GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS LITURGISCHE BAUSTEINE
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Inhalt 3 Vorwort GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS 4 Es geht! Anders. MISEREOR und das Gute Leben für alle – Die Fastenaktion 2021 6 Es geht nur gemeinsam! – Bolivien und Deutschland im Gespräch 8 Eine andere Welt ist möglich – Betrachtung aus theologischer Sicht 10 Vom Mangel zur Fülle – Die Methode „Planes de Vida“ 12 Das Gute Leben für alle ist dringlicher denn je – Bolivien braucht Veränderung 14 Empowerment für ein Über-Leben mit der Natur – Die Arbeit der MISEREOR-Partnerorganisation CEJIS 16 Landwirtschaft im Einklang mit dem Wald – Die Arbeit der Sozialpastoral Caritas Reyes 18 Wenn nicht wir, wer dann?! – Sieben kirchliche Standpunkte, die bewegen 20 Was jetzt zu tun ist! – Aufruf zur politischen Aktion 22 Jenseits von Morgen – Geschichten des Gelingens aus Bolivien 24 Anders handeln für das Gemeinsame Haus! – Drei Fachbeiträge zum Thema globale Zusammenhänge LITURGISCHE BAUSTEINE 25 Das MISEREOR-Hungertuch 2021/22 28 Gemeindegottesdienst zum Beginn der Fastenzeit und zum MISEREOR-Hungertuch 34 Eine Bibelarbeit zur MISEREOR-Fastenaktion 2021 36 Früh-/Spätschichtenreihe 37 Zwischenruf aus Bolivien 38 Aufruf der deutschen Bischöfe 39 Gottesdienst zum 5. Fastensonntag 44 Zwischenruf zum Leitwort der MISEREOR-Fastenaktion 2021 PRAXIS 45 Kinder- und Schulgottesdienst zur Kinderfastenaktion TIPP 49 Weitere Gottesdienstbausteine HINWEIS 51 Impressum Dieses Symbol wird Ihnen auf den folgenden Zum Download folgen Sie dem QR-Code. Für aktuel- Seiten immer wieder begegnen. le und weiterführende Informationen schauen Sie Hier finden Sie methodische unter fastenaktion.misereor.de/grundlagen Anregungen zur Umsetzung der Für die Einzel-PDF- und Word-Dateien der Gottes- dienstvorschläge schauen Sie unter fastenaktion. Inhalte in Gemeinde, Schule misereor.de/liturgie und Gruppen. 2 Fastenaktion 2021
Vorwort Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Pfarreien, Gruppen, Orden, Bewegungen, Schulen und Verbänden, liebe Freundinnen und Freunde von MISEREOR! D ie Corona-Pandemie wirft Fragen auf, kon- frontiert uns mit unserer Verletzlichkeit, erschüttert Gewissheiten, öffnet Horizonte. Sie macht auch sichtbar, was möglich ist, wenn wir Sorge füreinander tragen: Aufmerksamkeit für die Schwächsten, gegenseitige Ermutigung, Bereit- schaft zu Veränderung im Interesse des Gemein- wohls. Veränderungen waren plötzlich kurzfristig möglich, die unter Normalbedingungen undenkbar Foto: K. Mellenthin / MISEREOR gewesen wären. Diese Erfahrung von Begrenztheit öffnet Perspektiven für das Wohl aller und für die Güter des Planeten, auf dem wir leben. Mit dem Erlebten, das uns seit März 2020 begleitet, lade ich Sie ein, die Fastenzeit 2021 als eine Zeit der Umkehr und Neuausrichtung zu leben. 2021“, das Sie in den Händen halten. In ihm haben Zwei Partnerorganisationen im Amazonastiefland wir die Grundlagen und Praxistipps mit den Litur- Boliviens stehen im Mittelpunkt der Fastenaktion: gischen Bausteinen kombiniert, weil wir das eine Die Sozialpastoral-Caritas Reyes arbeitet mit betei- ohne das andere nicht denken können. ligten Familien durch die Arbeit mit Hausgärten und Die Inhalte folgen dem Prinzip „Sehen, Urteilen, Agroforstsystemen, um eine gesunde Ernährung Handeln und Feiern“: im Einklang mit der Natur zu sichern; CEJIS unter- Sehen – das heißt Hinschauen, Wahrnehmen und stützt indigene Völker in Bolivien bei der Erlangung Zuhören und Verteidigung ihrer Rechte und Territorien als Urteilen – das heißt Position beziehen Voraussetzung für eine selbstbestimmte, ihren Handeln – das heißt Gestalten kulturellen Traditionen und Zukunftsvorstellungen Feiern – das heißt Gott in unseren Bemühungen entsprechende Lebensweise. Beide Partner leisten bitten und loben! einen wichtigen Beitrag für den Erhalt des für uns alle wichtigen Ökosystems am Amazonas. Gerne lade ich Sie in Ihrem Engagement ein, hinzu- sehen, was Menschen in Deutschland und Bolivien MISEREOR will aus entwicklungspolitischer und bewegt und bewegen; zu beurteilen, was sich kirchlicher Sicht zu einer gesellschaftlichen Dis- ändern muss, um ein Gutes Leben für alle zu er- kussion über die wirtschaftlichen, politischen und reichen; mit anzupacken, wo wir Ihre Unterstützung kirchlichen Hebel beitragen, die unverzichtbar für und Ihren Beitrag brauchen und all unser Denken einen Not wendenden sozial-ökologischen Wandel und Tun unter Gottes Segen zu stellen. sind. Als Bewohnerinnen und Bewohner des „Ge- meinsamen Hauses“ (Papst Franziskus, LS), als Für Ihre Bereitschaft, für Ihr Mit-Suchen eines kirchliche Akteure, haben wir den Auftrag und die Weges zu einem Leben in Fülle (Joh 10,10), für Ihren Fülle der Möglichkeiten, uns um dieses Haus zu Einsatz für das Gute Leben für alle danke ich Ihnen kümmern und zu zeigen: Es geht! Anders. von Herzen. Dass auch mit Blick auf das Material manches Pirmin Spiegel anders geht, zeigt das Begleitheft „Fastenaktion MISEREOR Vorwort 3
Es geht! Anders. MISEREOR und das Gute Leben für alle Die Fastenaktion 2021 Tanja Rohrer Referentin für Bildungs- und Pastoralarbeit, MISEREOR · AACHEN Das Aktionsplakat der diesjährigen Fastenaktion „Es geht! Anders.“ E ine andere Welt ist möglich und es liegt in unserer Hand, diese zu gestalten. Mit der diesjährigen Fastenaktion „Es geht! Anders.“ vianerin, die auf die ruhige Schönheit ihrer Heimat lädt MISEREOR zu einer Neuausrichtung unserer schaut, gestört wird sie dabei von den Börsenwer- Lebensweisen ein. Es ist Zeit, grundlegende Fragen ten, von einem allein auf Wachstum ausgerichteten zu stellen und den Kompass neu auszurichten: Wirtschaftsmodell. Lassen wir uns nicht von der Was zählt wirklich für ein Gutes Leben, ein Leben Sorge um die Börsenwerte einnehmen, sondern von in Fülle (Joh 10, 10)? Müssen wir die Gewichte neu der Schönheit der Natur ermutigen – nicht von und verteilen zwischen den individuellen Freiheiten mit einer Wirtschaftsform unterdrücken, sondern und Konsummöglichkeiten, die manche genießen, von der Vision einer sozial-ökologisch orientierten und den Gemeinschaftsgütern, auf die alle an- Gesellschaft begeistern. Die Zeit ist reif für ein ge- gewiesen sind – und die der gemeinsamen Sorge meinschaftliches Handeln für eine Welt, die das aller anvertraut sind? Können wir eine Lebensweise Gemeinwohl aller Menschen im Blick hat und die verantworten, die auf Massenkonsum und materiel- Schöpfung bewahrt. len Wohlstand ausgerichtet ist? Fragen, die nicht überfordern sollen, sondern zu spürbaren Schritten Die MISEREOR-Fastenaktion lädt seit 61 Jahren der Veränderung anregen wollen. ganz im Sinne des Propheten Jesaja schon immer zum Fasten für Gerechtigkeit (Jes 58, 6-7) ein – zu Eine Veränderung hin zu einer ganzheitlich ausge- einer Erneuerung der Herzen. „Anders leben“: Ge- richteten Sorge um ein Gutes Leben für alle. Das ist meinsam handeln! MISEREOR unterstützt dank Ihres auch die zentrale Achse, um welche die Arbeit der Engagements die Armgemachten, sich aus Not und über 1.900 Partnerorganisationen von MISEREOR Unterdrückung befreien zu können. Doch das ist kreist. Die Menschen in Bolivien gehen hier mit keine Einbahnstraße. Es ist nur dann möglich, wenn einem guten Beispiel voran. Sie teilen die Vision wir unseren eigenen Lebensstil vor dem Hintergrund Fotos: MISEREOR einer Lebensweise, die bei der eigenen Würde, der der weltweiten Zusammenhänge überdenken, nicht Kraft der Gemeinschaft und dem Respekt vor der ein „Weiter so“ vertreten, sondern für ein „Es geht! Natur ansetzt. Auf dem Plakat sehen wir eine Boli- Anders“ einstehen. 4 Fastenaktion 2021 · GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS
Die Aktionsplakate aus den Jahren 1981, 2003 und 2015 Die Herausforderungen, mit denen die Menschheit änderung von politischen und sozialen Strukturen, und unsere Erde kämpfen, haben sich in den letz- aber auch eine Veränderung unseres Konsumver- ten Jahrzehnten nicht wesentlich geändert. Doch haltens unverzichtbare Hebel. aufgrund von Prozessen wie Globalisierung und Digitalisierung werden sie immer komplexer und Erinnern Sie sich noch an die Fastenaktion 2015? die Ausmaße entsprechend weitreichender. So hat „Neu denken! Veränderung wagen!“ Lassen Sie sich MISEREOR bereits in Leitworten zur Fastenaktion einladen mit MISEREOR und seinen Partnerorgani- aufgerufen: „Anders leben – damit andere über- sationen weiterzugehen, mit wachem Blick und mit- leben“ (1977), „Anders leben – Antwort geben“ fühlendem Herzen und zu zeigen: Es geht! Anders. (1978), „Anders leben – gemeinsam handeln“ (1981). In diesen Zusätzen zeigt sich eine starke Entwicklung von einem Beitrag für das Überleben PRAXIS der anderen hin zur Einsicht der Notwendigkeit TIPP eines gemeinsamen Handelns. Das Füreinander- Handeln im „Gemeinsamen Haus“ (Papst Fran- ziskus, LS) ist Grundsatz MISEREORs – die nicht BILD-SPRACHE verhandelbare Würde und die gleichen Rechte aller Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, ZEIT Geschlecht, Religion. je nach Gruppengröße zwischen 10 und 20 Minuten Aber wem gehört tatsächlich die Welt, MATERIAL • wenn Schwerkranke lebensrettende Gesund- Kopien mit den Plakatmotiven (Druckvorlage heitsdienste nicht in Anspruch nehmen unter fastenaktion.misereor.de); Blätter und können? Stifte • wenn durch Waffengewalt und Krieg Frauen, Män- ner und Kinder ihre Heimat verlassen müssen? Betrachten Sie einige Minuten in Ruhe die • wenn die traditionelle Ernährungsgrundlage verschiedenen Plakate und notieren Ihre ers- in den Ländern des Südens gefährdet ist, weil ten Eindrücke dazu. Was sagen die Bilder und Saatgutzüchtung und Nahrungsmittelerzeugung Leitworte für Sie aus? Welcher ist Ihr erster zunehmend in die Kontrolle von Großkonzernen (Handlungs-)Impuls? Tauschen Sie anschlie- übergehen? ßend Ihre Gedanken darüber untereinander aus und benennen Sie Dinge, die sich aus „Wem gehört die Welt?“: In der Fastenaktion 2003 Ihrer Sicht ändern müssten, um einem Guten wie 18 Jahre danach bleibt die Frage des freien Zu- Leben für alle näher zu kommen. gangs zu Gemeingütern eine der Schlüsselfragen der Entwicklungszusammenarbeit. Dafür sind Ver- Die Fastenaktion 2021 5
Es geht nur gemeinsam! Bolivien und Deutschland im Gespräch Barbara Wiegard Pressesprecherin, MISEREOR · BERLIN E in Interview über Chancen für einen sozial- Pablo Solón: Das hängt ganz davon ab, mit wel- ökologischen Wandel zu einem Guten Leben chem sozialen Hintergrund man die Diskussion für alle mit dem bolivianischen Globalisie- führt. Ist es ein Städter mit einem hohen Einkom- rungskritiker Pablo Solón und mit Markus Büker, men oder ein Mitglied einer indigenen Gemein- Leiter der Lateinamerika-Abteilung bei MISEREOR. schaft in abgelegenen Gebieten des Amazonas- gebiets? Oder ist es eine angestellte Arbeiterin „Es geht! Anders.“: Es muss anders gehen, damit wir in einer Kohlemine, für die eine Energiewende die Schöpfung bewahren können, damit ein Gutes möglicherweise den Verlust des Arbeitsplatzes be- Leben für alle möglich ist. Aber wie? Welche kirch- deutet? Fest steht, dass all diese Gruppen gemein- lichen Hebel gibt es, um einen gesellschaftlichen sam den Dialog führen müssen. Es geht auch nicht Wandel in diese Richtung zu unterstützen? nur um individuellen freiwilligen Verzicht, sondern Markus Büker: Papst Franziskus lädt in seinem auch um staatliche Interventionen. Der Staat muss Schreiben ‚Laudato si‘ alle Menschen guten Willens bestimmte Aktivitäten limitieren, die dem Gemein- ein, die vorherrschenden Lebens- und Konsummus- wohl schaden. Das kann Maßnahmen im Verkehr ter sowie Wirtschaftsmodelle zu hinterfragen. Denn oder Wirtschaftsaktivitäten betreffen. Das Wichtigs- ein „Weiter so“ würde die Zerstörung des Lebens auf te ist aber, dass wir uns in die Lage von anderen unserem Planeten bedeuten. Gleichzeitig befinden hineinversetzen, um Lösungen zu finden und nicht wir uns in Deutschland mit unserer Kirche auf einem nur eigene Interessen berücksichtigen. Synodalen Weg, der nur innerkirchliche Probleme in Markus Büker: Ich glaube auch nicht, dass es eine den Blick nimmt. Das halte ich für ein großes Defizit. Frage von Konsens ist! Es wird sicherlich zu vielen Die Fragen, wie wir damit umgehen, dass wir vor politischen, ökonomischen und auch sozialen Kon- einem ökologischen Kollaps stehen, wie wir mehr flikten kommen, wenn wir darüber streiten, wer auf soziale und ökologische Gerechtigkeit herstellen was verzichten muss, welche Lebensstile nachhaltig können und welche Rolle die Kirche bei dieser ge- genug sind und welche gesetzlichen Eingriffe es samtgesellschaftlichen Riesenaufgabe in Deutsch- braucht. Dennoch müssen wir uns dieser Diskus- land einnehmen müsste, wird ausgeklammert. Ka- sion stellen. Es ist eine Aufgabe des Staates und tholische Kirche in Deutschland müsste und könnte der Zivilgesellschaft, den Wandel so zu gestalten, im Geist von ‚Laudato si‘ die Grundannahme von dass eine größere soziale Gerechtigkeit entsteht. unbegrenztem Wachstum auf Kosten von Mensch und Natur, unsere Konsum- und Produktionsmuster Derzeit gibt es keine absehbaren demokratischen infrage stellen und somit einen viel stärkeren Im- Mehrheiten für einen sozial-ökologischen Wandel, puls für die Diskussion um Veränderung geben und für einen breiten Willen zum Verzicht auf individu- selber vorangehen. elle Mobilität wo es möglich ist, auf Inlandsflüge, Fotos: J. Friedrich / MISEREOR, MISEREOR Fleischkonsum aus Massentierhaltung. Hat die Wenn es um die Bereitschaft zu Verzicht und Ein- Bereitschaft zum „Maß halten“ in absehbarer Zeit schränkung im Interesse des Gemeinwohls geht: Wo eine realistische Chance? könnte ein Konsens gefunden werden in der Diskus- sion zwischen Menschen, die sich um das Ende der Pablo Solón: Da bin ich mir sicher! Wir sehen gerade Welt sorgen und denen, die sich um das Ende des auch in Zeiten der Pandemie, dass die Realität, die Monats sorgen? Natur, uns dazu zwingt, einen anderen Lebensstil zu führen. Wer hätte gedacht, dass wir es von heute auf 6 Fastenaktion 2021 · GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS
morgen akzeptieren müssen, nicht zu reisen, nicht Markus Büker: Die Pandemie hat allen vor Augen zu fliegen, weniger Auto zu fahren. Wir Menschen geführt, wie wichtig Investitionen in ein öffentliches haben unser Konsumverhalten reduziert, weil wir es Gesundheitswesen sind, vor allem in den ärmeren mussten. Ganze Wirtschaftsbereiche müssen sich in Ländern. MISEREOR will Organisationen weltweit Zukunft ändern. Und diese Änderungen entstehen stärken, die von den Regierungen das Recht auf aus einer Notwendigkeit, Krisen zu begegnen, nicht Gesundheit einfordern. Darüber hinaus steigt mit nur der Corona-Krise, sondern auch der Klimakrise wachsender Aufklärung rund um das Thema Ge- und anderen politischen, wirtschaftlichen und so- sundheit das Bewusstsein für eine gesunde, natür- zialen Krisen auf der Welt. liche Ernährung. Vor allem zeigt uns die Pandemie aber: Wir sind nicht die Herrscher über die Natur, Markus Büker: Momentan gibt es in Deutschland sondern Teil der Natur. keine demokratischen Mehrheiten für einen Wan- del zu einer sozial-ökologischen Transformation und einem dementsprechenden Wirtschaften. Aber auch ich sehe es so, dass die Realität uns einholt und uns dazu zwingt, einen anderen Weg einzu- schlagen. Und es gibt winzige Hoffnungszeichen dafür: An vielen Stellen sieht man, dass die Politik die Notwendigkeit zu einer „grüneren“ und fairen Wirtschaft erkannt hat, nehmen wir nur die Tat- sache, dass ein deutsches Lieferkettengesetz bis in die Regierung hinein zustimmend diskutiert wird. Doch die Grundannahmen bleiben unhinterfragt. Wie steht es um die Diskussion um einen ökologi- schen Wandel, um eine Bereitschaft des Verzichts und Einschränkungen in Bolivien? Wo ist uns Boli- Im Interview: Pablo Solón (links) und Markus Büker vien voraus? Pablo Solón: In Bolivien hat die massive Zerstörung Welche konkreten Handlungsoptionen haben wir? des Regenwaldes tatsächlich ein neues Bewusst- Pablo Solón: Wir können einen nachhaltigen Wan- sein geweckt: Wir müssen unseren Lebensraum del nur erreichen, wenn wir im Globalen Süden und bewahren. Wir müssen die Waldrodungen im Norden zusammenarbeiten und uns solidarisieren. Amazonas, die Massentierhaltung, die Entwicklung Deutschland hat zum Beispiel beschlossen, ab immer neuer Pestizide und genmanipulierten 2023 das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat zu Saatguts beenden. Vor drei Jahren noch wäre diese verbieten. In Bolivien breitet sich die Nutzung von Diskussion so nicht möglich gewesen, aber heute Glyphosat und weiteren hochgiftigen Produkten gibt es in Bolivien eine starke Meinungsfraktion, die aber immer weiter aus. Warum gibt es da doppelte deutlich macht, dass die Zerstörung des Amazonas Standards? Warum wird ein Produkt, das schlecht verhindert werden muss. Gleichzeitig haben wir für Deutschland ist, nicht auch für den Export nach eine Regierung, die wirtschaftliches Wachstum Bolivien verboten? Wenn sich die Zivilgesellschaft, einseitig durch die Gewinnung von Bodenschätzen wenn Menschen sich überall auf der Welt für ein ge- erreichen will und damit weiter Raubbau an der meinsames Anliegen verbinden, um gegen Umwelt- Natur betreibt. zerstörung und Missachtung von Menschenrechten Die große Stärke Boliviens und der Andenländer in Lieferketten zu protestieren, dann erreichen wir ist aber die Existenz der indigenen Bevölkerungs- auch einen nachhaltigen Wandel, der auf internatio- gruppen in den Anden und in Amazonien. Sie haben naler Ebene stattfindet. sich eine Lebensweise im Einklang mit der Natur bewahrt. Im direkten Kontakt mit der Natur zeigen Vielen Dank für dieses Gespräch. sich die Grenzen der Ausbeutung ganz klar. Haben sich Lernprozesse durch die Corona-Pande- mie ergeben, die uns auf dem Weg zu einer sozial- ökologischen Transformation voranbringen? Bolivien und Deutschland im Gespräch 7
Eine andere Welt ist möglich Betrachtung aus theologischer Sicht Sandra Lassak Referentin für theologische Grundfragen, MISEREOR · AACHEN D ie diesjährige Fastenaktion lädt zu einer Neu- ausrichtung unserer Lebensweise ein: „Es geht! Anders.“ Und vielleicht wurde uns in der Zeit der Corona-Pandemie, die auf die Grenzen unseres Systems in aller Schärfe hingewiesen hat, bewusst, dass es nicht nur anders gehen kann, son- dern auch anders gehen muss. Die Pandemie führt uns die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten sowohl im nationalen als auch internationalen Zusammenhang und die damit verbundenen Aus- Gemeinsam die Fülle des Lebens wahrnehmen beutungsstrukturen deutlich vor Augen. Die dadurch sozusagen „erzwungene“ Entschleunigung, der Stillstand der globalisierten Mobilität, der radikale kann. So fordert es auch Papst Franziskus in seiner Einschnitt in normalisierte Abläufe und Gewohn- Umwelt- und Sozialenzyklika ‚Laudato si‘. heiten haben die Erde (und uns?) für einen Moment Wie können die verschiedenen Maßnahmen, die vielleicht aufatmen lassen. Entgegen des weitver- unter den Bedingungen der Corona-Pandemie schein- breiteten Glaubens vermeintlicher Alternativlosig- bar Unmögliches möglich gemacht haben, nicht keit unseres Systems wurde klar: Unterbrechungen nur als Ausnahmefall gelten, sondern zukunftsfähig sind machbar und es geht auch anders. gemacht werden? Wie lassen sich diese Erfahrungen Dabei gilt es, das als sicher Geglaubte zu hinter- für einen nachhaltigen Veränderungsprozess unserer fragen und unsere Beziehungen zur Welt, zur Natur Lebens- und Produktionsweise nutzen hin zur Über- kritisch in den Blick zu nehmen und gemeinsam nach zeugung, dass „weniger mehr sein kann“? Wie kann Alternativen zu suchen. Individuelle Veränderungen der Kreislauf des immer Mehr (an Arbeit, Besitz und der eigenen Lebensweise sind notwendig und sinn- Konsum) durchbrochen, Ängste vor Mangelerfahrun- voll. Aber ebenso bedarf es neuer Politikansätze, gen genommen und Verzicht als etwas Befreiendes die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese erfahren werden? Und zugleich auch diejenigen anderen Lebensweisen auch umgesetzt werden nicht zu vergessen, die durch die Einschränkungen können. Um es zugespitzt zu sagen: plastikfrei leben in existenzielle Nöte geraten. Für eine grundlegende und einkaufen im Bioladen reichen nicht aus, um Neuorientierung muss dies mitbedacht werden und strukturelle Ungleichheiten aufzubrechen und eine andere