HELLERAU Magazin #2 2020 - SLUB: Qucosa
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Inhaltsverzeichnis 2 Editorial 27 Wanaset Yodit Laila Soliman 4 Schlachthof 5 Statements von Maxim Didenko, 28 Happy New Ear Vladimir Rannev, AJ Weissbard, Ensemble Modern Olaf Katzer 30 TANZPAKT 8 Abschied Begegnung Dresden – Hamburg Solistenensemble Kaleidoskop und Solist*innen 36 Residenzen des Niedersächsischen Gizem Aksu Staatsorchesters 40 Mitmachen 10 Last but not last Jenny Coogan über ArtRose shift change. SCHICHTWECHSEL, Irina Pauls (DE), Foto: Matthias Zielfeld Lina Majdalanie und Rabih Mroué 43 Gesichter in HELLERAU 12 CYNETART Werner Lange Ulf Langheinrich 44 Bündnis internationaler 14 Festival ARBEIT Produktionshäuser Texte und Interviews von und mit Interview zur Journalistenakademie andcompany&Co., Antje Ehmann, und Statements von Künstler*innen Daniel Kötter, Irina Pauls während des Corona-Lockdowns 22 4:3 Kammer Musik Neu 48 Freundeskreis HELLERAU 24 Isadora Duncan Jérôme Bel 52 Service, Förderer und Impressum 25 Learning Feminism from Rwanda Flinn Works und 54 Highlights Künstler*innen aus Ruanda September 2020 bis Januar 2021 26 Hexploitation She She Pop
Liebe Besucher*innen und Freund*innen Sie und viele Solo-Selbstständige, der ge- entstanden – eine abenteuerliche Reise in die Im Dezember präsentieren wir die Gruppe von HELLERAU, samte breit aufgestellte Kultursektor polnische Geschichte und Tradition und deren Flinn Works mit „Learning Feminism from wurden hart von dem Virus und den Folge- Verwicklung mit Kunst und Kulturpolitik. Rwanda" zum Thema, was Europa von der mit dem Auftreten von COVID-19 wurde und maßnahmen getroffen. Im Themenschwerpunkt ARBEIT! im Geschlechtergerechtigkeit in Ruanda wird unser Leben stärker denn je auf einer Umso mehr ist uns der Live-Wiederein- Rahmen des Jahres der Industriekultur lernen kann. Und schließlich freuen wir uns Zeitachse mit der Zäsur davor und danach stieg in die Spielzeit 2020/21 ein künstle- Sachsen widmen sich die Berliner auf eine neue Ausgabe von „4:3“, die eingeteilt. Aber diese Zeiten und unser risches, inhaltliches und soziales Anlie- Gruppe andcompany&Co und Mitglieder CYNETART, das Festival Fast Forward Agieren sind nicht getrennt voneinander zu gen. HELLERAU startet mit einem Reigen des ehemaligen Arbeiterchores Schwedt des Staatsschauspiels in verändertem betrachten. Neben der neuen Zeitrechnung von internationalen Koproduktionen, in „Neue Horizonte: Eternity für alle!“ Format, Tanzgastspiele von Paula Rosolen gewinnen Zahlen eine andere Dimension: die lange vorbereitet und in den letzten der Kybernetikforschung in der DDR der mit „FLAGS“ und Jérôme Bel mit „Isadora Auf der einen Seite gibt es große Verlust- Wochen und Monaten immer wieder 1960er Jahre und den digitalen Risiken Duncan“, die Wiederaufnahme des rechnungen, finanzielle Einbrüche, je nach adaptiert wurden. Die meisten Projekte und Chancen für eine gerechtere Gesell- „Geometrischen Balletts“ von Ursula Sax Land und Region Hilfspakete oder den waren von Anfang an als dialogische schaft heute. Die Gruppe Kötter/Israel/ und Katja Erfurth, das Projekt „Wieder da!“ nackten Kampf ums Überleben. Auf der Kooperationen zwischen Künstler*innen Limberg behandelt mit „Gold & Coal“ von Antje Pfundtner und die Winter anderen Seite erscheint jede*r Infizierte aus verschiedenen Ländern angelegt. Themen wie Umweltzerstörung, Arbeiter akademie von TANZPAKT Dresden, die neue einzeln in Statistiken. Man könnte meinen, Wir hoffen, dass wir gemeinsam mit den rechte und den ungezügelten Raubbau Produktion „Hexploitation“ von She She damit ist die Wichtigkeit von einzelnen Künstler*innen flexibel auf Veränderun- – sowohl an natürlichen wie auch mensch Pop und vieles mehr. Aber vor allem freuen Menschenleben bereits garantiert. Aber gen der internationalen Lage reagieren lichen Ressourcen – in Sachsen und wir uns auf die vielen neuen Begegnungen wenn wir uns die Auswirkung der Pandemie können, mit unterschiedlichen Formaten, in Regionen des globalen Südens. Rimini mit Ihnen, unserem treuen Publikum! weltweit anschauen, sehen wir, welche Präsenzen vor Ort und mit Teilhabe aus Protokoll/Stefan Kaegi werden ihr Unterschiede es in den verschiedenen Welt der Ferne. emotionales, humanoides Roboterstück regionen in Bezug auf die Rettung von Wir beginnen mit der Uraufführung von „Uncanny Valley/Unheimliches Tal“ end- Carena Schlewitt Menschenleben gibt. „Schlachthof 5“ nach dem Kultroman von lich auch in Dresden zeigen. und das Team von HELLERAU Unterschiedliche, heftige Krisen waren Kurt Vonnegut, einem russisch-deutschen schon vor COVID-19 da – autokratisch, Musiktheaterprojekt mit der Komposition antidemokratisch regierte Länder, Krie- von Vladimir Rannev und in der Regie von ge, schwerwiegende Folgen der Klima Maxim Didenko, die beide im Januar dieses krise, die immer größer werdende Sche- Jahres beim Russland-Festival „Karussell“ re zwischen Arm und Reich u.v.m. Die in HELLERAU das Publikum begeisterten. Corona-Krise hat viele Probleme und Vonnegut liefert unserer Saison ein bemer- Themen weltweit wie unter einem Brenn- kenswertes Motto: „Alle Zeiten, die Ver glas verstärkt sichtbar gemacht. Sie gangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, hat partiell auch gezeigt, wie ein solida haben immer existiert und werden immer risches Denken und Handeln gelingen existieren. Wie kann ein ganzer Planet in kann. Wie gehen wir in der Zukunft mit Frieden leben?“ Eine weitere Uraufführung diesen Erfahrungen um? Und was präsentieren das Solistenensemble Kalei- kann Kunst in diesen Zeiten leisten? doskop und Solist*innen des Niedersächsi- Wir haben in HELLERAU in den letzten Mo schen Staatsorchesters Hannover mit naten gespürt, dass sowohl Verlässlich- dem Stück „Abschied“. Das außergewöhnli- keit wie auch Flexibilität, neues Denken und che Projekt „Last but not last“ ist durch Handeln gefragt sind. Unsere Partner, die die Zusammenarbeit der beiden international Künstler*innen haben kurzfristig ihre Projek renommierten Künstler*innen aus Beirut te geändert, sie verschoben und dabei Rabih Mroué und Lina Majdalanie mit dem ihre künstlerische Kreativität ausgeschöpft. Performing Arts Institute Warschau
