Glotzt nicht so romantisch! - Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz - null41
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Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz www.null41.ch Oktober 2018 SFr. 9.– Glotzt nicht so romantisch!
M A X HUBACHER IN EINE M FIL M VO N H A NNE S B AUMG A R TNER Wer Kultur hat, wirbt im KULTURPOOL kulturpool.com DER LÄUFER Das verhängnisvolle Doppelleben eines Spitzensportlers, nach einer wahren Schweizer Geschichte WWW. DERLAEUFER .CH DerLaeuferFilm AB 4. OKTOBER IM KINO Kulturalarm abonnieren: www.kulturalarm.ch i sofort be druckt ab dien AG UD M e UD Medien AG Hochwertige Print- und Mediendienstleistungen Reusseggstrasse 9 6002 Luzern aus der Zentralschweiz T +41(0)58 344 91 91 www.ud-medien.ch 2 CORPORATE PRINT DIGITAL 041 – Die unabhängige PUBLISHING Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Ein UnternehmenOktober der galledia-Gruppe 2018 MEDIA MARKETING
EDITORIAL In der Oktoberausgabe IT’S A MAGAZINE! widmen wir drei Geschichten dem Fokusthema «Kulisse». Mit neugierigem Blick schauen wir hinter die Szenerien, die So! Da ist es nun! Endlich! Ausgekocht in uns gewollt täuschen und in andere Welten den heissen Sommermonaten an der Bruch- entführen. Nick Schwery besuchte Theater- strasse 53 in Luzern. Ein neues macherinnen und Kulissenbauer in der Sophie Grossmann Magazin ist geboren und Sie, ganzen Zentralschweiz. Robyn Muffler Redaktionsleiterin liebe Leserinnen und Leser, suchte die Begegnung mit den fremden halten es als Erste in den Hän- Besuchern in der eigenen Stadt und Patrick den – das neue 041. Wir bekennen Farbe, Blank nimmt sich der wahren Geschichte nicht nur beim Drucken! des Löwendenkmals an. Auch bei den Inhaltlich neu ausgerichtet und in kom- Kolumnen haben wir ausgemistet und plettem Redesign, schlagen wir als Maga- aufgemotzt: Daria Blum aka Eurobitch2000 zinmacherinnen eine neue Richtung ein bringt in unserer neuen Kolumne «Kosmo- und bekennen uns mit dieser Oktoberaus- politour» die Kunstwelt Londons ins Heft gabe zum Rebellentum! Eine unabhängige und Anna Chudozilov zeigt beim Schwa- Stimme für Kultur in der Zentralschweiz nenplatz einem Carfahrer den Mittelfinger – erhebt sich in den kommenden Ausgaben natürlich nur in unserer Politkolumne und zollt dem Kulturschaffen in Luzern, «Poliamourös». Uri, Ob- und Nidwalden, Schwyz und Zug «041 – Das Kulturmagazin» ist ein Respekt. Aufruhr und Veränderung tun stolzer «rebel with a cause», aber hoffentlich gut, schon nur, um wichtige Diskussionen nicht ohne Compagnons! Wir freuen uns über die Unabdingbarkeit eines vitalen und auf inspirierende Begegnungen, engagierte vielfältigen Kulturlebens auszulösen und Konversationen und zahlreiche Rückmel- zu führen. Da darf es zukünftig gerne auch dungen zu dem neuen Ich des Kulturmaga- mal wilder, lauter und farbiger werden! zins. Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 3
INHALTSVERZEICHNIS Das Theater entwächst der Bühne > Seite 10 Barbara Gwerder malt die Urner Bergkulisse > Seite 28 Editorial > Seite 3 RAUS Guten Tag > Seite 5 Poliamourös Anna Chudozilov über Stinkefinger am Schwanenplatz > Seite 6 Kosmopolitour Shoppingtrip mit Eurobitch2000 > Seite 7 HIER! Stadt – Land Blick durch die Linse aus Luzern und Flüelen > Seite 8 Überdacht Wozu ein monatliches Kulturmagazin? Silvia Henke und Antje Stahl über die Notwendigkeit von Kulturjournalismus > Seite 20 Das Theater verlässt die Bühne und (er)findet neue Kulissen: vierfacher Werkstattbesuch in der Zentralschweiz > Seite 10 Nachschlag > Seite 22 Ausgefragt Die monatlichen drei Fragen an Kulturschaffende im Hintergrund > Seite 25 KNIPS, KNIPS, Käptn Steffis Rätsel > Seite 58 Gezeichnet > Seite 59 SELFIESTICK Was lieben sie? Was hassen sie? Acht Touri-Anekdoten aus Luzern KULTURKALENDER > Seite 14 OKTOBER 2018 TRÄNEN AUS STEIN Löwendenkmal revisited > Seite 18 Musik > Seite 24 Literatur > Seite 26 Film > Seite 28 Kunst > Seite 30 Bühne > Seite 32 Veranstaltungen > Seite 33 Ausstellungen > Seite 48 Adressen A-Z > Seite 54 Ausschreibungen > Seite 56 4 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2018
GUTEN TAG GUTEN TAG, SWISSCOM Du hast uns schwer ins Grübeln gebracht. Nicht, weil Dein Abo-System sich ständig ändert und vor lauter Transparenz ganz vernebelt wird – wer kein schnelleres Internet will, muss das anmelden! Aber zurück zum Thema: Du hast uns einen Befehl per SMS zukommen lassen, der uns für Stunden verwirrte. Das heisst, wir sind immer noch ratlos. Was willst Du uns sagen? GUTEN TAG THEATERPLANUNG/ Dabei war Deine Kommunikation gewohnt TESTPLANUNG THEATER kristallklar: «Schluss mit unerwünschten LUZERN Anrufen. Aktivieren Sie jetzt den kosten- Kaum ist die Sauregurkenzeit vorbei, losen Callfilter.» Du forderst uns also auf, auf wird die Theaterplanung/Testplanung unerwünschte Anrufe zu verzichten? Dabei Theater Luzern in grossen Schritten und weisst Du doch, dass wir uns nichts sehnli- mutig weitergetrieben. Diverse Medienmit- cher wünschen als das – abgesehen von teilungen erreichten uns: einmal vonseiten Deinen SMS. des Luzerner Theaters unter dem klingenden Übrigens: Jetzt, wo Du keine Fernseh- Titel «Testplanung Theater Luzern / Ganz- werbung und Printinserate mehr schaltest heitliche Immobilienbetrachtung GIB». und damit die ganze Schweizer Medienbran- Besonders couragiert darin dieser Satz: «Uns che in den kollektiven Herzinfarkt treibst, geht es um effiziente Produktionsabläufe könntest Du doch sämtliche Telefonspesen und niedrige Betriebskosten.» Öh, uns auch! der Journalistinnen und Journalisten in der Echt, Effizienz und niedrige Kosten sind Schweiz übernehmen. Das wäre mal effekti- besonders und gerade in der institutionali- ve Medienförderung! Im Gegenzug und aus sierten Kunst die erstrebenswertesten schierer Nettigkeit würden wir alle brav Parameter ever. In diesem ganzen Wisch den Callfilter installieren und Deiner Direct- ging’s übrigens um das «Potenzial des Thea- Marketing-Agentur somit bescheidenen terplatzes Luzern». SP-Kantonsrat Marcel Erfolg ermöglichen. Über Interesse an dieser Budmiger stellte dem Kanton Luzern ein Partnerschaft würden wir uns also schaurig paar Tage zuvor eine «dringliche Anfrage freuen! Theaterplanung» – denn: «Im Aufgaben- und Finanzplan 2018 bis 2021 wird unter H3 Glg & ttyl vom Smartphone des «041 – Das Kultur- Kultur zur Neuen Theater Infrastruktur magazin» (NTI) erwähnt, dass die veraltete Infrastruk- tur mittelfristig keinen geregelten (Theater-) Betrieb mehr zulassen wird.» Diese Dring- lichkeit! Kaum zum Aushalten! GIB! H3! NTI! Salle wienomol? Modulables Sali, «041 – Das Kulturmagazin» Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 5
