Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
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September 2020 #03 Inspiriert denken – glauben – handeln ISSN-Nr. 1662-4661 / Schweizerische Evangelische Allianz SEA Meinungsfreiheit Philosophie Recht Theater Mündigkeit wächst an Nur Mut zur freien Der Luxus der Widersprüchen Meinungsäusserung! Meinungs-«Freiheit»
INHALT 04 Forum/Humor Theologie «Wer wahrhaftig 05 Kolumnen agieren will, braucht 05 Medizin: Sind Viren nur Schädlinge Meinungsfreiheit oder den oder auch Nützlinge? Mut, die Konsequenzen zu 06 Philosophie: Mündig werden und Meinung bilden tragen. Propheten haben 07 Politik: Meinungsfreiheit bringt diese nicht gescheut, Verantwortung mit sich selbst wenn manchmal der 25 Theater: Der Luxus der Meinungs-«Freiheit» Tod die Folge ihrer freien 26 Psychologie: Verändert die Corona-Krise Rede war.» unser Leben nachhaltig? Marc Jost auf Seite 9 27 Kirchen Schweiz: Meinungs- und Religionsfreiheit gibt es nur zusammen 28 Transformation Schweiz: Krisen bringen die Kirche und Wahrheit ans Licht Staat 29 Kurzrezensionen «Die Staatskirchen fürchten sich 30 Spiritualität: Mein Herz in Gott froh und fest machen davor, ihre Privilegien zu verlie- 31 Intern ren. Sie dienen sich deshalb ten- denziell dem Staat an, richten sich nach der herrschenden Mei- 08 Thema: Meinungsfreiheit nung aus und verbiegen dabei 09 Marc Jost ihre eigene Theologie. Das macht Ein Freiheitsrecht im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit sie unglaubwürdig und harmlos.» 11 Susanna Rychiger Hanspeter Schmutz auf Seite 16 Warum ich Gott alles sagen darf 12 Lidia Rieder und Felix Böllmann Nur Mut zur freien Meinungsäusserung! Meinungsfreiheit 14 Michael Mutzner Meinungsfreiheit: gesetzlich geschützt, von Kindern aber gesellschaftlich wankend «Mir ist es wichtig, dass Kinder 16 Hanspeter Schmutz einen Freiraum erleben, in dem Warum sich die Gesellschaft vor Christen (nicht) fürchten sollte sie ihren Glauben selber entwi- ckeln können. Niemand kann 18 Felix Ruther Wenn Gott tot ist – was ist dann wahr? einem anderen Menschen sa- gen, wie oder was er zu glauben 21 Markus Baumgartner Auf die persönliche Verbindung kommt es an hat. Jeder hat die Aufgabe, sich selber zu positionieren.» 22 Interview mit Daniel Ritter «Unkonventionelle theologische Aussagen Daniel Ritter von Kindern dürfen wahr sein» auf Seite 22 23 Letizia Melek Wenn Tabus über die Grenzen hinaus gelten Vorschau: 4/20 Einsamkeit Das Magazin INSIST erscheint 4x jährlich. Impressum Verlag: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Tel. +41 43 344 72 00, info@each.ch. Co-Redaktionsleitung: Daniela Baumann, Kommunikationsverantwortliche SEA, Tel. +41 43 366 60 82, dbaumann@each.ch; Marc Jost, Generalsekretär SEA, Tel. +41 76 206 57 57, mjost@each.ch. Redaktionsschluss: Nr.4/20: 25.09.20. Redaktionskommis- sion: Daniela Baumann, Rolf Höneisen, Marc Jost, Ruth Maria Michel, Hanspeter Schmutz, Martina Seger-Bertschi. Layout: mj.design, Matthieu Jordi. Druck/Versand: Jordi das Medienhaus, Belp. B estellungen: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Josefstrasse 32, 8005 Zürich, Tel. +41 43 344 72 00, magazin@insist.ch. Preis: Fr. 50.– inkl. Versandkosten für vier Ausgaben (Richtpreis auf Spendenbasis). Inserate: Jordi AG, 3123 Belp, Tel. +41 31 818 01 46, inserate@insist.ch. Insertionsschluss: Nr. 4/20: 09.11.20. Bilder: Seiten 1 und 8 © rob z/AdobeStock; Seite 5 creativeneko/AdobeStock; Seite 6 © VAKSMANV/AdobeStock; Seite 7 © Melinda Nagy/AdobeStock; Seite 11 © Sergey Nivens/AdobeStock; Seite 12 © freshidea/AdobeStock; Seite 14 © Thomas Reimer/AdobeStock; Seite 16 © by-studio/AdobeStock; Seite 18 © Juergen /AdobeStock; Seite 22 zVg; Seite 23 zVg; Seite 25 © kozlik_mozlik/AdobeStock; Seite 26 © galitskaya/AdobeStock; Seite 27 ©AdobeStock; Seite 28 © Peter Maszlen/AdobeStock; Seite 30 © Art Stocker/AdobeStock; Seite 31 © SEA 2 - Magazin INSIST 03 September 2020
EDITORIAL Ein Virus testet die Meinungsfreiheit Kürzlich auf einer Wanderung mit Freunden: In einer angeregten Diskussion über die gegenwärtige Pandemie und insbesondere das «richtige» Verhalten zwischen übertriebener Vorsicht und Leicht- sinn droht plötzlich die Stimmung ins Negative zu kippen. Wir einigen uns an diesem Punkt darauf, unsere divergierenden Meinungen stehenzulassen und uns fröhlich anderen Themen zuzuwenden. Ich bin mir sicher, viele von Ihnen wüssten ähnliche Erlebnisse aus den letzten Monaten zu schildern. Die Pandemie hat uns alle gezwungen, uns auf der Basis zahlreicher Unwägbarkeiten eine Meinung zu bilden, die wir wohl in einem kleineren oder vielleicht sogar grösseren Kreis auch kundgetan haben. Dabei haben wir feststellen müssen, dass unsere eigene Meinung längst nicht von allen geteilt wird. Dasselbe lässt sich auf der gesellschaftlichen Ebene beobachten. Im öffentlichen Diskurs wimmelt es nur so von Einschätzungen, die das ganze Spekt- rum von Horrorszenario bis Verharmlosung abdecken. Ganz of- fensichtlich steht es gut um die Meinungsfreiheit in der Schweiz. Die Meinungsfreiheit und das Coronavirus – vielleicht haben diese beiden Themen mehr miteinander zu tun als auf den ersten Blick ersichtlich. Beide spielen auch eine prominente Rolle in dieser Ausgabe: die Meinungsfreiheit, weil wir sie als Schwerpunktthema gewählt haben; das Coronavirus, weil unsere Autoren nicht ganz darum herumgekommen sind, über DAS uns alle beschäftigende Thema der letzten Monate zu schreiben. Eine erfrischend andere Sicht präsentiert dabei Albrecht Seiler, der mit einem fas- zinierenden Einblick in die Mikrobiologie dem negativen Ruf von Viren entgegenhält. Einen wichtigen Aspekt der Meinungsfreiheit spricht Felix Ruther in «Wenn Gott tot ist – was ist dann wahr?» an. An die Stelle von Gott trete in unserer Kultur das Individuum als das Absolute, was die Unter- scheidung zwischen Sach- und Personentoleranz erschwere. In der Folge leidet die Beziehung wegen einer Meinungsverschiedenheit. Demgegenüber trennt Gott klar zwischen unseren Sünden und uns als Menschen. Im Nachhinein sehe ich die eingangs geschilderte Begebenheit als ein Musterbeispiel für diese Unterscheidung: Als Menschen schätze ich meine Freunde ungemein – ihrer Meinung muss ich teilweise widersprechen. Schliesslich ein persönlicher Geheimtipp: Um vor lauter Meinungen den Fokus nicht zu verlieren, emp- fehle ich die Beiträge von Susanna Rychiger und Ruth Maria Michel. «Vor Gott müssen wir keine Show abziehen», heisst es etwa in ersterem. Wir können und sollen ganz authentisch sein und ihm alles mit- teilen, was uns bewegt. Dies setzt eine Vertrautheit mit Gott voraus, die wiederum daraus erwächst, dass wir «jeden Morgen neu unser Herz in Gott fest machen». Daniela Baumann Kommunikationsverantwortliche SEA & Chefredaktorin INSIST 03 September 2020 Magazin INSIST - 3
