Hartz IV - Reform einer umstrittenen politischen Maßnahme? - Die Zeit

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DOI: 10.1007/s10273-019-2439-3                                                                       Zeitgespräch

Hartz IV – Reform einer umstrittenen politischen
Maßnahme?
Seit 2005 ist Hartz IV in Kraft. Das Gesetz hat Leistungen der Arbeitslosenhilfe und der
Sozialhilfe zusammengeführt. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgegangen. Ob
dies nun vor allem an der Hartz-IV-Reform lag oder ob andere Ursachen für die positive
Entwicklung verantwortlich waren, ist letztlich nicht geklärt. Vieles spricht dafür, dass
das Armutsrisiko entgegen mancher Vorurteile nicht zugenommen hat. Dennoch wird
kritisiert, dass die Hartz-Reform in ihren Ergebnissen ungerecht sei, zum Teil nicht dem
ursprünglich angestrebten Personenkreis zugutekomme und sich negativ auf die Dauer der
Arbeitsverhältnisse auswirke. Deshalb werden verschiedene Änderungen vorgeschlagen: eine
Anhebung des „Schonvermögens“, eine Senkung der Transferentzugsrate, eine Bevorzugung
von vorher langjährig Beschäftigten; für das Arbeitslosengeld eine Verlängerung der
Anwartschaftszeiten und der Bezugsdauer.

Ulrich Walwei
Kontroverse um Hartz IV: Erwerbsarbeit muss im Fokus bleiben

Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhil-      ist, dass sich gesellschaftliche Teilhabe am besten über
fe zur Grundsicherung („Hartz IV“) zählt zweifellos zu den   eine Integration in das Erwerbsleben erreichen lässt. Ne-
großen Reformen des hiesigen Sozialstaats und ist seit       ben der Förderung setzt das Gesetz explizit auf Eigenver-
fast eineinhalb Dekaden in Kraft. Angesichts anhalten-       antwortung. Das SGB II realisiert damit eine aktivierende
der politischer Kontroversen und zuletzt weitreichender      Arbeitsmarktpolitik, also ein Fördern und Fordern der
Reformvorschläge ist es geboten, das System auf den          Hilfebedürftigen. Grundlage hierfür sind umfassende Ver-
Prüfstand zu stellen. Hierzu sind zunächst Stärken und       mittlungs- und Beratungsangebote. Die arbeitsmarktpoli-
Schwächen des Grundsicherungssystems zu identifizie-         tischen Instrumente zur Wiedereingliederung finden sich
ren. Vor diesem Hintergrund können dann Reichweite und       zum überwiegenden Teil auch in der Arbeitslosenversi-
Grenzen der momentan kursierenden Reformvorschläge           cherung, wie z. B. die Förderung der beruflichen Weiter-
diskutiert werden.                                           bildung oder auch Eingliederungszuschüsse. Zusätzlich
                                                             kommen öffentlich geförderte Beschäftigung, wie z. B.
Fördern und Fordern als Leitgedanke                          Arbeitsgelegenheiten, sowie sozialintegrative Leistungen,
                                                             etwa die Schuldnerberatung, zum Einsatz. Für erwerbs-
Die Grundsicherung für Erwerbsfähige bietet Leistungen       fähige und leistungsberechtigte Personen ist im Grunde
für Menschen in einer finanziellen Notsituation, die weder   jede Arbeit zumutbar. Zudem unterliegen Hilfebedürftige
über ein existenzsicherndes Einkommen noch über ein          Mitwirkungspflichten, wie z. B. die Teilnahme an Maßnah-
abschöpfbares Vermögen verfügen. Sie dient der Siche-        men der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Ausnahmen davon
rung des Lebensunterhalts und zielt gleichzeitig auf eine    gelten nur für den Fall, dass wichtige Gründe, wie etwa
Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit. Je nach Größe der      Betreuungsaufgaben, dem entgegenstehen.
Bedarfsgemeinschaft erhalten erwerbsfähige Hilfebedürf-
tige eine pauschalierte, am soziokulturellen Existenzmi-     Stärken der Grundsicherung
nimum orientierte Regelleistung sowie notwendige Mittel
für Kosten der Unterkunft. Der Leitgedanke des für das       Die Hartz-IV-Reform hat nach den vorliegenden wissen-
Regelwerk maßgeblichen Sozialgesetzbuchs II (SGB II)         schaftlichen Erkenntnissen einen substanziellen Beitrag

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Zeitgespräch

      zum anhaltenden Arbeitsmarktboom geleistet.1 Bedeu-                           §16i SGB II können Personen, die in den letzten sieben
      tende Wirkungskanäle hierfür sind eine höhere Suchin-                         Jahren mindestens sechs Jahre Leistungen nach dem
      tensität, mehr Zugeständnisse bei der Arbeitsplatzsuche                       SGB II bezogen haben, durch einen bis zu fünfjährigen
      und eine gestiegene Einstellungsbereitschaft der Betrie-                      Lohnkostenzuschuss von bis zu 100 % gefördert werden.
      be. Die Grundsicherung schafft mit ihren Leistungen ei-                       Die Zielgruppe von Personen mit sehr langem Leistungs-
      nen verlässlichen Rahmen für erwerbsfähige Menschen                           bezug ist nach den Erkenntnissen der Forschung so defi-
      in einer materiellen Notsituation. Mit der Einführung von                     niert, dass Einsperr- und Verdrängungseffekte, mit denen
      Hartz IV sind zudem die verschiedenen Problemlagen                            andernfalls zu rechnen wäre, eher unwahrscheinlich sind.
      am Arbeitsmarkt sichtbarer geworden. Oft fehlt es Leis-                       Unter Teilhabegesichtspunkten sinnvoll sind auch die im
      tungsbeziehern nicht nur an einem Arbeitsplatz, sondern                       Gesetz vorgesehene Förderung regulärer Arbeitsverhält-
      weitere Faktoren wie gesundheitliche Probleme, Schul-                         nisse, die vorgesehene beschäftigungsbegleitende Be-
      den, Wohnungsprobleme, Kinderbetreuung und Pfle-                              treuung durch einen Coach sowie Weiterbildungsmög-
      ge können ihre Arbeitsmarktchancen einschränken. Als                          lichkeiten und betriebliche Praktika.5
      Hochrisikogruppe hat sich der Personenkreis herauskris-
      tallisiert, der multiple Hemmnisse aufweist und deshalb                       Im Gegensatz zu den relativ hohen Anreizen für Grund-
      nur sehr geringe Chancen zur Aufnahme einer regulären                         sicherungsempfänger, in den Arbeitsmarkt einzutreten,
      Beschäftigung hat.2                                                           sind die Anreize zur Ausweitung einer Beschäftigung,
                                                                                    etwa im Sinne einer längeren Arbeitszeit, weit weniger
      Evaluationsstudien belegen, dass die im SGB II einge-                         gut ausgeprägt. Hohe Transferentzugsraten bei zusätz-
      setzten Maßnahmen positive Wirkungen nach sich zie-                           lich erzieltem Einkommen führen im Status quo zu einer
      hen. Teilnehmer an Maßnahmen weisen in aller Regel hö-                        vergleichsweise starken Anrechnung. Zudem ist das Zu-
      here Beschäftigungschancen auf als eine vergleichbare                         sammenspiel von Grundsicherung, Wohn- und Kinder-
      Gruppe von Nicht-Teilnehmern. Gerade für die Gruppe                           geld suboptimal, was für Betroffene im Falle von Mehrver-
      der Langzeitarbeitslosen ergeben sich für viele der ein-                      dienst sogar mit Nettoeinkommensverlusten einhergehen
      gesetzten Maßnahmen positive Eingliederungseffekte.3                          kann.6
      Richtung und Stärke der Effekte entspricht in etwa den
      Evaluationsergebnissen für Maßnahmen in der Arbeitslo-                        Oftmals wird die Grundsicherungsreform für (zuneh-
      senversicherung. Betriebsnahe Maßnahmen weisen die                            mende) Ungleichheiten in der Beschäftigung verantwort-
      höchsten Eingliederungseffekte auf. Keine oder allenfalls                     lich gemacht. Dieser Zusammenhang ist fraglich, weil
      schwache Wirkungen zeigen sich bei den Arbeitsgelegen-                        der Aufwuchs atypischer Erwerbsformen oder auch die
      heiten und damit für das Instrument, das allein im SGB II                     wachsende Niedriglohnbeschäftigung bereits weit vor
      zum Einsatz kommt.                                                            der Hartz-IV-Reform einsetzten und zudem seit Anfang
                                                                                    der laufenden Dekade an Fahrt verloren bzw. ganz zum
      Schwächen der Grundsicherung                                                  Stillstand kamen.7 Allerdings stellt sich ausgehend davon
                                                                                    die berechtigte Frage, ob in der Grundsicherung die För-
      Im SGB II gibt es trotz aller Fortschritte am Arbeitsmarkt                    derung der Aufwärtsmobilität von Beschäftigten in Rich-
      noch immer eine beträchtliche Zahl von Personen mit                           tung höherer Stundenverdienste, längerer Arbeitszeiten
      relativ geringen Chancen auf eine ungeförderte und glei-                      oder auch stabilerer Erwerbsbiografie ausreicht.
      chermaßen existenzsichernde Beschäftigung.4 Dieser
      Personenkreis wurde zuletzt durch die Verabschiedung                          Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass das Ver-
      des Teilhabechancengesetzes stärker bedacht: Nach                             hältnis des Förderns und Forderns in der Grundsicherung
                                                                                    in der Öffentlichkeit oftmals kritisch wahrgenommen wird.
                                                                                    Unabhängig von den Effekten der Aktivierung im Ein-
      1    S. Klinger, T. Rothe, E. Weber: Makroökonomische Perspektive auf
           die Hartz-Reformen: Die Vorteile überwiegen, IAB-Kurzbericht, Nr. 11,
           Nürnberg 2013; B. Hochmuth, B. Kohlbrecher, C. Merkl, H. Gartner:        5   Vgl. B. Christoph, S. Gundert, A. Hirseland, C. Hohendanner, K.
           Hartz IV and the Decline of German Unemployment: A Macroecono-               Hohmeyer, P. Ramos Lobato: Ein-Euro-Jobs und Beschäftigungs-
           mic Evaluation, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg,           zuschuss: Mehr soziale Teilhabe durch geförderte Beschäftigung?,
           Institute for Employment Research, Nürnberg 2018.                            IAB-Kurzbericht, Nr. 03, Nürnberg 2015; S. Gundert, K. Hohmeyer, P.
      2    J. Beste, M. Trappmann: Erwerbsbedingte Abgänge aus der Grundsi-             Ramos Lobato, B. Christoph, A. Hirseland, C. Hohendanner: Soziale
           cherung: Der Abbau von Hemmnissen macht‘s möglich, IAB-Kurzbe-               Teilhabe durch geförderte Beschäftigung: Dabei sein und dazugehö-
           richt, Nr. 21, Nürnberg 2016.                                                ren, in: IAB-Forum, Nr. 1, 2016, S. 48-53.
      3    K. Bruckmeier, T. Lietzmann, T. Rothe, A.-T. Saile: Grundsicherung für   6   K. Bruckmeier, J. Mühlhan, U. Walwei, J. Wiemers: Arbeit muss sich
           Arbeitsuchende nach SGB II: Langer Leistungsbezug ist nicht gleich           lohnen – auch im unteren Einkommensbereich! Ein Reformvorschlag,
           Langzeitarbeitslosigkeit, IAB-Kurzbericht, Nr. 20, Nürnberg 2015.            in: IAB-Forum, 21.12.2018.
      4    T. Lietzmann, P. Kupka, P. Ramos Lobato, M. Trappmann, J. Wolff:         7   U. Walwei: Von der Deregulierung zur Re-Regulierung. Trendwende
           Sozialer Arbeitsmarkt für Langzeiterwerbslose: Wer für eine Förde-           im Arbeitsrecht und ihre Konsequenzen für den Arbeitsmarkt, in: In-
           rung infrage kommt, IAB-Kurzbericht, Nr. 20, Nürnberg 2018.                  dustrielle Beziehungen, 22. Jg. (2015), H. 1, S. 13-32.