Gesellschaftsstrukturen und Arbeitsmodelle gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Ethischer Kon- müssen neu gedacht werden, sodass die Entschei- sum muss einhergehen mit einer kritischen Reflexion dung für eine andere Lebensweise kein Luxusgut ist, der eigenen Bedürfnisse: Was brauchen wir wirklich? sondern möglich für alle. Denn die materielle Basis Ebenso bedarf es gesetzlicher Regelungen zu einer zur Sicherung der Lebensgrundlagen ist unabkömm- sozial gerechten Verteilung unter der Wahrung öko- lich, um kreative Potenziale zur Entwicklung von logischer und sozialer Kriterien sowohl im nationalen Alternativen freizusetzen. Und es gibt bereits weltweit wie auch internationalen Maßstab (z. B. Lieferketten- unzählige Beispiele dafür, wie Menschen und soziale Foto: MISEREOR gesetz). Es geht um eine umfassende ökologische Bewegungen sich gegen das zu frühe Sterben und die Umkehr, die nur gemeinschaftlich vollzogen werden Zerstörung „unter Einsatz legitimer Druckmittel“ (LS 8 Fastenaktion 2021 · GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS
38) einsetzen. Dabei leitet sie die Vision eines Guten ist. In einer von moderner Technologie beherrschten und das heißt eben auch gesunden Lebens. Welt ist uns das Bewusstsein, selbst Teil der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten zu sein, ziemlich Die Frage danach, wie wir anders leben können, abhandengekommen und muss erst wieder neu ist keine theoretische Angelegenheit entdeckt werden. Wie ein solcher schöpferischer und wertschätzender Umgang mit der Natur aus- Sie nimmt überall dort Gestalt an, wo Menschen aus sieht, können wir von indigenen Völkern lernen. Sie dem Glauben daran, dass Veränderung möglich ist, konnten sich an vielen Orten trotz Unterdrückung sich miteinander organisieren und sozial-ökologi- ihrer Kultur und Lebensweise ein naturnahes Leben sche Utopien jenseits des Paradigmas unbegrenz- bewahren. Erfülltes, „Gutes Leben“ wird durch eine ten Wachstumszwangs entwerfen. Beispiele dafür gemeinschaftliche Art und Weise des Lebens und sind z. B. Modelle solidarischen Wirtschaftens, die Arbeitens hergestellt. Leben in Fülle heißt in der Förderung regionaler, biologischer Landwirtschaft Kosmovision indigener Völker nicht, immer mehr zu anstelle von exportorientierter, chemieabhängiger besitzen. Stattdessen geht es um die Fülle an Bezie- und stark Fleisch produzierender Landwirtschaft, hungen, die sich durch Wechselseitigkeit und Har- kollektive Formen des Zusammenlebens, in denen monie auszeichnen. Das soll nicht heißen, dass die Ressourcen geteilt werden und Gemeinschaftlich- Naturnähe ein ausschließliches Charakteristikum keit praktiziert wird. Das sogenannte „Gute Leben der indigenen Völker ist und sie zu Hütern der Natur für alle“ und der Aufbau einer zukunftsfähigen romantisiert werden. Vielmehr spiegeln sie uns eine Gesellschaft werden nur möglich sein, wenn wir ge- innere Verbundenheit mit allen Lebewesen, die in meinsam – und das heißt eben auch mit Menschen jedem und jeder von uns angelegt ist. aus Afrika, Asien und Lateinamerika – Wege in so- lidarische Lebensformen suchen. Diese Solidarität Tiefe Verbundenheit mit allen und allem muss sich auch auf die Tier- und Pflanzenwelt be- ziehen. Die aktuelle sozial-ökologische Krise führt Aufgrund dieser inneren Verbundenheit aller mit uns vor Augen, wie sehr das Zusammenleben auf allem im Gemeinsamen Haus, das wir bewohnen unserem Planeten aus dem Gleichgewicht geraten „[…] ist eine Sorge für die Umwelt gefordert, die mit einer echten Liebe zu den Menschen und einem ständigen Engagement angesichts der Probleme PRAXIS der Gesellschaft verbunden ist.“ (LS 91). Diese tiefe TIPP Verbundenheit und die Sorge um würdiges, gutes und vor allem geheiltes Leben für alle, hat auch Jesus nicht nur durch sein heilendes Wirken ver- STATIONENWEG mittelt, sondern in seinem ganzen Tun und Reden ZEIT war er Zeichen des Widerspruchs gegen unrechte Für den gesamten Stationenweg schlagen und lebensverneinende Verhältnisse. Zahlreiche wir vor, einen ganzen Tag (ca. 6 Stunden in- biblische Geschichten geben Zeugnis davon, wie klusive Mittagspause) einzuplanen. Natürlich er gegen den Strom der damaligen Gesellschaft können Sie die einzelnen Stationen z. B. geschwommen ist, kulturelle, religiöse und auch an einzelnen Abenden „begehen“. In jedem politische Grenzen überschritten hat, um deutlich Falle sollte Station Fünf behandelt werden, zu machen, dass die Wahrung des Lebens über um als Gruppe / Gemeinde Motor der Befrei- jeglichen menschengemachten Gesetzen steht. ung zu sein. Pro Station werden mindestens Dies bedeutete oftmals aber auch, in den Konflikt 20 Minuten benötigt. zu gehen, sich gegen die Herrschenden und ihre (Besitz-)Interessen zu stellen und wie Jesus die MATERIAL Händler aus dem Tempel zu werfen (Mt 21,12 ff.). www.misereor.de/stationenweg In diesem Sinne heißt christliche Nachfolgepraxis Machen Sie sich selbst, als Gemeinde oder heute, Widerstand zu leisten gegen lebensvernei- Gruppe, auf den Weg, der spirituelle Besin- nende Systeme, uns einzumischen und gemeinsam nung mit politischem Engagement verbindet. mit sozialen Bewegungen für eine andere Welt, die ökologisch, nachhaltig und solidarisch zukünftiges „anderes“ Leben ermöglicht, einzustehen. Betrachtung aus theologischer Sicht 9
Vom Mangel zur Fülle Die Methode „Planes de Vida“ Deyanet Garzón Kolumbianische Beraterin von MISEREOR · BOGOTÁ, KOLUMBIEN S eit 2013 erarbeiten MISEREOR-Partner- Konkret: Die Umsetzung von Plänen zur integralen organisationen in Lateinamerika eine neue Achtsamkeit. Praxis zur Entwicklung eines integralen Die MISEREOR-Partnerorganisationen analysieren Verständnisses von Entwicklung. Dabei werden mit den beteiligten Gemeinden ihre gegenwärtige technische und wirtschaftliche Aspekte mit einer Situation und erarbeiten darauf aufbauend Visionen, ganzheitlichen Sicht des Menschen zusammen- in denen sich die drei Dimensionen der integralen gedacht. Ökologie (die persönliche, die soziale und die öko- logische) wiederfinden. Umgesetzt werden diese Wenn wir das sozio-ökologische Gleichgewicht Visionen in konkreten Plänen, die sich auf die ent- wiederherstellen und ein anderes Verhältnis zur sprechenden „Häuser“ beziehen: Erde (Umweltauswirkungen) und unseren Mitmen- • das persönliche „Haus“ (persönlicher Achtsam- schen (soziale Auswirkungen) herstellen wollen, keitsplan), müssen wir auch wieder lernen, Beziehungen • das soziale „Haus“ (Achtsamkeitsplan für die aufzubauen mit uns selbst, mit anderen, mit der interpersonellen Beziehungen, Familie und Ge- Natur. Dahinter steht das Prinzip einer integralen meinde) und Ökologie sowie eine Haltung und Praxis der • das ökologische „Haus“ (Achtsamkeitsplan für die integralen Achtsamkeit als Voraussetzung für die Beziehung mit der Umwelt). Umsetzung der