FORUM/HUMOR 01 r 2019 # Februa Humor and eln Kuriositäten aus den 70iger-Jahren n – h u b e (KMe) Stuttgart – In einem Reiseprospekt konnte man en – gla denk lesen: «Wir bieten Ihnen Friede und Abgeschiedenheit. ri e r t i Die Wege zu uns hinauf sind nur für Esel passierbar. Insp Deshalb werden Sie sich bei uns sofort wie zu Hause fühlen.» Spannende Leservoten für die Zukunft Quelle: Rolf Klein, Vogelfutter für die Braut. Heiteres und Kurioses aus der Weltpresse, Freiburg i.Br. 1980, S. 40. (DB) Der Vorstand der Schweizerischen Evangelischen Al- lianz SEA muss entscheiden, wie es mit dem Magazin IN- Dakota – William Hallworth, amerikanischer Senator SIST ab 2021 weitergeht, weil er vorerst nur für zwei Pilotjah- aus Dakota, liess sich von seiner Frau scheiden. re (2019 und 2020) die Herausgabe des Magazins beschlossen Sie hatte ihm beim Abtippen seiner Wahlreden hatte. heimlich Passagen eingefügt, die ihrer politischen Diese Ausgangslage war ein wesentlicher Grund, weshalb Ausrichtung entsprachen, aber mit der des Senators wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, im Frühsommer gebeten nicht übereinstimmten. Hallworth bemerkte die hatten, uns Ihre Meinung zum Magazin zu sagen. Die Umfra- ‹Panne› erst während des Vortrags und musste seine ge ergab ein insgesamt positives Bild. Gemäss den knapp 200 Ausführungen abbrechen. Rückmeldungen werden besonders die Themenrelevanz, die Quelle: ebd., S. 78. Perspektivenvielfalt, die Tiefgründigkeit, das biblisch-theo- logische Fundament und die Verbindung von Glauben und Brüssel – Reichhaltige Angelausrüstung spottbillig Denken geschätzt. Mehrfach werden mehr gesellschaftlich zu verkaufen, da mein Mann doch nie etwas fängt. brennende Themen und eine kritischere, herausforderndere Telefonische Anfragen erbeten. Sollte sich eine Auseinandersetzung damit gewünscht. Interessanterweise Männerstimme melden, bitte sofort einhängen. stellen die einen hinsichtlich politischer Färbung einen ver- Quelle: ebd., S. 108. stärkten Einfluss konservativer Sichtweisen fest, während andere tendenziell einen «Linksdrall» wahrnehmen. Apeldoorn – Um einen Patienten, der eine Injektion Der Entscheid des Vorstands fiel nach Redaktions- hinauszögerte, zu überlisten, führte ein Arzt in der schluss dieser Ausgabe, weshalb wir Sie in der nächsten holländischen Stadt Apeldoorn den Mann in ein Ausgabe ausführlich darüber informieren werden. Für den kleines Zimmer, wo er an der Wand einen grossen Moment und an dieser Stelle danken wir Ihnen ganz herzlich Pfeil bemerkte, der auf ein Schild am Fussboden für die Treue und die wertvollen Rückmeldungen. Wir hoffen, wies. Neugierig beugte sich der Patient hinunter und mit der künftigen Entwicklung auch Ihren Bedürfnissen ge- las: «Jetzt sind Sie in der richtigen Stellung für Ihre recht werden zu können und Sie weiterhin mit an Bord zu Injektion.» wissen. Quelle: ebd., S. 118. stammtisch GLAUBT MIR! WAS DIE Simon KrUSI 3/20 WAS DENN? MAN t ... h VON WEGEN MIT IHREM FRAUENSTREIK WIRKLICH WIRD WOHL NOCH ac GLEICHER LOHN! WOLLEN IST ...! PSST! SEINE MEINUNG M SAGEN DÜRFEN! nz SEA e Allia gelisch n Kirche e Eva n erisch Schweiz n -4661 / t reine i lo s o phie «Wir sin d nie mi rwegs» Ph Motiv en unte alles cht, die ätze Die Ma indet 05.02.1 9 18:3 8 cht überw mit Ma 4 - Magazin INSIST 03 September 2020
MEDIZIN Sind Viren nur Schädlinge oder auch Nützlinge? Virus: Schon das Wort lässt viele schaudern. Viren und Sterberaten werden in einem Atemzug genannt. AIDS, Grippe und Herpes und aktuell COVID-19 – all diese Krankheiten werden durch Viren verursacht. Das ist aber nur die eine Hälfte einer erstaunlichen Geschichte über die Vielfalt der Schöpfung. Der Begriff «Virus», aus dem Lateini- handlung eingesetzt. Heute werden in schen für zähe Feuchtigkeit, Schleim einigen Forschungslaboren Phagen un- oder Saft, ist beschreibend gewählt tersucht. In der Praxis konnte gezeigt nach Beobachtungen, dass Flüssigkei- werden, dass durch Phagen-Einsatz ten Träger für Infektionen sein können. zum Beispiel in der Hummerzucht die Viren, in der Umwelt allgegenwärtig, Tiere nicht mehr mit Antibiotika gegen sind simpel gebaute winzige Partikel schädigende Bakterien behandelt wer- mit einem Programm zur eigenen Ver- den müssen. Auch bei multiresistenten mehrung. Sie verbreiten sich ausser- Krankenhauskeimen gibt es begründe- halb von Zellen, können sich jedoch te Hoffnung, mit Phagen Behandlungs- nur innerhalb einer geeigneten Wirts- fortschritte zu erzielen. Als Anti-Bak- zelle vermehren und sind auf deren terien-Viren können sie Regionen im Stoffwechsel angewiesen. Besonders Körper erreichen, an die keine Anti- an Viren ist, dass sie jeweils ganz spe- biotika gelangen, oder sie können zu- zifische Zielzellen befallen. Sobald ein sammen mit Antibiotika die Heilung Virus die Wirtszelle infiziert und somit verbessern. In der ökologischen Land- gekapert hat, funktioniert es sie zu ei- wirtschaft werden Granulose-Viren ner Virusfabrik um, die so lange neue eingesetzt, die gegen die Larven und Haut. Bakterien im Verdauungstrakt Viren produziert, bis sie platzt und da- Raupen von Apfelwickler oder Frucht- haben einen wichtigen Einfluss auf das bei Tausende Viruspartikel freisetzt. schalenwickler wirksam sind und so Immunsystem. Phagen als Bakterienvi- Doch können diese kleinen Partikel den Einsatz von Insektiziden reduzie- ren regulieren auch die Darmflora und mehr, als nur Krankheiten zu verbrei- ren.3 das Entzündungsgeschehen. Die Ge- ten, oder sogar nützlich sein? Weitet man den Blick auf das ganze samtzahl der Viren im Körper übertrifft Mit sogenannten viralen Vektoren Ökosystem, entdeckt man: Viren über- die der Bakterien geschätzt um das ist es möglich, Gene in Zellen einzu- nehmen unersetzliche regulatorische Zehnfache und liegt im mehrfachen schleusen. Solche Genfähren werden Aufgaben. Ein Teelöffel voll Meerwas- Billionenbereich. Nur der allerkleinste in Forschung, Gentherapie und Impf- ser soll bis 100 Millionen Viren enthal- Teil davon ist krankmachend. stoffentwicklung verwendet. In der ten. Sie kontrollieren regelrecht, was Zu den vielfältigen Aufgaben von Medizin gibt es Ansätze, Viren in der im Meer lebt und was nicht. Viren spie- Viren im Körper wissen wir bisher Therapie bei bestimmten Krebsarten len eine wichtige Rolle für die Gleichge- kaum etwas. Die Rolle dieses soge- einzusetzen1: den Parvovirus H1 bei wichte zwischen den Organismen und nannten Viroms liegt noch grössten- Hirntumoren2 oder veränderte Po- damit für den Artenreichtum. Nehmen teils im Dunkeln. Doch unzweifelhaft ckenviren bei Bauchfellkrebs. bestimmte Lebewesen überhand, wird ist schon jetzt: Viren sind ein unersetz- diese dichter gewordene Population für licher Teil des Lebens und der Gleich- Viren gegen Bakterien Viren anfälliger und durch diese redu- gewichte im Ökosystem. Viren, als Teil Da einige Viren Bakterien befallen, ziert. Das begrenzt beispielsweise Al- der Vielfalt und Komplexität des Le- kann man damit krankmachende Bak- genplagen. bens, vergrössern mein Staunen über terien ausschalten. Schon im Zwei- die Schöpfung. ten Weltkrieg wurden derartige Viren, Billionen Viren im Körper sogenannte Phagen, in der Wundbe- Auch im menschlichen Darm haben Vi- ren eine wichtige Rolle. Billionen von Dr. med. Albrecht Seiler ist Chefarzt der 1 vgl. zu Viren in der Krebstherapie: https://www. Bakterien bilden ein Mikrobiom im Klinik SGM Langenthal, einer christlichen aerzteblatt.de/archiv/142667/Onkolytische-Viren- Fachklinik für Psychiatrie, Psychosomatik Medikamente-mit-Dominoeffekt (17.7.2020) Verdauungstrakt ebenso wie auf der und Psychotherapie. 2 vgl. zum Parvovirus bei Hirntumoren: https://www. dkfz.de/de/presse/pressemitteilungen/2010/dkfz_ 3 vgl. zum ökologischen Obstbau: pm_10_21_Viren_gegen_Krebs.php (17.7.2020) https://orgprints.org/32127/ (17.7.2020) b info@klinik-sgm.ch 03 September 2020 Magazin INSIST - 5