POLIAMOURÖS Das mit dem Stinkefinger machte ihn frei in den Feierabend trollen. Aber da Prozent» beziffert. Am Schlamassel rasend. Der Carchauffeur schwang stand dieser Car. In grossen Lettern auf den Strassen sind also nicht die drohend seine Faust. Ich riss mein prangte darauf ein Versprechen von Ausländer schuld. Den haben wir uns Handy aus dem Sack und Harmonie und Komfort, das jedem selbst eingebrockt. Text: Anna Chudozilov fotografierte: ihn und wie und jeder in dieser Stadt wie Hohn Dabei hätte doch alles anders Illustration: Anja Wicki er mit seinem verdammten und Spott reinkommen muss. kommen können, vielleicht gibt es gar Bus den ganzen Zebrastrei- Leider ist das mit dem Stinkefin- einen Weg zurück. Denn was wie ein fen blockierte. Er sprang auf die Stras- ger wohl ähnlich kindisch wie meine Traum tiefgrüner Ökos klingt, war se, ich radelte um mein Leben. Zum Quengelei über Touristencars. Ja, ist 1950 Realität: Auf Luzerner Strassen Glück verlor er den Mut, ruckelte bald so, Touristen bringen no Komfort und waren zehnmal mehr Velos als Autos wieder dem Schwanenplatz entgegen. no Harmonie. Touristen bringen Geld. unterwegs. Trotzdem fing die Opti- Das kann man alles kindisch Und wo wir schon bei unbequemen mierung zugunsten der Kraftfahrzeu- finden, klar. Aber ich wusste nicht Wahrheiten sind: 99 Prozent des Ver- ge schon viel früher an. Man scheuch- wohin mit meiner Wut über die kehrs in der Innenstadt haben nichts te alle ohne vier Räder an den Rand, Selbstverständlichkeit, mit der er sich mit den Cars zu tun. Das meine ich das ungehinderte Fliessen des motori- den Platz nahm. Auf dem Zebrastrei- wortwörtlich. In der Mobilitätsanaly- sierten Verkehrs war bereits vor hun- fen sollen Kinder und Rollator-Omas se der Stadt Luzern vom vergangenen dert Jahren das Ziel. Die mit den Autos sicher über die Strasse kommen, Jahr wird der Anteil der Reisecars am hatten schnell eine richtig gute Lobby Studis und Businesschics sich unfall- Gesamtverkehr mit «weniger als 1 entwickelt, die Leute auf ihren Drah- teseln not so much. Ein Finger ist Wirklich schuld an dem Desas- ter sind all die Leute, die morgens aus ihren Dörfern mit Geländewagen in die Stadt reinfahren, ihren Lohn aber irgendwo da draussen auf dem Land versteuern. All die Menschen, die ihre ein Anfang Kinder zum Fussball, in den Geigen- unterricht, ins Karate und zum freien Malen vom ach-so-schönen Land in die Stadt karren. All jene, die ihre mit Billigklamotten vollgestopften Plas- tiksäcke am Samstagnachmittag un- möglich ohne Auto nach Buchrain ex- pedieren können. All die Deppen, die Kultur konsumieren kommen ohne Rücksicht auf Natur. Jedenfalls: alle anderen. Ganz sicher: nicht ich. Nein, ich bin ja sogar Aktivistin. Ich betreibe Politik der ersten Person, mein vermeintlich privater Stinkefin- ger ist politisches Konzept. Aber warum bloss fällt es mir so leicht, meinen Aktivismus auf das eine Pro- zent zu konzentrieren, auf Menschen im Abendverkehr, anstatt auf Struktu- ren und ihre Erschaffer? Wo bleibt meine Wut auf all die Verkehrsplane- rinnen, die Politiker, all die Entschei- dungsträgerinnen, die persönliche Be- quemlichkeit über allgemeines Wohl- befinden stellen? Klar, so ein Finger ist ein guter Anfang. Aber wollen wir or- dentlich Komfort und Harmonie auf den Strassen dieser Stadt, haben wir alle Hände voll zu tun. 6 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2018
KOSMOPOLITOUR 6.30 PM – dinner: Victoria Miro Private View Prosecco (thank you very much). Speak to a couple of art-dudes about not buying ANY work. * HELLO? hello? can you HEAR ME? – hel- lo?????????? – CAN YOU HEAR ME???* (Facetime, August 2018) 10 PM – dinner vol. 2: Uber Eats free delivery — it’s the summer of the century. AKA korean fried chicken in my face and daria is listening to: her own music, my dudes — «Can I get an upgrade?» london Luzern → London: 17. 08. 2018 #bigbabybanquet * who tf brought this [2 kg pasta salad] to my party* #appalling Eurobitch2000 quichenachosvideoprojektionundgrü- nersalatanimationenvongeorgebular- caundkelalaplastikhündliundgesalze- Die Künstlerin Daria Blum tanzt Schwanensee auf nedariaharibozuvielpastasalatundge- Vimeo und kämmt ihr Haar auf YouTube. Zum Glück dichtevonrussellbennettsavocadoska- puttefernseherundfehlendefernbedie- gibt es den Tesco. nungenceceliajohnsonskirchenklan- gundvogelgesangcolumbianischerpis- london 12 PM – lunch, comitvielzuwenigcocacolamitreinge- xx. xx. 2018 and *I’m fucking starving* mischt vonjessicasequeiramitge- (Eurobitch, April 2017) brachtnachderlesungihresromans- 9 AM – breakfast: undweissedunkleundmilchschoggi- shower + ass on the bus!!!!!!! ein grund, mein atelier wieder zu ver- mithimbeerenaufrosatellernundten- daria is listening to: supertramp – from lassen und mir ein ich-bin-so-fucking- questionsiaskedafterseeingmarathonma- now on sparsam-meal-deal* von Tesco** zu ho- natthemoviesvonmeinermamagenia. len = Cheddar Cheese sandwich + Coconut seit vier jahren lebe und arbeite ich in water + Chocolate Chip Cookies (the C Thank you all for coming. Will post some london. vollzeit als performance-, stands for haute Cuisine) pictures on here soon x video-, musikkünstlerin (teilzeit als photoshop-retoucheurin). nach mei- bevor ich nach london zog, lebte ich in rgb(255, 211, 239); nem kunst-studium an der central paris (vorkurs kunst) und in berlin (vi- saint martins zog ich letztes jahr mit suelle kommunikation UdK bzw. hos- elf anderen künstlern und ex-csm- stu- tel-rezeptionistin bzw. nachtschatten- denten in unser geteiltes atelier in gewächs). dazwischen war ich luzer- elephant & castle ein. ner ballettlehrerin und auktionsassis- tentin und ein austauschsemester lang heute arbeite ich an meinem neuen an der kunstakademie in den haag. projekt «big baby banquet» = eine event-se- * drei-teiliges SUPERmarkt menu zum preis Daria Blum rie mit dinner, drinks, performances, kunst von 3.— GREAT British Pounds *1992 in Luzern, seit 2011 unterwegs. und lesungen. ** Migros in England www.dariablum.com Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 7
STADT 12. SEPTEMBER, EICHWALDSTRASSE LUZERN «Im Eichwäldli weht ein frischer Wind.» Mik Matter 88 041 041––Die Dieunabhängige unabhängigeStimme Stimmefür fürKultur Kulturininder derZentralschweiz. Zentralschweiz. Oktober 2018
