Gleichzeitig optimieren und neu erfinden?

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Reflexion | Schwerpunkt | Gleichzeitig optimieren und neu erfinden? | Thomas Schumacher, Rudolf Wimmer

Gleichzeitig optimieren
und neu erfinden?
Zum produktiven Miteinander von Innovationslabs
und etablierten Unternehmen
Thomas Schumacher und Rudolf Wimmer

Start-ups und etablierte Unternehmen stellen füreinander potenziell eine Quelle der Inspiration dar. Nicht überra-
schend ist deshalb, dass viele Konzerne versuchen, durch die Gründung oder Zusammenarbeit mit Inkubatoren, Acce-
leratoren, Fellowship-Programmen und anderen Ansätzen, das Potenzial einer solchen Zusammenarbeit zu heben.
Die Theoriebildung hängt dem bislang hinterher und kann (noch) wenig Hilfestellung leisten. Der Artikel liefert einen
(Aus)blick auf die beobachtbare Unternehmenspraxis und eine konzeptionelle Bestandsaufnahme.

Wenn es um die Frage geht, wie gut sich die deutsche Wirt-         ckelt werden kann, jedoch weit auseinander. Zwar ist inzwi-
schaft auf die digitale Transformation eingestellt hat, nimmt      schen der enorme Veränderungsdruck bei den allermeisten
der Grad an öffentlicher Alarmiertheit deutlich zu. «Deutsch-      Unternehmen angekommen. Der vielzitierte «sense of urgen-
land hat die Digitalisierung verpasst. Unsere Firmen produzie-     cy» ist bei den verantwortlichen Entscheidungsträgern durch-
ren vor allem mechanisch erstklassige Maschinen, die elektro-      wegs beobachtbar. Zweifel bestehen aber, ob sich alteingeses-
nisch aber den Anschluss an die Weltspitze verloren haben.»        sene Firmen mit erfolgreichen Geschäftsmodellen selbst in
(Keese 2016). Als Beleg für diesen Befund wird gerne der Um-       die Lage versetzen können, den erforderlichen Wandel mit der
stand zitiert, dass die dominierenden Unternehmen der Inter-       gebotenen Geschwindigkeit und Radikalität in Gang zu set-
netökonomie allesamt im Silicon Valley beheimatet sind. Die        zen. Zu sehr spricht die bekannte Pfadabhängigkeit gerade der
aktuelle Studie «Global Innovation 1000» zeigt, dass Amazon        erfolgsverwöhnten Unternehmen für die Vermutung, dass vie-
2017 mit seinem Forschungsbudget von 16,1 Milliarden Dollar        le den Sprung ins digitale Zeitalter nicht schaffen werden. In
VW weltweit von Platz 1 verdrängt hat. Hinter Amazon folgen        der öffentlichen Diskussion werden für diese These gerne pro-
Alphabet (Google) und Intel – alles Giganten der digitalen Welt.   minente Beispiele zitiert: Nokia für das Mobiltelefon, Quelle
VW ist auf Platz 5 zurückgefallen.                                 für den Versandhandel, viele kleinere und größere Zeitungs-
   Die Hoffnungen für eine Aufholjagd liegen zum einen auf         verlage in der Medienbranche, die klassischen Player in der
einer Stärkung der Gründer- und Start-up-szene. Die diesbe-        Musikindustrie, etc.
züglichen Ökosysteme in Berlin und München werden gerne               All diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie zu lange auf
als vielversprechende Entwicklungen genannt. Zum anderen           die weitere Optimierung ihrer tradierten Geschäftsmo­delle
setzt man auf die wachsende Bereitschaft der etablierten Un-       vertraut und die Abzweigung in die ernsthafte Entwicklung al-
ternehmen, sich geschäftlich komplett neu zu erfinden, um so       ternativer Antworten auf sich ändernde Kundenbe­­dar­fe und
das Chancenpotenzial, das mit der digitalen Revolution ver-        technologische Möglichkeiten verpasst haben. Dieses Grund-
bunden ist, offensiv zu nutzen. Dabei gehen die Meinungen,         muster der Unternehmensentwicklung, das unter ande­rem
ob die dafür erforderliche Innovationskraft tatsächlich entwi-     Christensen in seinem «innovator’s dilemma» beschreibt (1996),