PHILOSOPHIE Mündig werden und Meinung bilden Die Ereignisse des Frühsommers 2020 haben die Diskussionen zum Thema Meinungsfreiheit neu entfacht. Anlass waren die «Black-Lives-Matter»-Proteste in den USA, die angesichts des Frusts über das Fortdauern rassistischer Strukturen in zum Teil gewaltsame Unruhen umschlugen. wird die Diskussion dadurch, dass sie mus vorbei ist. Zunächst sollte man da- die Metaebene einer ohnehin stark her zuhören, wenn Betroffene eine Ver- emotionalisierten Debatte über Rassis- änderung einklagen. Nicht-inklusive mus betrifft. Strukturen der Meinungsbildung sind Liberale Demokratie geht von der Teil des Problems (zum Beispiel die Fehlbarkeit des Menschen aus und Auswahl von Talk-Show-Gästen). Bin sieht Korrektive zur Verbesserung des ich als nicht Betroffener vielleicht zu Systems vor. Dazu gehört die Mei- «betriebsblind» für das Fehlen anderer nungsfreiheit. Eingeschränkt werden Ansichten? Ist eine möglichst breit auf- darf sie nur dort, wo sie zum Schaden gestellte Diversität von Perspektiven von Einzelnen oder der Allgemeinheit nicht hilfreich, um Probleme der Ge- missbraucht wird. Verschiedene Demo- sellschaft besser anzugehen? kratien legen unterschiedliche Mass- stäbe an. So stellt in Deutschland die 2. Meinungsbildung lebt von Vielfalt: Leugnung des Holocaust einen strafba- Bisweilen scheint es, allein das subjek- ren Tatbestand dar. tive «Beleidigtsein» sei heute Massstab, Dem Ohnmachtsgefühl auf der Strasse In «On Liberty» (1859) plädierten ob eine Meinung schädlich ist. Sicher- steht die scheinbar wachsende Macht John Stuart Mill2 und Harriet Taylor lich verschärft dies die anonyme Struk- einer politisch korrekten «Cancel Cul- Mill unter anderem so für Meinungs- tur der sozialen Medien, die weniger ture» gegenüber. Bezeichnet wird damit freiheit: 1. Um eine Meinung als richtig echten Austausch gestattet, Polarisie- das mutmassliche «Mundtotmachen» oder falsch zu beurteilen, muss sie zu- rung jedoch verstärkt. Neue Massstäbe missliebiger Stimmen durch soziale nächst gehört werden. 2. Allgemein an- zu setzen, braucht selbst Meinungsfrei- Netzwerke und Einflussnahme auf Ar- erkannte Meinungen sind nicht not- heit, sollen nicht autoritäre Ideologien beitgeber und Institutionen. Fernseh- wendig vollständig richtig. Daher mit Wahrheitsanspruch triumphieren. serien werden abgesetzt, Redakteure können andere, teilweise falsche Mei- Wer Inklusivität und Diversität fordert, müssen ihren Hut nehmen, Konsumar- nungen einen Kern an Wahrheit bein- benötigt inklusive und diverse Diskus- tikel verschwinden aus dem Regal. halten, welcher der Wahrheit im Allge- sionen. Besorgt darüber unterzeichneten meinen weiterhilft. 3. Selbst wenn die Anfang Juli über 150 namhafte Intellek- allgemein anerkannte Meinung voll- 3. Mündigkeit wächst an Widersprü- tuelle wie Margaret Atwood, Noam ständig richtig wäre, übernehmen sie chen: Die Krise der liberalen Demokra- Chomsky, Anne Applebaum und Sal- mündige Menschen nur im Herzen, tie frisst den Wert der Meinungsfreiheit man Rushdie – politisch kaum auf ei- wenn sie andere Meinungen zum Ver- an. Doch in der Intensität der Debatte ner Linie – im amerikanischen Maga- gleich haben. liegt auch ein Moment lebendiger Mei- zin «Harper's» einen offenen Brief, in Versuchen wir, diese drei Punkte nungsbildung. So wird transparent, wo dem sie davor warnen, die Meinungs- auf die aktuelle Debatte zu beziehen: der Anspruch einer freiheitlichen Ge- freiheit als «Lebenssaft der liberalen sellschaft noch Engpässe aufweist und Gesellschaft» abzuwürgen.1 1. Meinung braucht Raum: Der Um- dass das Mündigwerden von uns allen Umgehend hagelte es Kritik: Es gin- stand, dass die Mehrheitsgesellschaft ein fortwährender Prozess ist. ge nur um den Schutz eigener Privilegi- sich vom Rassismus nicht betroffen en und das Ausbremsen von Verände- fühlt, ist kein Indiz dafür, dass Rassis- rung. Daraufhin zogen einige ihre Alexander Arndt hat Geschichte, Literatur- 2 Traditionell wird nur John Stuart Mill (1806- Unterschrift zurück. Die Reaktion auf 1873) als Autor von «On Liberty» und als einer der und Kulturwissenschaft studiert und einflussreichsten Philosophen des Liberalismus arbeitet im Büro der EMK Baden. Zudem den Text gab diesem recht. Erschwert angegeben, dabei hatte J.S. Mill explizit festgehalten, ist er in der Erwachsenenbildung sowie dass der Text mehr als seine anderen eine als Online-Redaktor für das «Jerusalem Gemeinschaftsproduktion mit seiner Frau Harriet 1 vgl. «A Letter on Justice and Open Debate», Taylor Mill (1807-1858), ihrerseits Philosophin und Center for Public Affairs» tätig. 7. Juli 2020, Harper’s Magazine: https://harpers.org/ Frauenrechtlerin, gewesen sei. Im Kontext ein Beispiel a-letter-on-justice-and-open-debate/ (17.7.2020) für den Mangel an Inklusivität in der Geistesgeschichte. b alex.arndt@gmx.net 6 - Magazin INSIST 03 September 2020