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Zeitgespräch
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                                                              Dr. Ulf Rinne ist Head of Scientific
zelfall zeigt die Entwicklung von 2012 bis 2017, dass bei
                                                              Management und Senior Research
einer nahezu unveränderten Zahl von Leistungsempfän-
                                                              Associate am IZA in Bonn.
gern und Sanktionierten die Zugänge in Maßnahmen der
aktiven Arbeitsmarktpolitik im SGB II von 2,69 Mio. auf
2,15 Mio. um rund ein Fünftel zurückging. Noch stärker fiel
der Rückgang der Förderung der beruflichen Weiterbil-
dung mit einem knappen Drittel aus.

Hartz IV ist eine bedürftigkeitsorientierte Leistung, bei
der die vorherige Erwerbsbiografie von Menschen ausge-        Maximilian Blömer ist Doktorand an
blendet wird. Für die Höhe der Leistung ist es gleichgül-     der Humboldt Universität zu Berlin und
tig, ob Transferempfänger jemals gearbeitet haben oder        Mitarbeiter am ifo Zentrum für Makro-
über längere Zeiträume beruflich tätig waren. Maßgeblich      ökonomik und Befragungen.
ist alleine die Frage, ob zum Zeitpunkt der Inanspruch-
nahme eine Bedürftigkeit vorliegt. Forschungsbefunde
deuten auf ungünstige Anreizwirkungen, wenn voher be-
ruflich Tätige besser gestellt werden. Längere Leistungs-
zahlungen, wie beispielsweise die von der SPD und DIE
LINKE geforderte Ausweitung des Arbeitslosengelds für         Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest ist
Ältere, verlängern tendenziell auch die Arbeitslosigkeit.     Präsident des ifo Instituts und Inha-
Wesentliche Gründe hierfür sind, dass Suchintensität und      ber des Lehrstuhls für Nationalöko-
Konzessionsbereitschaft der Arbeitsuchenden abneh-            nomie und Finanzwissenschaft, an
men. Eine noch längere Suche sorgt nicht – mehr – für         der Ludwig-Maximilians-­Universität
                                                              München.

                                                              Prof. Dr. Andreas Peichl ist Leiter des
                                                              ifo Zentrums für Mak­roökonomik und
                                                              Befragungen und Professor für Volks-
                                                              wirtschaftslehre, insbesondere Mak-
                                                              roökonomie und Finanzwissenschaft,
                                                              an der Ludwig-Maximilians-Universität
Autoren des Zeitgesprächs
                                                              München.

                    Prof. Dr. Ulrich Walwei ist Vize-         Prof. Dr. Jürgen Schupp ist Vize-Di-
                    direktor am Institut für Arbeits-         rektor der Längsschnittstudie Sozio-
                    markt- und Berufsforschung (IAB)          oekonomisches Panel (SOEP) am DIW
                    der Bundesagentur für Arbeit in           Berlin und Professor für Soziologie an
                    Nürnberg sowie Honorarprofessor           der FU Berlin.
                    an der Universität Regensburg.

                    Prof. Dr. Werner Eichhorst ist            Prof. Dr. Gerhard Bäcker war Inhaber
                    Koordinator für Arbeitsmarkt- und         des Lehrstuhls für die Soziologie des
                    Sozialpolitik in Europa am Insti-         Sozialstaats und ist Fellow am Institut
                    tut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in       Arbeit und Qualifikation der Universität
                    Bonn sowie Honorarprofessor an            Duisburg-Essen.
                    der Universität Bremen.

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                                                                                                      237
Zeitgespräch

      einen besseren „Match“, sondern erhöht das Risiko einer                     cen, durch Freiräume und intrinsische Motivation indivi-
      Humankapitalentwertung und einer Verringerung der Be-                       duelle Initiative anzuregen. Die Kritiker wollen dagegen
      schäftigungsfähigkeit.8                                                     gängige Arbeits- und Sozialnormen wahren und an der
                                                                                  „fürsorglichen Belagerung“ von Personen in finanzieller
      Mit Blick auf die Besserstellung langjährig Berufstätiger                   Not festhalten.
      stellt sich auch die Frage nach der Angemessenheit des
      sogenannten „Schonvermögens“, also des Vermögens,                           Wie die Sanktionsforschung belegt, würden durch den
      dass für den Bezug der Grundsicherung als unschädlich                       Wegfall bestehender Mitwirkungsanforderungen in der
      zu betrachten ist. Bei einer Anhebung des „Schonvermö-                      Grundsicherung nachhaltig Arbeitsanreize verloren ge-
      gens“ oder auch im Falle großzügigerer Regelungen zur                       hen. Darüber hinaus wären mittel- und längerfristig auch
      „Angemessenheit der Wohnung“ in Phasen des frühen                           Bildungsanreize gefährdet und dies vermutlich gera-
      Leistungsbezugs wären nennenswerte negativen Ar-                            de bei den Personen, die sich in aller Regel selbst nicht
      beitsmarkteffekte unwahrscheinlich. Doch auch an dieser                     gut helfen können. Grundeinkommensansätze, die ohne
      Stelle ist eine sorgfältige Güterabwägung geboten, denn                     Sanktionen auskommen wollen, sind jedoch mit weiteren
      verbesserte Regelungen zum Schonvermögen schaffen                           Problemen behaftet. Sie implizieren ein Verständnis des
      zwar durchaus erwünschte Anreize in Richtung einer in-                      Staats als „Kümmerer in allen Lebenslagen“. Zudem ist
      dividuellen Vorsorge, widersprechen aber im Falle einer                     mit Trittbrettfahrerverhalten und einer damit verbunde-
      akuten Hilfebedürftigkeit zunehmend dem Gebot der so-                       nen Übernutzung des Sozialsystems zu rechnen. Im Er-
      zialen Gleichbehandlung.                                                    gebnis laufen die fiskalischen Konsequenzen von Grund-
                                                                                  einkommensansätzen auf eine stärkere Alimentierung
      Berechtigung und Grenzen von Sanktionen in der                              Nicht-Erwerbstätiger zulasten der aktiven Bevölkerung
      Grundsicherung                                                              hinaus.