LAND IM IM SEPTEMBER SEPTEMBER,, FLÜELEN FLÜELEN URI URI «Besuch der Kilbi in Flüelen, eine Erinnerung wird wach: Die Grossmutter Die Grossmutterdrückt drückt mir mir heim- lich eineneinen heimlich in Aluminium in Aluminium ge- packten Fünfliber gepackten Fünfliberin die in die Hand, den jährlichen Hand, den jährlichen Kilbi-Batzen. Kilbi- Damit schwinge Batzen. Damit schwinge ich michichauf die Himalayabahn mich auf die Himalayabahn und esse Magenbrot und esse Magenbrot aus der rosaroten aus der Tüte.» rosaroten Tüte.» Nathalie Bissig Natalie Bissig Oktober 2018 041 041––Die Dieunabhängige unabhängigeStimme Stimmefür fürKultur Kulturininder derZentralschweiz. Zentralschwei 9
FOKUS SCHILLER IST TOT. ES LEBE DIE BÜHNE! Herbstzeit heisst immer auch Theaterzeit. Ob zu Wasser oder zu Land, ob in der Stadt oder anderswo: Neue Bühnenräume werden erforscht. Ein Blick auf vier Kulissen in Luzern, Arth, Stans und Brunnen. 10 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober Oktober2018 2018
FOKUS: KULISSE Für Friedrich Schiller waren sie die «Bretter, die die Welt selber Autoren sind und die für hier eine neue Geschich- bedeuten». Die Rede ist von den Bühnen, den Räumen, in te erzählen». Künstlerinnen sollen sich vertieft mit denen Schauspiele inszeniert werden. Im postmodernen Luzern auseinandersetzen und dabei Geschichten «alles kann alles sein» kann die Bühne mehr als nur die finden, so wie es auch bei «Traumland» geschehen ist. Welt bedeuten. Sie kann selbst Kornél Mundruczó und Kata Wéber haben sich dafür in- Text: Nick Schwery die Welt sein – und gleichzeitig tensiv mit Luzern beschäftigt, Einheimische nach Luzer- Illustration: Melk Thalmann eine andere bedeuten. Das The- ner Geschichten und Mythen gefragt und daraus einen ater gestaltet die dafür vorgese- fiktiven Stoff entwickelt. Das Spielen solcher Geschich- henen Räume also nicht mehr nur, es sucht und findet ten in durchlässigen Räumen soll wiederum auf die Lu- seine Bühnen auch ausserhalb der eigens dafür gebauten zerner Wirklichkeit einwirken und den Einheimischen Häuser. Wo und wie setzen die Zentralschweizer Theater neue Perspektiven auf das scheinbar Bekannte ermögli- in der Spielzeit 2018/19 ihre Bühnenräume? Was wollen chen. Dafür war «Traumland» der programmatische sie dabei erreichen? Wir haben bei vier Produktionen Beginn der Theatersaison. Neue Räume und Erzähl- einen Blick in die Raumlabore gewagt und dabei Bühnen- formen wird es auch in den Produktionen «Biedermann bildner, Regisseurinnen, Autoren, Dramaturginnen und und die Brandstifter», die in Luzerner Wohnungen spielt, Produktionsleiterinnen gefunden, die Räume suchen, der «Open Kitchen» als grosser, öffentlicher Küche und in rendern, modellieren, domestizieren, mit ihnen intera- «Schuld und Sühne», gleichzeitig auf zwei Bühnen, zu gieren, sie befragen und ihre Ideen auf sie abstimmen. entdecken geben. Das Luzerner Theater, das sich unter Benedikt von «Die schmale Gratwanderung ist der Reiz. Peter dem Raumtheater verschrieben hat, lud sein Publi- kum bereits zum Spielzeitauftakt dazu ein, die Sparte Dass man nicht mehr unterscheiden kann Schauspiel beim Betreten von neuen Ufern zu begleiten. zwischen Fiktion und Realität. Aus der «Traumland» von Kornél Mundruczó und Kata Wéber Fiktion, die konkret ist, weil wir in der Land- hiess die Produktion, welche Sandra Küpper, künstleri- sche Leiterin Schauspiel, als Dramaturgin begleitete und schaft unterwegs sind, entsteht eine neue als eine «theatrale Schiffstour» beschreibt. Die 100 Zu- Realität.» schauer pro Aufführung wurden dabei auf die knapp 50 Meter lange MS Saphir gebeten. Stets ungewiss blieb Sandra Küpper dabei, wo die Bühne anfängt und wo sie aufhört. Denn neben dem Schiff wurde auch die Landschaft bespielt. Jede Lage des Schiffs war eine bewusste Setzung. Natür- Klassischer geht es im Theater Arth zu und her, wo lich sei das im Vergleich zu einer Produktion auf einer im Januar 2019 mit «Orpheus in der Unterwelt» eine Ope- klassischen Bühne ein viel grösserer Aufwand, sagt rette auf dem Programm steht. Konrad Reichmuth, der Küpper. Denn «da ist erst mal gar nichts eingerichtet. langjährige Bühnenbildner des Hauses, verweist aber Weder auf dem Schiff noch in der Landschaft. Alles ist darauf, dass Orpheus eine spezielle Operette sei und mit erst mal komplett nicht Theater.» Um die vorbeiziehende ihrem direkten Bezug zur griechischen Mythologie aus Landschaft zu bespielen, musste sie zuerst eingegrenzt der Reihe tanze: «So etwas hat es in Arth noch nie gege- werden. Dafür hat sich das Produktionsteam das Ufer in ben!» Die Tatsache, dass die Operette in einer Fantasie- Ruhe vom Schiff aus angeschaut und dabei beobachtet, welt von Göttern, Halbgöttern und anderen sonderbaren wann man den Blick auf die Landschaft schwenkt und Gestalten spielt, eröffne ihm Möglichkeiten, die er sonst wo der Fokus auf dem Schiff bleibt. Dabei stellten sich nicht habe: «Es gibt hier keine Vorlagen in der Realität – ganz viele Fragen, wie die Dramaturgin erklärt: «Wie abgesehen natürlich aus der Kunstgeschichte – aber es ist führt man die Geschichte? Wann führt man sie nach Mythologie, da sind die Grenzen nicht fest gesetzt. Man draussen, wann behält man sie drinnen? Wie schafft kann seinen eigenen Vorstellungen folgen.» Sobald die man es, gleichzeitig Schiff und Grundstücke oder Ufer- alte Produktion beendet ist, beginnt Reichmuth jeweils abschnitte mit Schauspielern zu bespielen? Wie baut mit dem Sondieren für die nächste. Er sitzt dazu mit der man dort eine Art Bühne, ein Set, wie baut man dort Regisseurin zusammen und widmet sich der Textlektü- Kunst auf?» Für Küpper ist klar, dass das Setzen von re und den Bildern, die ihm dabei im Geist erscheinen. neuen Räumen auch neue Erzählformen bedingt. Einen Dann wird skizziert, diskutiert, weiter skizziert. Die «Hamlet» auf der MS Saphir kann sie sich nicht vorstel- groben Zeichnungen dienen Reichmuth dann als Vorla- len. Viel eher wollte sich das Luzerner Theater am Genre ge für ein detailreiches 3-D-Modell. Am Computer re- des Autorenfilms orientieren. Küpper dachte dabei «an konstruiert er dabei den Bühnenraum des Theaters in Regisseure, die mit Autoren zusammenarbeiten oder Arth und könne bereits mit Lichtstimmungen arbeiten, Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 11