notwendigen Veränderungen. Es Durch die Achtsamkeitspläne wächst das Bewusst- geht darum, ein Leben in Einheit, Ganzheit und sein für die eigene Fähigkeit, persönliche und sozia- Verbundenheit wiederzuerlangen, unseren Platz im le Verantwortung zu übernehmen und das Verständ- Universum mit anderen Wesen wiederzufinden und nis dafür, dass äußere Veränderungen durch innere unsere menschliche Essenz zu retten: die Fähigkeit Veränderungen in der Person, in der Familie, in der zu lieben, die ihren maximalen Ausdruck in der Gemeinschaft unterstützt werden. Diese Beziehun- Haltung der Achtsamkeit findet. gen basieren auf der Anerkennung und konkreten Anwendung der Lebensprinzipien (Ordnung oder Dieses Verständnis einer integralen Vision, in der der Heiligkeit, Inklusion oder Zugehörigkeit, Gegen- Mensch Teil der Natur und Hüter des Lebens ist, liegt seitigkeit bzw. das Wissen darum, zu geben und zu der Kosmovision vieler indigener und traditioneller nehmen). Sie ermöglichen es, vom Mangel zur Fülle Gemeinschaften zugrunde und muss gestärkt werden. zu gelangen, da sie praktische Formen der integralen Dieser Ansatz erfährt nicht nur aktuelle wissenschaft- Achtsamkeit sind, die Gleichgewicht und Harmonie liche Unterstützung, die auf einer systemischen Vision in allen Beziehungen wiederherstellen und so die basiert, sondern wurde zudem von Papst Franziskus Identität der traditionellen Gemeinschaften und die im Jahr 2015 mit der Enzyklika ‚Laudato si‘ bekräftigt. Nachhaltigkeit des Lebens insgesamt stärken. Hier schreibt er: „Angesichts des Ausmaßes der Ver- Die Umsetzung erfolgt in wenigen Schritten: änderung ist es nicht mehr möglich, eine spezifische und unabhängige Lösung für jeden Teilbereich des 1. Schritt: Problems zu finden. Entscheidend ist es, ganzheitli- Erkenne die Fülle und den Mangel, um das Leben Foto: AdobeStock che Lösungen zu finden, welche die Wechselwirkun- zu wählen! gen der Natursysteme untereinander und mit den Am Anfang werden die Gemeinschaften gebeten, Sozialsystemen berücksichtigen.“ (LS 139) sich auf eine mehrtägige gemeinsame Reflexion 10 Fastenaktion 2021 · GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS
einzulassen. Im Rahmen dieser sehr konkreten Er- PRAXIS fahrung, gestützt von rituellen Elementen, geht es TIPP darum, die Ganzheitlichkeit der grundlegenden Komponenten des Lebens, die einer Person, Familie oder Gemeinschaft zur Verwirklichung eines „Guten FÜLLE UND MANGEL Lebens“ zur Verfügung stehen, wieder- und anzuer- kennen. Diese Anerkennung umfasst alle Aspekte ih- ZEIT rer Identität und ihres materiellen und spirituellen Er- 30 bis 45 Minuten bes und schließt jeden Menschen als Teil dieser Fülle MATERIAL ein. Zunächst fällt der Blick auf die ökologischen Vor- Papier und Stifte, evtl. schon aussetzungen, die essenziell für das Gute Leben aller mit Abbildung eines Waage- (der Menschen und Tiere) sind: das Territorium – die Symbols mit zwei Schalen Natur mit dem Wasser, den Böden, den Wäldern und dem Saatgut. Danach erkennt die Gemeinschaft die Überlegen Sie in der soziale Fülle an, das, was für ein gesundes Zusam- Gruppe, oder auch allein, menleben grundlegend ist: das gemeinschaftliche was Sie mit Sicht auf Ihre Erbe mit seinen kulturellen, sozialen und spirituellen Persönlichkeit, Ihre Familie / Gruppe / Gesell- Werten, das agrarökologische Wissen der Vorfahren, schaft und die Natur als Fülle oder Mangel kulturelle Traditionen, medizinische Praktiken, ge- wahrnehmen. Welche Seite gibt den Aus- sunde Ernährung, traditionelle Sprache, Führung und schlag? Welche „Gewichte“ oder Faktoren Organisation der Gemeinschaft und die Familien mit lassen sich verändern? Kommen Sie hierüber all ihren Kindern, Frauen, Männern und Alten. in einen Austausch! Ausgehend von der Anerkennung der persönlichen Fülle in ihren verschiedenen Dimensionen ist es möglich, häufig verbreitete Haltungen der Hilf- losigkeit und totalen Abhängigkeit von außen zu durch Bündnisse mit anderen Akteuren, z. B. zur überwinden. Der Blick der Fülle öffnet den Weg für Verteidigung des Territoriums, die Erlangung von ein neues Zusammenleben, zu dem alle mit ihrem staatlicher Unterstützung im Bildungs- und Gesund- Wissen, ihren Erfahrungen und Gaben beitragen, in heitsbereich etc. (lesen Sie hierzu auch über die das sich alle einbezogen und in der Lage fühlen, be- Arbeit von CEJIS, Seite 14f.). stehende Verhältnisse zum Besseren zu verändern. Sobald die persönliche Fülle erkannt ist, geht es um 3. Schritt: die Erkenntnis des persönlichen Mangels. Die Ge- Den Wandel feiern! Das Leben in Fülle. meinschaft wird sich der Zerstörung, der Bedrohung Die erarbeiteten Achtsamkeitspläne dienen auch der Elemente bewusst, die für das Leben wesentlich dazu, die Fortschritte und Veränderungen in den sind: die Natur, die Gemeinschaft, die Beziehungen Beziehungen auf persönlicher, familiärer, ge- zu unseren Mitmenschen und die eigene Person. meinschaftlicher und umweltbezogener Ebene zu Eine Selbstreflexion über die eigene Mitverantwor- überprüfen und so in regelmäßigen Abständen die tung dient hier als Voraussetzung für die Suche einzelnen Schritte und konkreten Veränderungen nach einer Umwandlung des Mangels. auf diesem Weg zu feiern. Durch eine traditionelle Feier oder ein Fest werden die Errungenschaften an- 2. Schritt: erkannt und es wird für sie gedankt. Die Menschen Sich für ein Leben in Fülle entscheiden heißt, teilen und tauschen die materiellen Ernten, das sich für die Praxis der Achtsamkeit entscheiden! Saatgut und die Nahrung und überlegen, was im In einem zweiten Moment entscheidet sich dieselbe Achtsamkeitsplan neu bedacht werden muss, um Gemeinschaft für das Leben, entscheidet sich für auf ihrem Weg weiter voranzukommen. die Fülle und wählt Praktiken der Achtsamkeit, um damit den Mangel in Fülle zu verwandeln. Dabei ist klar, dass nicht alle Veränderungen vollständig aus Wir haben Frau Garzón noch Fragen gestellt, zum Beispiel, ob sie die Methode auch in anderen Länderkontexten anwend- eigener Kraft geleistet werden können; so werden bar sieht. Ihre Antworten und diesen Beitrag finden Sie auf die eigenen Ressourcen nach außen hin ergänzt fastenaktion.misereor.de/grundlagen Die Methode „Planes de Vida“ 11