      Forschungsergebnisse zu den Sanktionen im SGB II                            Die schwerwiegenden Einwände gegenüber sanktions-
      belegen, dass diese den Abgang aus Arbeitslosigkeit                         freien Grundeinkommensansätzen sind aber auch nicht
      in Beschäftigung beschleunigen.9 Gleichzeitig können                        als „Freibrief“ für die geltenden Sanktionsbestimmun-
      Sanktionen der Evidenz zufolge aber auch zum Rückzug                        gen zu sehen. Zu scharfe Sanktionen, wie etwa die nach
      vom Arbeitsmarkt beitragen und die materielle Lebens-                       mehreren Pflichtverletzungen möglichen „Totalsankti-
      situation der Sanktionierten massiv beeinträchtigen. Die                    onen“, beeinträchtigen nicht nur in massiver Weise die
      Kritik an der Grundsicherung macht sich zumeist an der                      materiellen Lebensbedingungen für die Sanktionierten.
      Intensität des Forderns fest. Dabei reichen die Vorschläge                  Durch die erst dadurch herbeigeführte besondere Not-
      von moderaten Veränderungen der Sanktionspraxis (z. B.                      situation gefährden Totalsanktionen die Möglichkeiten
      SPD und FDP), über eine sanktionsfreie Grundsicherung10                     einer Mitwirkung der Betroffenen an ihrer Arbeitsmarkt-
      bis hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen (z. B.                      integration.
      Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE). Auf Sanktions-
      freiheit zielende Ansätze unterscheiden sich in wesentli-                   Anrechnung von Erwerbseinkommen auf den
      chen Grundprämissen vom Status quo. Die Befürworter                         Transferbezug
      sehen durch ein „laissez faire“ im Sozialstaat mehr Chan-
                                                                                  Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen bei
                                                                                  gleichzeitigem Bezug bedürftigkeitsorientierter Leistun-
      8  J. Schmieder, T. von Wachter, S. Bender: The causal effect of unem-
         ployment duration on wages: Evidence from unemployment insurance         gen können unterschiedliche Ziele verfolgen. Zum einen
         extensions, in: American Economic Review, 106. Jg. (2016), S. 739-777.   kann man mit solchen Regelungen einen leichten Zugang
      9 B. Boockmann, S. L. Thomsen, T. Walter: Intensifying the Use of Be-       in den Arbeitsmarkt für besonders schwer vermittelbare
         nefit Sanctions – An Effective Tool to Shorten Welfare Receipt and
         Speed up Transitions to Employment, Zentrum für Europäische              Personen anstreben, zum anderen auf Anreize zu einer
         Wirtschaftsforschung (ZEW), Discussion Paper, Nr. 09-072, 2009;          Ausweitung von Stundenverdiensten und Arbeitszeit und
         J. Schneider: Impacts of Benefit Sanctions on Reservation Wages,         eine damit möglichst schnelle Beendigung der Hilfebe-
         Search Effort and Re-employment, in: Activation of Welfare Recipi-
         ents: Impacts of Selected Policies on Reservation Wages, Search Ef-      dürftigkeit setzen. Technisch geht es um die Frage nach
         fort, Re-employment and Health, Dissertationsschrift, Berlin 2010; T.    der Höhe eines anrechnungsfreien Grundbetrags (im ge-
         Walter: The Employment Effects of an Intensified Use of Benefit Sanc-    genwärtigen System: 100 Euro) und um die sogenannte
         tions, in: ders.: Germany’s 2005 Welfare Reform. Evaluating Key Cha-
         racteristics with a Focus on Immigrants, in: ZEW Economic Studies,       „Transferentzugsrate“ für jeden weiteren hinzuverdienten
         Bd. 46, 2012, S. 51-72; G. J. Van den Berg, A. Uhlendorff, J. Wolff:     Euro. Letztere macht je nach Fallkonstellation mindes-
         Sanctions for young welfare recipients, in: Nordic Economic Policy       tens 80 % aus und liegt damit deutlich oberhalb üblicher
         Review, Bd. 1, 2014, S. 177-208.
      10 Für die Forderung nach einer sanktionsfreien Grundsicherung siehe        Grenzbelastungen im Steuer- und Transfersystem, wie et-
         z. B. www.sanktionsfrei.de; www.tacheles-sozialhilfe.de.                 wa dem Spitzensteuersatz im Einkommensteuertarif.

                                                                                                                Wirtschaftsdienst 2019 | 4
238
Zeitgespräch

Bei Reformvorschlägen, wie z. B. denen von Bündnis 90/                     schäftigung, und setzt sich mit einem intensiven Fallma-
Die Grünen und FDP, geht es aber nicht allein um groß-                     nagement fort. Besonderes Augenmerk muss aber auch
zügigere Anrechnungsregelungen im Falle von Mehrver-                       der Nachbetreuung von bereits integrierten Personen
dienst. Darüberhinaus streben diese Ansätze eine partiel-                  gelten. Zu denken ist dabei insbesondere an das Nach-
le Neuordnung des Niedrigeinkommensbereichs an. Dies                       holen einer Vollqualifizierung, berufsbegleitende Formen
ist im Grunde ein weites Feld, denn generell sind vielfäl-                 der Teilqualifizierung sowie die gezielte Unterstützung von
tige Interaktionen zwischen Grundsicherung, Wohngeld,                      Betriebs- und Tätigkeitswechseln einerseits und räumli-
Kindergeld, Sozialversicherung und Steuerrecht zu be-                      cher Mobilität andererseits. Der Vorteil von Aufwärtsmo-
denken. Solche Ansätze stehen vor der Herausforde-                         bilität liegt in deren doppelter Rendite. Zum einen profi-
rung, sowohl Einkommensungleichheiten zu begrenzen                         tieren Personen, die durch eine qualitativ hochwertigere
und möglichst kräftige Anreize zu einer Ausweitung von                     Beschäftigung besser und womöglich nachhaltiger in den
Beschäftigung zu generieren. Entsprechende Reformen                        ersten Arbeitsmarkt integriert wären. Zum anderen wür-
müssen aber immer auch die damit verbundenen fiskali-                      den genau diese Personen Einstiegspositionen frei ma-
schen Kosten ins Blickfeld nehmen. Der etwa vom Institut                   chen. Andere vormals nicht beschäftigte Personen mit
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zuletzt ins Spiel                    weniger guten Voraussetzungen für eine Beschäftigung
gebrachte Erwerbszuschuss, der in Verbindung mit ge-                       könnten dann nachrücken („Schornsteineffekt“).
ringeren Transferentzugsraten das Wohn- und Kindergeld
wie auch die Aktivierung der Begünstigten obsolet ma-                      Ein weiterer Schlüssel zur Verbesserung der Lebenssi-
chen würde, läge mit Zusatzkosten von 2 Mrd. bis 3 Mrd.                    tuation von Grundsicherungsempfängern und anderen
Euro jedoch im Rahmen fiskalpolitischer Möglichkeiten.11                   Menschen im unteren Einkommensbereich ist eine spür-
                                                                           bare Ausweitung der sozialen Grundversorgung der Be-
Zusätzliche Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung                             völkerung. Solche geldwerten Sachleistungen schließen
                                                                           bezahlbaren Wohnraum, ein gutes und kostengünstiges
Verbesserungen im System der Grundsicherung wären                          Angebot an öffentlichem Nahverkehr sowie Betreuungs-
darüber hinaus durch weitere, weniger im Fokus der öf-                     einrichtungen für Kinder und Pflegebedürftige sowie Ver-
fentlichen Diskussion stehende Maßnahmen zu errei-                         günstigungen für kulturelle und sportliche Veranstaltun-
chen. Zunächst wird es darauf ankommen, präventive                         gen ein.15
Ansätze zur Vermeidung des Grundsicherungsbezugs
zu intensivieren. Ansatzpunkte hierfür sind Bildung, Aus-                  Fazit: Hartz IV – Reformansätze
und Weiterbildung auf der einen Seite sowie gesundheitli-
che Vorsorge auf der anderen Seite. Bildungsarmut kann                     Der Beitrag hat gezeigt, dass es zwar Handlungsbedar-
am besten im frühkindlichen Bereich vermieden werden,                      fe in der Grundsicherung gibt, aber keine Gründe für
wodurch ein etwaiger Nachschub an wenig wettbewerbs-                       einen „Neuanfang“. Das SGB II steht vor der ständigen
fähigen Personen erst gar nicht entstehen würde.12 Prä-                    Herausforderung, einerseits die sozialen Lebensbedin-
vention endet aber nicht in Schule und Ausbildung. Kör-                    gungen der Hilfebedürftigen würdevoll auszugestalten
perlich und mental stark belastende Tätigkeiten dürfen                     und andererseits hinreichende Arbeitsanreize zu schaf-
angesichts einer stetigen Verlängerung des Erwerbsle-                      fen. Möglichkeiten der Weiterentwicklung liegen in einer
bens nicht zu lange ausgeübt werden, wobei hier die fort-                  angemesseneren Definition des Schonvermögens, einer
schreitende Digitalisierung helfen kann.13                                 großzügigeren Anrechnung zusätzlichen Erwerbseinkom-
                                                                           mens, einem systematischen Ausbau erwerbsorientier-
Darüber hinaus geht es auch um eine stärkere Förderung                     ter Transfers, der Abschaffung von Totalsanktionen, der
von Aufwärtsmobilität.14 Dies beginnt mit der sozialen                     Etablierung eines sozialen Arbeitsmarktes, mehr sozialer
Stabilisierung, etwa durch eine öffentlich geförderte Be-                  Prävention und Grundversorgung und der Förderung von
                                                                           Aufwärtsmobilität. Entsprechende Schritte würden dazu
                                                                           beitragen, die positiven Wirkungen der Grundsicherung
11 K. Bruckmeier et al.: Arbeit muss sich lohnen ..., a. a. O.             am Arbeitsmarkt aufrechtzuerhalten und gleichzeitig den
12 L. Wößmann, F. Kugler, M. Piopiunik: Einkommenserträge von Bil-
   dungsabschlüssen im Lebensverlauf: Aktuelle Berechnungen für            sozialen Ausgleich zu verbessern.
   Deutschland, in: ifo-Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 7, S. 19-30.
13 I. Mühlenbrock: Alterns- und altersgerechte Arbeitsgestaltung.
   Grundlagen und Handlungsfelder für die Praxis, Bundesanstalt für Ar-
   beitsschutz und Arbeitsmedizin, 1. Aufl., Dortmund 2016; U. Walwei:
   Konsequenzen der Digitalisierung für strukturelle Arbeitsmarktpro-
   bleme. Chancen und Risiken, in: Zeitschrift für Sozialreform, 62. Jg.
   (2016), H. 4, S. 357-382.                                               15 M. Promberger: Resilience among vulnerable households in Europe.
14 U. Walwei: Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt: Wenn nicht jetzt,            Questions, concept, findings and implications, IAB-Discussion Pa-
   wann dann?, in: IAB-Forum, 17.8.2017.                                      per, Nr. 12, Nürnberg 2017.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                  239
Zeitgespräch