POLITIK Meinungsfreiheit bringt Verantwortung mit sich Eine gute Faktenlage war für mich schon immer eine wichtige Ausgangslage, um mir eine Meinung zu bilden und Ent- scheidungen zu treffen. Das Abwägen der Pros und Contras gehört zu diesem Prozess. Eine Leitplanke geben mir zudem der Austausch mit diversen Personen, die persönliche Erfahrung, aber insbesondere auch Werte wie Gerechtigkeit, Nach- haltigkeit oder Würde. Mit der Meinungsfreiheit ist respektvoll umzugehen. menhang mit der Erhaltung oder dem Meinungen zwar vertreten werden, Schutz des Lebens steht und keine Er- aber das Gegenüber nicht angehört satzmethoden für Tierversuche zur wird. Verfügung stehen, dann soll aus mei- Dazu ein aktuelles gesellschaftli- ner Sicht immer noch eine Güterab- ches Beispiel, mit dem ich meine wägung stattfinden müssen. Eine gute Mühe bekunde und bei dem die Mei- Faktenlage über den aktuellen Stand nungsfreiheit für mich klar an ihre und die schon getätigten Anstrengun- Grenzen stösst: die Kontroverse um die gen ist zentral, um zu den richtigen Dubler-«Schoggiküsse». Ich benutze Schlussfolgerungen zur Minimierung bewusst das Wort «Schoggiküsse» und negativer Auswirkungen und zur Ver- nicht jenes Wort, um das sich die De- besserung der Situation zu gelangen batte dreht. Die Namensdiskussion ist und gleichzeitig den Schutz des Le- nicht neu. Einige Hersteller benannten bens nicht zu gefährden. darum vor Jahren das Produkt in «Schoggiküsse» um. Andere wider- Eine Frage des Respekts setzten sich wie die Firma Dubler. Das Die Meinungsfreiheit war und ist für habe ich damals schon als junger mich immer zentral, trotz der Zugehö- Mensch nicht begriffen. Diese Firma rigkeit zu einer Partei oder gewissen hat nicht willentlich anstössig sein Verbänden. Dort engagiere ich mich wollen. Aber die Verantwortlichen hät- unter anderem, da mir dies einen ge- ten sich dessen bewusst sein müssen Meine Arbeit als Politikerin und Na- wissen Rahmen gibt, mit dem ich mich und die Augen nicht davor verschlies- tionalrätin besteht zu einem grossen mehrheitlich identifizieren kann, wo- sen dürfen, dass es Menschen gibt, die Teil aus der Bildung von Meinungen für ich mich engagieren möchte, wo mit diesem Namen rassistisch belei- und dem Treffen von Entscheidungen. ich mit ähnlich Gesinnten «unterwegs» digt und erniedrigt werden. Es wäre Während all meinen Jahren in der Po- sein kann, die mir das Rückgrat stär- eine Sache des Respekts gewesen, da- litik habe ich gelernt, wie ich zu einer ken. Je höher das politische Mandat mals den Namen zu ändern – und heu- Haltung gelange. Ja, Sie haben richtig ist, das man innehat, desto grösser wird te bietet sich eine neue Chance. gelesen: Zu vielen politischen Frage- aber auch der Druck, sich einer Mei- Dankbar bin ich, dass die Mei- stellungen habe ich nicht schon vor- nung anzuschliessen. Unzählige Mails, nungsfreiheit in unserer Bundesver- gängig eine klare Meinung. Gewisse Briefe, Wünsche nach persönlichen Ge- fassung (Artikel 16) verankert und ein Fragestellungen sind vielleicht wie- sprächen etc. sind Alltag. Mir in mei- Menschenrecht ist. Doch sie ist, wie derkehrend, aufgrund meiner Wert- ner Art der Meinungsbildung weiterhin ich aufzuzeigen versucht habe, eben vorstellungen oder Anliegen klar, doch treu zu bleiben und die Meinungsfrei- auch mit Pflichten und Verantwortung gibt es auch da immer wieder Neues zu heit zu leben, wird herausfordernder, verbunden. klären. aber umso wichtiger. Auch wenn ich eine Verfechterin Vorsicht vor Absolutheit der Meinungsfreiheit bin, versetzt mich Dazu ein Beispiel eines Themas, mit die Ausnützung derselben immer wie- dem ich mich zurzeit befasse: Grund- der in Rage. Zum Beispiel, wenn es um Lilian Studer ist Nationalrätin der EVP des Kantons Aargau und Geschäftsfüh- sätzlich wäre es mein Anliegen, die Respektlosigkeit und die Verbreitung rerin des Blauen Kreuzes Aargau/Luzern. Forschung an Tieren zu verbieten. Wer von Unwahrheiten geht, zudem keine Zwischen 2002 und 2019 war sie Gross rätin des Kantons Aargau, zwischen 2005 würde da nicht zustimmen. Doch diese oder wenig Kenntnis der Sachlage vor- und 2009 Präsidentin der Jungen EVP. Absolutheit kann fahrlässig sein. Denn handen ist. Wichtig ist für mich auch b lilian.studer@parl.ch wenn Forschung am Tier im Zusam- das Zuhören. Es macht mir Mühe, wenn 03 September 2020 Magazin INSIST - 7
THEMA MEINUNGSFREIHEIT AUS BIBLISCHER SICHT Ein Freiheitsrecht im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit Das Menschenrecht der Meinungsfreiheit wird zwar nirgends in der Bibel direkt thematisiert, aber es lassen sich viele B ezüge finden. Sie zeigen unter anderem, dass dieses Recht schützenswert, für Gott aber nicht bindend ist und dass es seine Grenzen hat. «Frei und offen und völlig ungehindert verkündete er ihnen die grundsätzliche Anerkennung der Freiheit als ein Grund- allen, wie Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet, und lehrte recht für alle Angehörigen eines Volkes. Trotzdem wurden in sie alles über Jesus Christus, den Herrn.»1 Was Lukas in der Israel – ebenso wie in anderen antiken Hochkulturen – Skla- Apostelgeschichte über die Art und Weise des Wirkens von ven gehalten. Paulus schreibt, ist leider nicht repräsentativ für die Mei- Wenn Paulus viel später im Galaterbrief schreibt: «Zur nungsfreiheit zur Zeit der biblischen Autoren. Heute in der Freiheit hat Christus uns befreit! Bleibt daher standhaft und Schweiz frage ich mich vor allem, was lasst euch nicht wieder unter das Joch ich sagen darf, ohne gesellschaftlich der Sklaverei zwingen!»2, dann verwen- stigmatisiert oder juristisch belangt zu In der Bibel wird immer det er zwar das Bild des befreiten Skla- werden. Ein Mensch damals stellte viel- wieder kritisch darauf ven, wendet es jedoch auf eine innere mehr die Frage nach dem Besitz: nicht hingewiesen, wenn die Freiheit an und kritisiert nicht generell primär nach seinem Besitz, sondern da- die Sklaverei. Diese innere Freiheit nach, wem er selber gehört. Menschen Meinungsfreiheit nicht deutet jedoch bereits auf eine anzustre- waren oft im Besitz anderer Menschen. gewährt wird. bende Meinungsfreiheit hin. So wird in Und als Sklaven war so etwas wie Mei- den biblischen Berichten immer wieder nungsäusserungsfreiheit gar kein Thema. Gehorsam dem kritisch darauf hingewiesen, wenn ein König oder Herrscher Herrn gegenüber lautete die Devise zur Zeit des Alten Tes- die Meinungsfreiheit nicht gewährt hat – zum Beispiel ge- taments und auch für viele Menschen zur Zeit der neutesta- genüber den Propheten, deren Dienst gerade nur auf der Ba- mentlichen Texte, als Lukas seine Apostelgeschichte und da- sis der Meinungsfreiheit möglich war. Deshalb waren es mit den eingangs zitierten Vers verfasste. auch die Propheten, die stark unter der eingeschränkten Meinungsfreiheit litten. Prophetie ohne Meinungsfreiheit? Das Volk Israel hat zwar sehr früh in der Geschichte sei- Unabhängigkeit von Beeinflussung ne Befreiung aus Sklaverei und fremder Herrschaft gefei- Der griechische Staatsmann Perikles bemerkte ca. 500 vor ert. So wird mit dem Passahfest der Befreiung des Volkes aus Christus in der ältesten Demokratie in Athen treffend: «Das der Unterdrückung in Ägypten gedacht und die ungezügelte Geheimnis der Freiheit ist der Mut.» Dieser Mut zur Freiheit Machtausübung des Pharaos kritisiert. Darin zeigt sich auch war denn auch vor über 2000 Jahren viel notwendiger als 1 Apg 28,31 2 Gal 5,1 03 September 2020 Magazin INSIST - 9