Das Gute Leben für alle ist dringlicher denn je Bolivien braucht Veränderung Markus Zander Länderreferent Bolivien, MISEREOR · AACHEN B olivien befindet sich nach dem Ende von 14 der Anteil Indigener und von Frauen in politischen Jahren der Regierung Evo Morales‘ im Oktober Entscheidungspositionen deutlich. 2019 in einem starken Umbruch. Dabei ist Mit der Zeit traten jedoch immer stärkere Wider- gegenwärtig völlig unklar, wohin die Reise geht. sprüche zwischen dem Diskurs des Vivir Bien und Die Jahre der Regierung von Morales, der von der Praxis der Regierung auf. Diese baute ihre manchen als erster indigener Präsident des Landes Wirtschafts- und staatliche Einnahmenpolitik von bezeichnet wird, mit seiner Partei MAS (Bewegung Beginn an fast ausschließlich auf der Ausbeutung für den Sozialismus) waren zu Beginn von großen natürlicher Ressourcen (Erdgas, Mineralien und ag- Hoffnungen getragen. Dies galt insbesondere für die rarindustrielle Produkte) und deren Export ins Aus- bislang stark benachteiligten indigenen Völker des land auf. Dazu kam eine starke Klientelpolitik, im Hoch- und Tieflandes, die das Ende der jahrhunder- Rahmen derer bestimmte gesellschaftliche Gruppen telangen Diskriminierung der Ursprungsbevölkerung z. B. die Kokabauern, aus deren Reihen Evo Morales und die Errichtung einer auf gegenseitigem Respekt stammt, die Minenkooperativisten oder zunehmend und Anerkennung aufbauenden Gesellschaft auch die Agrarindustrie begünstigt wurden, um herbeisehnten. Der von Evo Morales und seinen ihre Gefolgschaft zu sichern. Teil davon war die Ver- Anhängern gepflegte Diskurs des Vivir Bien („Gutes sorgung von Führungspersonen der indigenen und Leben“) hatte außerdem Hoffnungen auf die Über- kleinbäuerlichen Basisorganisationen mit Posten windung der enormen sozialen Unterschiede und und Zuwendungen, die an die MAS gebunden und eine wirtschaftliche Entwicklung des Landes mit damit ruhiggestellt wurden. Gleichzeitig setzte sich Rücksichtnahme auf die empfindlichen Ökosysteme eine immer stärkere Tendenz der Regierung zum des Landes geweckt. Autoritarismus durch. Nach ersten konfliktreichen Jahren erlebte das Mit dem Verfall der Rohstoffpreise ab ca. 2015/2016 Land ab ca. 2009 eine politische Stabilität in vorher stieß das bisherige wirtschaftliche Erfolgsmodell ungekanntem Ausmaß. Die bereits 2006 erfolgte deutlich an seine Grenzen, und im verzweifelten Nationalisierung der Gasreserven und der Boom Bemühen um neue Einnahmequellen wurden der der Preise für Erdgas, dem Hauptexportprodukt, Bergbau, die Erdggassuche, die Agrarindustrie und brachte ein nie dagewesenes Wirtschaftswachstum. der geplante Bau von Staudämmen immer stärker Dieses erlaubte im ersten Jahrzehnt der Regierung forciert. Dabei war das Amazonasgebiet mit seinen die Ansammlung erheblicher staatlicher Reserven indigenen Territorien besonders betroffen; die und eine Ausgabenpolitik, die neben der Investition vorherige, freie und informierte Konsultation der Foto: picture alliance / dpa / Ivan Perez in Straßen oder Krankenhäuser auch und vor allem indigenen Bevölkerung wie auch ökologische Be- Bonuszahlungen für Familien mit Kindern oder lange blieben unberücksichtigt. Diese Entwicklung ältere Menschen förderte. Damit gelang es, die kulminierte im Sommer 2019 kurz vor den Wahlen. Armut deutlich zu reduzieren, was Evo Morales eine Durch präsidentielle Dekrete befördert, verbrannten starke Anhängerschaft vor allem in den ärmeren insgesamt sechs Millionen Hektar Fläche im boli- Bevölkerungsgruppen sicherte. Gleichzeitig stieg vianischen Tiefland durch intentional gelegte Wald- 12 Fastenaktion 2021 · GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS
verschoben. Ihr Ausgang war bei Redaktionsschluss nicht vorauszusehen. Die Übergangspräsidentin mit ihrem Kabinett versucht, im Schatten der Coro- na-Pandemie, zu Gunsten der ihr nahestehenden Agrarindustrie Fakten zu schaffen, ohne sich dabei um das Wohl der Kleinbauern und Indigenen zu kümmern: Ausdehnung der Agrarflächen für den An- bau von Soja und anderen Monokulturen vor allem im Amazonasgebiet. Dessen Böden sind jedoch für diese Art von Anbau denkbar ungeeignet, und die andauernde Abholzung des Waldes heizt in gefähr- licher Weise den Klimawandel weiter an. Dessen Auswirkungen wie Wassermangel, Extremwettersitu- ationen oder Überschwemmungen sind bereits jetzt in ganz Bolivien sehr deutlich zu spüren. Bolivien hatte 2019 eine pro-Kopf-Abholzungsrate von 198 m² jährlich und damit eine der höchsten der Indigene Führungspersonen feiern eine Zeremonie während Welt, noch deutlich über Brasilien, Indonesien oder einer MAS-Wahlkampfkundgebung im Februar 2020. Malaysia. Die Erlaubnis der Regierung zum (verfas- sungsmäßig verbotenen) „versuchsweisen“ Anbau brände, davon zwei Millionen Hektar Regenwald. neuer genmanipulierter Produkte stieß im Mai 2020 Mit der Zeit begannen sich immer mehr ehemalige auf eine breite Gegenkampagne der Zivilgesell- Gefolgsleute Evo Morales‘ von ihm und seiner Regie- schaft, ohne jedoch die Entscheidung der Regierung rung abzuwenden. Ungeachtet des verfassungs- beeinflussen zu können. mäßigen Verbots und des Ausgangs eines offiziellen Die durch das Coronavirus ausgelöste Pandemie hat Referendums ließ er sich 2019 erneut als Präsident- Bolivien trotz der relativ früh verhängten rigorosen schaftskandidat aufstellen. Schwere Unruhen von Quarantänemaßnahmen stark getroffen; Ende Juli Gegnern und Befürwortern Evo Morales‘ nach der 2020 zählt Bolivien mehr als 73.500 bestätigte An- Wahl im Oktober 2019, der von der Organisation steckungen und knapp 3.000 Todesfälle, mit einer Amerikanischer Staaten bestätigte Vorwurf von Un- hohen Dunkelziffer wegen mangelnder Testmöglich- regelmäßigkeiten bei der Wahl und der Verlust der keiten. Die verordneten Ausgangssperren sind für Unterstützung seines Militärs führten schließlich die zahlreichen vom informellen Sektor lebenden zum Rücktritt des Präsidenten und seiner Abreise Familien kaum einzuhalten, da sie dadurch ihre ins Exil nach Mexiko und von dort weiter nach Argen- Einkommensmöglichkeiten und damit den Zugang tinien. Weite Kreise linksgerichteter Medien und zu Nahrungsmitteln verlieren. Dazu kommt der Zu- Organisationen sprachen in diesem Zusammenhang sammenbruch des sehr schwach ausgebildeten Ge- von einem Putsch des konservativen Lagers. In dem sundheitssystems. Besonders verletzlich sind auch entstandenen Machtvakuum wurde die Vizepräsi- hier die indigenen Völker des Amazonasgebiets, in dentin des Senats von Bolivien, die rechtsgerichtete deren weit abgelegenen Gemeinden das staatliche Jeanine Áñez, zur Interimspräsidentin des Landes Gesundheitssystem fast völlig abwesend ist. ernannt. Sie ließ in den ersten Wochen Polizei und Militär sehr hart gegen gewaltsam protestierende Damit ist die Zukunft Boliviens angesichts des unvor- Anhänger der MAS vorgehen, was eine Reihe Todes- hersehbaren Ausgangs der Pandemie, der starken opfer forderte und ihr heftige Kritik einbrachte. Ihre und entlang sozialer Unterschiede verlaufenden Aufgabe wäre es vornehmlich, transparente Parla- gesellschaftlichen Polarisierung zwischen Befürwor- ments- und Präsidenschaftswahlen in Bolivien zu tern und Gegnern der MAS und einer sich bereits vor organisieren. Diese wurden nach zähen Verhandlun- Covid-19 ankündigenden schweren wirtschaftlichen gen mit der MAS zunächst für Mai 2020 festgelegt, Krise im Augenblick mehr als ungewiss. dann aber wegen der Corona-Pandemie und unter heftigem Protest der MAS sowie der ihr nahestehen- Aktuelle Zahlen und Fakten zu Bolivien finden Sie auf den Basisorganisationen letztlich auf Oktober 2020 fastenaktion.misereor.de/grundlagen Bolivien braucht Veränderung 13