      Werner Eichhorst, Ulf Rinne
      Erfolge der Grundsicherung nicht gefährden: Weiterentwicklung
      statt neuer Antworten

      Für viele Beobachter markiert der 14. März 2003 einen                          nur sehr eingeschränkt profitiert. So waren 2017 von den
      Wendepunkt in der deutschen Arbeitsmarktpolitik. An                            insgesamt rund 2,5 Mio. Menschen, die im Jahresdurch-
      diesem Tag hielt der damalige Bundeskanzler Gerhard                            schnitt bei einer Agentur für Arbeit oder einem Jobcenter
      Schröder eine vielbeachtete Rede vor dem Deutschen                             arbeitslos gemeldet waren, rund 900 000 Personen bzw.
      Bundestag, in der er für „Mut zur Veränderung“ warb –                          36 % seit mindestens einem Jahr auf der Suche nach ei-
      mit dem Ziel „wieder an die Spitze der wirtschaftlichen                        ner Beschäftigung.4
      und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen“.1 In
      der Regierungserklärung zur Agenda 2010 bezeichnete                            Indirekte Effekte der Hartz-Reformen
      er den Bereich Arbeit und Wirtschaft als das „Herzstück“
      der Reformagenda und verwies auf folgende zentrale Ele-                        Vor diesem Hintergrund sind auch die Gesamteffekte der
      mente: Öffnung der Arbeitsmärkte für neue Formen der                           Hartz-Reformen weiterhin umstritten. Dies könnte auch
      Beschäftigung und Selbstständigkeit, Verbesserung der                          damit zusammenhängen, dass sich ihre Wirkungen mög-
      Bedingungen für die Vermittlung von Arbeitslosen, Neu-                         licherweise vor allem indirekt ergeben haben – und zwar
      definition der Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden,                       vornehmlich über den Kanal der Beschäftigten. So zeigt
      Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit sowie Ab-                         eine neuere empirische Untersuchung, dass der Rück-
      gabenentlastung geringer Einkommen.                                            gang der Arbeitslosigkeit zu 75 % dadurch zu erklären ist,
                                                                                     dass weniger Menschen arbeitslos wurden.5 Demnach ist
      Handlungsdruck Mitte der 2000er Jahre                                          die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, ein Jahr-
                                                                                     zehnt nach den Reformen um fast ein Drittel gefallen, wäh-
      Der politische Handlungsdruck Mitte der 2000er Jahre war                       rend die Wahrscheinlichkeit, als Arbeitsloser eine Stelle zu
      immens. Verschärft durch die andauernden Auswirkun-                            finden, im gleichen Zeitraum nur um gut 10 % gestiegen
      gen und finanziellen Belastungen der Wiedervereinigung                         ist. Entgegen einer verbreiteten Vermutung erklärt also die
      befand sich die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland                         Tatsache, dass mehr Menschen aus Arbeitslosigkeit her-
      tatsächlich bereits seit den 1970er Jahren „auf einer schie-                   aus eine Stelle fanden (etwa durch verstärkte Aktivierung),
      fen Ebene“ – mit der Folge, dass Rezessionen seitdem                           die Erfolge der Reformen nur zu einem geringen Anteil.
      immer neue Wunden in Form einer sukzessive ansteigen-
      den Arbeitslosigkeit hinterließen.2 Lange galten die struk-                    Wurden also die beiden Hauptziele der Hartz-Reformen –
      turellen Probleme des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats                       eine geringere Langzeitarbeitslosigkeit und eine verstärkte
      als kaum lösbar. Insbesondere wurde der deutsche „Re-                          Aktivierung – tatsächlich gar nicht erreicht? Dazu müssen
      formstau“ im internationalen Vergleich augenfällig.3 Vor                       die fortbestehenden Herausforderungen auch in Relation
      allem angesichts der wachsenden Sockelarbeitslosigkeit                         zu unbestrittenen Erfolgen gesetzt werden. So ist insbe-
      sollten durch umfassende Reformen erstens Langzeitar-                          sondere der starke Anstieg der Erwerbsquote älterer Ar-
      beitslose besser in Beschäftigung gebracht, und zwei-                          beitnehmer seit Mitte der 2000er Jahre bemerkenswert.
      tens erwerbsfähige Hilfebedürftige in der neu geschaffe-                       Während sich die Partizipationsrate in vielen Bevölkerungs-
      nen Grundsicherung verstärkt aktiviert werden.                                 gruppen seitdem erhöht hat (Frauen, Geringqualifizierte,
                                                                                     Ausländer), ragt die Gruppe Älterer noch heraus. Dass der
      Auch wenn die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt nicht al-                           Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung im
      lein den Hartz-Reformen zuzuschreiben sind, hat sich                           Alter von 55 bis 64 Jahre von 43 % (2000) auf mehr als 71 %
      die Zahl der Arbeitslosen seit 2005 etwa halbiert und die                      (2016) gestiegen ist, hängt auch mit reduzierten Anreizen
      Zahl der Beschäftigten erreicht immer neue Rekordwer-                          zur Frühverrentung zusammen.6 Entsprechende Reformen
      te. Gleichzeitig besteht jedoch das Problem verfestigter
      Langzeitarbeitslosigkeit fort, da dieser Personenkreis
      von der langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs                          4   Bundesagentur für Arbeit: Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung:
                                                                                         Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Die Arbeitsmarktsituation von
                                                                                         langzeitarbeitslosen Menschen 2017, Nürnberg 2018.
      1    Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 15/32, Berlin 2003.                  5   B. Hartung, P. Jung, M. Kuhn: What Hides behind the German Labor
      2    J. Möller: Die deutschen Arbeitsmarktreformen: Nicht perfekt, aber            Market Miracle? Unemployment Insurance Reforms and Labor Mar-
           unter dem Strich positiv, in: WSI Mitteilungen, Nr. 6/2010, S. 324-327.       ket Dynamics, IZA Discussion Paper, Nr. 12001, 2018.
      3    W. Eichhorst, S. Profit, E. Thode: Benchmarking Deutschland: Ar-          6   H. Schneider, U. Rinne: The labor market in Germany, 2000-2016, IZA
           beitsmarkt und Beschäftigung, Heidelberg, Berlin 2001.                        World of Labor 2017, Nr. 379.