Im Luzerner «Traumland» brennt’s. Bild: Ingo Höhn verschiedene Objekte austesten und Probleme lösen, David Leuthold, der im Laientheater Stans für das bevor sie überhaupt Realität werden. Zwischen visuali- Bühnenbild der Produktion «Little Shop of Horrors» (Pre- sierter und tatsächlicher Wirklichkeit können aber miere im Januar) zuständig ist, arbeitet im Gegensatz zu Löcher aufklaffen. Der Realitätscheck kommt denn auch Reichmuth nicht mit Visualisierungen, sondern mit erst in der Zusammenarbeit mit dem Bühnenbauer und einem Bühnenmodell im Format 1:20. Auch er beginnt seinem Team. Nicht alles, was sich visualisieren lässt, mit Skizzen und Diskussionen. Später stellt er im Modell kann man in die Wirklichkeit umsetzen. So hält sich seine in kleine Objekte transformierte Ideen in den Reichmuth noch zugeknöpft, wenn er über das Bühnen- künstlich verkleinerten Raum – um die Wirkung zu bild zu Orpheus befragt wird. In der Visualisierung, so testen, Vorschläge zu präsentieren und daraus Pläne zu viel könne er unter anderem verraten, seien fahrbare erstellen. Das Musical «Little Shop of Horrors» sei zwar Wolken geplant. Wie sie in die Wirklichkeit übersetzt märchenhaft, aber für seine Arbeit sieht er trotzdem werden und was sie beim Publikum auslösen, das lässt schon vieles als vorgegeben: «Es braucht zum Beispiel sich erst ab Januar erfahren. den Blumenladen, einen Raum für die fleischfressende Pflanze, einen Zahnarzt, Strassen.» Und trotz dieser Set- zungen, welche der Text verlange, geniesse er viele Frei- heiten, weil die Geschichte keinen Anspruch auf Realität «Mit virtuellen Modellen kann man schon habe. Er verspricht «ein Bühnenbild ohne Hochglanz, in früh sehr viel ausprobieren. Man kann die dem die Welt ein bisschen zugrunde geht, in dessen Zen- Objekte in die Bühne hineinstellen, ver- trum die Pflanze stehe und in dem ein schönes, passen- schieben, raufziehen. Vielfach kann man des Licht eingesetzt wird.» Für die Umsetzung arbeitet der Bühnenbildner mit einer Crew aus Freiwilligen zu- damit Probleme schon lösen, bevor sie sammen. Sie seien es, die Leuthold immer wieder aufzei- entstehen.» gen, was trotz kleinem Budget möglich ist und ihn damit regelmässig «ins Staunen versetzen.» Der gelernte Speng- Konrad Reichmuth ler, der in seinem Leben schon auf den Bühnen des Luzer- ner Theaters, des Schauspielhauses Zürich und des Bol- 12 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2018
FOKUS: KULISSE schoi-Theaters in Moskau gewirkt hat, spricht aufgrund re in einem geschlossenen, fahrenden Bühnenraum? Wie des Engagements und des Willens lieber vom Liebhaber- geht man mit der permanenten Anwesenheit aller Betei- statt vom Laientheater. Dass Leuthold dabei das Bühnen- ligten um? Spielt die Landschaft ausserhalb des Bootes bild als zurückhaltenden, aber klar definierten Rahmen mit? Und wie stellt man sich der Situation, dass 30 Gäste konzipiert, in dem die Laienschauspieler im Vordergrund mit den Akteuren buchstäblich im selben Boot sitzen stehen, ist dabei nur konsequent. werden?» Antworten auf diese Fragen will Stierle wäh- rend der Proben auf dem Schiff finden. Sticht das Schiff dann Ende November für die Aufführungen in See, wird «Das Bühnenbild soll das Spiel nicht kon- es kaum zu unterscheiden sein von anderen Schiffen, auf kurrenzieren. Es soll zurückhaltend und denen vielleicht tatsächlich ein Betriebsausflug stattfin- einfach sein. Was sich im Rahmen abspielt, det. Im Vergleich dazu sind die Passagiere der MS Aurora das Bühnenbild ist nichts anderes als ein aber einen Pakt mit der Kunst eingegangen. Den leichten kognitiven Schwindel, den sie davon tragen könnten, Rahmen, das ist das Wichtige.» wäre weder dem Schaukeln des Schiffs noch dem Alkohol geschuldet, sondern allein dem magischen Erlebnis auf David Leuthold dem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Während in Arth und in Stans der passende Raum «Ich finde es spannender, im öffentlichen zum Text erfunden und umgesetzt wird, hat das Lai- Raum zu inszenieren als auf einer Bühne. entheater Brunnen, ähnlich wie das Luzerner Theater, Mir gefällt die Vermischung der Realität für «Nachtfahrt in der Morgenröte» (Premiere im No- vember) die Textproduktion mit der Frage des Raumes eines Raumes mit der Fiktion eines verbunden. Für Autor Housi Denz und Regisseurin Textes.» Sophie Stierle ist es bereits die vierte gemeinsame Pro- duktion in Brunnen. Die vierte Produktion in Folge auch, Sophie Stierle die nicht in der Aula in Brunnen aufgeführt wird. «Alles ist besser als die Aula Brunnen», meint Stierle dazu. Weil Denz für seine Geschichte einen geschlossenen Raum Der Blick in die vier Theaterraumlabore zeigt: In im Kopf hatte und die Regisseurin den Wunsch nach der postmodernen Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und einem Ort in Bewegung verspürte, seien sie schliesslich Fiktion eröffnen sich Interaktionsmöglichkeiten. Es auf der MS Aurora gelandet, einem schmalen, 18 Meter wird nicht nur gesendet, sondern immer auch empfan- langen Fahrgastschiff. Ein Raum, ganz ohne Rückzugs- gen. Zwischen Fiktion und Realität, Schauspielerinnen möglichkeiten, nicht einmal für den Kapitän. «Damit und Publikum, Einheimischen und Auswärtigen; zwi- hatte ich genau die Situation, die ich brauchte», sagt schen dem Theater und seiner Umwelt. Das ist eine Ein- Denz, der seine fiktive Geschichte nach der Setzung des ladung zu einem Dialog. Nehmen wir sie an. Raums fertig geschrieben hat. Sie handelt von einem Be- triebsausflug und dem Tod, der seine Umsatzvorgabe er- füllen muss, obwohl seine Zielperson nicht an Bord ist. Stierle steht als Regisseurin vor der bewusst gewählten Tatsache, dass sie diese Geschichte an einem Ort insze- nieren muss, an dem sie nichts mehr verändern kann: «Ein Schiff ist und bleibt ein Schiff, mit all seinen Gege- benheiten.» Dieser Raum stelle ihr eine ganze Reihe an Fragen, wie Stierle dazu bemerkt: «Wie ist die Atmosphä- Laientheater Brunnen: Nachtfahrt in der Morgenröte FR 23. November bis SO 2. Dezember MS Aurora, Brunnen Laientheater Stans: Little Shop of Horrors SA 19. Januar bis SA 23. März Theater an der Mürg, Stans Theater Arth: Orpheus in der Unterwelt SA 19. Januar bis SA 29. März Theater Arth, Arth-Goldau Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 13