Empowerment für ein Über-Leben mit der Natur Die Arbeit der MISEREOR-Partnerorganisation CEJIS Lebensraum Regenwald – ein Kampf um Land und Autonomie Susanne Kaiser Freie Journalistin · BERLIN E ine Menge Holz und Nutzpflanzen, Siedlungs- Bäume sie abholzen und die Ressourcen der Erde gebiete, wertvolle Rohstoffe, riesige Agrar- und ausbeuten, desto mehr Geld können sie verdienen“, Weideflächen. Dieses Potenzial sehen viele im erklärt der 36-Jährige mit ruhiger, fester Stimme. Regenwald des Amazonas. Für Juan Carlos Semo aber Für die Menschen jedoch, die im und vom Urwald bedeutet der Wald viel mehr, er ist sein Lebensraum, leben, ist der respektlose Umgang mit der Natur eine seine Welt. Katastrophe. Deshalb ist Juan Carlos Semo für seine indigene Gemeinde politisch aktiv. Denn es ist ihr Zu- „Der Berg, der Fluss, die Lagunen, die Bäche, die hause, ihre Lebensgrundlage, ihre Kultur, die dabei Tiere und die Pflanzen verstehen wir als unsere Ge- zerstört werden. schwister“, so versucht er die Weltanschauung der indigenen Gemeinschaft vom Volk der Mojeños in Bedrohte Territorien dem kleinen Ort San Miguel del Apere im Nordosten Eigentlich dürfte das gar nicht so sein, denn seit drei Boliviens zu erklären. Wenn er von den Schutzgeis- Jahrzehnten sind immer mehr Territorien, in denen tern der Bäume und Tiere erzählt, von den Mythen indigene Gemeinschaften leben, rechtlich auch als und Legenden, die hinter jedem Stein, hinter jedem ihr Land anerkannt worden. Doch weil der Regen- Strauch und in jeder Quelle stecken, dann können wald so profitabel ist, hält sich niemand daran: auch Menschen aus einer anderen Kultur einen weder die Waldrodung noch die Agrarindustrie oder Hauch von dieser Haltung begreifen – wenn sie ihm der großenteils außerhalb der Legalität operieren- Fotos: M. Souane / MISEREOR zuhören. Die Welt der Indigenen unterscheidet sich de Goldbergbau. Auch die Regierung selbst, die fundamental von der Welt des westlichen Kapitalis- Stauseen bauen oder Erdöl- und Erdgasförderung mus, ist Juan Carlos Semo überzeugt. „Für Leute betreiben lässt, sie alle zerstören die Lebensgrund- aus dem Westen ist der Boden hier vor allem ein lage der Indigenen und verletzen ihre Rechte. Allein Geschäft. Je mehr sie aus ihm herausholen, je mehr in der Gegend um San Miguel standen drei große 14 Fastenaktion 2021 · GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS
Sägewerke, berichtet Juan Carlos Semo. Die kleinen, Deshalb ist das oberste Ziel, einen Autonomiestatus verstreut lebenden Gruppen der Indigenen sind im- zu erlangen, durch den das gesamte indigene Gebiet mer noch zu wenig organisiert, um ihre Rechte ohne einer eigenen Regierung unterstellt würde. Doch der Unterstützung kollektiv durchsetzen zu können. Weg dorthin ist weit, denn dazu müssen die einzel- nen indigenen Organisationen viel stärker werden Seit drei Jahrzehnten begleitet die MISEREOR-Part- und besser zusammenarbeiten, sagt Bailon Ortiz. nerorganisation CEJIS (Centro de Estudios Jurídicos e Manchmal scheitert dies schon an kleinen Dingen, Investigación Social) sie in Bolivien bei ihrem Kampf an Transportmitteln zum Beispiel, um zu einer Ver- um Land und Autonomie. CEJIS berät indigene Ge- sammlung in der nächstgrößeren Stadt zu gelangen. meinschaften vor allem juristisch: wie sie ihre Rechte Oder daran, dass sie alle bei der Ernte mit anpacken und ihr Land schützen, wie sie selbstbestimmt ihre müssen, damit die Gemeinden versorgt sind. eigenen Formen der nachhaltigen Wirtschaft mit den naturgewachsenen Ressourcen pflegen können. Da- für müssen sie Verwaltungsstrukturen aufbauen, die den gesetzlichen Anforderungen des Staates entspre- chen. „Für uns ist ganz wichtig, indigenen Gruppen nicht mit einer paternalistischen Einstellung zu be- gegnen, sondern eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen“, erklärt Manuel Menacho, der für CEJIS Work- shops für die Gemeinde in San Miguel leitet. Deshalb entwickeln die Kommunen politische und juristische Strukturen, die sich auf eigene Traditionen stützen und bei denen das Gemeinwesen im Vordergrund steht. Jede und jeder darf sich bei den Versammlun- gen einbringen, Entscheidungen werden im Kollektiv getroffen, so ist die Kultur hier. CEJIS stellt dann zum Manuel Menacho leitet einen Workshop für die Gemeinde. Beispiel die Anwälte, die die Entscheidungen gegen- über dem Staat durchsetzen helfen. „Wir lernen dabei Der Ansatz von CEJIS ist ganzheitlich, die Verbesserung genauso viel von den indigenen Gemeinden wie sie der agroforstwirtschaftlichen Produktion durch tech- von uns. Das gefällt mir am besten an meiner Arbeit, nisches Know-how spielt genauso eine Rolle wie der dass sich richtige Freundschaften mit den Menschen Ausbau der Infrastruktur. „Eigentlich leben die Gemein- hier entwickelt haben“, so Manuel Menacho. Manch- schaften hier schon lange autonom“, sieht Manuel mal denkt der Dreißigjährige darüber nach, sich Menacho das indigene Projekt optimistisch. „Unser al- selbst einer Gemeinde anzuschließen. ler Vision ist dieselbe: dass sie ihre Ressourcen selbst verwalten und wirklich unabhängig werden.“ Autonomiestatus soll vor Plünderung und Profitmaximierung schützen Besonders wichtig ist bei der Arbeit an der Organisation die Ausbildung von indigenen Füh- Was ist Agroforstwirtschaft? rungspersönlichkeiten, die die Interessen ihrer Der Begriff Agroforstwirtschaft bezeichnet Land- Gemeinschaften vertreten können. Einer von ihnen nutzungssysteme, bei denen Bäume oder ist Bailon Ortiz, ein junger Politiker, der seit einigen Sträucher mit Ackerkulturen, ggf. auch mit Tier- Jahren frischen Wind in die kommunale Selbstver- haltung so kombiniert werden, dass zwischen waltung bringt. Er gab jungen Leuten und Frauen den einzelnen Komponenten ökologische und eine Stimme. Heute ist er der erste indigene Ab- durchaus auch ökonomische Vorteilswirkun- geordnete, der für das Parlament kandidiert und un- gen entstehen. Diese Anbauweise wirtschaftet abhängig von einer Partei Politik für die Territorien nachhaltiger als konventionelle Anbausysteme, der Ureinwohner macht – mit 33 Jahren. „Die größte indem sie die Vielfalt und Funktionsweise von Herausforderung ist, unsere Vision vom Leben im Waldökosystemen imitiert. Mehr zur aktuellen Einklang mit dem Regenwald gegen die Sichtweise Debatte über Agroforstwirtschaft finden Sie on- der Plünderung und Profitmaximierung der rechten line unter fastenaktion.misereor.de/grundlagen und linken Parteien in Bolivien zu verteidigen“, gibt Bailon Ortiz Einblick in seine politische Arbeit. Die Arbeit der MISEREOR-Partnerorganisation CEJIS 15