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ist an sich kein neues Phänomen. Es wird jetzt allerdings im           Industrie 4.0). Inzwischen ist für diese Innovationsanliegen
Zuge der digitalen Transformation erheblich verschärft, da wir         ein eigener Forschungscampus in Renningen entstanden, der
es hier vielfach mit exponentiellen Verläufen zu tun haben.            für 1200 Forscher und Entwickler Platz bietet und dem Cowor-
                                                                       kingspace größerer Start-up-zentren gleicht.
Wie bewältigen Unternehmen ihre aktuellen                                 Die gesamte Automobilbranche steht weltweit vor den größ­
Innovationsherausforderungen?                                          ten Herausforderungen ihrer Geschichte: Neue Antriebssys­te­
Pfadabhängigkeit ist alles andere als ein Naturgesetz. Es gibt         me werden den fossilen Brennstoff ablösen, das autonome Fah­
eine Vielzahl von Unternehmen, die erfolgreich ins digitale Zeit­      ren forciert eine weitere Computerisierung des Fahrzeugs und
alter aufgebrochen sind. Die Axel Springer AG voll­zog bereits         schließlich stehen insbesondere für die Ballungszentren ganz
2006 einen radikalen Wechsel in ihrer Digitalisierungsstrategie.       eigene Mobilitätslösungen ins Haus. Hier kristallisierten sich
Neue Tochterfirmen entstanden, die bisherige geschäftliche Ak­         neue Geschäftsmodelle heraus, in die das Auto lediglich als
tivitäten, wie das Bedienen der Ru­briken­märkte, konsequent           Hardware miteingebettet ist. Mit Blick auf diese Veränderun-
in die digitale Welt transformierten (wie Step­stone für die Stel-     gen hat Daimler bereits 2008 mit der Autoverleihplattform
lenmärkte, Ladenzeile.de oder Idealo als Preisvergleichsma-            Car2go gestartet. Diese Initiative mündete 2012 in einer eige-
schine, etc.). Springer hält heute über 200 Be­tei­li­gungen an        nen, deutlich breiter angelegten, Daimler Mobility Services
Onlineunternehmen weltweit. Die Firma machte 2016 bereits              GmbH. Ein Kernprodukt dieser Ausgründung ist eine App, ge-
67,4 Prozent ihres Umsatzes von 3,3 Milliarden Euro im Be-             nannt «Moovel», die den Kunden die Wahl zwischen unter-
reich digitaler Medien. 2017 werden es schon 72 Prozent sein.          schiedlichen Mobilitätsdiensten eröffnet. Bereits im Jahr 2020
   Volkmar Denner, CEO von Bosch, ist fest entschlossen, den           will das Unternehmen in diesen Bereichen eine Milliarde Euro
größten Automobilzulieferer der Welt in einen «Digitalkonzern»         umsetzen. Begleitet werden die Innovationsanstrengungen
umzubauen (z. B. durch Smart Home-Lösungen für das «intel-             neu­erdings durch das Projekt «Prototyp Daimler 2020», mit des­
ligente» Haus oder durch Lösungen für das selbstfahrende               sen Hilfe das Unternehmen insgesamt agiler, flexibler und vor
Auto oder durch Bosch Connected Industries für das Thema               allem wesentlich innovativer werden will.

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Auch klassische technologieorientierte Industrieunterneh-           mentieren zurzeit auf ganz unterschiedliche Weise damit, wie
men wie General Electric zeigen, wie der Sprung ins digitale        sie neben der Bewältigung ihres angestammten Geschäftes
Zeitalter gelingen kann. Der langjährige, gerade aus seiner         sehr viel weitreichendere, radikalere Innovationspotenziale
Funktion ausgeschiedene CEO dieses Unternehmens, Jeffrey R.         für sich erschließen können.
Immelt, hat diesen Transformationsprozess eindrucksvoll ge-            So hat der Heizungshersteller Viessmann einen eigenen
schildert: «We were a classic conglomerate. Now people are          Fonds («Vito Ventures») aufgelegt, dessen Aufgabe es ist, in
calling us a 125-year-old start-up». Aber auch in den digitalen     Start-ups zu investieren, die die smarthome-Vernetzungsstra-
Welten benötigen tiefergehende Transformationen ihre Zeit.          tegie des Unternehmens unterstützen. Der Automobilzuliefe-
General Electric ist jetzt im siebten Jahr seines strategiegelei-   rer ZF hat eine eigene Tochter, die ZukunftsVenture GmbH,
teten Umbaus. Immelt dazu: «I hate to say it, but transformati-     gegründet, die ein ganzes «Eco-System» von Start-ups, mit de-
on takes time». Auf dem Weg in diese neue geschäftspolitische       nen es Jointventures bzw. Beteiligungen gibt, zu steuern ver-
Identität hat General Electric eine Reihe früher ausgesprochen      sucht. Andere veranstalten zeitlich begrenzte, punktuell