FOKUS: KULISSE Luzern: Freiz zeitppark und Fre eilichtm museu um? Verk komm mt un nsere e Stad dt zu einer Kulisse e? Werrden die Einhe eimisc chen genaus so zu Statisten wie die Touriistinn nen un nd Touuristen n? Ach ht Perrsönlichkkeitenn aus aller Weelt erz zählen, wie sie unserre Sttadt wahrneehmen n. DAS Hektisch wurde es in den Sommermonaten an den inner- die Gemüter erhitzt. In den Medien ist fortwährend die städtischen Tourismus-Hotspots. Am komplett umge- Rede von «Scharen», welche die Altstadtgassen «flächig stalteten l Grend dell – nachh dem Pllace Vendô dôme in Paris und d fluten», «verstopfen» fl f und d «üb berrollllen». Montana-Hote- derr Pl de Plaz azaa 66 in Sc az Scha hang ha ng gha haii de derr we welt ltwe lt weit weit lier lier Fri ritz tz Ern rnii sp pra rach ch sic ich h so soga g r fü ga fürr ei eine nen ne n Ei Eint ntri nt ritt ri ttsp tt sp pre reis is Text:: Rob byn Muffler drittwichtigste Uhrenumschlagplatz aus, den mit dem Car anreisende Tagestouristen und der Welt. Um das Löwendenkmal, von -touristinnen künftig zu bezahlen hätten. Im Freilicht- Mark Ma rk Twa wain in bes esch chririeb eben en als «da dass tr trau auri rigs gste te und bewewee- muse mu seum um Balalle lenb nbererg g we werd rdee da dass so geh ehanandh dhab abtt, wararum um gendste Stück Stein der Welt». Auf der Kapellbrücke, der nicht auch in Luzern? Auch von der SP wurde ein Vor- am häufi figstten fottografi f ierten t Sehenswü h ürdi digkkeit it der stoss einger i eiicht, h in dem ähnli lich he Ford derungen gestell llt Schweiz und ältesten Holzbrücke Europas, die einst gar werden: Cartouristen sollen sich an den durch die Ver- nominiert wurde d zur Wahl hl der neuen sieb ben Welltwun- kehrsbelastung verursachten Kosten beteiligen. der. Auch das Verkehrshaus darf sich als meistbesuchtes Masse ist real, als Phänomen oft zerstörerisch und Museum der Schwei h iz miit eiinem Superllativ i sch hmüück ken. ernst zu nehmen. Es handelt sich bei diesem Begriff aber Von den rund 12 Millionen Tagestouristinnen und -tou- auch um eine Abstraktion. Massen, das sind immer die risten pro Jahr kommt nur knapp eine Million aus dem anderen. In seinem Hauptwerk «Masse und Macht» Ausland, wie die Wertschöpfungsstudie von Luzern Tou- schrieb Elias Canetti, der Mensch fürchte nichts mehr als rismus aus dem Jahr 2014 belegt. Dennoch ist es die sicht- die Berührung durch Unbekanntes. Umso schlimmer, und spürbare Menschenmasse an den oben genannten wenn dieses Unbekannte in «Scharen» kommt. Zur Ab- Ballungszentren, die in der Debatte adressiert wird und wechslung soll mal nicht über diese Masse gesprochen 14 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2018
FOKUS: KULISSE werden, sondern mit Individuen, deren subje j ktiver Blick auf Luzern interessiert. An wen richten sich die goldenen Buchst h aben b übber dem Torbogen, b wo es heisst: «Welcome. l Will Wi llko ll komm kommen mm en in Lu Luze zern zern»? rn »? Und ist es ei eine ne Bes esch chri chrift ri ftun ft ung ung, g, die genauso gut über dem Eingang zu einem Freizeitpark hängen könnte? Dua ane Sch hlabach, 39, Montana, USA Geschichtslehrer Schauplatz: Stadtführung «Wirr kenne en nur diee Güter, Was Duane Schlabach in der Schweiz wiedergefun- die ihrr prrod duziertt.» den ha den hatt, kan annn al alss Ko Kompmplilime ment nt geseseh ehen en wer erde denn. Odederr Liu, 11, un nd Niaan Jinttong, 41, Proviinz Zhejjiang, China auch nicht: Das ist ganz davon abhängig, wie man sich Angeestelllter ein ner Leebensv versicherung Schaauplatz: Ka apellbbrücke selbst mit der Schweiz identifiziert. Er zumindest hat hier sein se in «De Deheheee eem» m» wie iede dere rent ntde deck cktt un undd wi wird rd nun die resestl tlii- chen vier Tage darauf verwenden, möglichst viele inter- Noch eine von insg gesamt drei Stunden bleibt ihnen nationale Schulen abzuklappern, um eine Anstellung zu in der Stadt, die sie einstimmig als «so wundervoll» be- erh er halt halt lten en. Fü Fürr den den Leh Lehrer hrer ver erkö körp kö rp per ertt di die e Sch Schw hwei eiz iz al all ll das das, zeichnen. Liu Jintong und sein Vater Nian stehen vor der was er verloren hat, als er mit 18 Jahren seine Amish-Ge- Kape Ka pell pe llbr llbrüc br ücke üc ke und sch chau auen au en den Ent nten en zu.u. Ihr hre e Fr Freu eude eu de,, an de an-- meinschaft in Ohio verliess: Naturverbundenheit, Tradi- gesprochen zu werden, versuchen sie gar nicht erst zu- tion tion, ei eine ne fam amililiä iäre re Gröröss ssee, Ein infafach chheheit it, La Lang ngsa samk mkei eitt rückzuhalten. Liu hat sein Repertoire an sprachlichen und Menschen, die seine antiquarischen Wortsalven ver- Vers Ve rsat atzs zstü tück cken en «mi mitt de dem m InInte tern rnet et»» ge gele lern rntt. Wäh ähre rend nd er stehen. Bevor Schlabach abreiste, wusste er selbst nicht, das erklärt, hält sein Vater die Kamera mindestens drei was das für eine Sprache ist, die er wie ein Artefakt mit Minuten dicht Mi h vor di die Gesiichter h seiiner Ziellobj bjekte. k Stolz l sich herumträg gt: «In Genf hett mich nimond verschtan- filmt er, wie sein Sohn das für die Reise mühevoll erlern- den. I waiss nicht, was dess isch, wass ich schwetze! Bern- te Englisch nun praktiziert. Es folgen mehrere Gruppen- detsch?» Nein, definitiv nicht. Vermutlich würde er in fotos mit der Autorin, ein Einzelporträt von ihr und d Sel- l Süddeutschland am ehesten fündig g, denn was der Ame- fies. Eine Konversation entsteht erst, nachdem alle rikaner spricht, klingt wie ein veralteter schwäbischer Di- Formen der Fixierung für die Ewigkeit durchexerziert alekt. Aber von Deutschland will er erst mal gar nichts sind. wissen, längst haben Luzern und die Schweiz sein Herz Drei Dr ei Län ändederr, zwö wölf lf Tag agee, 25 Mi Mitrtrei eise send nde e un undd ei einene erobert. Viele Amische würden gerne einmal im Leben in Reiseführerin aus China, die die Gruppe durch Europa das Land ihrer Vorfahren reisen. Sie dürften jedoch nicht führt: Ist so ein dichtes Programm nicht ungemein stres- «met dem Luftschiff fliegen», was natürlich ein Problem sig sig, ger erad adee be beii de derr ak aktu tuel elle lenn Hi Hitztze? e? Beieide de schchütütte teln ln die darstellt. «Desch Leben in Ohio isch wiee en Ballenberg» – Köpfe. Im Gegenteil: Sie sind begeistert! Eine weitere Ballenberg. Freilichtmuseum. Luzern: Diesen Vergleich umständliche Sprachakrobatik und mit interessanten bemü be müht hte e au auch ch Mon ontatana na-Hot Hotelelie ierr Fr Frit itz z Er Erni ni. Nu Nurr me meinintt Gesichtsausdrücken die Antwort: Nian wünscht sich, Schlabach die Kutschen, Erni die Cars. dass da ss in Lu Luzezern rn Jou ourn rnal alis isti tinn nnenen und Jou ournrnal alisiste ten n me mehr hr über China schreiben, damit sein Land den Menschen hier nähergebracht werde. Es wäre einfacher, meint er, wenn Chinesinnen und Chinesen auf mehr Verständnis stossen würden. «Für uns gibt es wenig ge Mögl g ichkeiten,, Eiinh heiimisch i hen