                                                                                                                           Wirtschaftsdienst 2019 | 4
240
Zeitgespräch

wurden zeitlich bereits vor den Hartz-Reformen ergriffen,7                    könnte Empfehlungen für die Höhe der Grundsicherung
wenngleich die Verkürzung des Arbeitslosengeldes I für                        – in Orientierung an Veränderungen bei den Lebenshal-
Ältere und der Wegfall der geförderten Altersteilzeit nicht                   tungskosten oder der Lohnentwicklung – abgeben, ohne
ohne Wirkung blieben. Gleichzeitig war dieser Anstieg bei                     dem Verfahren die letztlich entscheidende demokratische
Älteren nicht mit einem Rückgang der Erwerbsquote in der                      Legitimation zu entziehen.
jüngeren Bevölkerung verbunden.
                                                                              Erfolgsfaktoren nicht infrage stellen
Reformbedarf in der Grundsicherung?
                                                                              Zweitens wird die Unabhängigkeit der gewährten Leistun-
Trotz ihrer gesamtwirtschaftlich positiven Auswirkungen                       gen von der bisherigen Erwerbsbiografie in Frage gestellt.
(vor allem der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit in Ver-                   In diesem Zusammenhang wird häufig ein zu geringes
bindung mit gestiegenen Erwerbsquoten) sind die Hartz-                        „Schonvermögen“ bzw. nicht anrechenbares Vermögen
Reformen sehr unpopulär. Zuletzt hat sich die Debatte                         kritisiert, wenngleich manche kritische Einschätzungen
um einen Reformbedarf nochmals intensiviert. Der Fokus                        nicht den geltenden Regeln und der Behördenpraxis ge-
richtet sich insbesondere auf das System der Grundsi-                         recht werden. Tatsächlich stellen sich viele in der Praxis
cherung („Hartz IV“), wobei in diesem Zusammenhang                            durchaus sehr relevante Detailfragen. Grundsätzlich muss
keineswegs neue Aspekte diskutiert werden – bestimm-                          jedoch die Gewährung eines steuerfinanzierten Existenz-
te Regelungen werden im Prinzip seit ihrer Einführung im                      minimums in Form der Grundsicherung weiterhin unab-
Jahr 2005 kritisiert.8 Es stellen sich also „alte“ Fragen, die                hängig vom vorherigen Einkommen der Empfängerinnen
heute allerdings auch vor dem Hintergrund veränderter                         und Empfänger gestaltet sein. Denn genau dies ist ein
wirtschaftlicher Rahmenbedingungen – angesichts der                           wichtiger Faktor für den Erfolg der Arbeitsmarktreformen:
demografischen Entwicklung sowie von Globalisierung                           Die Abschaffung von Frühverrentungsanreizen durch Ein-
und Digitalisierung – an der einen oder anderen Stelle                        schnitte bei passiven Leistungen, insbesondere durch die
neue Antworten erfordern könnten. Dennoch gilt es, auch                       Abschaffung der an das vorherige Einkommen gekoppel-
im Lichte der mittlerweile verfügbaren Evaluationsstudi-                      ten ehemaligen Arbeitslosenhilfe.9
en, an etablierten Grundprinzipien einer fördernden, aber
auch fordernden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik festzu-                       Drittens wird die mit einer Inanspruchnahme von Leistun-
halten.                                                                       gen der Grundsicherung einhergehende Stigmatisierung
                                                                              sowie die bürokratische Komplexität des Gesamtsys-
So gibt es erstens die wiederkehrende Diskussion um                           tems kritisiert. Die Inanspruchnahme hat sich zwar nach
eine angemessene und existenzsichernde Leistungshö-                           den Reformen eher erhöht, aber weiterhin beanspruchen
he der Grundsicherung. In dieser Debatte, die auch eine                       vermutlich rund 40 % der Anspruchsberechtigten die ih-
verfassungsrechtliche Dimension enthält, treffen Argu-                        nen nach SGB II (bzw. SGB XII) zustehenden Leistungen
mente für eine höhere Leistung, um Armut zu vermeiden                         nicht.10 Gleichzeitig ist das SGB II auch das bei Weitem
und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, auf Argu-                      am meisten von Widerspruchsverfahren und Klagen ge-
mente, die Erwerbsanreize und das Lohnabstandsgebot                           prägte Sozialgesetzbuch. Dies zeigt den strittigen, nicht
anmahnen. Tatsächlich sollte es einen objektiven Maß-                         immer nachvollziehbaren Charakter von Entscheidungen
stab zur Ermittlung eines existenzsichernden Niveaus der                      der zuständigen Behörden. Selbstverständlich sollte es
Grundsicherung geben. Nur mangelt es an einer sachge-                         das Ziel sein, ein möglichst unbürokratisches System
rechten (Daten-)Grundlage zu seiner Bestimmung, und es                        ohne Zugangshürden aufzubauen. Daher sind weitere
dominieren festgefahrene politische Positionen anstelle                       Schritte zum Bürokratieabbau vorzunehmen, und es ist
sachlicher Argumente. Dabei könnte der Mindestlohn als                        eine deutlich bessere Information und Kommunikation
Vorbild dienen: Zu seiner Anpassung hat der Gesetzge-                         seitens der Jobcenter anzustreben. Potenziale dazu erge-
ber eine ständige unabhängige Kommission eingerichtet,                        ben sich im Zuge der Digitalisierung. Um Stigmatisierung
die in regelmäßigen Abständen eine Empfehlung abgibt.                         zu vermeiden, braucht es niedrigschwellige Angebote.
Sie nimmt eine Gesamtabwägung vor und orientiert sich
an der Tarifentwicklung. Eine vergleichbare Kommission                        9  H. Schneider: Wie nachhaltig ist das deutsche Jobwunder? Eine Re-
                                                                                 formbilanz, IZA Standpunkte, Nr. 51.
                                                                              10 K. Bruckmeier, J. Wiemers: A new targeting: a new take-up? Non-
7   M. Knuth, T. Kalina: „Vorruhestand“ verfestigt die Arbeitslosigkeit:         take-up of social assistance in Germany after social policy reforms,
    kalkulierte Arbeitslosigkeit Älterer behindert Aktivierung der Arbeits-      in: Empirical Economics, 43. Jg. (2012), H. 2, S. 565-580; K. Bruck-
    marktpolitik, IAT-Report, Nr. 2002-02.                                       meier, J. Pauser, R. T. Riphahn, U. Walwei, J. Wiemers: Mikroanalyti-
8   Die folgenden Aspekte finden sich so auch in anderen Beiträgen, vgl.         sche Untersuchung zur Abgrenzung und Struktur von Referenzgrup-
    etwa M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Raus aus der Niedrigeinkom-             pen für die Ermittlung von Regelbedarfen auf Basis der Einkommens-
    mensfalle(!) – Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssys-          und Verbrauchsstichprobe 2008. Simulationsrechnungen für das
    tems, in: ifo Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 4, S. 34-43.                 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2013.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                         241
Zeitgespräch

