ist nicht geprägt von einem hauptamtli- dass ich mich als Frau klassischerweise in der Kinder- und chen Leiter, sondern von einem Team, das die Verantwortung Frauenarbeit engagiere, nicht aber als Pastorin. den individuellen Gaben entsprechend gemeinsam wahr- Beim Antritt meiner neuen Stelle als leitende Pastorin vor nimmt und in dem auch Frauen ihren Platz haben. Doch ich wenigen Monaten war es indes überhaupt kein Thema mehr. wollte meinen Weg nicht auf Biegen und Brechen erkämp- Ich bin in meiner Leitungsfunktion eines Teams von drei fen. Ich hätte ihn auch nicht eingeschlagen, wenn neben Kri- Männern und zwei Frauen voll und ganz akzeptiert. Ich weiss tikern nicht auch viele Menschen mir den Rücken gestärkt von anderen Frauen in ähnlichen Positionen, die immer wie- hätten und mir begleitend zur Seite gestanden wären. Ich der schwierige Erfahrungen aufgrund ihres Geschlechts ge- denke, es waren damals im Chrischona-Gemeindeverband macht haben. Ich selber habe das Glück, in einer flexiblen Ge- zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Personen bereit, für meinde tätig zu sein, die mir auch als Mutter dreier kleiner diese Sache zu kämpfen. So ging die Türe auf und ich wurde Kinder und mit meinem Teilzeitpensum viele Möglichkeiten die erste Pastorin. bietet. Überhaupt rücken in unserem Verband, aber auch in In meiner ersten Gemeinde spürte ich aber schon noch den lokalen Gemeinden das Miteinander und die gegenseitige Widerstand, auch von vielen Frauen. Sie waren teilweise im Ergänzung immer stärker in den Fokus – statt die Unter- Dilemma, dass sie mich persönlich zwar bejahten, aber ihre schiedlichkeit als Gefahr zu sehen. Ich wünsche mir, dass wir innere Einstellung mein Amt grundsätzlich nicht zuliess. in der Kirche bereit sind, einander mit unseren unterschiedli- Auch nach Jahren blieb in einzelnen Köpfen die Erwartung, chen Persönlichkeiten und Gaben richtig einzusetzen. Veronika Jehle: Als Jugendliche habe ich mir das Verhält- Die aktuelle Situation ist für mich alles andere als befrie- nis von Frau und Mann so vorgestellt, dass es verschiedene digend: Es wäre zentral, dass ich Sakramente spenden könn- Aufgaben und Gaben gibt, die vielleicht auch entsprechend te. Für die meisten Menschen, die ich begleite, wäre das total der Geschlechter verteilt sind. Inzwischen sind für mich die naheliegend. Deshalb erhebe ich meine Stimme, starte öf- Grenzen fliessender und mein Empfinden für Ungerechtig- fentliche Aktionen und vernetze mich mit Gleichgesinnten. keit grösser geworden. Die unterschiedlichen Begabungen, Das gibt mir eine gewisse Selbstbestimmung in meiner – mit denen wir Menschen uns ergänzen, sind meines Erach- rein institutionell gesehen – machtlosen Stellung. tens nicht primär geschlechtsabhängig. Schockiert bin ich über die unzähligen Missbräuche. Es Die Rolle der Frau ist eines der grossen Themen, welche ekelt mich, dass viele Verantwortliche in Bistümern und in die katholische Kirche herausfordern. Ich lebe persönlich in der Kurie diese so lange vertuscht haben. Heute ist klar, dass einer «verrückten» Spannung: Einerseits fühlte ich mich in es so nicht weitergehen kann. Inwiefern dadurch auch meiner täglichen Arbeit bis heute nicht diskriminiert, son- Schritte zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern dern willkommen, wertgeschätzt und auch gefördert. Ich fin- gegangen werden, ist meines Erachtens mehr als