prägender Glaubenssätze hinter sich gelassen, wie die primä-        durchgeführte Inno­vationslabs, Hackathons oder gründen ei-
re Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Optimierung ste-         gene Corporate Inkubatoren bzw. Acceleratoren (siehe Glos-
hender Prozesse (Stichwort Six Sigma). Stattdessen heißt es         sar, Seite 101) wie etwa die Deutsche Telekom, ProSiebenSat 1,
heute: «Companies get into trouble, when process – not outco-       SAP oder neuerdings auch Haniel. «Inzwischen gibt es kaum
mes for customers – becomes the endgame».                           mehr einen Dax-Konzern, der kein Start-up im Portfolio hat»
                                                                    (Keese 2016). Rund ein Drittel aller deutschen Großunterneh-
                                                                    men betreibt laut einer Capital Studie solche Innovationsiniti-
«Auch in den digitalen Welten benötigen                             ativen in der einen oder anderen Form (Deburba, Neurohr
tiefergehende Transformationen ihre Zeit.»                          2015). Eine internationale Studie ermittelte im gleichen Zeit-
                                                                    raum bei 38 Prozent der befragten Unternehmen eigens einge-
Als leuchtendes Beispiel für die Selbstveränderungsfähigkeit        richtete Innovationszentren zur Entwicklung neuer technolo-
angesichts sich disruptive verändernder Marktverhältnisse wird      gischer Lösungen und auf Disruption angelegter Geschäfts-
gerne Netflix zitiert (O’Reilly, Tushmann 2016). 1997 gegründet     modelle (Solis et al. 2015).
als Fernleihe-Videothek (basierend auf einer Onlinebestellba-
sis mit Postversand) positionierte sich Netflix als Alternative
zu Blockbuster, der Nummer 1 am Markt, mit seinen über 6000         Hilfreiche Theorien aus der
Filialen und mehr als 40 Millionen Kunden. Zehn Jahre später        Management- bzw. Organisations-
erfolgte der Schwenk vom Versender zur Download-Plattform,
weil es billiger geworden war, einen Film übers Netz zu ver-        forschung
schicken als per Post. Dann löste Streaming die Download-           Sucht man in der einschlägigen Forschung nach bereits em­
Plattformen ab. Wieder führte Netflix diesen Wandel an, weil        pirisch untermauerten, theoriebasierten Konzepten, die die
man rechtzeitig in die erforderliche technologische Basis in-       Erfolgswahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Spielarten der
vestiert hatte. Letztlich entschloss sich Netflix vor wenigen       In­novation abschätzbar machen, so ist das Angebot im Mo-
Jahren, wegen der steigenden Rechtekosten selbst in die Pro-        ment noch überschaubar. Zu jung ist das Phänomen und zu
duktion von Inhalten einzusteigen – mit großem Erfolg, wie          heterogen sind die Ausgangsbedingungen in den einzelnen
etwa die Serie «House of Cards» zeigt. Dieser Schritt hat die Er-   Unternehmen. Verständlicherweise erlebt die Ratgeberlitera-
tragskraft der nach wie vor rapide wachsenden Abonnenten­           tur rund um diese spezifischen unternehmerischen Heraus-
zahlen weiter deutlich ansteigen lassen. Blockbuster da­gegen       forderungen gerade einen erheblichen Aufwind, versucht sich
musste ungeachtet seiner jahrelangen marktbeherrschenden            doch die gesamte Beratungsbranche für diese aktuellen The-
Position bereits 2010 Insolvenz anmelden.                           men in Stellung zu bringen (vgl. Rogers 2016).
   Was zeichnet Unternehmen aus, die sichtlich eine Selbst­            Überlegungen zur Bewältigung der Gleichzeitigkeit einer
erneuerungskraft als «organizational capability» in sich einge-     Optimierung des bestehenden Geschäftes und der Suche nach
baut haben? Wie können Unternehmen befähigt werden, aus             dem radikal Neuen lieferten bereits Ansätze zur Lernfähigkeit
ihren angestammten geschäftspolitischen Pfaden auszuzustei­         von Organisationen (March 1991), evolutionstheoretische An-
gen und sich rechtzeitig in wesentlichen Dimensionen unter-         sätze der vorausschauender Selbsterneuerung (Wimmer 2007),
nehmerisch neu zu erfinden? Was veranlasst andere Unter-            Strategieentwicklungskonzepte am Beispiel von Intel (Burgel-
nehmen wiederum, trotz ihrer Marktmacht und finanziellen            mann 2002) und die Diskussion um die Möglichkeiten und
Stärke, dies nicht zu tun oder mit den eingeleiteten Verände-       Grenzen einer nachhaltigen Dynamisierung von «organizatio-
rungsanstrengungen zu scheitern? Viele Unternehmen experi­          nal capabilities» (Schreyögg & Kliesch-Eberl 2007). Für einen