zu begegnen. Wiir kennen nur di die Güter, die ihr produziert. Uhren ... Und Messer!» Trotz holpri- gem Englisch: eine klare Aussage. Was sie denn so gemacht hätten in den letzten Suche eta Ga avank kar, 49 9 und Sandeepp Gavan nkar, 48, Mumbai, Indien beiden Stunden in Luzern? «Shopping!» Nian zeigt stolz Sie e: We erbetex x terin im m medizinischen Bereich seine violette Umhängetasche. «Wir hatten ein Ge- Er: Führu ungsposten bei Siemens spräch mit einer einheimischen Verkäuferin über die Sch hauplatz: Löwendenkmal Tasche im Geschäft. Sie war so nett und hat uns sogar er- klärt, wie wir die Zollformulare auszufüllen hätten. Sandeep Gavankar ist aus beruflichen Gründen re- Sooooo nett!» Beide strahlen sie übers ganze Gesicht. gelmässig in der Schweiz. Jetzt aber sei er zum ersten Mal «Lächeln wir in die Welt, und die Welt lächelt zurück», mit seiner Frau hier – eine ganze Woche h lang. Von Luzern heisst es 2018 auf dem Titel der Kampagne vom Touris- sprechen sie mit höchstem Respekt. Sauber, sicher, «und mus Forum Luzern TFL. Ein erhobener Zeigefinger Züge, so organisiert und pünktlich wie die Menschen trägt manchmal Früchte. hier», schwärmen sie. Es folgt ein Blick hinüber zu den Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 15
FOKUS: KULISSE zahlreichen Touris, dicht gedrängt ans Wasserbecken, Di Sch Die hwestern erzäh ähllen, wiie ihnen das schli hlimmste Er- um den tränenden Löwen aus dem bestmöglichen lebnis ihres Lebens in der Schweiz zugestossen sei. 1975 Wink kell auff Bild ld einzufangen. f Die Schweiz h sei die ab bsolu- l hätten sie aufgrund eines Defekts 15 Stunden mit weite- te Top-Reisedestination für Menschen aus Indien. «Alles ren 70 Passagieren in einer Seilbahn am Berner Schilthorn wegen Bollywood!» Zahlreiche Filme würden in der ausgeharrt. Tilda steige seither in keine Seilbahn mehr, Schweiz spielen und diese als Kulisse inszenieren. Bei- meint Renate. «Fast ironisch angesichts dieser Anekdote, spielsweise auch in Engelberg, der indischen Hauptstadt dass wir heute im Verkehrshaus waren.» Angeregt plau- der Zentralschweiz und Schauplatz einer der bekanntes- dert Renate weiter, erzählt von Tickets für zwei Konzer- ten ten in indi discsche henn Fi Film lme: e: «Ei Eine ne bes esse sere re Wer erbu bungng gibibtt es te im KKL. Das Lucerne Festival sei der Grund, weshalb nicht!», lacht Sucheta und kramt ihr Smartphone hervor, sie hier seien. «Das KKL, prächtig!» – «Und die Menschen um den seit rund 1200 Wochen laufenden Blockbuster hier,, alle lieb.» Nur habe Tilda oft Schmerzen im Knie. nachzuschl h hlagen, dessen Namen siie siich h niei merken k Womi Wo mitt si sie e wi wied eder er bei der hum umpepeln lnde den n Ta Taub ubee la land ndet et. könne. «Dilwale Dulhania Le Jayenge» heisst der Bol- lywood-Klassiker mit dem indischen Megastar Shah Rukh Khan,, der seit 1995 täg glich in einem Kino in Mumb Mu mbai ai gez ezei eigt gt wir ird d. Sie läs ässt st den Tra rail iler er lau aufe fen: n: Ein Lieie- «Die e Schw weiiz is st wie die USA.» bespaar, das auf dem Titlis im Schnee tanzt oder sich vor Ama alie Karren Jans sson, 65 5, Kristiansand, Norwegen Re entnerin, ehemmals Dozzentin an einer Universität der hiesigen Bergkulisse umarmt – Idylle pur! «Die Schauplatz: Mühleplatz Schw Sc hweieiz z ist in Indien schlicht der Inbegriff von Roman- tik.» Einmal im Leben selbst diese sym y bolg geladene Kulis- se zu betreten und zu erleben, sei für viele Inderinnen Amalie Karen Jansson reist alleine, ist unterwegs und Inder ein grosser Traum. Die Mehrzahl der Filme auf unbestimmte Zeit und hat den ganzen Globus im wird im Berner Oberland gedreht, und zu einigen dieser Visier. Luzern ist ihr von ihrer Tochter ans Herz gelegt Drehorte im Saanenland wollen sie morgen auch hinfah- worden. Die Schweiz selbst kennt Jansson bereits von ren. Ob wohl ein romantisches Selfie auf Blumen mit einem längeren Aufenthalt vor dreissig Jahren. Drei Tage Bergen drinliegt? hat sie gebucht, ein Zimmer zu finden trieb sie ans Äusserste ihrer Kräfte – die meisten Hotels waren ausge- bucht. Die Norwegerin meidet Touristenorte, interes- siert sich herzlich wenig für weltbekannte Sehenswür- digkeiten. Und Luzern, so viel war nach wenigen Minu- ten te n fe fest stzu zust stel elle len n, ärg rger ertt si sie e. «Di Diee viel ielen en Tou ouri rist sten en in de derr Stadt mit ihren Selfie-Sticks; so was kann mich ganz nervös machen.» Was sie aber besonders störe: die fehlen- de Neugier der Einheimischen. «Die Schweiz ist wie die USA. Die Menschen interessieren sich nicht für das Rena ate, 75, und d Tilda a Weige el, 81, Hildeshe eim, De eutschland andere»,, sag gt Ja J nsson und fährt fort: Hier kreise alles um Renttnerin nnen Scha auplatz: Quuai, Nä ähe Lid dowiese e sich sich sel elbs bstt – ei eine ne Ins nsel elme mentntal alit ität ät, in inmi mitt tten en von Eur urop opaa. Komme es überhaupt mal zu einem Gespräch mit Ein- heimischen, würden selten Fragen an sie gerichtet. Die beiden Schwestern sitzen auf der Bank, ihre Weiter halte sie die historische Altstadt für kommerziell mitleidigen Blicke haften auf einer humpelnden Taube. eintönig, überfüllt und ohne jegliche urbane Spannung. Keine Sekunde bezweifeln sie, aus einem anderen Grund In die Neustadt gehe sie erst morgen. Ob ihr denn we- angesprochen zu werden als dem für sie einzig offen- nigstens die Naturkulisse gefalle? Sie winkt ab: «Schön, sichtlichen: Auch andere Menschen haben ein Herz für jaja, sehr schön.» Tiere. In einem eifrigen Redeschwall überschütten sie da- raufhin Anwesende im Radius von zehn Metern mit möglichen Taubenhilfsmassnahmen. Polizei, Tierarzt, Verkehrssicherheit am Schwanenplatz – ihre Ideen kennen keine Grenzen. Die Entscheidung fällt auf die Tierärztin, der sie am Telefon akribisch Ort und Stelle schildern. Empört ihr anschliessender Gesichtsausdruck, als die Ärztin ihnen mitteilt, dass es ihr nicht möglich ist, vorbeizukommen. Die Nüchternheit der Ärztin wühlt die beiden auf. Und ruft Erinnerungen wach, deren Ver- bindung zum Zwischenfall mit der Taube nur herstellen kann, wer Rettung selbst einmal dringend nötig hatte. 16 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2018