unsicher. de meine Arbeit in der Spitalseelsorge unglaublich schön, Im Grunde geht es nicht um einzelne, isolierte Probleme, habe viele Freiheiten und werde als junge Frau immer wieder sondern um eine Veränderung der Haltung, wie wir unsere ermutigt, meinen Weg weiterzugehen. Zudem arbeiten wir Kirche leben wollen. unter Priestern, Diakonen und Theologinnen gleichberech- tigt zusammen. Sobald es aber darum geht, was mir als Frau in der katholischen Kirche verwehrt ist, wird das Problem stets an die jeweils nächsthöhere Instanz delegiert. Und dort, auf der institutionellen Ebene, verschwimmen die Gegen- über. Ich habe noch niemanden getroffen, der Verantwortung Veronika Jehle ist katholische Theologin und als übernehmen wollte und Entscheidungen getroffen hätte. Spitalseelsorgerin, Redaktorin und Sprecherin Etwa, dass für die Verkündigung des Evangeliums nicht das beim «Wort zum Sonntag» tätig. Ihre Botschaft an die Frauen in der Kirche: Ergreift das Wort – nicht Geschlecht oder die sexuelle Orientierung, sondern Berufung in einem revolutionären Sinn, sondern aus einer und Ausbildung massgebend sind. Ich bin nicht die erste, die seelsorgerlichen Haltung heraus: Wir können das fordert. Schon frühere Bewegungen, die sich für Verän- lebendig und gesund Kirche leben, wenn wir uns gegenseitig gleichberechtigt anerkennen und derung stark machten, wurden – teilweise auch bewusst – mitmenschlich miteinander umgehen. ins Leere laufen gelassen. 01 Februar 2020 Magazin INSIST - 13
THEMA GLEICHHEIT IN DER GESCHICHTE Von der antiken «Isonomia» zum modernen Sozialstaat Gleichheit gehört neben Menschenwürde und Freiheit zu den zentralen Werten demokratischer Gesellschaften. Doch was bedeutet Gleichheit genau, woher kommt die Gleichheitsidee und wie hat sich diese historisch entwickelt? Gleichheit bezeichnet erstens einen Zustand der Überein- Christentum ging dagegen viel weiter, ja war geradezu revo- stimmung in vielen Merkmalen, also so viel wie grosse Ähn- lutionär. Im Brief an die Galater schreibt der Apostel Paulus: lichkeit, und zweitens die gleiche Stellung von Personen «Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch und Gruppen vor dem Gesetz, das heisst auch deren gleichen Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt Rechte.1 Dahinter stehen die Prinzipien der Gerechtigkeit einer in Christus Jesus.»4 Dieser Glaube an die Gleichheit der und der Gleichbehandlung (Willkürverbot).2 In der westli- Seelen vor Gott ging von der fundamentalen Gleichheit aller chen Definition wird Gleichheit zudem im Sinn von Gleich- Menschen aus. Der Politikwissenschafter Larry Siedentop wertigkeit und gleicher Würde der Menschen verwendet, die sieht darin sogar die Geburtsstunde der modernen liberalen unabhängig von klar bestimmten Merkmalen und Unter- Gesellschaft: Nach einem langen Ringen sei das christliche schieden wie Herkunft, Rasse, Geschlecht, Alter, Sprache, so- Gleichheitsideal von der Naturrechtslehre und der Aufklä- ziale Stellung, Lebensform, Überzeugung oder Behinderung rung aufgenommen und danach in eine rechtliche und poli- gilt (Diskriminierungsverbot).3 tische Form gebracht worden, so dass sie für den Einzelnen wirksam geworden sei.5 Revolutionäres christliches Gleichheitsideal Die frühchristliche Gleichheitsidee wurde im Mittelalter Historisch lässt sich die Gleichheitsidee bis in die Antike zu- zwar wieder in den Hintergrund gedrängt, blieb