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ausführlicheren Theoriediskurs würde es sich lohnen, auch auf          Dienst­leitungen zu entwickeln. Überlebenswichtig ist aus sei-
diese Theorieansätze zurückzugreifen. Im Folgenden konzen-             ner Sicht deshalb die Fähigkeit, sich schnell und regelmä­ßig
trieren wir uns aber in aller Kürze auf fünf ausgewählte Theo-         grundlegend zu wandeln, um sich angesichts der sich rasch
rieressourcen. Sie können im aktuellen Ringen um angemes-              verändernden Rahmenbedingungen immer wieder neu zu
sene Antworten auf die beobachtbare Veränderungsdynamik                erfinden.
als erste Orientierungslandkarten und Reflexionshilfen in un-             Dazu erforderlich ist für heutige Organisationen nach Kot-
terschiedlichen Kontexten dienen.                                      ter neben der hierarchischen Struktur (erstes Betriebssystem)
                                                                       eine zusätzliche netzwerkartige Struktur (zweites Betriebssys-
Das Innovator’s Dilemma                                                tem). Er versteht darunter eine bewusst geschaffene Organisa-
Clayton Christensen beschreibt in seinem Innovator’s Dilem-            tion, in der Freiwillige aus der Organisation hierarchieüber-
ma, wie erfolgreich etablierte Unternehmen Gefangene ihres             greifend an Innovation und Veränderung arbeiten. Das duale
eigenen Erfolges werden. Sie können sich weder aus ihrem be-           Betriebssystem als eine Kombination von Hierarchie und
stehenden profitablen Kerngeschäft zurückziehen noch sind              Netzwerk verspricht Individualismus, Kreativität und Innova-
sie in der Lage, mit ihren eingespielten Prozessen und Struktu-        tion, welche die hierarchische Organisation alleine nicht be-
ren erfolgreich in kleinen, neuen Märkten mit zweifelhaften            reitstellen kann. Die Verbindung erfolgt im Wesentlichen über
Erfolgsaussichten zu arbeiten. Als Ursache dafür nennt Chris-          Personen, die Teil beider Betriebssysteme sind. Eine entschei-
tensen erstens, dass sich ihre Ressourcenvergabe an Kunden             dende Rolle spielt dabei auch das Top Management, weil von
und Investoren orientiert und damit dazu führt, dass Ideen,            ihm die Initiierung und Aufrechterhaltung des Netzwerks aus-
welche die Kunden (noch) nicht wollen, systematisch verwor-            geht und die wechselseitige Befruchtung der beiden Betriebs-
fen werden. Diese Orientierung führt zur Ablehnung von dis-            systeme sicherzustellen ist.
rupten Technologien. Zweitens können kleine Märkte nicht das              Das Accelerate-Konzept basiert auf Kotters Ansatz «Lea-
Wachstumsbedürfnis großer Unternehmen befriedigen. Drit-               ding Change», geht aber über die Betrachtung eines episoden-
tens tun sich etablierte Unternehmen mit ihren etablierten             haften und einmaligen Veränderungsprozesses hinaus. Es hat
Planungstechniken schwer, (noch) nicht existierende Märkte             vielmehr den Anspruch eines permanenten Beschleunigers,
zu analysieren. Viertens sind ihre bestehenden Werte, Prozesse         der fortwährend für eine Kultur der Agilität innerhalb einer
und Fähigkeiten vielfach unzulänglich und schwer veränder-             Organisation sorgt. Inhaltlich aufbauend auf Kotters Change-
bar. Fünftens führt das ingenieurgetriebene Over-Engeneering           Konzept beinhaltet es acht Beschleuniger der Organisation:
zur Übererfüllung von Kundenerwartungen und generiert Ni-              Das kollektive Bewusstsein der Dringlichkeit bezogen auf eine
schen für disruptive Innovationen, da ein Großteil der Nutzer          überlebenswichtige strategische Gelegenheit erzeugen, eine
die von den etablierten Unternehmen angebotene Leistung                Führungskoalition aufbauen und involviert halten, eine strate-
ohnehin nicht in vollem Umfang nutzt.                                  gische Vision und entsprechende Initiativen entwickeln, ein
   Als Konsequenz für etablierte Unternehmen folgert Chris-            Heer von Freiwilligen mobilisieren, Widerstandsphänomene
tensen unter anderem, dass diese eine vollkommen unabhän-              erkennen und konsequent überwinden, kurzfristige Erfolge er­
gige Organisationseinheit schaffen sollten, die weit entfernt von      zielen und feiern, die Beschleunigung nachhalten und die Ver-
der Mutterorganisation existiert. Sie sollte vollkommen eigen-         änderung institutionalisieren.
verantwortlich sein und über eigene Ressourcen verfügen –
klein genug, um sich auch für kleine Erfolge zu begeistern –           «Das Accelerate-Konzept macht die Ko-
und eine eigene Kultur und eigene KPIs entwickeln.
   Kritisch wird an Christensen allerdings angemerkt, dass in
                                                                       existenz von Hierarchie und Netzwerk zum
einer Zeit, in der 75 Prozent aller Start-ups scheitern und 90         expliziten Element des Organisationsdesigns.»
Prozent niemals Gewinne erwirtschaften, sein Begriff der dis-
ruptiven Innovation inzwischen inflationär genutzt wird und            Das Konzept macht die Ko-existenz von Hierarchie und Netz-
sein Modell der disruptiven Innovation eigentlich nur be-              werk – die ja in so gut wie allen Organisationen ein bekanntes,
schreibt, warum Geschäftsideen scheitern (Lepore 2014).                wenn auch oft implizites Phänomen ist – zum expliziten Ele-
                                                                       ment des Organisationsdesigns. Die Kombination von fest­ge­
The dual operating systems                                             fügter Linienorganisation und von projektförmig organisier-
John P. Kotter kritisiert in seinem Buch «Accelerate» (2014) die       ten Innovationsinitiativen auf einer quasi hierarchiefreien
tradierte hierarchische Verfasstheit etablierter Unternehmen.          Basis der Selbstorganisation ist tatsächlich in einer Reihe von
Deren «hierarchisches Betriebssystem» reicht demnach nicht             Unternehmen in Gang gesetzt worden. Für die Gestaltung
mehr aus, um in einer turbulenten Welt frühzeitig die Risi­ken         des darauf gerichteten Changeprozesses greift Kotter auf sei­
und Potenziale zu erkennen und innovative Produkte und                 ne bekannten acht Schritte zurück. Allerdings wird das Vor­ge­