THEMA in der heutigen, sogenannt freien Welt, wollte man wirklich wird dies dann und dort tun, wo Wahrheit und Gerechtigkeit seine Meinung kundtun. Der Begriff der Freiheit wird noch mit Füssen getreten werden. Also wenn jemand Gottes Na- im Neuen Testament primär dafür verwendet, freie Men- men missbraucht oder gar Gott selbst abstreitet oder ablehnt. schen zu bezeichnen, solche also, die keine Sklaven (mehr) Im Gegensatz zu bestehenden Blasphemie-Gesetzen ist je- sind. Die altgriechische Sprache verwendet drei verschiede- doch Gott selber der Richter, wenn es um die Durchsetzung ne Begriffe für Freiheit: den ersten im Sinn von «sich selbst der Zehn Gebote geht. gehörend», einen zweiten von «unabhängig» (autonom) und Eine weitere Grenze der «biblischen» Meinungsfreiheit schliesslich von «selbstgenügsam» (autark). Der Freiheitsbe- bildet die Lüge. Die Unwahrheit zu sagen, wird nicht ge- griff wird kaum, wenn überhaupt, in Bezug auf Meinungsfrei- schützt, sondern eben zum Beispiel in den Zehn Geboten als heit verwendet. Am ehesten kommt sie im Begriff «Autono- verwerflich bezeichnet. So schützt das achte Gebot jene, wel- mie» zum Ausdruck: Eine freie Meinung ist unabhängig von che die Meinungsfreiheit für die Wahrheit nützen, indem es Beeinflussung und Manipulation. sagt: «Du sollst nichts Unwahres über deinen Mitmenschen sagen.»5 Wer sein Gewissen an die Wahrheit knüpft und ent- Vorbilder im Kampf für Wahrheit und sprechend nichts sagt, was von irgendwoher manipuliert Gerechtigkeit worden ist, der ist auf Meinungsfreiheit angewiesen. Wer Obwohl der Begriff der Meinungsfreiheit selbst nicht vor- wahrhaftig agieren will, braucht Meinungsfreiheit oder den kommt, kann man doch ableiten, dass die biblischen Auto- Mut, die Konsequenzen zu tragen. Propheten haben von der ren die Meinungsfreiheit schützen wollen. Dies kommt in Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht und die Konsequenzen den Berichten über biblische Persönlichkeiten wie Esther, nicht gescheut, selbst wenn manchmal der Tod die Folge ih- Daniel und viele weitere Propheten zum Ausdruck. Auch rer freien Rede war. Im Neuen Testament ist dieses Schicksal wenn die Machthabenden damals eben gerade keine Mei- zum Beispiel Johannes dem Täufer oder Stephanus, dem ers- nungsfreiheit gewährt haben, so halten Königin Esther und ten Märtyrer, widerfahren. die Propheten an der Wahrheit und Gerechtigkeit fest und nehmen in Kauf, dass sie für ihre freie Meinung, ihre Kritik, Im Zweifelsfall für die Meinungsfreiheit hart bestraft werden. Die Bibel stellt dieses Verhalten als Aber wer kann prüfen, ob eine menschliche Rede wahr ist? vorbildlich dar und kritisiert die Machthaber, die das Recht In letzter Konsequenz kann dies nur Gott. Vor Gott gibt es beugen und Meinungsfreiheit nicht gewähren. So lesen wir deshalb keine Freiheit zur Lüge aus biblischer Sicht. Vor zum Beispiel in Psalm 40: «Ich verkün- den Menschen wird die Lüge erst sankti- dige Gerechtigkeit in der grossen Ge- Menschenrechte gelten oniert, wo sie bewiesen werden kann. Nur meinde. Siehe, ich will mir meinen vor diesem Hintergrund ist das vielzitier- Mund nicht stopfen lassen; Herr, das für Menschen, nicht te Wort der Voltaire-Biografin, Evelyn Be- weisst du.»3 Eine Fortsetzung findet aber für Gott. atrice Hall, zu verstehen und auch zu un- diese Haltung im Neuen Testament, terstützen: «Ich lehne ab, was Sie sagen, etwa wenn Jesus seinen Jüngern voraussagt, dass sie um aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es sagen seinetwillen verfolgt und bestraft werden, oder wenn Pe- zu dürfen.» Es erfordert Demut von uns Menschen, einzuge- trus, Stephanus oder Paulus bestraft werden, wenn sie das stehen, dass wir nicht in jedem Fall die Wahrheit kennen. Evangelium verkündigen, weil dies bestimmten Machtha- Und so gewähren wir grundsätzlich die Meinungsfreiheit bern nicht passt. – auch im Zweifelsfall. Gleichzeitig wäre es wünschens- wert, wenn jeder Mensch seine Freiheit im Sinn von Mar- Freiheit mit Grenzen tin Luther nutzen würde: «In Christus sind alle Menschen Man könnte allerdings fragen, ob nicht bereits die Zehn Ge- frei, aber diese Freiheit ist durch die Liebe bzw. die Verant- bote die Meinungsfreiheit einschränkten. So steht beispiels- wortung für den Mitmenschen gebunden.»6 Oder anders weise im dritten Gebot in den Mosebüchern: «Du sollst den ausgedrückt: Jedes Menschenrecht – auch jenes der Mei- Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn nungsfreiheit – ist ebenso eine Menschenpflicht meinem der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen Nächsten gegenüber. Und nur in dieser Verantwortung ge- missbraucht.»4 Ist das nicht ein Anti-Blasphemie-Artikel, der lebt, ist die Meinungsfreiheit letztlich auch im Dienst des sozusagen Gotteslästerung unter Strafe stellt und damit die Gemeinwohls. Meinungsfreiheit stark einschränkt? Bei dieser Frage sehen wir, wo die Grenzen der Men- schenrechte sind. Sie gelten eben für Menschen; nicht aber Marc Jost ist Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA und Co-Redaktionsleiter des für Gott. Auch wenn die Menschenrechte, wie die Meinungs- Magazins INSIST. freiheit, christlich inspiriert sind und es im Sinn des Schöp- b mjost@each.ch fers ist, sie zu fördern und zu schützen, so kann sich der Herrscher des Universums doch darüber hinwegsetzen. Er 3 Ps 40,10 5 2 Mose 20,16 4 2 Mose 20,7 6 Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen 10 - Magazin INSIST 03 September 2020
THEMA AUTHENTIZITÄT VOR GOTT Warum ich Gott alles sagen darf Kinder reden mit ihren Eltern im Normalfall ganz unverkrampft und ohne falsche Zurückhaltung. Genauso ist es mit Gott: Wie er weder Wunderbares noch Schockierendes, weder Glück noch Enttäuschung vor uns zurückhält, so dürfen umge- kehrt auch wir alles mit ihm teilen, was uns bewegt. Die Grundlage ist seine uneingeschränkte Liebe. Lassen wir zu, dass sie uns mit ihm verbindet? Kaum auf der Welt, habe ich meine Eltern angeschrien – Ruhe im Sturm und dies wohl im Laufe der ersten Babyjahre noch oft getan. Gott ist ein Gegenüber, dem wir in allem vertrauen dürfen – ja Danach lernte ich, Worte zu formulieren. Worte halfen mir, noch viel mehr vertraut er uns. Ich kann jemandem an mei- mich zu verständigen und die Welt zu erfragen. Kinder kom- nem Inneren Anteil geben, wenn ich vertraue. Dies ist sehr munizieren in den Anfangsjahren ohne falsche Zurückhal- einfach, solange es mir gut geht. Vertrauen bewährt sich tung mit den Eltern, denn sie sind vertraut mit ihnen. In ei- dann, wenn es mal nicht rund läuft. Dies weiss auch Jesus, nem guten Elternhaus wird sich etwas nie ändern: Kinder der uns im Matthäus-Evangelium auffordert: «Kommt alle können immer zu ihren Eltern kommen und sich ihnen mit- her zu mir, die ihr müde seid und schwere Lasten tragt, ich teilen. Diese Tatsache ist gegeben, auch wenn sich Kinder will euch Ruhe schenken.»3 Weder vor Gott, unserem Vater in zunehmendem Teenager-Alter und im Erwachsenwer- noch vor Jesus müssen wir eine Show abziehen. Der Vers in den eher von den Eltern distanzieren, was in gutem Masse ja Matthäus fordert mich auf, zu ihm zu gehen, mich ihm mit- auch normal ist. zuteilen, auch wenn ich schwach, müde, fragend, anklagend oder bedrückt bin. Dadurch finde