aber als Vor- rückverfolgen. In Griechenland bezeichnete «Isonomia» die stellung stets präsent. Ihren Ausdruck fand sie beispielswei- politische Gleichheit aller Vollbürger einer griechischen Po- se in den Darstellungen des Jüngsten Gerichts in der bilden- lis, wobei die grosse Mehrheit der Bevölkerung (Sklaven, den Kunst: Niemand – gleich welchen Standes – konnte dem Frauen und Bürger ohne Bürgerstatus) von der Mitbestim- Tod und dem Gericht Gottes entrinnen. Diese Gleichheit be- mung ausgeschlossen blieb. Die Gleichheitsidee im frühen zog sich jedoch nur auf den Glauben und nicht auf die feuda- le Gesellschaft, die im Mittelalter ständisch-hierarchisch ge- 1 vgl. Fraas, Claudia: Karrieren geschichtlicher Grundbegriffe – Freiheit, Gleichheit, gliedert war. Gleich war man nur innerhalb seines Standes. Brüderlichkeit, In: Loster-Schneider, Gudrun (Hrsg.), Revolution 1848/49. Ereignis – Rekonstruktion – Diskurs, St. Ingbert, 1999, Röhrig, S. 14 2 vgl. Dann, Otto: Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, Berlin(-West), 1980, Duncker und Humblot, S. 20 4 Gal 3,28 3 vgl. Art. 8 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. 5 vgl. Siedentop, Larry: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die April 1999 westliche Welt, Stuttgart, 2015, Klett-Cotta 14 - Magazin INSIST 01 Februar 2020
THEMA Gleichberechtigung in der Kirche einige kantonale Verfassungen nach der liberalen Revoluti- Einen wichtigen Impuls zur Gleichheitsidee gab der Refor- on von 1830 das Wahlrecht an ein bestimmtes Vermögen, an mator Martin Luther. Ihm zufolge liessen sich Unterschei- Bildung, Beruf, Konfession oder den Wohnort. Dank einer dungen und Vorrechte Einzelner innerhalb der Kirche nicht starken demokratischen Bewegung im 19. Jahrhundert, die begründen. Denn vor Gott seien alle in gleicher Weise sün- Gleichheit in der politischen Partizipation einforderte, setzte dig und gerechtfertigt. Die christliche Gemeinde sollte des- sich das gleiche und allgemeine Wahlrecht nach und nach halb nach dem Prinzip der brüderlichen Gleichberechtigung durch. leben. Luthers Idee des Priestertums aller Gläubigen fand breiten Anklang und trug zur Auflösung der ständisch-hier- Soziale und ökonomische Ungleichheiten archisch strukturierten mittelalterlichen Kirche bei. Jedoch Je weiter eine rechtliche und politische Gleichstellung in wandte sich Luther gegen eine Anwendung der reformatori- Verfassung und Gesetzgebung verwirklicht wurde, desto schen Gleichheitsthese auf die sozialen Zustände, wie sie im mehr rückten mit der Ausbreitung des kapitalistischen Wirt- Bauernkrieg von 1525 von den aufständischen Bauern rekla- schaftssystems im Zuge der industriellen Revolution auch miert wurde. Er unterschied zwischen einer inneren, auf den die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten ins politi- Glauben gerichteten Gleichheit aller Christen vor Gott und sche Bewusstsein. Der französische Philosoph Jean-Jacques einer notwendigen äusseren Ungleichheit der Menschen in Rousseau führte die vorherrschenden Missstände in der Ge- der Welt (Zwei-Reiche-Lehre). sellschaft auf die soziale Ungleichheit zurück. Für ihn setz- te Freiheit eine umfassende Gleichheit und die Orientierung Bürgerliche Reformbewegungen am Gemeinwohl voraus. Die ständisch geprägten Ungleichheiten wurden erst durch Forderungen nach sozialer Gleichheit und ökonomischer die Emanzipationsbestrebungen des