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henskonzept dem Komplexitätsgrad der aktuell anstehen­den          Etablierte Organisationen betonen (weil unter kurzfristigem
Veränderungsherausforderungen in der Regel jedoch nicht            Erfolgsdruck stehend) üblicherweise zu sehr die Exploitation
gerecht.                                                           auf Kosten der Exploration. Es überrascht daher nicht, dass
                                                                   angesichts der aktuellen Herausforderungen rund um das The­
Exploration — Exploitation oder die ambidextre                     ma Digitalisierung und der damit verbundenen Suche nach in-
Organisation                                                       novativen Praktiken und Prozessen, die stärkere Hinwendung
James March (1991) bietet mit seiner Unterscheidung von orga­      zu Start-ups, Inkubatoren und Innovationszentren (und deren
nisationalem Lernverhalten in den Dimensionen Explo­ra­tion        Explorationspraktiken) zu einer – wenn nicht der zentralen –
und Exploitation eine weitere Perspektive auf das Ne­ben- und      Herausforderung für die langfristige Existenzsiche­rung etab-
Miteinander von Corporates und start-up-förmig organisier-         lierter Organisation geworden ist. Die sorgfältigen Fallana­ly­
ten Innovationsaktivitäten. Exploration umfasst Tätigkeiten wie    sen von O’Reilly und Tushmann zeigen eindrücklich den Vor-
Suchen, Variieren, Experimentieren, Spielen, Entdecken und         aussetzungsreichtum solcher Unternehmensentwicklungen.
Forschen, die auf die Entwicklung neuer Potenziale ausgerich-      Dabei ist die Gefahr groß, dass die erforderlichen Veränderun-
tet sind, um damit auf sich verändernde Umweltanforderun-          gen im bestehenden Geschäft und die start-up-förmig organi-
gen reagieren zu können. Exploitation umfasst Tätigkeiten wie      sierten Prozesse zur Entwicklung des Neuen einander blo­
Prozesse kontinuierlich zu optimieren, Effizienzsteigerungs-       ckieren, statt zu einer Quelle wechselseitiger Stimula­tion zu
potenziale zu entdecken und konsequent zu realisieren. Hier        werden. Für diese erfolgreiche Verzahnung bei gleichzeitig ge­
geht es darum, den eingeschwungenen Zustand in allen Di-           trenntem Agieren gibt es wohl noch keine ausgetretenen Pfa-
mensionen noch leistungsfähiger zu machen.                         de, die sich für schlichtes Kopieren anbieten würden.
   Nach March unterscheiden sich diese beiden Modalitäten
im Erfolgreichmachen eines Unternehmens fundamental. Sie           Two Routes to Resilience
stehen innerhalb eines Unternehmens in Konkurrenz um be-           Gilbert et al. (2012) beschreiben in ihrem Ansatz zur Transfor-
grenzte Ressourcen und sind in der organisationalen Praxis         mation etablierter Unternehmen zwei unterschiedliche For-
nur schwer miteinander vereinbar. Gerade die Sorge um ein          men von gleichzeitig notwendiger Transformation: Auf der
konstruktives Miteinander der beiden so konträren Steue-           einen Seite sehen sie die Repositionierung des Kerngeschäfts
rungsmodi ist aus Sicht von March entscheidend, wenn Orga-         und die Anpassung des laufenden Geschäftsmodells an sich
nisationen langfristig am Markt bestehen wollen. Beide leisten     radikal verändernde Marktanforderungen (Transformation A).
aus seiner Sicht einen unterschiedlichen, aber jeweils unver-      Auf der anderen Seite sollten Organisationen separate, disrup-
zichtbaren Beitrag zur langfristigen Überlebensfähigkeit von       tive Geschäfte entwickeln, die als Quelle des zukünftigen
Organisationen.                                                    Wachstums dienen (Transformation B).
                                                                       Als bekanntes Beispiel für den dualen Transformationsan-
                                                                   satz zitieren die Autoren IBM. In den 1990ern transformierte
«Für eine erfolgreiche Verzahnung                                  man dort das Kerngeschäft der geschützten Server Software
bei gleich­zeitig getrenntem Agieren gibt                          zum offenen Standard und entwickelte gleichzeitig eine globa-
es noch keine ausgetretenen Pfade,                                 le Service Organisation als Basis für das zukünftige Wachstum.
                                                                       Um die notwendige Gleichzeitigkeit der Transformation zu
die sich kopieren ließen.»                                         ermöglichen, bedarf es eines organisationalen Prozesses, den
                                                                   die Autoren «Fähigkeitsaustausch» nennen. Mit dessen Hilfe
Der Umgang mit der gleichzeitigen Exploration und Exploita-        können ausgesuchte Ressourcen geteilt werden, ohne den je-
tion hat unter dem Stichwort «Ambidexterity» (ursprünglich:        weiligen Operationsmodus der beiden unterschiedlichen Or-
Beidhändigkeit) inzwischen zu einer regen Debatte um die           ganisationswelten zu beeinflussen. Damit kann das etablierte
Möglichkeiten ihrer Gleichzeitigkeit im organisationalen All-      Geschäft möglichst gut und langfristig gesichert werden und
tag geführt. Näher ausgeführt und theoretisch untermauert ha­      gleichzeitig das neue Wachstumsgeschäft die notwendige Zeit
ben diesen Ansatz O’Reilly und Tushmann (2004). In ihrem           und Unterstützung erhalten, um sich zu etablieren.
jüngsten Buch (2016) rekonstruieren sie anhand einer Fülle             Für diesen Fähigkeitsaustausch zeigen die Autoren fünf
von Fallbeispielen, wie Unternehmen diese Art von «organiza-       Prozessschritte auf: Erstens, ein klares und nachhaltiges Com-
tional capability» entwickeln, worin genau sie besteht und wa-     mitment der obersten Führung etablieren (keine Teilzeitver-
rum andere an solchen Veränderungsvorhaben gescheitert             antwortungen auf nachgeordneter Ebene). Zweitens, die Iden-
sind. Im Zentrum ihrer Untersuchungen stehen ganz spezifi-         tifikation der Ressourcen, die die beiden Organisationen teilen
sche Führungskonstellationen und wohl durchdachte Organi-          können oder müssen (häufig den Brand oder Kundendaten).
sationslösungen, die diese «Beidhändigkeit» ermöglichen.           Drittens der Aufbau von Austauschteams (mit klaren Verant-