      Einen Ansatzpunkt bietet möglicherweise die Weiterent-                      gelungen für jüngere Erwerbsfähige abzuschwächen sowie
      wicklung von Kindertageseinrichtungen, um vor allem                         bei der Sanktionierung die Art des Verstoßes stärker zu be-
      Kinder und Familien besser zu erreichen.11                                  rücksichtigen. Dies kann an der einen oder anderen Stelle
                                                                                  zu stärkeren oder schwächeren Sanktionierungen führen.
      Fehlanreize im System beseitigen                                            Das grundsätzliche Festhalten am Prinzip aus Leistung und
                                                                                  Gegenleistung ist in der steuerfinanzierten, solidarischen
      Viertens gibt es aktuell verschiedene Vorschläge, die vor                   Grundsicherung jedoch ein unabdingbares Gebot gesell-
      allem den Aspekt mangelnder Erwerbsanreize aufgrund                         schaftlicher Fairness gegenüber jenen, die zur Finanzierung
      zu hoher Transferentzugsraten in den Blick nehmen.12                        der Sozialpolitik beitragen.
      Diese Ansätze empfehlen übereinstimmend, verschie-
      dene Leistungen (Arbeitslosengeld II inklusive Kosten                       Weiterentwicklung statt neuer Antworten
      der Unterkunft, Wohngeld und Kinderzuschlag) zusam-
      menzufassen, Tarifverläufe durch die Beseitigung von                        Zweifellos muss das System der Grundsicherung in einer
      „Sprungstellen“ zu glätten und höhere Erwerbsanreize                        sich wandelnden Arbeitswelt ständig weiterentwickelt
      durch geringere Transferentzugsraten bei höheren Ver-                       werden. Dafür gibt es zahlreiche Stellschrauben: Insbe-
      diensten bzw. Arbeitszeiten (also oberhalb der derzeit do-                  sondere könnten ein transparentes Verfahren zur Festle-
      minierenden geringfügigen Beschäftigung im Bereich des                      gung der Höhe des Existenzminimums, klare Regeln und
      Bezugs von ergänzenden Leistungen nach dem SGB II) zu                       Grenzen für Sanktionen sowie geringere Ermessensspiel-
      schaffen.                                                                   räume im Verwaltungsvollzug dazu beitragen, die Debat-
                                                                                  te zu versachlichen. Die Beseitigung von Fehlanreizen im
      Aus dieser Beseitigung von Fehlanreizen im gegenwärti-                      System könnte außerdem zu mehr Beschäftigung führen.
      gen System könnten erhebliche Beschäftigungswirkun-                         Darüber hinaus sollte jedoch an bewährten Grundprinzi-
      gen resultieren: Je nach Vorschlag werden etwa 100 000                      pien festgehalten werden.
      bis 200 000 Vollzeitäquivalente vorausberechnet. Dieser
      Effekt ergibt sich vor allem durch eine Ausweitung der ge-                  Deshalb sind grundsätzlich neue Antworten auf „alte“ Fra-
      leisteten Arbeitsstunden und nur in geringerem Umfang                       gen nicht in Sicht – und auch nicht notwendig, zumindest
      durch zusätzliche Wechsel bislang arbeitsloser Personen                     nicht innerhalb des bestehenden Systems der Grundsi-
      in Beschäftigung. Demgegenüber stehen recht über-                           cherung. Eine Modernisierung muss daneben stattfinden.
      schaubare Kosten – teilweise sind die Vorschläge sogar                      Dabei sollte ein (noch) stärkerer Fokus auf präventive So-
      aufkommensneutral konzipiert. Allerdings würde sich der                     zialpolitik, frühkindliche Bildung und kritische Phasen des
      Kreis der Transferempfängerinnen und Transferempfän-                        Übergangs im Lebensverlauf gerichtet werden. So sollten im
      ger deutlich ausweiten, da zur Glättung der Tarifverläufe                   Sinne eines vorbeugenden Ansatzes auch Beschäftigte ge-
      Leistungen bis in mittlere Einkommensbereiche vorgese-                      fördert und gefordert werden, ihre Fähigkeiten und Kompe-
      hen sind. Dadurch ergibt sich zumindest ein (politisches)                   tenzen – unter Einbeziehung der Unternehmen – laufend zu
      Akzeptanzproblem.                                                           aktualisieren, um mit dem Strukturwandel Schritt zu halten.
                                                                                  Gerade ältere und geringer qualifizierte Erwerbstätige sind
      Mitwirkungspflichten weiter durchsetzen                                     von den üblichen Weiterbildungsmaßnahmen der Betriebe
                                                                                  faktisch ausgeschlossen. Sie laufen deshalb in besonderem
      Fünftens wird die Angemessenheit von Sanktionen bzw.                        Maße Gefahr, am Arbeitsmarkt an Terrain zu verlieren.
      Leistungskürzungen kritisiert. In der Tat entfalten Sanktio-
      nen im SGB II sowohl beabsichtigte als auch unbeabsich-                     Schließlich stellt sich im Kontext der Hartz-IV-Debatte auch
      tigte Wirkungen.13 Dennoch bedarf es Regeln – und um                        die grundsätzliche Frage nach der künftigen Entwicklung
      Mitwirkungspflichten durchzusetzen, müssen Verstöße                         und Ausrichtung unseres Sozialstaats. Wir befinden uns
      sanktioniert werden. Sinnvoll erscheint jedoch, eine maxi-                  womöglich aktuell an einer Wegscheide. Ein möglicher An-
      male Höhe der Leistungsminderung festzulegen, Sonderre-                     satz besteht darin, künftig noch zielgenauer Personen mit
                                                                                  konkreten Bedarfslagen durch Transferleistungen und Un-
      11 S. Schmitz, C. K. Spieß: Familien im Zentrum: Unterschiedliche Pers-     terstützungsangebote zu adressieren. So könnte der Kreis
         pektiven auf neue Ansatzpunkte der Kinder-, Eltern- und Familienför-     der Leistungsempfänger minimiert werden. Voraussetzung
         derung, Heinz und Heide Dürr Stiftung, Berlin 2019.                      hierfür ist jedoch, dass der Arbeitsmarkt auch in Zukunft
      12 Vgl. etwa M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl, a. a. O.; K. Bruckmeier, J.
         Mühlhan, J. Wiemers: Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich          genügend Einstiegsmöglichkeiten bietet. Dies spricht gegen
         stärken: Ansätze zur Reform von Arbeitslosengeld II, Wohngeld und        eine zu starke Regulierung von Erwerbsformen wie befriste-
         Kinderzuschlag, IAB-Forschungsbericht, Nr. 09/2018.                      ten Verträgen oder Leiharbeit sowie für eine Anpassung der
      13 K. Bruckmeier, T. Kruppe, P. Kupka, J. Mühlhan, C. Osiander, J. Wolff:
         Sanktionen, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung in der Grundsi-        Lohnuntergrenzen (gesetzlicher Mindestlohn und allgemein-
         cherung, IAB-Stellungnahme, Nr. 5/2018.                                  verbindliche Tarifverträge) mit dem gebotenen Augenmaß.

                                                                                                                  Wirtschaftsdienst 2019 | 4
242
Zeitgespräch

Maximilian Blömer, Clemens Fuest, Andreas Peichl
Was sind die wichtigsten Ansatzpunkte für eine Reform von Hartz IV?

In den letzten Monaten hat sich die Debatte über ei-                          geld II (ALG II, umgangssprachlich „Hartz IV“) zusam-
nen Reformbedarf bei Hartz IV intensiviert. Die Kritik an                     mengelegt. Zusätzlich zum ALG-II-Regelbedarf werden
Hartz IV setzt an verschiedenen Aspekten der geltenden                        die Beiträge zur Krankenkasse gezahlt sowie Leistungen
Regelungen an, und es wird eine Vielzahl von Reformvor-                       für Kosten der Unterkunft (KdU), einige unregelmäßige
schlägen diskutiert – von minimalinvasiven Eingriffen im                      Leistungen (auf Antrag) sowie einige geldwerte Vergüns-
bestehenden System bis hin zu Radikalreformen wie der                         tigungen. Falls ein Leistungsempfänger ohne wichtigen
Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.1                            Grund die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit verwei-
                                                                              gert, kann die Regelleistung gekürzt werden. Die Trans-
Unstrittig ist, dass Hartz IV „gewirkt“ hat – irgendwie.                      ferentzugsrate für Hinzuverdienste bzw. zur Anrechnung
Wie und ob die Wirkungen so gewünscht waren, wird                             der Einkünfte der Bedarfsgemeinschaft liegt zwischen
teilweise kontrovers diskutiert. Kritiker bemängeln bei-                      80 % und 100 %.
spielsweise, Hartz IV sei ungerecht und begünstige ein
Anwachsen des Niedriglohnsektors in Deutschland.                              In der aktuellen Reformdebatte werden verschiedene
Befürworter des bestehenden Systems halten dem ent-                           Aspekte des bestehenden Systems kontrovers disku-
gegen, die Hartz-Reformen hätten den Abbau der Ar-                            tiert. Dazu zählen:
beitslosigkeit in Deutschland seit 2005 erst ermöglicht,
eine Abschaffung von Hartz IV würde diesen Erfolg ge-                         1. Die Leistungshöhe,
fährden. Kritiker zweifeln wiederum an der These der                          2. die Unabhängigkeit der gewährten Leistungen von
positiven Arbeitsmarktwirkungen der Hartz-Reformen                               der bisherigen Erwerbsbiografie der Empfänger,
und führen andere Gründe für den Abbau der Arbeitslo-                         3. mangelnde Erwerbsanreize wegen hoher Transferent-
sigkeit an. 2 In diesem Beitrag möchten wir nicht in diese                       zugsraten,
grundsätzliche und teilweise ideologische Debatte ein-                        4. geringes „Schonvermögen“,
steigen, sondern eine Reihe spezifischer Kritikpunkte                         5. die Angemessenheit von Sanktionen bzw. Leistungs-
am bestehenden System sowie konkrete Reformoptio-                                kürzungen in bestimmten Fällen,
nen diskutieren.                                                              6. die Stigmatisierung durch den Gang zum Amt (mit der
                                                                                 Folge der Nichtinanspruchnahme durch anspruchs-
Durch die Hartz-Gesetze wurden unter anderem Ar-                                 berechtigte Bedürftige) sowie
beitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosen-                       7. die Komplexität des Sozialsystems insgesamt.