In jedem Wir erinnern uns – permanent. Manchmal sind es gute Er- die Bombardierung von Dresden. Er erzählt über das Grau- innerungen, manchmal schlechte, manche Erinnerungen en des Krieges und macht zugleich das Erinnern selbst zum verblassen, andere schienen längst vergessen und sind Thema. Sein Roman ist Collage, Satire, Biografie, Science plötzlich wieder da. Wir tragen alle Persönlichkeiten, die Fiction und alles zugleich: Fragmentarisch-ausschnitthaft wir einmal waren und vielleicht auch im Alter sein werden, wandert die Romanerzählung durch unterschiedliche Zeit bereits in uns. „Alle Augenblicke – Vergangenheit, Gegen- ebenen und lässt persönliche Erfahrung und Erlebtes mit wart und Zukunft – waren immer vorhanden, werden im- Fiktion zusammenlaufen. Moment mer vorhanden sein“, heißt es in Kurt Vonneguts Roman „Schlachthof 5“. Er hat in seinem Text für dieses Phänomen Das Team um den russischen Theaterregisseur Maxim des Erinnerns unterschiedlicher Phasen eines Lebens eine Didenko hat eine neue Bühnenfassung von „Schlachthof kongeniale Übersetzung gefunden. 5“ entwickelt, die im September in HELLERAU uraufge- führt wird. Es sind nicht irgendwelche Erinnerungen, die Vonnegut verarbeitet, sondern Erinnerungen an eines der schreck- Johannes Kirsten, Dramaturg und Autor des Librettos der lichsten Kapitel des 20. Jahrhunderts. Vonnegut erlebte als musikalischen Bühnenfassung sprach mit dem künstleri- alles junger amerikanischer Soldat in deutscher Gefangenschaft schen Team der Produktion. dierung von Dresden ist. Beim Lesen prägt mich bis heute. Mein Theater ist wurde mir klar, dass es um sehr viel ein sehr physisches Theater. Weil wir mehr geht – um Gewalt, um die Verar- „Schlachthof 5“ als freies Projekt von beitung eines Traumas, vor allem aber Anfang an so entwickelt haben, wie sichtbar um Erinnerung. Ich mag die Idee des wir es wollten, haben wir nicht Schau- Buches, dass Vergangenheit, Gegen- spieler*innen, sondern Sänger*innen wart und Zukunft im selben Moment und Tänzer*innen für die Umsetzung stattfinden. Dieser Gedanke ist sehr engagiert. Wenn ich in Russland arbei- nah an dem, wie ich die Realität wahr- te, muss ich normalerweise mit The- nehme. Ich empfinde es als eine wun- aterschauspieler*innen arbeiten, die derbare Herausforderung, einen Weg nicht wirklich gute Tänzer*innen sind. zu suchen, wie man durch Theatermittel Die Idee, „Schlachthof 5“ als eine Mi- machen die Gleichzeitigkeit der Zeiten erzählen schung aus Musik, Tanz und Theater oder erfahrbar machen kann – dass un- zu realisieren, entstand auch aus dem sere Geburt, unsere Kindheit und unser Kontext des Aufführungsortes, dem Tod im selben Moment stattfinden und Festspielhaus und seiner Geschichte. eigentlich Vergangenheit und Zukunft Hier spielen Tanz und zeitgenössische nicht wirklich existieren, sondern wir Musik eine große Rolle. Das ist vielleicht nur das Hier und Jetzt haben, in dem nicht der leichteste Weg, die Geschich- alles enthalten ist. te des Buches zu erzählen, aber diese „Schlachthof 5“ ist 75 Jahre nach dem Schwierigkeit inspiriert mich mehr, als Maxim Didenko Ende des Krieges der beste Stoff für ein Projekt in Dresden. Der Zweite Welt- dass es mich abschreckt. Wegen der Corona-Situation haben wir, um mit den Regie krieg ist ein Thema, das alle Nationen Abstandsregeln umgehen zu können, Musiktheater „Schlachthof 5“ Europas miteinander verbindet – in mei- das Raumkonzept noch einmal komplett nach dem Roman Als das Team von HELLERAU Kontakt mit mir aufnahm und mir anbot, ein nem Fall Russland und Deutschland. Ich hatte dann noch die Idee, mit dem Ame- geändert. Es wurde also im Vorberei- tungsprozess immer komplizierter und von Kurt Vonnegut gemeinsames Projekt zu entwickeln, rikaner AJ Weissbard als Bühnenbild- ich merkte, dass mich das umso mehr habe ich begonnen, mich stärker mit ner zu arbeiten und so drei Nationen gereizt hat. der Geschichte Dresdens zu beschäf- des Zweiten Weltkrieges in dem Projekt tigen und Bücher mit einem Bezug zur miteinander zu verbinden. Stadt zu lesen. Von Kurt Vonneguts Wie wir den Stoff jetzt umsetzen, hat „Schlachthof 5“ hatte ich schon einmal seinen Ausgangspunkt in meinen Wur- gehört, wusste aber nicht mehr, dass zeln in HELLERAU. Ich war hier Per- es eigentlich ein Buch über die Bombar- former bei der Gruppe DEREVO. Das SCHLACHTHOF 5 4 MUSIKTHEATER 5
thode der Darstellung eines verbalen jetzt für die Bühne adaptieren, dann Textes in dieser Partitur mit der von muss unsere Interpretation für ein Pu- Heinrich Schütz. Stilistisch geht es blikum von heute funktionieren. Aber so natürlich um völlig andere Dinge, aber wie der rote Faden des Romans unvor- ich habe für mich selbst unerwartet be- hersehbar springt, änderte sich auch merkt, dass Olaf in Bezug auf die Ver- unsere Herangehensweise an den Stoff, tonungsstruktur des Textes Recht hat. da unser eigener Kontext und unsere Auch wenn der Roman sehr durch Zeit Wahrnehmung der Welt in den letzten und Raum springt, bemühe ich mich um Monaten radikal umgekrempelt wurden. eine durchlaufende Musikentwicklung. Bei der ersten Annäherung an das Pro- Es gibt keine Epochenporträts oder jekt haben wir versucht, den architek- Handlungsorte, denn für Billy Pilgrim, tonischen Charakter des Festspielhau- Vladimir Rannev den Helden des Romans, ist der Krieg kein Abenteuer, sondern eine Erfahrung ses mit dem fließenden Gedankenraum unseres Erzählers und seines Univer- Komposition schmerzhafter Reflexion und Selbstbe- sums zu verbinden. Es war ein Exkurs obachtung. durch traditionelle Präsentationen im „Schlachthof 5“ ist der Roman eines Festspielhaus, der jedoch den Rahmen amerikanischen Autors über seine Er- sprengte. Ein späterer Ansatz führte lebnisse im Zweiten Weltkrieg, über zu einer klassischeren und beschei- die Bombardierung von Dresden, die deneren Interpretation. Dann kam die er miterlebte und über die Schwierig- Corona-Tragödie dazwischen. keit zu erinnern. Wir setzen den Stoff Die Herausforderung der COVID-19- jetzt als russisch-amerikanisch-deut- Pandemie hat das Leben auf der ganzen sches Team um. Letztlich aber sind Welt und in jeder Branche erschüttert. haltig im Gedächtnis. Einmal ein großer rhythmische Struktur fällt sofort auf. Die die Nationalitäten damals und heute In der Kunst stellen wir uns auf neue Neonaziaufmarsch vor ein paar Jahren. Tonhöhen haben ihre Grundlage in der nicht wichtig. Die wahren Grenzen zwi- Herausforderungen ein, was die Zu- Die menschenleere Stadt und das gro- Erzählung und wirken äußerst suggestiv. schen den Kriegsfeind*innen in beiden sammenarbeit