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Thomas Schumacher, Rudolf Wimmer | Gleichzeitig optimieren und neu erfinden? | Schwerpunkt   | Reflexion

wortungen auf beiden Seiten). Viertens der Schutz der jeweili-        losere Formen der Kopplung zwischen beiden Seiten beob-
gen Organisationsgrenzen (z. B. keine Einmischung des tradi-          achten. Dabei wird die Stärke der Kopplung in Organisatio­
tionellen Geschäfts in das neue Start-up). Fünftens die Ent-          nen nach Weick vor allem bestimmt durch Regeln, Vorschrif-
wicklung und Skalierung des neuen Geschäfts (z. B. externe            ten (inkl. der Reaktion auf die Verletzung der Vorschriften),
Stakeholder vom neuen Geschäft überzeugen).                           durch die Schnelligkeit von Feedback und die Aufmerksam-
   Gilbert et al. veranschaulichen das Vorgehen anhand eines          keit, die der Kopplung gewidmet wird. Diese beziehen sich
Beispiels aus der Verlagsbranche, bei dem die Deseret News            bei der Kopp­lung von traditionellen Unternehmen und Inno­
ein erfolgreiches internes start-up in einem bedrohten Kern-          vati­onszentren in der Regel auf finanzielle und kundenbezo-
geschäft gründete. Dabei kam dem Fähigkeitsaustausch zwi-             gene Themen.
schen den beiden Transformationen eine zentrale Rolle zu,
um das schnelle Wachstum des Start-ups überhaupt erst zu
ermöglichen und es zum Wachstumsmotor des Unterneh-                   «Die dargestellten Theorien bieten erste
mens zu machen. So teilten sich die Deseret News and Deseret          Ansätze für ein gelingendes Zusammenspiel
Digital u. a. Marke, redaktionelle Inhalte, Marketing Ressour-
cen sowie Daten der Kunden und deren Lesegewohnheiten.
                                                                      von etablierten Unternehmen und Start-ups.»
   Dieser Ansatz weist eine große Verwandtschaft mit dem
Ambidextery-Ansatz auf. Zu Recht allerdings betonen Gilbert           Zusammenfassend bieten die dargestellten Theorien erste An-
et al das Erfordernis, dass sich auch das bestehende Geschäft         sätze für ein gelingendes Zusammenspiel von etablierten Un-
angesichts der Digitalisierungsanforderungen weitreichenden           ternehmen und Start-ups. Die Optimierung des bestehenden
Veränderungen unterziehen muss. Es gilt also zwei Transfor-           (und in der Praxis meist bedrohten) Geschäfts gleichzeitig zur
mationsprozesse klug miteinander zu verzahnen, die jeweils            Suche nach neuen geschäftlichen Möglichkeiten zu organisie-
ganz unterschiedlichen Logiken des Veränderns folgen.                 ren, erfordert offensichtlich ein paralleles Engagieren im Mo-
                                                                      dus der Exploitation (March) und einer damit verbundenen
Lose und feste Kopplung                                               Transformation A (Gilbert et al) als auch der Exploration und
Lose oder feste Kopplung zwischen zwei Systemen bezeichnet            einer damit verbundenen Transformation B. Das damit ein-
nach Karl Weick (1985) die Fähigkeit eines Systems, auf ein an-       hergehende anspruchsvolle Nebeneinander entsprechend fest
deres System weniger oder mehr Einfluss zu nehmen (z. B. ein          oder lose (Weick) oder auch hierarchisch oder netzwerkförmig
traditionelles Unternehmen auf ein Start-up oder umgekehrt).          (Kotter) zu verbinden, ist in vielen Organisationen derzeit Ge-
Weick spricht von einer losen Kopplung (loose coupling) von           genstand aufmerksamen Lernens. Was diese Art der Beidhän-
zwei Systemen, wenn sie durch wenige oder schwach ausge-              digkeit für das Organisationsdesign und die Führungspraxis
prägte gemeinsame Variablen verbunden sind und trotz der              bedeutet, wird abschließend erläutert.
Verbindung ein hoher Grad an Autonomie der gekoppelten
Systeme beobachtbar ist (Weick untersuchte dieses Phäno-
men zuerst in Erziehungseinrichtungen).                               Kernherausforderungen
   Bei loser Kopplung erfolgen wechselseitige Einflüsse gele-         Das Zusammenspiel von Corporates mit Start-up-
gentlich und indirekt, während bei fester Kopplung Einflüsse          förmig operierenden Innovationseinheiten
ständig, wesentlich und meist sofort erfolgen. Dementspre-
chend bleiben in lose gekoppelten Systemen auftretende Stö-           Angesichts des sich intensivierenden Innovationswettbewerbs
rungen eher begrenzt, während bei fester Kopplung Einflüsse           sind etablierte Unternehmen im Zusammenspiel mit Innova-
weitreichende Wirkungen haben und schneller auf andere Be-            tionszentren gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die
reiche durchschlagen.                                                 nicht mehr nur die effizienzorientierte Ausnutzung der vor-
   Interessanterweise zeigen sich in vorhersehbaren Umwel-            handenen Potenziale ermöglichen, sondern auch die Suche
ten engere Kopplungen zwischen Systemen, während in un-               und Erschließung neuer Potenziale fördern. Wenn dieses Mit-
vorhersehbareren Umwelten mit breiteren Reaktionsspielräu-            einander so gegensätzlicher Organisationswelten gelingen soll,
men eher losere Kopplungen zu beobachten sind. Die höhere             braucht es ein von allen Seiten akzeptiertes hochattraktives
Variabilität der Verbindungen der losen Kopplung sorgt hier           Zukunftsbild, das alle Beteiligten in ihrer ganzen Unterschied-
dafür, dass Veränderungsimpulse an den richtigen Stellen auf-         lichkeit auf ein gemeinsames Entwicklungsziel strategisch aus­
gegriffen und verarbeitet werden.                                     richtet. In diesem gemeinsamen Zukunftsbild wurzeln die da-
   Schaut man auf das Verhältnis von traditionellen Unter­neh­        für geeigneten Führungsstrukturen und Führungspraktiken,
men zu Innovationszentren wie internen oder externen Start-           die differenzierten Organisationslösungen und Changepro-
ups, Inkubatoren oder Acceleratoren so lassen sich engere und         zesse sowie eine von allen geteilte Kultur.