FOKUS: KULISSE erzähl ählt in fundi diertem Engli lisch, h wie i viiell siichh in seinem i Land in den letzten dreissig Jahren verändert habe. A xel Perriand d, 23, Nantees, Fra ankreic ch Damals sei Tourismus nur für die Elite möglich gewesen. Koch und d ewiig Reiisende er Schaupla atz: Kaffeee Kind d Jetzt kann sich auch die Mittelschicht, zu der seine Fami- lie gehöre, eine Reise ins Ausland leisten. «Hier wirkt alles Seit vier Jahren ist Axel Perriand unterwegs und klein und langsam.» Langsam? Ma Yao nickt. In Chengdu bleibt es womöglich sein Leben lang. Ob er sein Zuhause gebe es alle paar Monate eine neue Hightech-Metrolinie. vermisse? Vielleicht mal das Essen, nie aber den Komfort Zürich sei der einzige Bahnhof in Europa gewesen, wo er oder die Familie. Nach Luzern trampte der Koch von gedacht habe: «Endlich mal eine Haltestelle auf dem Ent- Ljubljana aus. Sein Refugium befindet sich in der Basel- wicklungsstand einer chinesischen Station.» Luzern strasse, wo er bei zwei jungen Frauen auf dem Sofa über- könne mit den Infrastrukturen seiner Heimat nicht ga g nz nachtet. Fast immer nutze er eine Couchsurfing-Platt- mith mi thal alte ten n, abe berr so sch chli limm mm wie in Pa Pari riss se seii es nic icht ht. Do Dort rt form für seine Reisen, weil dadurch unmittelbar privater hätten sie nur gestaunt über die rückständigen Metros, Raum betreten werden könne. Und Authentizität sei ja, die «chaotisch, dreckig» gewesen seien. «Menschen sind was er suche. Drei Tagge Luzern,, er fuhr Fahrrad,, spr p angg in teilweise auf dem Boden gesessen. So was würde in die die Re Reus usss un und d wa warr na nach chts ts im Lo Loka kall Ka Kaff ffee ee Kin ind d. Kön önnt ntee China nie passieren! Sicher nicht in Chengdu!» sich Axel vorstellen, hier zu leben? «Ich glaube nicht, dass Sein Eindruck von den Menschen hier in Luzern? mich dieser Ort genug herausfordern würde.» Er lacht «Sie geniessen mehr. In China müssen wir viel arbeiten, verlegen. Ihn erinnere die Umgebung von Luzern an um ein besseres Leben zu führen. Wir können es uns Neuseeland, nur mit deutlich mehr Touristen. Aber was noch nicht leisten,, zu verlang gsamen.» Er macht eine solle er auch dazu sagen, er sei ja selber Tourist auf Le- kurze Pause. «Vor zwanzig Jahren hätte ich mir nicht vor- benszeit. Aber nicht einer von der Sorte, die später sagen: stellen können, auf diesem Boot zu sitzen. Jetzt bin ich «Klar, I did Lucerne. I did Mount Pilatus. I did the Rigi.» hier, mit meiner Familie, für ganze 16 Tage!» Denn: Hinter dem Überbeg griff «Touristen» stecke ja j keine homogene Menschengruppe. Dasselbe gelte auch für die Touristenorte. Eine Stadt wie Luzern habe die Wahl, wie sie auf Bedürfnisse ausländischer Gäste re- agieren möchte. Die Altstadt nehme da eher eine gefügi- ge Haltung ein, hat Axel den Eindruck. Für seinen Ge- schmack zu sehr nach der Devise: Wir produzieren, was Anonymes Paar ihr wollt. Und er fragt: «Wo ist das Selbstbewusstsein?» Ignorrantinnen und Ignoranten Schauplatz: Seebrücke Sie stehen Si h auff der Seeb brü ückke undd knipsen i eif ifrig i Fotos. Alles folgt einer dramaturgischen Strenge; Einzel- fotoshootings, mit dem linken Bein in der Höhe oder einer neckischen Kusshand in Slow Motion. Die gemein- samen Selfies strotzen vor Erfindungsreichtum. Die Au- torin vermutet kreativen Esprit und spricht sie an. Die Reaktion: Erstarren. Salzsäulen-Tarnung. Ignorieren um jeden Preis. Vielleicht fragen sich die beiden Weitgereis- Lin Yao, 36 6, und d Ma Yao, 399, ten gerade: Woher kommt diese Stimme, was sagt sie und mit Tochter Hsiien-Tiien Yao o, 8, Che engdu, China was will sie? Ihr Disneyland zerstören? Die Schockstarre Sie: Physiiotherrapeutin Er: Angestellteer Prod duktions sfirmaa wird sicherheitshalber beibehalten. Ein Glücksfall,, denn Schaauplatz: Scchifffa ahrt Lu uzeern–AAlpnach hstad tats tatsäc ächl hlic ich h dr drin ingt gt die Sti timm mmee au auss de dem m Of Offf er erne neut ut zu ihnen. Hier scheint tatsächlich eine Einheimische das Die Unterwald Di lden verlä lässt das Luzerner Seebeck b ken. stille Einvernehmen, sie würden sich in einem Freizeit- Hsien-Tien hält sich an der Reling fest und blickt benom- park aufhalten, stören zu wollen. Ein paar scheue Blicke men aufs Wasser, bis sie «Fisch!» ruft. «So viele Touristen nach links, nach rechts. Sie scheinen überfordert zu sein hier, und doch ist die Natur geschützt und alles sauber», mit der Situation, nicht in der Masse abtauchen zu sagt ihr Vater Ma Yao sichtlich beeindruckt. «Was für ein können. Wird ihr angestrengtes Stillhalten sie aus dem Luxus, wenn an einem Ort Stadt- und Landqualitäten Dilemma befreien? Tatsächlich: Alsbald schwindet die verschmelzen und man sich nicht für eine Lebensweise Gefahr von selbst. Erleichtertes Aufatmen. Hat die Be- entscheiden muss.» Mit zwei weiteren Kleinfamilien gegnung mit der Journalistin sie beunruhigt, weil für sind er, seine Frau Lin und seine Tochter Hsien-Tien für einen Moment die Illusion der «Kulisse Luzern» enttarnt 16 Tage unterwegs in Frankreich und in der Schweiz. Er wurde? Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 17
FOKUS: KULISSE Im Jahr 2021 wird es 200 Jahre her sein, dass das Luzerner Löwe muss weg. Denn wenn er uns qua Auslöschung der Löwendenkmal eingeweiht wurde, und dies gibt Anlass Historie vergessen lässt, weshalb er stirbt, muss er diese dazu, das für Luzern und die ganze Schweiz wichtige Qual des ewigen Sterbens nicht unnötig fortsetzen. Es ist Denkmal neu zu beleuchten. Diese Neu- also an der Zeit, dass dieser Löwe endlich stirbt. Einen an- Text: Patrick Blank beleuchtung ist aus verschiedensten Pers-deren Weg der Daseinsveränderung gibt es für einen pektiven möglich sowie auch bereits im Sterbenden kaum. Einen lebensfähigen, sozusagen ge- Gange. Zudem widerspiegeln diese unterschiedlichen sunden Zustand wiederherzustellen verbietet die Bewe- Betrachtungsmöglichkeiten folgerichtig die Komplexität gung der Zeit und der Geschichte … Ausserdem handelt es dieses Erinnerungsmediums. sich schliesslich nur um kalten Stein, der lediglich durch Das beim Gletschergarten gelegene Löwendenk- Ideologie, Kunstfertigkeit, Nationalismus, Glauben und mal erinnert an die am 10. August 1792 in den Tuilerien Geldgier zu einer scheinbar atmenden, in ihren Hinter- von Paris gefallenen Schweizer Gardisten, die den könig-gründen lebenden Skulptur geworden ist.» lichen Stadtpalast von Louis XVI. gegen die revolutionä- (Beunruhigte Gemüter dürfen hier besänftigt re Volksmenge verteidigten (Tuileriensturm!). Karl Pfyf-werden. Das Gerücht, dass das Löwendenkmal aus dem fer von Altishofen, der damals selber als Unteroffizier in Fels herausgelöst werden solle, um ins Ausland verkauft der Schweizer Garde diente, aber während des Tuilerien- zu werden, damit der Erlös der Kulturförderung zugute- sturms im Heimurlaub