und die Realisierung ße Polizeiaufgebot waren gespens- Im besten Fall wird ein Zustand geschaf- Weltkriegen und zahlreichen nachfol- von Projekten, die Begegnung mit dem tisch. Positiver ist eine Erinnerung an fen, in dem wir die Normalität vergessen genden lokalen Kriegen lagen nicht Publikum und viele weitere Herausfor- die Gedenkveranstaltung vor zwei, drei und erfahrbar wird, was der Roman mit zwischen Völkern, sondern zwischen derungen angeht. Diese einzigartige Jahren auf dem Heidefriedhof, die ich Worten erzählt. Die größte Herausfor- Verbrecherregierungen, deren egois- Situation hat uns veranlasst, das Kon- zusammen mit dem Jungen Ensemble derung für uns als AuditivVokal ist das tische Interessen Blut forderten, und zept für „Schlachthof 5“ in HELLERAU umrahmen durfte. Eintauchen in Vladimirs Kosmos und Menschen, die diese Verbrecher*innen zu überdenken, um die Sicherheit von Vonneguts Roman habe ich erst jetzt in seinem Verlangen zu folgen, sich trotz regieren ließen mit der Konsequenz, Publikum und Darsteller*innen zu ge- Vorbereitung auf das Projekt gelesen. der packenden Rhythmen ganz dem na- Blut für ihre Interessen zu vergießen. währleisten und dennoch ein künstle- Ich konnte mir nur schwer vorstellen, türlichen Singen hinzugeben. Die einen hatten gut gelernt, wie die risches Arbeiten zu ermöglichen. wie aus so einer heterogenen Erzählung anderen zu manipulieren sind und wie AJ Weissbard In unserer Interpretation von „Schlacht ein Theaterabend werden kann. Eine Koproduktion von tristan Production und Bühne Hass beiläufig und gleichgültig wie Waf- hof 5“ wird in jedem Moment alles Die Mehrdimensionalität, die sich jetzt HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes so- fen produziert werden kann. Vonneguts sichtbar sein; es wird eine Theaterin schon abzeichnet, übt eine große Fas- und Kostüme wie durch die Landeshauptstadt Dresden, Amt für Roman ist wichtig, weil er den kriminel- stallation sein, die Zuschauer*innen zination aus. Die Wort-Ton-Beziehung Kultur und Denkmalschutz, die Stiftung Kunst und len Charakter des Krieges als Tätigkeit und Performer*innen in einem ge- ist für mich natürlich das Spannendste, Musik für Dresden sowie durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird von Verbrecherregierungen aufdeckt Als ich in meiner Jugend „Schlachthof meinsamen Raum versammelt. Die Zu- also wie die Inhalte des Romans auch mit – egal, ob deutsch, amerikanisch oder 5“ las, bemühte ich mich sehr darum, schauer*innen gestalten ihre persön- Olaf Katzer Musik fasslich oder sinnlich erfahrbar mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundla- ge des vom Sächsischen Landtag beschlossenen russisch. Leider hat das an Aktualität nicht verloren. Wie lässt sich so ein den roten Faden in diesem Roman zu finden. Jetzt, beim Wiederlesen in liche Reise durch den Stoff, indem sie ihren eigenen Schwerpunkt wählen und Musikalische gemacht werden können. Was bisher komponiert ist und wie Vladimir mit der Haushaltes. Stoff in Musik übersetzen? Vorbereitung für dieses Projekt, war ihre eigenen Erfahrungen kuratieren. Leitung Zeitstruktur umgeht, um den Gedanken In dieser für ein Vokalensemble kom- mir die Narration überhaupt nicht Die Unmöglichkeit, ein vollständiges des Romans der Gleichzeitigkeit von 24. – 27.09.2020 ponierten Oper gibt es keine heroi- mehr wichtig. Ich folgte vielmehr den Bild vermittelt zu bekommen, korres- Seit 2005 bin ich in Dresden und wohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Schlachthof 5 (Uraufführung) schen Chöre und aufregenden Arien. Andeutungen und Assoziationen des pondiert mit den momentan vorherr- in derselben Straße, in der vor dem Krieg erfahrbar zu machen, gefällt mir sehr. nach dem Es ist vielmehr eine konzentrierte, in- Romans und entdeckte das Buch noch schenden Fragen: Was ist sicher, was auch meine Urgroßeltern gelebt haben, Vladimir hat dem Parameter Tonhöhe Roman von Kurt Vonnegut trovertierte Erzählung, ein Monolog, einmal vollkommen neu. Wie man eine ist mit uns geschehen und was kann die bis sie in einen Vorort umgezogen sind. eine eigene Substanz gegeben. Er hat Maxim Didenko, der zwischen den acht Stimmen des Geschichte wahrnimmt, wird stark vom Zukunft bringen? In Dresden ist es unmöglich, die Be- die Tonhöhe ihrer westeuropäischen Vladimir Rannev, Johannes Kirsten, Ensembles kontrapunktiert wird. Der Kontext des/der Leser*in beeinflusst. deutung des 13. Februar 1945 für die Funktion entrissen. Wir haben ein Ton AJ Weissbard, musikalische Leiter der Produktion, Ein Gedanke, der umso wichtiger im Stadt nicht wahrzunehmen. Zwei unter- spektrum, und die jeweilige Tonhöhe AuditivVokal Dresden (RU/DE) Olaf Katzer, verglich einmal die Me- Theater ist. Wenn wir diesen Roman schiedliche Momente blieben mir nach- ist teilweise dem Zufall überlassen. Die Musik/Theater/Tanz SCHLACHTHOF 5 6 MUSIKTHEATER 7
ABSCHIED UND BEGINN NEUN, die zweiteilige Kooperation zwischen dem Berliner So- die Körperlichkeit der Musik sowie der Musiker*innen selbst in sich aus unauffälligen, nur selten in den Fokus unserer Auf- Gleichzeitig werden Musiker*innen des Niedersächsischen listenensemble Kaleidoskop, HELLERAU – Europäisches Zen- den Mittelpunkt stellt. Sie bilden keinen einheitlichen, homo- merksamkeit rückenden Routinen und Nebensächlichkeiten Staatsorchesters, die sonst im Opernhaus die großen Werke trum der Künste und der Staatsoper Hannover, nimmt zwei gen zusammenspielenden Klangkörper, wie es das Musizieren eine Choreografie. der Opern- und Konzertliteratur spielen, gemeinsam mit Mit- Monumente der Orchesterliteratur zum Ausgangspunkt: Die von Sinfonien im klassischen Orchester nahelegt. Vielmehr Der zweite Teil des Stückes ist von Wiederholungen und gliedern des Solistenensembles auf der Bühne stehen. Ge- 9. Sinfonien von Ludwig van Beethoven und Gustav Mahler. wird die Heterogenität der Spieler*innen und ihre individuelle der Überlagerung heterogenen Klangmaterials bestimmt. meinsam werden so neue Darstellungsformen von Musik und Beide Werke, 1824 bzw. 1912 uraufgeführt, markieren An- Auseinandersetzung mit dem Werk ernst genommen und im Ein Atem-Chor überlagert sich mit stimmlichen, gestischen Musiktheater erprobt und mit den Produktionen „Abschied“ fang und Ende der großen romantischen Form. Beethovens Bühnenraum sicht- und hörbar gemacht. Die Musiker*innen und musikalischen Fragmenten zu einer