ich Ruhe und muss mich Gott ist authentisch zu uns nicht vor Schelte, Leistungsdruck oder ähnlichem fürchten. Gott ist unser Schöpfer, er hat uns nach seinem Ebenbild ge- Jesus will uns ans Herz seines Vaters führen, wo wir Ruhe schaffen.1 Er ist unser Vater und hat sogar seinen Sohn ge- finden, auch in Zeiten des Sturms. schickt, weil er uns ermöglichen wollte, den Weg direkt an sein Herz wiederzufinden.2 Die Grundlage einer Beziehung Der entscheidende Unterschied zu Gott ist die uneingeschränkte Liebe, die Gott für dich und Wie Babys sind wir am Anfang auf dem Weg mit Gott wohl et- mich hat. Die können wir nicht wählen, die ist einfach Tatsa- was unbeholfen. Zunehmend wagen wir es aber, Gott mit Fra- che. Wenn Eltern ihr Kind anschauen, sehen sie immer das gen zu löchern, und entwickeln das Interesse, eng mit ihm un- schönste Kind der Welt vor sich – und genauso ist es auch terwegs zu sein. Als erwachsene Personen ändert sich unsere mit Gott, dem Vater. Beziehung zu den Eltern: Normalerweise sind sie nicht mehr Diese Liebe und Vertrautheit verbindet Gott mit dir unsere engsten Vertrauenspersonen. Dennoch sind und blei- und, wenn du es zulässt, auch dich mit Gott. Gott lädt uns ben sie uns die Nächsten. Ich weiss, dass ich ihnen alles sagen in seine Vertrautheit ein und ermutigt uns, alles mit ihm kann – bedingungslos, denn auch als erwachsene Tochter bin zu teilen. Gott selbst ist authentisch zu uns – durch sein ich immer noch ihr Kind. In unserer Beziehung zu Gott gibt es Wort erfahren wir so vieles von ihm. Er lässt uns an wun- einen entscheidenden Unterschied: Er will immer unser engs- derbaren wie auch schockierenden Geschichten teilhaben, ter Vertrauter sein, bis in alle Ewigkeit. Ob Kleinkind oder er- erzählt uns von genialen Glücksmomenten wie auch Ent- wachsene Person, wir dürfen ihm blind vertrauen und immer täuschungen, die er mit Menschen erlebt hat. Er selbst ist alles sagen. Schliesslich fordert er uns selber auf: «Werdet wie es, der sich uns nähert und nichts vor uns zurückhält. Dies die Kinder»4 – Kinder, die sorglos mit einem kindlichen Ver- wiederum gibt uns die Legitimität und die Vertrautheit, trauen sich Gott anvertrauen. dass auch wir ihm ohne jegliche Zurückhaltung alles sa- gen dürfen. Es ehrt ihn, wenn wir ihn an unseren Gedan- Susanna Rychiger ist Leiterin von 24-7CH Prayer, des ken, unseren Fragen, unseren Enttäuschungen, unserem Schweizer Zweigs der internationalen, überkonfessionellen Gebets-, Missions- und Gerechtigkeitsbewegung 24-7 Erfolg oder Misserfolg teilhaben lassen. Ja, selbst Ankla- Prayer. Zudem ist sie Teil vom Kloster Alte Gärtnerei, einer gen hindern ihn nicht, uns zu lieben und mit uns den Weg neumonastischen 24-7 Gemeinschaft in Steffisburg. weiterzugehen. b susanna@24-7ch.ch 1 vgl. 1 Mose 5,1 3 Mt 11,28 2 vgl. Joh 3,16 4 Mt 18,3 03 September 2020 Magazin INSIST - 11
THEMA GRUNDLEGENDE FREIHEITSRECHTE Nur Mut zur freien Meinungsäusserung! Das Recht zur freien Meinungsäusserung sorgt immer wieder für Aufregung. Jedoch kann der Wert der Meinungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft nicht überschätzt werden. Das Recht garantiert einen robusten Diskurs. Meinungen anderer sind auszuhalten, auch wenn man sie inhaltlich ablehnt. Sagen, was man denkt – eine Selbstverständlichkeit? Auch oder Ideen, unabhängig vom verwendeten Medium. Sie bein- wenn die Idee subjektiver Rechte weit zurückreicht und be- haltet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und an stimmte Gruppen in der Vergangenheit immer wieder ein- wen eine Meinungskundgabe erfolgt. Die AEMR ist dabei bis zelne Rechte für sich sichern konnten: Rechtlich garantier- heute wegweisend. In Artikel 19 heisst es dort: te, allgemeingültige und einklagbare Grundrechte, wie wir sie heute kennen, sind eine relativ junge Erscheinung. In ver- «Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; schiedenen Staaten wurden sie zu unterschiedlichen Zeiten dieses Recht schliesst die Freiheit ein, Meinungen unge- und in unterschiedlichem Umfang in die Verfassungen oder hindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne andere Gesetze aufgenommen. Dabei waren Grundrechte zu- Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu nächst als Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliches suchen, zu empfangen und zu verbreiten.» Handeln konzipiert. Nach Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Men- Ein grundlegendes und weitreichendes Recht schenrechte (AEMR) 1948 setzten sich auch auf völkerrechtli- Grenzen der Meinungsfreiheit legt Artikel 19 AEMR nicht fest. cher Ebene Grundrechtsstandards durch und insbesondere Erst mit Artikel 19 des UN-Zivilpaktes von 1966 wurden be- mit dem Europäischen Gerichtshof stimmte Bedingungen zur Ausübung für Menschenrechte (EGMR) steht Es gibt auch im Westen einen der freien Meinungsäusserung gere- auch Einzelnen die Möglichkeit besorgniserregenden Trend, gelt. Danach ist die Ausübung dieses offen, Grundrechte einzuklagen. Rechts mit «besonderen Pflichten und Wie viele andere Länder hat die Diskurse wegen sogenannter einer besonderen Verantwortung ver- Schweiz alle wesentlichen völker- «Hassrede» einzuschränken. bunden» und kann gesetzlich vorgese- rechtlichen Verträge ratifiziert. henen Einschränkungen unterworfen Heute umfasst die Meinungsfreiheit jede Handlung des werden. In den Zivilpakt wurde nach heftiger Debatte auch der Suchens, Empfangens und Vermittelns von Informationen umstrittene Artikel 20, Absatz 2 aufgenommen: 12 - Magazin INSIST 03 September 2020
THEMA «Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Demokratien einen besorgniserregenden Trend, dass Regie- Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Ge- rungen Diskurse wegen sogenannter «Hassrede» einschrän- walt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.» ken. Als ein Beispiel kann die jüngste Änderung des Artikels 261bis des Schweizerischen Strafgesetzbuchs gelten (siehe Eine Sonderberichterstatterin der UNO für Religions- und auch Beitrag auf Seite 14 zur Situation in der Schweiz). Glaubensfreiheit schrieb, dass «Artikel 20 [des UN-Zivilpak- tes] vor dem Hintergrund der vom Nazi-Regime während des Spezielle Freiheiten besonders geschützt Zweiten Weltkrieges begangenen Gräuel entworfen wurde» Die Gewährleistung der Meinungsfreiheit ist auch deshalb und die Hürde für solche Verbote entsprechend hoch sein wichtig, weil sie die Grundlage für die Ausübung vieler ande- muss.1 rer Rechte und Freiheiten ist. Es besteht unter anderem ein In ähnlicher Weise stellt der «General Comment No. 34» enger Zusammenhang zur Versammlungs- und Religions- des UN-Menschenrechtskomitees klar, dass Beschränkun- freiheit.7 Die Versammlungsfreiheit ist gegenüber der Mei- gen des Rechts auf Meinungsfreiheit «nicht über das hinaus- nungsfreiheit vom EGMR als das speziellere Recht (lex spe- gehen sollten, was in Paragraph 3 [des Artikels 19] erlaubt cialis) angesehen worden, da sie eine besondere Form der oder unter Artikel 20 gefordert wird».2 Meinungsäusserung in der Gemeinschaft schützt.8 Mei- nungsfreiheit ist auch eine der Bedingungen für die Gewähr- Meinungen geniessen rechtlichen Schutz leistung von freien Wahlen (Artikel 3 Protokoll Nr. 1 EMRK). Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention Zusätzlich zur Pflicht, die Meinungsfreiheit nicht unnö- (EMRK) von 1950 enthält eine der am deutlichsten formulier- tig einzuschränken, sollten Staaten daher ihre Ausübung un- ten Garantien der freien Meinungsäusserung. Auch dieser mittelbar fördern. Es ist eine günstige Umgebung für die Teil- Artikel sieht Einschränkungen vor, die aber laut Rechtspre- nahme an Diskursen zu schaffen, damit alle Beteiligten ihre chung sehr eng zu definieren sind. Meinungen ohne Angst ausdrücken können. Freilich stellt Über die Jahre hat der EGMR klargestellt, dass die Mei- dies zugleich auch ein gewisses Risiko dar: Stets besteht die nungsfreiheit nicht nur auf solche Informationen und Ideen Möglichkeit, dass andere Diskursteilnehmer sich durch Mei- anwendbar ist, die wohlwollend aufgenom- nungsäusserungen verletzt oder ge- men oder als nicht-kränkende oder gleich- Die Demokratie braucht kränkt fühlen könnten. Ein Richter gültige Angelegenheit betrachtet würden, aus Grossbritannien schrieb: «Rech- sondern grundsätzlich auch auf solche, die Bürger, die ihre Freiheit te, die es wert sind, dass man sie hat, den Staat oder irgendeine Bevölkerungs- mutig wahrnehmen. sind schwer zu bändigende Angele- schicht kränken, schockieren oder beunru- genheiten.»9 higen. Dies seien die Anforderungen an Pluralismus, Tole- Freiheitliche demokratische Rechtsstaaten gehen dieses ranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine Risiko um der Freiheit willen ein. Sie tun dies im Bewusst- demokratische Gesellschaft gebe.3 Nach ständiger Recht- sein dessen, dass sie die Voraussetzungen ihrer Existenz sprechung des Gerichtshofs sind durch Artikel 10 nicht nur nicht selbst garantieren können.10 Die Demokratie braucht bestimmte Informationen, Ideen und Meinungen geschützt, Bürger, die ihre Freiheit mutig und verantwortungsvoll wahr- sondern zum Beispiel auch politische Protestaufführungen, nehmen. das Tragen bestimmter Symbole auf der Kleidung, die Veröf- fentlichung von Fotos und Fotomontagen sowie künstleri- sche Ausdrucksformen wie Gemälde oder Theateraufführun- gen. Dass eine Äusserung im Einzelfall auch kränkend sein Dr. iur. Lidia Rieder und Dr. iur. Felix Böllmann sind bei ADF kann, steht dem Schutz nicht per se entgegen.4 International in Wien tätig und setzen sich für Glaubens- und Religionsfreiheit, den Schutz des Lebens sowie Ehe Laut EGMR kommt der Meinungsfreiheit innerhalb der und Familie ein. ADF International vertritt weltweit EMRK eine «besondere Bedeutung» zu.5 Sie stelle «eine der Mandanten vor internationalen Gerichten, begleitet Gesetzgebungsverfahren und bietet Fortbildungen für wesentlichen Grundlagen für eine [demokratische] Gesell- Juristen und Führungskräfte an. schaft» dar, «eine der Grundvoraussetzungen für deren Fort- b fboellmann@adfinternational.org schritt und für die Selbstverwirklichung jedes Individu- b lrieder@adfinternational.org ums».6 Es gibt jedoch in letzter Zeit auch in westlichen O https://adfinternational.org 1 Report of the Special Rapporteur on freedom of religion or belief, Asma Jahangir, and the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance, Doudou Diène, further to Human Rights Council decision 1/107 on incitement to racial and religious hatred and the promotion of 7 vgl. EGMR, Entsch. vom 16.7.1980, Nr. 8440/78 (Rn. 3), EuGRZ 1981, 216 (217) — tolerance, A/HRC/2/3, 20.09.2006, § 47 Christians against Racism and Fascism/Vereinigtes Königreich 2 UN General Comment No. 34, 12. September 2011, CCPR/C/GC/34, § 49 8 vgl. Frenz, Walter: Handbuch Europarecht, Band 4, Europäische Grundrechte. Berlin 3 vgl. Handyside v. Vereinigtes Königreich, (1976) 1 E.H.R.R. 737 § 49 Heidelberg, 2009, Springer-Verlag, S. 648 4 vgl. Tatár und Fáber v. Ungarn (Aufhängen schmutziger Wäsche an Brüstungen im 9 Per Lord Justice Laws, Tabernacle v. Secretary of State for Defence [2009] EWCA Civ Parlament als unter Artikel 10 fallende Ausdrucksform); Mariya Alekhina und andere 23, § 43, zitiert nach: Coleman, Paul: Zensiert. Wie europäische «Hassrede»-Gesetze v. Russland (musikalische Protestaufführung in einer Kathedrale als künstlerische die Meinungsfreiheit bedrohen. Deutsche Ausgabe: Basel, 2020, Fontis (siehe auch und politische Ausdrucksform im Sinne von Artikel 10 EMRK) Kurzrezension auf Seite 29) 5 Ezelin v. Frankreich (1992) 14 E.H.R.R. 362, 51 10 vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Berlin, 1976, 6 Handyside v. Vereinigtes Königreich (1976) 1 E.H.R.R. 737 § 49 Suhrkamp Verlag, S. 60 03 September 2020 Magazin INSIST - 13
THEMA SITUATION UND TRENDS IN DER SCHWEIZ Gesetzlich geschützt, aber gesellschaftlich wankend Das UNO-Menschenrechtskomitee stellt der Schweiz in Sachen Meinungsfreiheit ein gutes Zeugnis aus. Doch die Ausweitung des Artikels 261bis des Strafgesetzbuches (StGB) auf die sexuelle Orientierung könnte Folgen haben für bibelorientierte Christen, weniger in rechtlicher als vielmehr in sozialer Hinsicht. Gemäss internationalen Gremien und NGO-Berichten geht erhalten. Nur drei betrafen die Meinungs- und Redefreiheit. es der Meinungsfreiheit in der Schweiz recht gut. «Repor- Zwei von ihnen kamen aus der Türkei, die sich 2012 und ter ohne Grenzen» reiht die Schweiz auf Platz 8 im Weltin- 2017 gegen die Verurteilung des türkischen Aktivisten Pe- dex für Pressefreiheit 2020 ein. Als rinçek durch Schweizer Gerichte die Experten des UNO-Menschen- Die Schweizer Justiz räumte aussprach. Dieser hatte in einer in rechtskomitees 2017 die Schweiz un- der Meinungsfreiheit einen der Schweiz gehaltenen Rede be- tersuchten, fanden sie nichts, wor- stritten, dass die Massaker an Ar- über sie sich gemäss Artikel 19 des hohen Stellenwert ein, meniern durch das Osmanische Internationalen Paktes über bürgerli- manchmal sogar angesichts Reich 1915 in Wirklichkeit ein «Völ- che und politische Rechte hätten be- beunruhigender Ideen. kermord» waren. Das Gericht fand schweren können. Im Gegenteil, sie die Negierung dieses historischen empfahlen, die Schweiz solle gegenüber rassistischen und Ereignisses verurteilungswürdig. fremdenfeindlichen Diskursen, insbesondere Hassreden In diesem Fall wurde die Schweiz vom Europäischen Ge- gegen muslimische, jüdische und Roma-Gemeinschaften, richtshof für Menschenrechte in einer engen und umstrit- nicht allzu tolerant sein. Das Komitee schlug vor, das Man- tenen Entscheidung getadelt. Er befand, die Meinungsfrei- dat der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus zu heit des türkischen Aktivisten sei verletzt worden; die stärken, einer Kommission, die unter anderem den Auftrag Anzweiflung des Völkermords könne nicht als Anstache- hat, den Missbrauch der Meinungsfreiheit einzuschränken. lung zum Hass gegen Armenier betrachtet werden. Seltene Kritik betreffend Meinungsfreiheit Grosszügige Handhabung des Auch im Rahmen des «Universal Periodic Review» (UPR) Artikels 261 StGB des Menschenrechtsrats wurde in den letzten zwölf Jah- Dieser Fall ist symptomatisch dafür, dass sich die Debat- ren die Meinungsfreiheit in der Schweiz – im Gegensatz zu te über die Meinungsfreiheit in der Schweiz in den letzten anderen Themen wie Migration oder Rassismus – nur am Jahrzehnten um die Frage des rassistischen oder (Völker- Rande erwähnt. Seit 2008 hat die Schweiz gemäss der Da- mord) leugnenden Diskurses herauskristallisiert hat. Zur tenbank der NGO «UPR-Info» insgesamt 491 Empfehlungen Erinnerung: Angesichts des Wiederauflebens des Neonazis- 14 - Magazin INSIST 03 September 2020