OrganisationsEntwicklung Nr. 1 |2018                                                                                              15
Reflexion | Schwerpunkt | Gleichzeitig optimieren und neu erfinden? | Thomas Schumacher, Rudolf Wimmer

Konsequenzen für das Organisationsdesign                                         ken, bis hin zu den entsprechenden mentalen Führungs- und
Der Blick zurück zeigt auch in der Vergangenheit bereits Unter-
                                                         Unter­                  Kooperationsmodellen, die ein Sowohl-als-auch der beiden
nehmen, denen es gelungen ist, über Jahrzehnte gleichzeitig                      Welten ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem
– im Sinne von March also beidhändig – ihr bestehendes Ge-                       bereichsübergreifende Prozesse, die verteilte Aufgaben horizon-
                                                                                                                                        horizon­
schäft erfolgreich zu betreiben und sich selbst parallel dazu                    tal verknüpfen und Komplexität damit bearbeitbar machen.
neu zu erfinden. Für Unternehmen wie Intel, 3M, Gore oder                        Eine entscheidende Rolle spielen gelingende teamförmige Ko-
IBM scheint die Gleichzeitigkeit von Effizienzorientierung                       operationsformen, um die unweigerlich unterschiedlichen
und Neuerfindung oder Exploitation und Exploitation durch-                       Logiken bereichsübergreifender Kooperation zu managen.
aus vereinbar. Eine ganz entscheidende Frage ist dabei die Ge-
staltung des Organisationsdesigns, d. h. der Logik der organi-
                                                        organi­                  Konsequenzen für die Führungspraxis
sa
sa­tionalen
   tionalen Binnendifferenzierung und die sorgfältige Pflege                     Beispiele wie etwa das in dieser Ausgabe vorgestellte Zu-   Zu­
einer ausgeprägten Innovationskultur. Wie kann die Organisa-                     sammenspiel bei der Otto Group (vgl. S. 4–9) zeigen, dass eine
tion sich arbeitsteilig organisieren, um gegenüber den höchst                    traditionelle Orientierung an Effizienz, Planung und die Ver-
volatilen und widersprüchlichen externen Anforderungen von                       meidung von Abweichungen durchaus vereinbar ist mit einer
Effizienz und Innovation simultan antwortfähig zu bleiben                        Haltung, die auf Überraschung, Probieren und iteratives Ler-
(für Intel vlg. Burgelmann 2002, für IBM O’Reilly & Tushmann                     nen ausgerichtet ist.
2016)?                                                                              Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, wie Führung
                                                                                 mit den Widersprüchen im Sinne eines Sowohl-als-auch kon-
«Wie können Flexibilität, Innovation,                                            struktiv umgehen kann. Mit Bedacht ist deshalb der struktu-
                                                                                 relle Ort zu wählen, an dem die mit der Ambidexterity not- not­
                               Verantw
unternehmerische Agilität und Verant­ wor-
                                       or­                                       wendigerweise verbundenen Zielkonflikte sorgfältig bearbei-
tungsübernahme in die bisherigen                                                 tet werden können. Bewährt hat sich dafür das Top Manage-
                                                                                 ment als Team, wenn es für diese Aufgabe die erforderliche
Organisationsstrukturen der Unternehmen                                          Arbeitsfähigkeit besitzt (O’Reilly & Tushmann 2016). Voraus-
integriert werden?»                                                              setzung dafür ist, dass die spezifische Eigenlogik der beiden
                                                                                 Welten im Team angemessen vertreten ist und dass man aus-
Für die meisten etablierten Unternehmen ist dies gleichbe-                       reichend Zeit und Aufmerksamkeit für den anfallenden Ent-
deutend mit der Frage, wie Flexibilität, Innovation, unterneh-                   scheidungsbedarf zur Verfügung stellt. Ein wesentlicher Inhalt
merische Agilität und Verantwortungsübernahme in die bis-                        der an diesem Ort immer wieder zu bewältigenden Entschei-
herigen Organisationsstrukturen integriert werden können. Die                    dungslasten ist die achtsame Steuerung der mit Ambidexterity
Logik des gewählten Organisationsdesigns wird damit nicht                        einhergehenden Veränderungsprozesse. Unterstützt werden
nur zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor (Stichwort: Com-Com­                    solche Führungsleistungen durch eine unternehmensweit ge-
peting by design), sondern hängt unmittelbar mit der Art und                     lebte Kultur, die die notwendige Achtsamkeit für Überraschen-
Weise zusammen, wie die Führungsprozesse strukturiert wer-                       des, Ungewöhnliches und Unerwartetes entwickeln hilft, um
den und Führung alltäglich praktiziert wird. Es geht also um                     die relevanten Umwelten permanent zu beobachten und die
Führungsstrukturen, Führungs- und Kommunikationsprakti-                          Eindrücke kollektiv zu verarbeiten. Nur mit einer durchgängi-
                                                                                 gen «customer-centric organizational cultur» (Goran et al 2017)
                                                                                 eröffnet sich Organisationen die Möglichkeit, neben der Routi-
                                                                                                                                         Routi­
Abbildung 1                                                                      nisierung ihrer Abläufe und der damit verbundenen Effizienz-
Implikationen für Führung und Organisation                                       steigerung, ihre eingeschwungenen Zustände angesichts der
                                                                                 von außen aufgenommenen neuen Impulse, immer wieder zu
     Führungs- und             Akzeptanz der Unterschiedlichkeit:                hinterfragen und zu innovieren. Damit leistet die Führung ei-
     Kooperationsmodelle       Sowohl-als-auch- statt Entweder-oder-Haltung      nen unverzichtbaren Beitrag für den Aufbau einer organisatio-
                                                                                 nalen Fähigkeit zur kontinuierlichen Selbsterneuerung.
     Organisationsziele        Routinisierung von Prozessen zur Effizienz-
                               steigerung und Hinterfragung der eingeschwung-       Dieser hohe Anspruch – der sich nicht nur auf die oberste
                               enen Zustände zur kontinuierlichen Selbst-        Führung beschränkt – bringt letztlich neue Herausforderun-
                               erneuerung                                        gen für das Personalmanagement und speziell für die Anbin-
                                                                                 dung der Führungskräfte und Mitarbeiter an die Organisation
     Strategie als Basis der   Akzeptiertes Zukunftsbild, das alle Beteiligten
     Organisations- und        in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit auf ein       mit sich. Organisationen werden in ihrer Leistungsfähigkeit
     Führungsentwicklung       gemeinsames Entwicklungsziel ausrichtet           immer abhängiger davon, ambidextrie-fähige Mitarbeiter und
                                                                                 Führungskräfte zu halten und außergewöhnliche Talente zu