1   Wobei in der Debatte zu beobachten ist, dass Begriffe wie „Bürger-        Über jeden dieser Punkte kann man unterschiedlicher
    geld“ oder „Grundeinkommen“ inflationär und zum Teil nur aus Marke-       Auffassung sein. In Blömer et al. geben wir einen Über-
    tinggesichtspunkten teilweise bewusst irreführend verwendet werden.       blick über die Reformdebatte und vergleichen die aktuell
2   Für (makro-)ökonomische Analysen der Hartz-Reformen vgl. T. Krebs,
    M. Scheffel: Macroeconomic evaluation of labor market reform              diskutierten Vorschläge.3 In diesem Beitrag analysieren
    in Germany, in: IMF Economic Review, 61. Jg. (2013), H. 4, S. 664-        wir vor dem Hintergrund der genannten Probleme des
    701; T. Krebs, M. Scheffel: Labor Market Institutions and the Cost of     Hartz-IV-Systems verschiedene Aspekte und Varianten
    Recessions, IMF Working Paper, Nr. 87, 2017; A. Launov, K. Wälde:
    Estimating Incentive and Welfare Effects of Nonstationary Unemploy-       eines eigenen Reformvorschlags, den wir kürzlich vor-
    ment Benefits, in: International Economic Review, 54. Jg. (2013), H. 4,   gelegt haben.4
    S. 1159-1198; C. Dustmann, B. Fitzenberger, U. Schönberg, A. Spitz-
    Oener: From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s
    Resurgent Economy, in: Journal of Economic Perspectives, 28. Jg.          Der ifo-Reformvorschlag
    (2014), H. 1, S. 167-188; C. Odendahl: The Hartz myth: A closer look at
    Germany’s labour market reforms, Policy Brief, Centre for European        Das ifo Institut hat im Februar 2019 einen eigenen Re-
    Reform, London 10.7.2017; B. Hartung, P. Jung, M. Kuhn: What Hides
    behind the German Labor Market Miracle? Unemployment Insurance            formvorschlag unterbreitet, der sich darauf konzent-
    Reforms and Labor Market Dynamics, IZA DP, Nr. 12001, Bonn 2018;          riert, die Beschäftigungsanreize des Grundsicherungs-
    B. Hochmuth, B. Kohlbrecher, C. Merkl, H. Gartner: Hartz IV and the
    Decline of German Unemployment: A Macroeconomic Evaluation,
    IAB-Discussion Paper, Nr. 3/2019, Nürnberg 2019; sowie J. Bradley,
    A. Kügler: Labor market reforms: An evaluation of the Hartz policies      3   M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Die Hartz-IV-Reformdebatte, in: ifo
    in Germany, in: European Economic Review, Vol. 113 (2019), H. C,              Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 6, S. 21-25.
    S. 108-135. Vereinfacht zusammengefasst zeigen die Studien, dass          4   M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Raus aus der Niedrigeinkommensfal-
    die Reformen wichtig für den Rückgang der (strukturellen) Arbeitslo-          le(!). Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems, in:
    sigkeit waren – aber nicht der einzige Erklärungsfaktor hierfür sind.         ifo Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 4, S. 34-43.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                        243
Zeitgespräch

      systems zu verbessern.5 Ziel des Vorschlages ist es,                            duziert und dadurch „verdeckte Armut“ zurückgeht.8 Bei
      Fehlanreize abzubauen, die Empfänger von Grundsi-                               einer Reform des Systems kann ebenfalls der Empfän-
      cherung derzeit daran hindern, höhere eigene Einkom-                            gerkreis steigen (oder sinken), z. B. führen sowohl eine
      men zu erzielen und die Abhängigkeit von Transfers zu                           steigende Transferleistung als auch sinkende Transfer-
      überwinden oder wenigstens zu reduzieren. Damit die                             entzugsraten zu einer Ausweitung des Einkommensbe-
      Betroffenen der Niedrig­einkommensfalle entkommen                               reichs, in dem man Hartz IV erhalten kann. Dies wäre ein
      können, muss sich Arbeit lohnen. Aus unserer Sicht liegt                        gewünschter Effekt einer solchen Reform und für sich
      genau hier das Hauptproblem: die bestehenden Hartz-                             genommen nicht problematisch. Die Zahl der Transfer-
      IV-Hinzuverdienstregelungen bevorzugen Kleinstjobs                              empfänger ist deshalb bei einer Reform des Systems
      bis 100 Euro,6 während es darüber hinaus selten loh-                            keine ökonomisch sinnvolle Zielgröße.9 Es ist jedoch
      nenswert ist, die Arbeitszeit auszuweiten.7 Ein solches                         auch klar, dass man damit im politischen Prozess für ne-
      System ist schädlich, denn es bestraft Leistung dort,                           gative Schlagzeilen sorgen kann und eine kluge Modera-
      wo sie sich besonders lohnt: wenn man durch eigene                              tion notwendig ist.
      Anstrengung der Abhängigkeit von Transfers entkom-
      men will. Obwohl gerade die Hartz-Reformen das Ziel                             Folgen niedriger (und hoher) Transferentzugsraten
      hatten, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu verbessern,
      ist das Problem hoher impliziter Grenzsteuerbelastung                           Eine Reduktion der Transferentzugsraten bzw. Anrech-
      von niedrigen Einkommen nach wie vor nicht befriedi-                            nungsquoten führt zu einer Ausweitung des Empfänger-
      gend gelöst.                                                                    kreises. Das ist durch zwei Effekte getrieben: Zum einen
                                                                                      gibt es eine mechanische Ausweitung, weil nun mehr
      Empfängerkreis                                                                  Personen Anspruch auf Hartz IV haben. Zum anderen
                                                                                      könnten Personen ihr Arbeitsangebot reduzieren, um „in
      Wer empfängt Hartz IV und wer sollte es empfangen?                              Genuss“ der Leistungen zu kommen. Der zweite Effekt
      Hartz IV empfangen sowohl (Langzeit-)Arbeitslose als                            ist jedoch aufgrund der anderen mit Hartz IV verbun-
      auch sogenannte „Aufstocker“, deren Arbeitseinkom-                              denen Diskussionspunkte (unter anderem Sanktionen,
      men nicht bedarfsdeckend ist. Als ein Kritikpunkt an ei-                        Vermögensprüfung, Stigma durch Gang zum Amt) em-
      ner Reform von Hartz IV und insbesondere der von uns                            pirisch nicht besonders stark. Im Gegenteil, zahlreiche
      vorgeschlagenen Senkung der Transferentzugsraten                                Studien zeigen, dass es durch eine Senkung der Trans-
      wird immer wieder die Ausweitung der Zahl der Trans-                            ferentzugsraten zu einer Ausweitung des Arbeitsange-
      ferempfänger angeführt. Es ist richtig, dass im beste-                          bots und der Beschäftigung kommen würde.10 Allerdings
      henden System ein Anstieg der Transferempfänger ein                             ist es für die Höhe der Beschäftigungswirkungen und die
      Problem steigender Armut bedeuten kann, wenn mehr
      Personen in die Bedürftigkeit „abrutschen“. Gleichzei-
      tig könnte es aber auch einen Erfolg des Sozialstaates
                                                                                      8  Zahlreiche Studien weisen teilweise eine recht hohe Quote der Nicht-
      signalisieren, wenn die Zahl der Transferempfänger zu-                             Inanspruchnahme (QNI) aus. So simulieren Bruckmeier, Pauser,
      nimmt, weil sich die Nicht-Inanspruchnahmequote re-                                Walwei et al. eine QNI der Haushalte von 33,8 % (das entspricht 1,75
                                                                                         Mio. Haushalten) und Bruckmeier und Wiemers für die Jahre 2005 bis
                                                                                         2007 eine QNI von 41 % bis 49 %. Vgl. K. Bruckmeier, J. Pauser, U.
                                                                                         Walwei, J. Wiemers: Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-
                                                                                         Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung, Forschungs-
      5    M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Raus aus der Niedrigeinkommensfal-            bericht, IAB, Nürnberg 2013; K. Bruckmeier, J. Wiemers: A new tar-
           le(!)., a. a. O.                                                              geting: a new take-up?, in: Empirical Economics, 43. Jg. (2012), H. 2,
      6    Bruckmeier und Becker zeigen in ihren Auswertungen mit den PASS-              S. 565-580.
           Daten eine deutliche Häufung von Kleinstjobs mit Monatseinkommen           9 Dies sieht man an folgendem (nicht ernst gemeinten) Extrembeispiel:
           knapp unter 100 Euro sowie von geringfügigen Beschäftigungen, vgl.            Wenn man die Zahl der Transferempfänger minimieren wollte, müsste
           K. Bruckmeier, S. Becker: Auswirkung des gesetzlichen Mindestlohns            man nur die Regelsätze auf Null setzen – Niemand hat Anspruch und
           auf die Armutsgefährdung und die Lage von erwerbstätigen Arbeits-             damit haben wir keine Transferempfänger mehr, Problem also erle-
           losengeld II-Bezieherinnen und -Beziehern, Studie im Auftrag der              digt. Auch wenn dieses Beispiel zugegebenermaßen extrem über-
           Mindestlohnkommission, 2018. Von Praktikern in Job-Centern wird               spitzt ist, so ist es doch Realität, dass im deutschen Sozialsystem
           zudem oft vermutet, dass es sich bei der Vielzahl dieser Tätigkeiten          verschiedene Transferleistungen (wie z. B. der Kinderzuschlag) auch
           um sogenannte „Tarnkappenjobs“ handelt, die Schwarzarbeit ver-                deshalb existieren, um die Zahl an Hartz-IV-Empfängern in den Sta-
           schleiern sollen, vgl. B. Rürup, D. Heilmann: Arbeitsmarktreformen:           tistiken zu reduzieren, während sich die tatsächliche Einkommenssi-
           Was noch zu tun bleibt, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 5,          tuation der betroffenen Haushalte kaum verbessert und die Empfän-
           S. 339-344.                                                                   ger weiterhin zu einem (anderen) Amt gehen müssen.
      7    Vgl. A. Peichl, F. Buhlmann, M. Löffler, M. Blömer, H. Stichnoth: Grenz-   10 Eine weitere Ausweitung des Niedrigeinkommenssektors kann je-
           belastungen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem – Fehlanrei-              doch zu Lohneinbußen bzw. niedrigerem Reallohnwachstum bisher
           ze, Reformoptionen und ihre Wirkungen auf inklusives Wachstum,                Beschäftigter führen, was die Opposition von Seiten der Gewerk-
           Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2017; K. Bruckmeier, J. Mühlhan,              schaften zu solchen Vorschlägen erklären könnte, vgl. auch H.-P.
           A. Peichl: Mehr Arbeitsanreize für einkommensschwache Familien                Grüner: Die politische Zukunft von Hartz IV, in: ifo Schnelldienst, 72.
           schaffen, in: ifo Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 3, S. 25-28.              Jg. (2019), H. 6, S. 18-21.