neuzeitlichen Bürger- Gerechtigkeit wurden von einer zunehmend einflussreiche- tums endgültig überwunden. Das mit der Entwicklung von ren Arbeiterbewegung erhoben, wobei die Spannweite von Gewerbe und Handel erfolgreiche städtische Bürgertum so- der Zähmung des kapitalistischen Systems mittels Umver- wie die aufstrebende bürgerliche Verwaltungselite in den teilung (liberale Sozialdemokratie) bis hin zu dessen voll- sich neu formierenden Territorialstaa- ständiger Überwindung durch eine ten forderten immer stärker rechtli- Die Gleichheitsidee im klassenlose Gesellschaft (kommunisti- che Gleichheit und gleiche Freiheit ge- scher Sozialismus) reichte.8 Die soziale genüber dem herrschenden Adel ein. frühen Christentum war Frage beherrschte das politische Ge- Nicht mehr Geburt und Stand sollten geradezu revolutionär. schehen bis weit ins 20. Jahrhundert von Bedeutung sein, sondern Tugend hinein. In den westeuropäischen Staa- und Leistung. Gemäss dem Sozialhistoriker Otto Dann wur- ten versuchte man der sozialen Ungleichheit mit der Schaf- de Gleichheit zu einem der führenden Leit- und Kampfbegrif- fung des Sozialstaates zu begegnen. Der Fokus lag dabei pri- fe der neuzeitlichen Geschichte.6 Das geistige Fundament für mär auf der Chancengleichheit und nicht wie in den die Forderung nach Gleichheit lieferten die modernen Natur- sozialistischen Staaten auf der Ergebnisgleichheit. rechtstheorien und die Aufklärung, wobei ihnen wie bereits Neu auf die Gleichheitsagenda kamen im Verlauf der Zeit ausgeführt der Verdienst zukam, die frühchristliche Gleich- weitere Themenbereiche wie Geschlecht, Behinderung, se- heitsidee in einen allgemeingültigen Sozialstatus umgewan- xuelle Orientierung und Alter. Aus historischer Sicht ist ein delt zu haben. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung Trend hin zu einer immer umfassenderen sozialen Gleich- von 1776 begründete die Gleichheit sogar explizit aus dem bi- stellung feststellbar. Ob sich diese Entwicklung auch in Zu- blischen Schöpfungsglauben.7 kunft fortsetzt, bleibt jedoch offen. Die Geschichte zeigt, dass In zahlreichen Ländern kam es zu erfolgreichen bürgerli- sich soziale Gleichberechtigung jeweils nur durch eine kon- chen Revolutionen oder Reformen. Verfassungen garantier- krete gesellschaftliche Auseinandersetzung durchsetzen ten Rechtsgleichheit und grundlegende Freiheiten und be- lässt.9 grenzten die staatliche Macht durch Gewaltenteilung. Von der Teilhabe an der politischen Macht profitierte vorerst nur Philippe Messerli hat an der Universität Bern Geschichte und Politikwissenschaften studiert. Er ist Co- das liberale Besitz- und Bildungsbürgertum, das sich in sei- Geschäftsführer der EVP Kanton Bern und Gemeinderat ner Stellung bedroht fühlte und deshalb das Kleinbürgertum (Exekutive) in Nidau. Er politisierte während acht Jahren im Grossen Rat des Kantons Bern. und die wachsende Arbeiterschaft von der politischen Parti- zipation ausschloss. So banden zum Beispiel in der Schweiz b philippe.messerli@evp-be.ch 6 vgl. Dann, S. 85 8 vgl. Koller, Peter: Die Idee sozialer Gleichheit, In: Österreichische Zeitschrift für 7 «Alle Menschen sind gleich geschaffen» und «der Schöpfer hat ihnen bestimmte Soziologie, Vol. 37, 2012, S. 89 f. unveräusserliche Rechte verliehen»; vgl. auch 1 Mose 1,26-28 9 vgl. Dann, S. 9 01 Februar 2020 Magazin INSIST - 15
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