fast humoristisch und „Beginn“ auf die Bühnen der beiden Häuser gebracht. „Neunte“, bis heute an Popularität kaum übertroffen, sollte werden zu aktiven Erzähler*innen von und mit ihrer Musik. wirkenden Collage. Unter anderem inspiriert von Orlando Im Rahmen des Projektes NEUN in Zusammenarbeit von Solistenensemble Kalei- seine letzte Sinfonie bleiben. Als Schlüsselwerk der sinfoni- di Lassos Chorwerken der Renaissance entsteht in Zusam- doskop mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und der Staatsoper schen Musik bereitete sie jedoch den Boden für nachkom- Abschied menarbeit mit dem US-amerikanischen Komponisten Ethan Hannover, gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes. mende Komponist*innen der Romantik. Rund 90 Jahre spä- Der letzte Satz „Adagio. Sehr langsam und noch zurückhal- Braun dafür neue Musik. Es entsteht ein Mit- und Nebenei- „Abschied" wird gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. ter scheute Mahler zunächst die Arbeit an seiner 9. Sinfonie, tend“ aus Gustav Mahlers 9. Sinfonie bildet den Ausgangs- nander einzelner Stimmen und individueller Rhythmen; ein Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage da er fürchtete, neben Beethoven, Schubert, Bruckner und punkt für das Musiktheater „Abschied“. Der erste Teil der hoffnungsvoller Ausblick auf den Anfang nach dem Ende. des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. Dvořák nicht über diese Zahl hinauszukommen und mit ihr zweijährigen Kooperation stellt die Frage, wie sich nach ei- seinen eigenen Tod zu komponieren. Tatsächlich beschreibt nem Ende ein neuer Anfang finden lässt. Aus der aktuellen Die Kooperation Mahler dann mit der kurz vor seinem Tod entstandenen und Krisensituation heraus erkunden die finnische Choreografin Im Rahmen des Programms Doppelpass der Kulturstiftung des NEUN erst danach zum ersten Mal aufgeführten 9. Sinfonie den Milla Koistinen, der Künstler Ladislav Zajac, Musiker*innen Bundes verbünden sich das Solistenensemble Kaleidoskop und Doppelpass-Projekt mit Solistenen- Abschied vom Leben und den Übergang in den Tod – und des Staatsorchesters Hannover sowie der Regisseur und die beiden Institutionen HELLERAU und die Staatsoper Han- semble Kaleidoskop (DE) und gleichzeitig den Übergang in eine neue Epoche. Komponist Michael Rauter mit dem Solistenensemble Ka nover auf verschiedenen Ebenen. Da (neue) Formen des Mu- Solist*innen des Niedersächsischen Als „Abschied“ und „Beginn“ werden diese beiden Werke leidoskop die Zeitspanne zwischen einem abgeschlossenen siktheaters von allen drei Partnern auf sehr unterschiedliche Staatsorchesters (DE) durch das Solistenensemble Kaleidoskop neu bearbeitet auf Davor, zu dem es keine Rückkehr gibt, und einem noch un- Weise, mit anderen Mitteln und Arbeitsstrukturen entwickelt die Bühne gebracht. Das bekannte musikalische Material wird gewissen Danach. werden, will diese Kooperation neue Impulse setzen. Fr/Sa 02./03.10.2020 jeweils nur in kleiner Besetzung gespielt und performativ, klan- Das „Adagio“, ein langsamer und erhabener Abgesang Das Festspielhaus Hellerau, in den 1910er Jahren zur glei- Abschied (Uraufführung) glich und räumlich neu interpretiert. Durch diese Aneignung des monumentalen Werkes, wird für „Abschied“ in eine chen Zeit wie Mahlers letztes Werk entstanden, bereitete mit HELLERAU – Europäisches werden die Kompositionen vom überwältigenden Pathos des neu arrangierte und choreografierte Fassung für elf Strei- seinem offenen Bühnenraum und der Idee des rhythmisch Zentrum der Künste großen Orchesterwerks befreit und das Potenzial der Werke cher*innen und eine Tänzerin überführt. Extrem verlang- ausgebildeten Menschen den Weg für interdisziplinäres Ar- freigelegt. Das Solistenensemble Kaleidoskop und die Musi- samt gespielt, verschwindet der romantische Gestus hinter beiten in der deutschsprachigen Theater- und Tanzwelt. Die November 2020 ker*innen des Niedersächsischen Staatsorchesters schaffen stehenden Klängen. Immer leiser werdend, bewegt sich die Strukturen dieser Experimentierbühne treffen auf diejenigen Beginn (Uraufführung) damit ein Musiktheater, das Hörgewohnheiten verschiebt und Musik ihrem Verschwinden entgegen. Gleichzeitig entfaltet der Staatsoper und bringen sich so gegenseitig in Bewegung. Staatsoper Hannover ABSCHIED 8 MUSIKTHEATER 9
Rekonstruktion und Konstruktion von Geschichte Carena Schlewitt im Gespräch mit Lina Majdalanie, Rabih Mroué, Marta Keil und Grzegorz Reske über den Rechercheprozess für „Last but not last“ Marta und Grzegorz, ihr habt dieses langfristige Forschungs- haben uns in unserem Arbeitsprozess geholfen. Popu- projekt zu Geschichte und Transformationsprozessen mit lismus, Nationalismus, die Einmischung der Religion in Bezug auf Polen initiiert. Und ihr habt dazu Lina Majdalanie die Politik, historische Mythen und Nationalhelden usw. und Rabih Mroué, zwei bekannte, in Berlin lebende Künst- nehmen heute leider überall auf der Welt wieder zu. Aber ler*innen aus Beirut eingeladen. Was war euer Impuls, euer in jedem Land oder in jeder Gesellschaft manifestiert Interesse an diesem Thema und dieser Konstellation? sich diese Entwicklung unterschiedlich, gibt es andere Für uns kam die radikale populistische Wende, die sich Wurzeln, eine andere Bildsprache, eine andere Imagi- 2015 in Polen vollzog, überraschend. Wir beobachten nation ... Wir wollten verstehen, wie sich diese Entwick- und reflektieren bereits seit einiger Zeit signifikante lung im Verhältnis zur eigenen, besonderen Erfahrung soziale Veränderungen in Polen und sehen, wie die wirt- und Geschichte in jeder Stadt artikuliert. Und auch hier schaftlichen und sozialen Ungleichheiten zunehmen, war es sehr hilfreich, sowohl Unterschiede als auch Ge- aber eine so schnelle und radikale politische Wende meinsamkeiten zu untersuchen und bereit zu sein, alles haben wir nicht erwartet. Teilweise auch, weil wir selber als überraschend oder auch seltsam zu betrachten. Wir mittendrin waren und an dem anstrengenden Kultur- wollten unwissend und ohne Herablassung an das Thema kampf teilgenommen haben. Aus diesem Grund haben herangehen und wie ein Kind ganz naiv fragen, warum wir beschlossen, Künstler*innen einzuladen, die die und wie etwas geschieht. komplexe politische und soziale Situation Polens aus Was wurde für euch schließlich zum gemeinsamen Arbeits- ihrer eigenen, externen Perspektive betrachten können