weilte, regte die Idee des Löwen- kommt, ist wohl nicht ganz ernst gemeint!) Was Graeff denkmals in Erinnerung an seine gefallenen Kameraden aber wohl hervorheben wollte, ist der Umstand, dass die Bedeutung des Löwen- GUT GEBRÜLLT, denkmals für Luzern, die Schweiz und uns persön- lich eine viel umfassende- re und tiefer gehende ist, als «nur» die Erinnerung ALTER LÖWE! Weltberühmt für seine steinernen Tränen liegt der an die damals beim Tuile- riensturm gefallenen Schweizer Gardisten. Im Zuge des Projekts L21 sollen jedoch nicht histo- rische Wahrheiten gesucht, sondern Löwe von Luzern im Fels. Kamerablitze zeugen soll dem Löwendenkmal mit Kunst von der Wirkung des Denkmals auf seine Besucher. begegnet werden. Denn gerade die Für scheinbar alle Ewigkeit erinnert uns der Löwe Disziplin der Kunst sei vornehmlich an ... – ja, an was eigentlich? befähigt, sich der Rezeption eines solch zwiespältigen Denkmals anzu- nähern, sagt der Projektleiter Peter an. 1818 gewann er, beraten und unterstützt vom Bild- Fischer. Nämlich, weil die Kunstschaffenden sich be- hauer Heinrich Keller und dem Luzerner Schultheissen wusst seien, dass es «die eine Wahrheit» nicht gibt, son- Vinzenz Rüttimann, den dänischen Künstler und Bild- dern dass es stets mehrere, sich mitunter auch widerspre- hauer Bertel Thorvaldsen für seine Idee. 1819 erreichten chende Wahrheiten geben könne. Die «Löwen Safari» in zwei Gipsmodelle von Thorvaldsen Luzern, die die Vor- der Kunsthalle Luzern war die erste Ausstellung in der lage für das Denkmal mit dem verwundeten Löwen Veranstaltungsreihe L21. Fischer stellte diese aus wurden, der noch im Sterben den französischen Schild Werken sowohl von internationalen wie auch von verteidigt. Der Steinmetz Lukas Ahorn vollendete die Schweizer und Luzerner Künstlerinnen und Künstlern Werkumsetzung, die Urs Pankraz Eggenschwyler be- unterschiedlicher Generationen zusammen und machte gonnen hatte, und schlug den Löwen bis 1821 in rund sich auf die Fährte des Löwen. Dabei stand die symboli- fünffacher Lebensgrösse direkt in die Wand eines ehe- sche Bedeutung der Grossskatze in verschiedenen Zeiten maligen Steinbruchs. Kurz nach der Fertigstellung und Kulturen im Zentrum des Interesses. Die Fortset- wurde am 10. August 1821, dem 29. Jahrestag des Tuile- zung der L21-Ausstellungsreihe ist für Herbst 2019 ge- riensturms, das Löwendenkmal feierlich eingeweiht. plant. Dort gilt es, wie Fischer durchblicken lässt, sich mit Für das Löwendenkmal-21-Projekt (L21), initiiert der Perspektive der Denkmalgäste – sowohl der Touris- von der Kunsthalle Luzern, fiel bereits letztes Jahr der ten wie der Lokalbevölkerung – auseinanderzusetzen. Startschuss. Bei der Eingangsveranstaltung von L21, die Beim Besuch des Löwendenkmals liest man auf unter dem Titel «Der unbekannte Löwe – Abschied von den Erklärungstafeln beim Eingang, die in Deutsch, einem Kriegerdenkmal» veranstaltet wurde, stellte Max Französisch und Englisch ausgeführt sind: «Die Sold- Christian Graeff in seiner Live-Performance fest: «Der dienste waren neben der Landwirtschaft und dem städ- 18 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2018
FOKUS: KULISSE Inszeniertes Setting des Künstlers Till Velten zum ersten L21-Löwensymposium. Foto: Kilian Bannwart tischen Handwerk ein wichtiger Erwerbszweig der Alten tärunternehmer-Familien profitierten finanziell vom Eidgenossenschaft. Aus der Reisläuferei (auf die Reise einträglichen Kriegsgeschäft, dem wohl rund mehrere gehen, um sich als Söldner anwerben zu lassen) floss viel Hunderttausend Menschen (Stadelmann nennt jedoch Geld in die Schweiz zurück. Bei Beginn der Französi- keine Zahlen) zum Opfer fielen. Zu Beginn einer solchen schen Revolution, 1789, standen rund 40 000 Schweizer Führung fragt er: Was ist das Löwendenkmal? Ein Ge- unter fremden Fahnen (bzw. unter fremden Waffen).» denkort? Ein Wahrzeichen? Ein Mahnmal? Ein Grab- Der Gymnasiallehrer und Historiker Jürg Stadel- stein? Ein Erinnerungsort? Oder ist es heute vor allem ein mann brachte 2017 rund 2500 Besuchern (gefühlt seien «brand», also ein Markenzeichen für die Touristenstadt das für ihn rund 100 Schulklassen gewesen) die Bedeu- Luzern? Eine Antwort gibt Stadelmann dann selber. Aus tung und Hintergründe des Löwendenkmals näher. Sta- unserer zeitgenössischen Perspektive dürfe das Löwen- delmann initiierte das umfangreiche Projekt «Warum denkmal sehr passend als Migrationsdenkmal bezeich- der Löwe? Denk mal – wir erzählen» in Kooperation mit net werden, denn es erzähle uns von den vielen Schwei- L21 und mit Unterstützung von jungen Historikern, His- zern, die als Söldner in die Fremde zogen, weil sie in der torikerinnen und Geschichtsinteressierten aus Luzern. Heimat kein genügendes Auskommen fanden. Grosse In inszenierten Führungen wurden die Besucherinnen Freude habe Stadelmann vor allem empfunden, als im dabei auf eine Zeitreise in die Geschichte geschickt, wo Verlauf des Projekts die Fahne der Helvetik beim Löwen- sie den Auftakt unseres modernen Verfassungsstaates denkmal gehisst wurde. (Das hätte Karl Pfyffer von Al- hautnah miterleben konnten. Für Stadelmann bedeutet tishofen aufs Äusserste geärgert!) Mit der Helvetik, als der Tuileriensturm von 1792, an dem rund 800 Schweizer die Schweiz von 1798 bis 1803 als Republik unter franzö- Soldaten, darunter auch Offizierssöhne aus damals füh- sischer Herrschaft stand, erhielt sie die erste nationale renden Luzerner Familien, ums Leben kamen, eine Verfassung. Heute ist klar: Die Zeitperiode, in der Luzern Zäsur: sowohl für die Luzerner Obrigkeit als auch für die nach Aarau bis im Mai 1799 Hauptstadt der Republik Schweiz. Mit dem Tuileriensturm wurde das Ende der war, sowie die Neuordnung des Staates, die auf der Volks- von der Monarchie geprägten Zeit besiegelt, gleichzeitig souveränität, Gewaltentrennung und Rechtsgleichheit läutete er dafür die Geburtsstunde unserer Demokratie aufbaute, bildeten den Ursprung unserer modernen und des schweizerischen Nationalstaates ein, wie wir ihn Schweiz. heute kennen. Der Sturm beendete zudem ein rund drei- Und die Geschichten vom Luzerner Löwen sind hundert Jahre dauerndes Geschäft, bei dem Schweizer nämlich keine Määrli, und wenn der Löwe nicht gestor- als Söldner an fremde Mächte vermittelt wurden. Beson- ben ist, dann lebt er noch heute – hinter dem Löwen- ders auch die Luzerner Obrigkeit und die Luzerner Mili- platz. Oktober 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 19
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