THEMA mus Ende der 1980er-Jahre – 1989 machten Neonazis den selben Anforderungen würden ausserdem auch an eine Pre- Hitlergruss um ein brennendes Kreuz auf der Rütliwiese – digt mit einem unkommentierten Zitat aus einem gewalttä- nahm die Schweiz 1994 in einer Volksabstimmung den Ar- tigen alttestamentlichen Text gestellt. tikel 261bis StGB gegen Diskriminierung und Anstachelung Ein Prediger, der die Frage der sexuellen Orientierung zum Hass an. In 20 Jahren Anwendung hat die Schweizer aus einer biblischen Perspektive thematisieren möchte, hat Justiz 336 Verurteilungen ausgesprochen und sich dabei also durchaus das Recht, eine kritische Meinung über Ho- für eine relativ gemässigte Anwendung des Gesetzes ent- mosexualität zu äussern und aus dem Alten Testament zu schieden. Im Allgemeinen räumte sie der Meinungsfreiheit zitieren. Dagegen sollte er dies auf eine Weise tun, die un- einen hohen Stellenwert ein, manchmal sogar angesichts missverständlich ist und jegliches Verhalten, das zu Hass beunruhigender Ideen, solange diese keine Anstachelung oder Gewalt führt, klar ausschliesst. zu Hass, Gewalt oder Diskriminierung darstellten. In den Fällen von weniger liberalen Auslegungen, wie im Fall Pe- Negative Auswirkungen auf sozialer Ebene rinçek, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrech- Die Schweiz bietet rechtlich gesehen einen für die freie te die Schweiz zur Ordnung gerufen. Meinungsäusserung generell günstigen Rechtsrahmen. Die Die Anwendung dieses Artikels 261bis StGB prägt auch Hauptherausforderung liegt eher auf der gesellschaftlichen heute noch das Geschehen in unserem Land. Dies zeigen Ebene. Denn manchmal kommt es zu gewissen «ausserge- die laufenden Gerichtsverfahren gegen den Polemiker Dieu- richtlichen» Verurteilungen von Personen, die gesetzlich donné wegen Leugnung der Existenz von Gaskammern erlaubte Reden halten, die aber von einem Teil der Bevölke- oder gegen die SVP-Politiker Yvan Perrin und Jean-Luc Ad- rung als inakzeptabel angesehen werden. Die Diskriminie- dor wegen Aussagen über Muslime in sozialen Netzwerken. rung und Sanktionierung können genauso wirksam, wenn nicht sogar noch einschneidender sein als eine gerichtliche Auswirkungen auf religiöse Zitate Verurteilung. Dazu zwei symptomatische Beispiele: Es ist davon auszugehen, dass die am 1. Juli in Kraft getrete- Der Filmemacher Fernand Melgar löste 2018 eine Kont- ne, um die sexuelle Ausrichtung erweiterte Fassung des Ar- roverse aus, indem er im Web Fotos von Drogenhändlern vor tikels 261bis StGB die Rechtslage nicht grundlegend ändern Schulen veröffentlichte, um die Nachlässigkeit der Gemein- wird. Sie wird jedoch eine erhöhte Wachsamkeit erfordern, de Lausanne anzuprangern. Es folgten empörte Reaktionen auch aufseiten der Christen. Bei- und ein offener Brief von mehr als 200 spielsweise könnte das Zitieren eines Die Zukunft der Personen aus der Film- und Bildindust- alttestamentlichen Textes über die rie. Angesichts des Drucks gab Fernand Sanktionierung von Homosexualität Meinungsfreiheit in der Melgar einen Lehrauftrag an der Kunst- die betreffende Person oder Organisa- Schweiz hängt auch von hochschule Genf auf und beendete 2020 tion fortan einer Verurteilung ausset- uns allen ab. seine Karriere als Filmemacher. zen, wenn sie sich nicht ausdrücklich Ein weiteres Beispiel: Johannes Lä- von einer Auslegung distanziert, die Hass, Gewalt oder Diskri- derach erlebte wegen seiner aktiven Unterstützung einer minierung hervorrufen könnte. Als Beispiel dient eine evan- Pro-Life-Organisation und seiner kritischen Haltung gegen- gelische Gruppe, die unter Kindern und Jugendlichen arbeitet über der gleichgeschlechtlichen Ehe Vandalismus gegen und in der Presse kritisiert wurde, weil sie auf ihrer Websei- seine Läden. Man rief zum Boykott gegen ihn auf und die te in einem Lexikon unter dem Begriff «Homosexualität» ohne Fluggesellschaft Swiss beendete ihre Aufträge an den Scho- weiteren Kommentar Zitate aus dem Alten Testament auf- koladenhersteller. führte. Angesichts dieser sozialen, beruflichen und wirtschaft- In dieser Hinsicht ist ein Urteil des Bundesgerichts zu lichen Sanktionen haben wir den Auftrag, wachsam zu sein. einem anderen Fall aus dem Jahr 2019 aufschlussreich. Das Nicht nur, um diese Art von Intoleranz nicht selbst auszu- Gericht hatte sich mit der Frage befasst, ob ein Prediger reli- üben, sondern auch, um die Meinungsfreiheit gegenüber ei- giöse Texte zitieren darf, die zu Gewalt aufrufen. Der Fall be- nem Andersdenkenden zu verteidigen. In diesem Sinne traf einen Lehrsatz, der 2016 von einem somalischen Imam hängt die Zukunft der Meinungsfreiheit in der Schweiz verlesen wurde und zu Gewalt und Mord an Muslimen auf- auch von uns allen ab. Es liegt an uns, einen positiven Bei- rief, die nicht am Gebet in der Moschee teilnahmen. Der trag zum Klima eines reifen und respektvollen Dialogs zu Imam legte erfolglos Berufung ein gegen seine 18-monatige leisten. Haftstrafe auf Bewährung und seine Ausweisung aus dem Land. Nach Ansicht des Bundesgerichts war diese Predigt eine «öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalt» Michael Mutzner ist ständiger Vertreter der Weltweiten im Sinne des Schweizer Rechts. Das Problem: Der Imam las Evangelischen Allianz bei der UNO in Genf, Mediensprecher des Réseau évangélique suisse sowie wissenschaftlicher dieses Zitat ohne weitere Kommentare, ohne es zu «ent- Mitarbeiter von Christian Public Affairs. schärfen» und zu erklären, es dürfe nicht wörtlich ausgelegt werden. Das Gericht fügte weiter hinzu, die moralische Au- b mmutzner@worldea.org torität und Einflussmöglichkeit eines religiösen Lehrers, der von der Kanzel spricht, hätten ein starkes Gewicht. Die- Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Bolliger 03 September 2020 Magazin INSIST - 15
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