ansatz, aus dem der Theaterabend entstanden ist? und die höchstwahrscheinlich Mechanismen und Inter- Ein wichtiger Punkt war Linas und Rabihs Beobachtung dependenzen sehen, die für uns unsichtbar bleiben. Die dessen, was in letzter Zeit zu einer polnischen Obses- Wahl von Lina und Rabih lag für uns auf der Hand: Wir sion geworden ist: historische (und fiktionale!) Rekons- haben schon früher mit ihnen gearbeitet und bewun- truktionen. Eine Welle von Nachstellungen vergangener dern ihre langjährige künstlerische Forschung über oder phantasievoller Ereignisse, die in letzter Zeit im Erinnerung und Repräsentation sowie ihre einzigartige ganzen Land zu sehen sind. Als ob wir unsere Geschich- Verflechtung von Persönlichem und Politischem. Ent- te ständig neu erzählen müssten, als ob ihre gegenwär- scheidend war für uns vor allem die Methode von Lina tige Version nicht heroisch oder attraktiv genug wäre. und Rabih, Fiktion als politisches Mittel einzusetzen, Wir haben daraufhin ein sehr „banales und unbedeu- um die Realität zu verstehen. tendes“ Ereignis aus dem Jahr 2016 ausgewählt, es Lina und Rabih, im Rahmen des Arbeitsprozesses habt ihr durchforstet und analysiert, bis sich vor unseren Augen Warschau und Dresden viele Male besucht – wie habt ihr überraschenderweise eine ganze Welt offenbarte, die aus eurer sozialen und künstlerischen Perspektive die mit dem Diskurs der heutigen herrschenden Klasse Gesellschaften, die Städte, die historischen Aspekte, die in Polen zusammenhängt, ein Diskurs, der auf Fiktion Menschen wahrgenommen? und Realität aufbaut und sich von der alten Geschichte Wir wollten bei unseren Aufenthalten in Dresden, War- Polens bis heute erstaunlich ausbreitet. schau und auch Leipzig versuchen, die Besonderheit jeder Stadt heute im Zusammenhang mit ihrer Vergan- Rechercheprozess und Produktion: HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und Performing Arts Institut Warschau, Gefördert durch die Bundes- genheit zu verstehen. Diese drei Städte haben eine lange zentrale für politische Bildung. Koproduktion: Residenz, Schauspiel Leipzig. kommunistische Regimevergangenheit. Natürlich ist die moderne Geschichte jeder Stadt vielschichtig und kom- plex, besonders für zwei Künstler*innen, die aus einem anderen Kontext kommen. Aber wir haben uns dabei Fr/Sa 09./10.10.2020 ertappt, wie wir neben unseren persönlichen Erfahrun- Last but not last gen auch Assoziationen zwischen den drei Städten und Lina Majdalanie & Rabih Mroué (LB) unserer Stadt Beirut gebildet haben. Sowohl Unterschie- Zeichnungen: George Khoury (JAD) de als auch Gemeinsamkeiten zwischen den vier Städten Performance LAST BUT NOT LAST 10 PERFORMANCE 11
VORTEX Ulf Langheinrich „Ich denke, erlebte Wirklichkeit ist eine Halluzination. Wirk- In Bildern ist alles das tot, was unsterblich werden sollte, derungen richtet, so sind ihm doch auch Kontexte, soziale lich ist sie nicht dadurch, dass sie physikalisch stimmt, erloschen im Moment der Bilderzeugung. Ihre Erzeugung Settings und Gesten von zentraler Bedeutung: sondern dadurch, dass wir das Erleben glauben. Träume ist ein vampiristischer Akt. Eine Anmaßung. Ich versuche „Die unterschiedlichen Auflösungserscheinungen, die etwa sind geeignet, eine so überzeugende Wirklichkeitshal- durch eine Art von Auflösung des Gemeinten ein Bild hinter im Rahmen von VORTEX verhandelt werden, spiegeln ge- luzination zu generieren, dass diese unabhängig von Physik den Bildern zu destillieren, zu raffinieren. Dieser Versuch ist sellschaftliche Prozesse der Gegenwart wider. Es scheint, als echt erlebt wird. Es scheint, als sei die Generierung von immer ein vergeblicher! Insofern sind gerade jene Arbeiten, als werde zu Beginn noch eine Ikonisierung des exotischen wirklichkeitsgleichen Vexiermustern, mit immer diskreteren die mit menschlichem Abbild operieren, auch Arbeiten über Anderen problematisiert, präsentiert als kollektive (weib- Pixeln, immer schnelleren Bildsequenzen, in immer höherer Verlangen und Scheitern.“ liche) Multitude. Doch die sich vollziehende Überwindung Ausdifferenzierung, das eine Ziel, in dem sich ästhetische Wenn sich in den Arbeiten von Ulf Langheinrich das In- des Menschlichen und dann des Körperlichen evoziert völ- und technologische Forschung einig sind: die Approximation teresse vor allem auf die Materialität der Medien, auf ihre lig andere Themen. Eigentlich geht es um Vereinzelung und des Virtuellen an die Glaubwürdigkeit des Traumes. Wenn die Physik, auf Fragen zu Konsistenzen und Konsistenzverän- Isolation. Um Verlust als zentrale Erfahrung des Seins in der Granularität der generierten Muster Welt. Vor allem geht es um den Verlust des Vertrauens in die an der Systemgrenze menschlicher Richtigkeit des Gewussten. Und es geht um Nicht-Verstehen, Sinne als solche nicht mehr erkennbar um Nicht-Verstehen-Wollen als Akt der Emanzipation von der ist, wenn ein VR-Environment endlich Geschwätzigkeit des Seins.“ die menschliche Enttäuschungsfähig- Die Uraufführung von VORTEX ist ein interdisziplinä- keit überwältigt hat und die Halluzina- res, internationales Projekt: eine Kollaboration zwischen tion als nie zuvor erlebte Wirklichkeit den Städten Le Havre, Maubeuge, Dresden und Bochum. überzeugt, dann rufe ich mir entzückt VORTEX findet als hybrides Bühnenereignis statt, das un- zu: Ich träume nur.“ (Ulf Langheinrich) terschiedliche Künste miteinander reagieren lässt, um neue Ulf Langheinrich ist wohl eher ein ästhetische Formen zu generieren. Die mesmerisierende besessener Forscher als ein Träumer, Wirkung von Ulf Langheinrichs Licht- und Bildwelten in eine sein Blick ist scharf, aber eben auch tanzbare Live-Choreografie zu transcodieren, ist die Leis- entrückt: „Mich interessiert die Kre- tung der jungen italienischen Künstlerin Maria Chiara de’ ation sehr spezifischer ästhetischer Nobili, die derzeit ihren Masterabschluss für Choreografie Zustände oder akustischer Felder, die an der Palucca Hochschule in Dresden vorbereitet. sich durch Eigenschaften wie Tempe- CYNETART – VORTEX ratur, Konsistenz oder Viskosität be- Ulf Langheinrich, 1960 in Wolfen geboren, verließ 1984 die damalige DDR. In Wien schreiben lassen. Die Arbeit mit Tän- gründete er 1991 zusammen mit Kurt Hentschläger GRANULAR-SYNTHESIS. Fr/Sa 16./17.10.2020 zer*innen und die Präsentation von Das Duo schuf wegweisende monumentale Multimedia-Installationen und Per- VORTEX (Uraufführung) Abbildungen menschlicher Emotion in formances. Danach als Solokünstler international erfolgreich, lebte er lange Maria Chiara de’ Nobili und Ulf Zeit in Ghana und Hongkong, seine Arbeiten werden weltweit präsentiert. Seit Gesicht und Körper werfen zusätzli- 2016 ist er Künstlerischer Leiter des Festivals CYNETART in HELLERAU. Langheinrich (DE) che und andere Fragestellungen auf, CYNETART 2020 ist eine Veranstaltung der Trans-Media-Akademie Hellerau das war schon zu Zeiten von MODELL im Rahmen der Aktivitäten des Netzwerk | Medien | Kunst Dresden in Koope- So 18.10.2020 ration mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste sowie der SHAPE 5 (GRANULAR-SYNTHESIS 1994) so. Plattform. Deep Surroundings Seitdem geht es mir immer auch um Kiran Kumar, Simina Oprescu, Identifikation und Projektion, um Se- Gefördert aus Mitteln der Landeshauptstadt Dresden, Amt für Kultur und Aloïs Yang, Denkmalschutz sowie gesponsert durch die Ostsächsische Sparkasse Dres- xualität und Sterblichkeit, das trifft den und kofinanziert durch eine Plattform-Förderung aus dem Programm Hugo Esquinca (IN/RO/FR/CZ) jedenfalls in meinen Arbeiten so zu. KREATIVES EUROPA der Europäischen Kommission. Tanz/Musik CYNETART 12 FESTIVAL 13
Arbeit! 23.10. – 01.11.2020 Das Themenfestival ARBEIT! behandelt den Begriff Industriekul- tur nicht als Rückschau, sondern schlägt einen inhaltlichen Bogen Zeitgenössische Positionen zwischen der Industrialisierung und den Transformationspro- zum Jahr der zessen bis hinein in die heutige postindustrielle Gesellschaft mit Industriekultur in Sachsen ihrer digitalen Arbeits- und Lebenswelt – mit besonderem Fokus auf Sachsen und Ostdeutschland. Arbeit! Di 06.10. 20:00 Uhr Mo 26.10. 18:00 Uhr Sa 31.10. 16:00 Uhr Dienstagssalon mit Max Tanz-Workshop für alle! Choreografie der Arbeit Rademann – ARBEIT! Spezial Mit Irina Pauls (DE) Gespräch mit Carena Zu Gast: Die Arbeit (DE) Anmeldung an Schlewitt, Antje Ehmann Musik/Gespräch workshop@hellerau.org und Irina Pauls Fr 23.10. 18:00 Uhr Di 27.10. 18:00, 21:00 Uhr Sa 31.10. 18:00 Uhr Sa 24.10. 15:00, 18:00 Uhr Nature & Culture w/ Konsequenzen globalen Arbeit! So 25.10. 15:00, 18:00 Uhr Pantha Du Prince Rohstoffabbaus zwischen Uncanny Valley/ „Conference of Trees“ Leipzig und Papua Unheimliches Tal & Andrew Pekler Gespräch mit Daniel Kötter Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) „Tristesse Tropique“ und Gästen & Thomas Melle, Münchner Eine Veranstaltung von DAVE Kammerspiele (CH/DE) Musik + Installationen Performance 23.10. – 01.11.2020 Fr 30.10./Sa 31.10. 19:30, (an allen Veranstaltungstagen Fr 23.10. 20:00 Uhr 20:00, 20:30, 21:00 Uhr ab einer Stunde vor Sa 24.10. 20:00 Uhr So 01.11. 16:00, 16:30, Veranstaltungsbeginn) Neue Horizonte: 17:00, 17:30 Uhr Eternity für alle! Gold & Coal Eine Einstellung zur Arbeit andcompany&Co. feat. Daniel Kötter/Sarah Israel/ Antje Ehmann/Harun Farocki Arbeitertheater (DE) Elisa Limberg (DE) (DE), Videoinstallation Performance Performance Arbeiter verlassen die Fabrik Sa 24.10. 16:30 Uhr Sa 31.10.2020 13:00, 14:30 Uhr Harun Farocki (DE) Arbeit wieder sichtbar So 01.11.2020 15:00 Uhr Videoinstallation machen shift change. Panel mit Alexander Karschnia SCHICHTWECHSEL D.I.Y Experience (Theatermacher, Autor), Irina Pauls (DE) Alexander Buers (DE) Eva Renvert (Bildungswissen- Performance Befahrbare Installation Gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. schaftlerin), Sönke Zehle Gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme (Medientheoretiker), Kolja Sa 31.10. 15:30 Uhr wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsi- schen Landtag beschlossenen Haushaltes. Möller (Politikwissenschaftler) Eine Einstellung zur Arbeit Das ganze und Mitgliedern des Ausgewählte Filme Festivalprogramm unter Arbeitertheaters Schwedt aus Marseille www.hellerau.org/arbeit Filmpräsentation ARBEIT! 14 FESTIVAL 15
Neue Horizonte für historische Stoffe Die Bildungswissenschaftlerin Eva Renvert im Gespräch mit dem Theaterkollektiv andcompany&Co. über ihr aktuelles Stück „Neue Horizonte: Eternity für alle!“ Ihr beschäftigt euch mit der „Horizonte“-Inszenierung, ei- „digitale Unsterblichkeit“ – in einer Gesellschaft, die von nem Stück, das DDR-Theatergeschichte geschrieben hat krasser Ungleichheit geprägt ist. Daher auch der Titel: und das in Verbindung mit Themen wie Arbeitertheater „Eternity für alle!“ Das könnte in nicht allzu ferner Zu- oder Kybernetik steht. Wie ist die Idee entstanden und was kunft eine reale politische Forderung sein. Heiner Müller interessiert euch an dem Stoff? hat allerdings noch eine andere mögliche Entwicklung Am Anfang stand das Interesse für Kybernetik. Von vorhergesehen – das Verschwinden des Menschen. Kurz der stolzen neuen Leitwissenschaft ist heute begrifflich vor seinem Tod erzählte er Alexander Kluge: „Wichtig im fast nur die Bezeichnung der „Cyberattacke“ geblie- Universum ist nicht das organische Leben, sondern die ben. Doch es gibt gute Gründe, sich mit der Geschichte Information, wenn sich herausstellt, dass die Computer der Kybernetik zu beschäftigen: Die Kybernetik war ein – dass die Maschinen – die Informationen besser trans- Vorläufer der heutigen Netzwerk- und Systemtheorien. portieren können als der Mensch, wenn der Mensch als Insofern ist sie gewissermaßen von Anfang an in das Vehikel nicht mehr ausreicht, dann muss der Compu- Web 2.0 eingegangen. Es geht um die Verbindung von terforscher oder Spezialist beitragen zur Vernichtung Kommunikation und Kontrolle. Heiner Müller hat das der Menschheit, damit die Computer den Transport der auf verblüffende Weise vorhergesehen: „Jeder sein Informationen übernehmen.“ eigner Spitzel!“ Werdet ihr in dieser Inszenierung wieder dokumentarisch Das Stück gibt es in zwei Bearbeitungen: von Gerhard Win- arbeiten und wie geht ihr vor? terlich, der es für das Arbeitertheater des Petrolchemischen Wir haben zunächst Interviews – zeitgemäß via Zoom – mit Werkes 1968 in Schwedt schrieb, und von Benno Besson und den damaligen Beteiligten als Expert*innen ihrer eige- Heiner Müller, die es 1969 für die Volksbühne Berlin adap- nen Geschichte geführt. Diese digitale Interview-Form tierten. Wie geht ihr mit diesen zwei Vorlagen um? passte gut zum Thema, da es laut Müller um die „Ein- Müller hat hier ausnahmsweise mal so gearbeitet wie führung der Kybernetik in soziale Beziehungen“ geht. wir immer arbeiten – als „embedded writer“ in einem Uns interessieren dabei v.a. die Theorien von Georg Stückentwicklungskollektiv: „Alle dichten mit!