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gewinnen. Die Gleichzeitigkeit von Exploration und Exploita-
tion betrifft darüber hinaus letztlich alle zentralen Führungs-
dimensionen, die in beiden Welten ihre je unterschiedliche
                                                                         Literatur
Ausprägung erfahren müssen. Um ein Verständnis für diese
bzw. um die Akzeptanz der praktizierten Unterschiede ist auf
allen Führungsebenen immer wieder neu zu ringen. Nur so
entsteht eine tragfähige Kultur des sich wechselseitig Erfolg-
reichmachens.

Ausblick
                                                                        • Burgelmann, R. A. (2002). Strategy is Destiny: How Strategy-Making
Wie können traditionelle Unternehmen und ihre start-up-för-
                                                                          Shapes a Company’s Future, Stanford (Free Press).
migen Innovationsanstrengungen sich trotz ihrer strukturel-
len, prozessualen und kulturellen Unterschiedlichkeit wech-             • Christensen, C. M. (2013). The innovator’s dilemma: when new
selseitig inspirieren und konstruktiv kooperieren? Sowohl die             technologies cause great firms to fail: Harvard Business Review Press
praktischen Erfahrungen (siehe hierzu auch die Beispiele in               (1. Aufl. 1996).
diesem Heft) als auch die konzeptionell-theoretischen Ansät-
                                                                        • Gilbert, C., Eyring, M. & Foster, R. N. (2012). Two routes to resilience.
ze machen die fundamentale Unterschiedlichkeit der beiden
                                                                          Harvard Business Review, December 2012, S. 65—73.
Organisationstypen deutlich. Sie zeigen aber auch, dass ein
alle Seiten vitalisierendes Miteinander unter inzwischen gut            • Goran J., LaBerge, L. & Srinivasan, R. (2017). Culture for a digital
angebbaren Bedingungen gelingen kann.                                     age; in: McKinsey Quarterly July 2017, S. 1—13.

                                                                        • Keese, Ch. (2016). Silicon Germany. Wie wir die digitale Transforma­
                                                                          tion schaffen, 3. Auflage, Knaus Verlag.

                                                                        • Kotter, J. P. (2014). Accelerate: building strategic agility for a faster-
                                                                          moving world, Harvard Business Review Press.

                                                                        • Lepore, J. (2014). The Disruption Machine. What the gospel of inno­
                                                                          vation gets wrong; in: The New Yorker vom 23. Juni 2014.

                                                                        • March, J. G. (1991). Exploration and Exploitation in organizational
                            Prof. Dr.                                     Learning. Organization Science, 2(1), S. 71—87.

                            Thomas Schumacher                           • O’Reilly, C. A. & Tushman, M. L. (2016). Lead and Disrupt. How to sol-
                            Redakteur der OrganisationsEntwicklung,       ve the innovator’s dilemma, Standford Business Books.
                            Professor für Organisation und Führung
                            an der katholischen Hochschule Freiburg,    • O’Reilly , C. A. & Tushman, M. L. (2004). The Ambidextrous Organi-
                            Forschungsprogrammleiter und Lehr­            zation. Harvard Business Review, April 2004, S. 74—81.
                            beauftragter der Universität St. Gallen,
                            Partner osb-international, Wien             • Rogers, D. L. (2016). The Digital Transformation Playbook. Rethink
                            Kontakt:                                      your business for the digital age, Columbia University Press.
                            thomas.schumacher@osb-i.com
                                                                        • Schreyögg, G. & Kliesch-Eberl, M. (2008). How dynamic can orga­ni­
                                                                          zational capabilities be? Towards a dual-prozess model of capability
                                                                          dynamization; in: Strategic Management Journal vol. 28, S. 913—933.
                            Prof. Dr.                                   • Solis, B., Buvat, J., Subjahmanyam, KVJ & Singh, R. R. (2015). The
                            Rudolf Wimmer                                 Innovation Game: Why and How Businesses are Investing in Innovation
                            Professor für Führung und Organisation        Centers, URL: https://www.de.capgemini-consulting.com/resources/
                            am Institut für Familienunternehmen der
                            Universität Witten/Herdecke. Partner der      the-innovation-game/
                            osb international AG, ehemaliger Heraus-
                            geber der OrganisationsEntwicklung          • Weick, K. E. (1985). Der Prozess des Organisierens. Suhrkamp.
                            Kontakt:                                    • Wimmer, R. (2007). Die bewusste Gestaltung der eigenen Lernfähig-
                            rudolf.wimmer@osb-i.com
                                                                          keit als Unternehmen; in: Tomaschek, N. (Hrsg.): Die bewusste Organi-
                                                                          sation, S. 39—62, Carl Auer.

OrganisationsEntwicklung Nr. 1 |2018                                                                                                                   17
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