Landwirtschaft im Einklang mit dem Wald Die Arbeit der Sozialpastoral Caritas Reyes Susanne Kaiser Freie Journalistin · BERLIN W enn Doña Antonia Lurisi vor ihren Gemüse- beeten sitzt und Salat oder Tomaten jätet, während hinter ihr die Baumriesen des Urwaldes aufragen, dann ist sie nur ein winziger Teil von einem großen System. Hier wachsen Maniok, Ananas, Bananen, Guaven, Papaya, Kakao und Cupuazú oder die Palmenarten Asaí und Majo, deren Früchte bei uns als Superfood vermarktet werden, neben Zedern, Eichen, Mahagoni, Teakbäumen und verschiedenen Heilpflanzen im dichten Miteinander und bieten unzähligen seltenen Tierarten einen Antonia Lurisi freut sich über die Vielfalt in ihrem Garten. Lebensraum. Doch Antonia Lurisi spielt eine ent- scheidende Rolle in dem System: Indem indigene naturgewachsenen Ressourcen. „Ich säe heute eine Gemeinschaften vom Wald leben, mit und in diesem Vielfalt von Pflanzen: Reis, Mais, Yucca, Bananen, einzigartigen Organismus aus Entstehen und Ver- Feigenbananen, Bohnen, Canavalia-Hülsenfrüchte. gehen, schützen sie ihn. Ohne sie gäbe es die Regen- Ich hätte nie geglaubt, dass das alles keimt. Doch wälder hier im Norden Boliviens vielleicht gar nicht die Mitarbeiter der Caritas haben uns die neuesten mehr. Der WWF schätzt, dass mehr als ein Viertel des Techniken gezeigt, wie man die Qualität der Ernte ver- Amazonasgebiets bis 2030 verloren sein wird, wenn bessert, indem man Landwirtschaft im Einklang mit die Abholzung weitergeht. Dabei wird davon ausge- dem Wald betreibt und dabei die Umwelt schützt.“ gangen, dass bei einer Zerstörung von mehr als 25 % des Waldes ein sogenannter „Tipping Point“ erreicht Ernährungssouveränität durch Agroforstwirtschaft wird, bei dessen Überschreitung eine Zerstörung des Die Lebensqualität in dem Örtchen Guaguauno in der Amazonasregenwaldes unumkehrbar würde. Gemeinde Reyes nördlich des Regierungssitzes La Paz Ob Antonia Lurisi pflanzt oder beschneidet, wild ist durch die sogenannte „Agroforstwirtschaft“ deut- wachsen lässt oder veredelt, erntet oder liegen lässt, lich gestiegen. „Ernährungssouveränität“ heißt das all das sind Entscheidungen, die das empfindliche Konzept, das die Projekte von Caritas Reyes mit in- Ökosystem des Regenwaldes nachhaltig beeinflussen digenen Gruppen umsetzen. Es bedeutet, dass diese – und aus dem Gleichgewicht bringen können. „Frü- durch die Vielfalt ihrer Produkte unabhängig leben und her haben wir einfach alles abgebrannt, um auf den sich gesund ernähren können. „Ich bin Mitglied einer freien Flächen Reis, Yucca und Bananen anzubauen“, Frauenkooperative“, erzählt die 52-Jährige. „Wir lernen erklärt sie. Heute kann sie das nicht mehr verstehen. gemeinsam, wie wir Milch und Früchte weiterverarbei- Seit sie und ihr Mann an den Workshops von Caritas ten können, die uns früher einfach schlecht geworden Fotos: REYES / MISEREOR Reyes teilnehmen, kommen sie ohne Brandrodung wären. Wir stellen Joghurt her und Marmelade aus aus. Der Projektpartner von MISEREOR stärkt indige- Sternfrucht, Papaya, Guave, aus allem, was uns die ne und kleinbäuerliche Gemeinschaften und schützt Natur gibt. Die Produkte verkaufen wir dann in umlie- den Regenwald vor Rodung und Ausbeutung der genden Dörfern.“ Das Know-how der biodiversen Agro- 16 Fastenaktion 2021 · GRUNDLAGEN & PRAXISTIPPS
forstproduktion wird in Workshops weitergegeben, Mitarbeitende der Caritas und Teilnehmende teilen ihr Wissen und ihre Erfahrungen miteinander, tauschen sich über Methoden aus und überlegen gemeinsam, welches Werkzeug angeschafft werden könnte. „Das ist für mich ein Leben in Fülle“, sagt Antonia Lurisi. Ihre Waldparzelle bietet ihr alles, was sie für ein gutes Leben braucht: „Die vielfältigen Produkte, die wir hier auf natürliche und nachhaltige Weise produzieren, sind gut für unsere Gesundheit.“ Doch das Wichtigste ist für Antonia Lurisi, dass sie mit ihrem Mann, ihren Kindern und anderen Verwandten zusammenarbeiten kann. Ihr Land bestellen sie gemeinsam: „Wir sind als Familie vereint, wir reden über alles, wir planen gemeinsam, was wir wie und wo anbauen. Wir leben wirklich im Überfluss durch Reiche Ernte aus biodiverser Agroforstproduktion die Gemeinschaft und die Vielfalt an Pflanzen, die wir hier auf engstem Raum haben.“ größte Mangel hier“, weiß die Landwirtin. „Das müs- sen wir ändern.“ Die Ernährungssouveränität hat in der Gemeinde einen umfassenden Wandel mit sich gebracht, denn Auch daran wird in den Schulungen gearbeitet. „Die sie ist nicht mehr angewiesen auf Geldwirtschaft. indigenen Gemeinden sind gegenüber der Politik Früher verließen Familienväter ihre Angehörigen oft ziemlich machtlos. Es gibt für sie so gut wie keine monatelang, um sich als Saisonarbeiter und Tagelöh- Unterstützung, sie kennen ihre Rechte nicht“, erklärt ner zu verdingen. Familienmütter mussten ihre Ernte Franco Calle Patroni. Er ist Mitarbeiter von Caritas zu weit entfernten Orten transportieren, dort verkau- Reyes im Bereich der Bürgerbeteiligung und dafür zu- fen und mit dem Geld neue Lebensmittel einkaufen, ständig, Indigene dabei zu unterstützen, sich bei der weil die eigenen Produkte aus der Monokultur zu Politik Gehör für ihre Anliegen zu verschaffen. Dazu einseitig für die Ernährung waren. Außerdem litten gehört zum Beispiel die Ausbildung von Führungs- indigene Familien unter dem Exodus der Jungen, die persönlichkeiten oder die Aufklärung über Rechte, ihre Gemeinschaften in Richtung der größeren Städte auch Frauenrechte. „Deshalb müssen sie sich als verließen, weil das Leben im Regenwald ihnen keine Gemeinschaften auch übergreifend organisieren“, so Perspektive für die Zukunft bieten konnte. Franco, „denn gesammelt haben sie mehr Macht als einzeln.“ Das will er in seinen Workshops zusammen Die Gefahren sind noch nicht gebannt mit den Menschen vor Ort erreichen. Von allen Seiten werden die kleinen selbstbestimm- ten Gemeinschaften bedroht: Großunternehmen holzen ihre Lebensgrundlage ab, um dort riesige Monokulturen von genmanipulierter Soja anzubau- en oder extensive Viehzucht zu betreiben. Solche Flächen fressen sich immer weiter in den Urwald hinein. Auf den ausgelaugten Böden wächst kaum noch etwas, das Land wird anfällig für Erosion, Über- schwemmungen, den Klimawandel. Die Regierung plant Großprojekte wie gewaltige Stauseen, die alles überfluten würden, und erschließt Erdgasfelder mitten im Urwald. Und dann kam auch noch die Co- rona-Pandemie, die durch den Kontakt mit Siedlern und Regierungsmitarbeitenden in die besonders verletzliche indigene Bevölkerung hineingetragen wird. „Wir sind leider untereinander nicht gut genug organisiert, um dem etwas entgegenzusetzen – der Workshop-Ergebnisse werden umgesetzt. Die Arbeit der Sozialpastoral Caritas Reyes in Bolivien 17
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