“. Das Klaus, der als „perfekte Synthese aus Marx und Luhmann“ Stück war zwar kein Erfolg, hatte aber durchaus Wir- gefeiert wird. Er hatte vorgeschlagen, Knöpfe am Fern- kung: Es prägt die Volksbühne bis heute. Es wird auch seher zu installieren, damit die Bevölkerung zur „Perfekti- von uns zwei Fassungen geben: eine, die in Schwedt onierung der Demokratie“ direkt abstimmen könne. Dazu mit ehemaligen Beteiligten des Arbeitertheaters ent- ist es nie gekommen. Ein kleines Update der Demokra- wickelt wird, und eine spätere Version mit Schauspie- tie – nicht nur technisch – könnte hier sicherlich auch Der Journalist Klaus Taubert war 1970 bei der „Ost- niert, um aus der Ferne beim Installieren der Software zu ler*innen. heute nicht schaden. seewoche“ in Rostock Zeuge von Walter Ulbrichts helfen. Um die Einzelinterviews in einer höheren Qualität Das Stück ist ja an Shakespeares „Sommernachtstraum“ Inwieweit werdet ihr den Umgang mit der Geschichte der Vorschlägen einer effektiveren Volkswirtschaft, inklu- einzufangen, haben wir via Kurier unseren Camcorder angelehnt und spielt mit mehreren Ebenen. Inwieweit fließt DDR thematisieren? sive Bildungsreform, technischer Innovation und um- nach Schwedt geschickt. Den haben die Gesprächspart- dieses Moment in eure Inszenierung ein? Uns haben schon immer die Momente interessiert, in fassender Computerisierung. Tauberts Artikel wurde ner*innen dann selbst mit Hilfe der Fernanleitung von Uns interessiert es, mit ehemaligen Mitgliedern des denen sich in der Geschichte ein Türchen geöffnet hat, damals verhindert und kurz danach bekanntgegeben, uns aufgebaut. Das war total spannend, weil es ja auch so Arbeitertheaters Schwedt zusammenzuarbeiten, die das kurz danach bereits wieder verschlossen wurde. dass Ulbricht die Macht an Honecker abgeben würde, eine soziale Komponente hat, jetzt Menschen mit Technik damals sich selbst als Arbeiter*innen gespielt haben. der diese radikalen Pläne begrub. und Know-how auszustatten, die ansonsten gar nicht Der Autor Gerhard Winterlich war inspiriert von Georg Welche Herausforderungen gab es in eurem Arbeitspro- teilhaben würden an dieser Form von Kommunikation – Klaus, dem „Godfather der DDR-Kybernetik“. 1968 er- zess? ein Aufbruch zu „neuen Horizonten“. schien dessen Spieltheorie, die davon ausgeht, dass alle Fr/Sa 23./24.10.2020 Ein Stück zu entwickeln ohne physischen Kontakt – das Zuschauenden im Theater mitspielen, da sie ein „inneres Neue Horizonte: Eternity für alle! passt zum Thema. Wir haben wochenlang einen immen- Eine Produktion von andcompany&Co. in Koproduktion mit HAU Hebbel Modell der Außenwelt“ besäßen. Letztendlich geht es um andcompany&Co. sen Aufwand betrieben, um alle Senioren*innen mit Vi- am Ufer Berlin, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, FFT Düsseldorf und Uckermärkische die aktuelle Debatte der Verschmelzung von Mensch und feat. Arbeitertheater (DE) deo für Proben via Videokonferenz fit zu machen. Unsere Bühnen Schwedt. Die Produktion wird gefördert durch: Hauptstadtkultur- Maschine. Der „neue Horizont“ unserer Zeit ist eine Art Performance Mitarbeiter*innen haben mit einigen stundenlang telefo- fonds und die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa. ARBEIT! 16 FESTIVAL 17
Timika Leipzig Zwei Tage hatten wir mit Mangun in den Tailings verbracht, Für einen Moment herrscht betretenes Schweigen wäh- ihm und seinen Kollegen beim Goldwaschen zugesehen und rend des Recherche-Interviews und man hört nur noch das abends seinen Geschichten zugehört. Zwei Tage hatten wir Rauschen der nahen Autobahn A38. Wir sitzen im Berg- gemeinsam mit dem lokalen Dokumentarfilmer Yonri Revolt bau-Technik Park bei Leipzig zwischen Markleeberger und und unserer 360°-Kamera die Abraum-Landschaft doku- Störmthaler See. Von den Führerhäuschen der hier ausge- mentiert – einen 6 km breiten und 60 km langen Streifen, stellten Braunkohlebagger könnte man die Segelboote auf der die weltgrößte Kupfer- und Goldmine am Nemangkawi dem sulfathaltigen Wasser in den Landschaftslöchern des Gipfel (4884 m, kolonialer Name: Carstensz-Pyramide) mit ehemaligen Tagebaus Espenhain sehen. Mehrere Wochen dem Regenwald rund um die Bergarbeiterstadt Timika und waren wir mit 360°-Kamera und Mikrofon in den idyllischen den Mangrovenwäldern an der Südküste Papuas, Indone- Bergbau-Nachfolge-Landschaften unterwegs. Die weiße sien, verbindet. Im grau-opaken, quecksilberhaltigen Ab- Wasserdampf-Fahne des Braunkohle-Kraftwerks Lippen- raum-Schlamm wächst buchstäblich kein Gras mehr, aber dorf war dabei unser ständiger Begleiter. Und jetzt sitzen der goldene Schimmer auf den Sandbänken verweist auf wir peinlich berührt zwischen den ausrangierten rostenden das eigentliche Ziel der Träume der Goldwäscher, die sich Zeugen einer verschwindenden Industrie einem älteren Mann in temporären Camps hier niedergelassen haben. Hier gibt gegenüber und schweigen. Wolf-Dietrich Chmieleski, ehe- es weder Elektrizität noch Trinkwasser oder Schutz gegen maliger Bergmann und heute Touristenführer des Vereins Dauer-Regen und Mücken – man arbeitet für ein Verspre- Bergbau-Technik-Park e.V., wischt sich eine Träne von der chen in die Zukunft. Mangun hatte angeboten, voranzugehen Wange und entschuldigt sich, bevor er weiterspricht. und uns den sichersten Fußweg durch die Flussbetten zu- Eine Stunde lang hatte er uns mit fester Stimme große Zahlen rück nach Timika zu zeigen. Denn nicht die Chemikalien im an den Kopf geworfen, unter denen wir uns nicht so recht Wasser bilden hier die reale Gefahr, sondern die tödlichen etwas vorstellen konnten: Kubikmeter Abraum, Kubikmeter Strömungen des Flusses. Mangun wollte nach zwei Wochen Kohle, Quadratkilometer und Tonnenlasten, Alternativlosigkeit im Goldwäscher-Camp mal wieder seine Familie besuchen. im Energiesektor der DDR. Dann kam er auf jenen Moment Mit ihr war er, wie viele seiner Kollegen, vor 10 Jahren aus zu sprechen, den er bei jeder Führung durch den Technikpark anderen Teilen Indonesiens nach Timika gezogen, um als wieder erzählt und erlebt: die Sprengung der Abraum-Förder- Zwei 30.10. – 01.11.2020 illegaler Goldwäscher seine Zukunft zu vergolden. Nach zwei brücke des Tagebaus Espenhain am 7. Mai 1997 – die symboli- Gold & Coal Stunden Fußweg durch die Tailings, zurück