                                                                                                                             Wirtschaftsdienst 2019 | 4
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Zeitgespräch

fiskalischen Wirkungen wichtig, in welchen Einkommens-                        Tabelle 1
bereichen Transferentzugsraten gesenkt werden.                                Varianten zur Grenzbelastungszone: Aufkommens-
                                                                              und Beschäftigungswirkungen
Bei einer Reform der Transferentzugsraten sind verschie-
dene Varianten denkbar. Da eine Besserstellung aller                                                     Aufkommen Aufkommen Beschäftigung
                                                                                                            statisch   dynamisch in 1000 Vollzeit-
Haushalte im Vergleich zum Status quo nur mit erhebli-
                                                                                                         in Mrd. Euro in Mrd. Euro äquivalenten
chen fiskalischen Mehrkosten möglich ist,11 der ifo Vor-
                                                                              ifo-Vorschlag
schlag jedoch aufkommensneutral ausgelegt ist, wird es                        (60 % ab 630 Euro/Monat)        1,2         4,4            216
Gewinner und Verlierer einer solchen Reform geben. In
                                                                              Variante 1
unserem Vorschlag werden Bedarfsgemeinschaften mit                            (60 % ab 470 Euro/Monat)       0,9          4,4            267
Kindern tendenziell bessergestellt als Bedarfsgemein-
                                                                              Variante 2
schaften ohne Kinder. Letztere können einfacher ihr Ar-                       (60 % ab 320 Euro/Monat)       0,5          4,3            318
beitsangebot ausweiten und so durch Mehrarbeit die Ein-
                                                                              Anmerkungen: Budgetwirkung der Reform im Vergleich zum Status quo;
kommensverluste kompensieren, die sich im statischen
                                                                              positive Werte bedeuten eine Entlastung, negative eine Belastung des
Fall ohne Verhaltensanpassung ergeben würden. Konkret                         Budgets; Beschäftigungswirkungen im Vergleich zum Status quo; Voll-
fällt für Bedarfsgemeinschaften ohne Kinder der durch die                     zeitäquivalente bemessen den Beschäftigungseffekt umgerechnet in
                                                                              Vollzeitbeschäftigten mit 40 Wochenarbeitsstunden.
derzeitigen Hinzuverdienstregelungen festgelegte Freibe-
trag in Höhe von 100 Euro pro Monat weg. Haushalte mit                        Quelle: ifo-Mikrosimulationsmodell.
Kindern erhalten weiterhin die Möglichkeit, die ersten 100
Euro anrechnungsfrei hinzuverdienen, da diese Haushal-
te mit höheren Fixkosten der Arbeitsaufnahme belastet
sind. In Anlehnung an verschiedene Vorschläge,12 keinen                       men auf 60 % gesenkt wird.14 Die übrigen Reformparame-
anrechnungsfreien Hinzuverdienst bei Kleinst- und Mi-                         ter bleiben gleich.
nijobs zuzulassen, sieht der ifo-Vorschlag für Haushalte
ohne Kinder eine Grenzbelastung von 100 % bis zu einer                        Tabelle 1 zeigt die simulierte Wirkung auf Aufkommen so-
Grenze von 630 Euro pro Monat vor.13 Für Beschäftigun-                        wie Beschäftigung. Ohne Verhaltensanpassungen (d. h.
gen über diese Grenze hinaus gilt in beiden Varianten                         ohne Anpassungen bei Beschäftigung und Inanspruch-
ein anrechnungsfreier Hinzuverdienst von 40 %, d. h. ei-                      nahme von Transfers) zu berücksichtigen, fallen die Auf-
ne Grenzbelastung von 60 %. Für Haushalte mit Kindern                         kommenswirkungen der Varianten etwas schwächer aus
sieht der ifo-Vorschlag ab 100 Euro eine Grenzbelastung                       als im ursprünglichen ifo-Vorschlag. Zwar gibt es nach
von 80 % statt 100 % vor, bis zu einer Grenze von indivi-                     wie vor einen leicht positiven Effekt auf das Staatsbud-
duell 630 Euro pro Monat. Darüber hinausgehende Hin-                          get, durch die höheren Ausgaben für bestehende Aufsto-
zuverdienste unterliegen ebenfalls einer Grenzbelastung                       cker ist der Budgeteffekt in der statischen Betrachtung
von 60 %.                                                                     – also ohne Arbeitsangebotseffekte – geringer als im
                                                                              ifo-Vorschlag.15 Die Beschäftigungseffekte sind dagegen
Die Grenze von 630 Euro ist jedoch nicht in Stein gemei-                      etwas stärker aufgrund des noch früher platzierten Wech-
ßelt. So ließe sich der Bruttobetrag, ab dem die Grenz-                       sels auf 60 % Grenzbelastung als im ifo-Vorschlag. Dies
belastung von 100 % bzw. 80 % auf 60 % gesenkt wird,                          ergibt ein größeres Fenster für die Gestaltung der Hinzu-
weiter verringern. In weiteren Berechnungen simulieren                        verdienstregelungen, ohne das Staatsbudget stark zu be-
wir deshalb aufbauend auf dem ifo-Vorschlag die Effekte                       lasten. Durch den etwas stärker ausgeprägten Arbeitsan-
einer Reform, in der die Grenzbelastung bereits bei 470                       gebotseffekt in den Varianten 1 und 2 bleibt eine negative
Euro pro Monat bzw. 320 Euro pro Monat Bruttoeinkom-                          fiskalische Wirkung aus und die zusätzlichen Einnahmen
                                                                              belaufen sich wie im ifo-Vorschlag auf ca. 4 Mrd. Euro.

11 Vgl. z. B. M. Blömer, A. Peichl: Ein „Garantieeinkommen für Alle“, ifo
   Forschungsberichte, Nr. 97, ifo Institut, München 2018.
12 Untersucht z. B. in A. Peichl, N. Pestel, H. Schneider, S. Siegloch: Re-   14 Die Werte 470 Euro bzw. 320 Euro pro Monat sind so gewählt, dass
   form der Hartz IV-Hinzuverdienstregelungen: Ein verfehlter Ansatz,            diese Bruttoeinkommen etwa bei zwölf bzw. acht Wochenarbeits-
   in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 12. Jg. (2011), H. 2, S. 12-26;      stunden zum Mindestlohn von 9,19 Euro pro Stunde erreicht werden.
   und M. Blömer, A. Peichl: Anreize für Erwerbstätige zum Austritt aus       15 Bei den statischen Wirkungen werden die Kosten berücksichtigt, die
   dem Arbeitslosengeld-II-System und ihre Wechselwirkungen mit dem              durch die Modifikation der Transfers bei bestehenden Empfängerzah-
   Steuer- und Sozialversicherungssystem, Studie im Auftrag der Fried-           len entstehen. Während bei den statischen Wirkungen die zusätzli-
   rich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, München 2019.                         che Inanspruchnahme der Transferleistungen durch neu entstehende
13 Das entspricht in etwa dem Monatseinkommen, das sich bei einer                Ansprüche nicht berücksichtigt wird (sogenannter reiner „Morning-
   Beschäftigung von zwei Tagen (16 Stunden) pro Woche und 4,33 Wo-              After-Effekt“), berücksichtigen die dynamischen Aufkommenswirkun-
   chen pro Monat zum Mindestlohn in Höhe von 9,19 Euro pro Stunde               gen sowohl die Arbeitsangebotsanpassungen, als auch den Bezug
   ergibt.                                                                       von Transferleistungen bei zusätzlich entstehenden Ansprüchen.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
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