auf der Straße, sche Demontage einer historischen Arbeit, nun entsorgt auf Daniel Kötter/Sarah Israel/ steigen wir in das erste materialisierte Symbol der Zukunft: der Deponie der Geschichte. Chmieleski stand da mit seinen Elisa Limberg (DE) Manguns nagelneuen Kompakt-SUV, ausgekleidet mit oran- Bergbau-Kumpels, nur wenige Jahre nach dem staatlichen Bilder von Performance gefarbenem Kunstleder und 16 Lautsprecherboxen, die uns Systembruch, und erlebte also den Bruch im System seiner bei der Fahrt durch Timika mit Techno beschallen. Vor dem beruflichen und individuellen Identität. Und 22 Jahre später, in Sa 31.10.2020 kleinen Laden des einzigen lokalen Goldhändlers halten wir dem wiederkehrenden Moment der Erinnerung, läuft Wolf-Die- Konsequenzen globalen an. Auf die Brief-Waage auf dem Counter legt Mangun sein trich Chmieleski noch diese Träne über die Wange, Resultat Arbeit Rohstoffabbaus zwischen kleines Plastikbeutelchen mit dem Goldstaub, Resultat von einer gesellschaftlichen Abwertung von Arbeit und Destillat Leipzig und Papua zwei Wochen Arbeit und kapitalisierbares geologisches einer individuellen, nie offiziell sanktionierten Trauerarbeit in Gespräch mit Daniel Kötter Destillat einer zerstörten Landschaft. vermeintlich blühenden Landschaften. und Gästen Der Performance-Parkour „Gold & Coal“ von Leipzig. Gemeinsam mit dem Experimentalmusi- Daniel Kötter, Sarah Israel und Elisa Limberg be- ker Ikbal Lubys, dem Performer Darlane Litaay, der schäftigt sich mit lokalen und globalen Einflüssen Aktivistin Agustina Helena Kobogau, der bildenden des Rohstoffabbaus auf Landschaften und das Künstlerin Anna Zett und dem Choreografen und Zusammenleben von Menschen. Zwei massive, Tänzer Hermann Heisig begeben sich die Zuschau- weithin sichtbare Eingriffe aus verschiedenen Zei- er*innen auf eine immersive Reise durch vergan- ten werden in einer Parallelmontage untersucht: gene und gegenwärtige Energie-Landschaften. Eine Produktion von Kötter/Israel/Limberg in Koproduktion mit Residenz Timika, die aktuell größte Kupfer- und Goldmine Schauspiel Leipzig, PACT Zollverein Essen und Ethnictro Java. der Welt in West Papua/Indonesien, sowie das Der Künstler Daniel Kötter berichtet von zwei prä- Gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes und im stillgelegte Braunkohle-Tagebaugebiet rund um genden Begegnungen im Rechercheprozess. → Koproduktionsfonds des Goethe-Instituts. ARBEIT! 18 FESTIVAL 19
Eine Einstellung zur Arbeit 23.10. – 01.11.2020 Eine Einstellung zur Arbeit Nach einer Idee von Antje Ehmann und Harun Farocki. Ein Projekt von Antje Ehmann, Maschinen, Energien, Geräusche, Materialien Luis Feduchi und Eva Stotz Videoinstallation Leonie Kusterer, künstlerische Referentin in HELLERAU, sprach mit der Choreografin Irina Pauls über ihr neues Stück „shift change. SCHICHTWECHSEL”. Deine Choreografien „Labora“ und „shift change. SCHICHT- liche Verästelung gearbeitet. Zudem erzeugt die Taktung Das Künstler*innenpaar Antje Ehmann wegter oder statischer Kamera, mit Arbeitsverhältnisse in Warschau und WECHSEL“ thematisieren das Bewegungsfeld serieller Ar- eine innere Pulsation, auf die sich der Körper einstellt. und Harun Farocki führten von 2011 bis Originalton oder einem Sound-Design; Berlin niedergeschlagen hat. Am Ende beitsprozesse in den Fabriken der Industrialisierung. Wie Unser Körper reagiert nicht maschinell. Kann eine Bewe- 2014 in fünfzehn Städten weltweit Work- fast alle Optionen sind gegeben, nur des Jahres oder im Frühjahr 2021 ist ist diese Werkgruppe entstanden? gung genau wiederholt werden? Natürlich nicht. Also war shops zum Thema Arbeit durch. Seit darf nicht geschnitten werden. Gefilmt eine Ausstellung in Warschau geplant, Mich interessieren anthropologische Aspekte. Als Cho- für uns interessant, was mit den Körpern passiert, die in 2017 setzt Ehmann das Projekt zusam- wird in einer Einstellung. Mit diesen in der ausgewählte Filme, die vor und reografin beobachte ich Tänzer*innen im Arbeitspro- langanhaltende Wiederholungen gezwungen werden und men mit Eva Stotz und Luis Feduchi fort. Mitteln soll eine genaue Untersuchung während der Krise produziert wurden, zess. So habe ich gelernt, feinste Unterschiede in ihren keinen Bezug zum/zur Partner*in aufnehmen. „Eine Einstellung zur Arbeit“ untersucht des jeweiligen Arbeitsablaufs, seiner gezeigt werden. Bewegungsabläufen zu erkennen. Und Orte inspirieren Wie denkst du als Künstlerin über Arbeitswelten in der die gegenwärtigen Bedeutungen, Bedin- Choreografie und der Besonderheit mich zu künstlerischen Arbeiten. So war es auch mit Zukunft nach? gungen und Sichtbarkeiten von Arbeit der Tätigkeit möglich werden. Das so Alle Filme sind auf der dem Gelände der Leipziger Baumwollspinnerei „Spin- Wir sollten uns fragen, wie wir unser menschliches Zu- im globalen Vergleich. Dabei geht es entstandene Archiv von inzwischen Projekt-Homepage ne“, der größten Spinnerei Kontinentaleuropas Anfang sammenleben in Zukunft gestalten wollen. um die Produktion von Kurzfilmen, die über 400 Filmen zum Thema Arbeit www.labour-in-a-single-shot.net des 20. Jahrhunderts. Maschinen, Energien, Geräu- Mich beschäftigt, auf welches Körperwissen wir in in Kooperation mit lokalen Filmema- nimmt einen enzyklopädischen Cha- zu sehen. sche, Materialien – es sind die Arbeitsbedingungen, de- zukünftigen Technologien zurückgreifen wollen und cher*innen und Videokünstler*innen in rakter an, da es die vielfältigen Arbeits- nen sich der Körper unterordnen muss. Der Arbeitstakt inwieweit uns das vom Produkt entfernt. Workshops durchgeführt wird. Ein wich- realitäten eines globalen Kapitalismus Das Projekt ist eine Zusammenarbeit ist es, der die Menschen in körperliche Abläufe zwingt. Der Taktung sind wir nach wie vor unterworfen. Der Com- tiger Referenzpunkt ist der Filmklassi- dokumentiert. des Goethe-Instituts Warschau und der Harun Farocki GbR. Er beeinflusst nicht nur unsere Körper, sondern auch puter gibt uns den Arbeitstakt vor. Auch diese Arbeit wird ker der Lumière-Brüder, die Ende des Ehmann und Feduchi wollen „Eine Ein- unsere Beziehungen zueinander. bald museal sein. Unser Körperverständnis wird sich 19. Jahrhunderts Arbeiterinnen beim stellung zur Arbeit“ in Kooperation Wie hast du deine Rechercheergebnisse auf die choreogra- in diesem Prozess der Technisierung wandeln. Welche Verlassen der eigenen Lumière-Fabrik mit Filmemacher*innen und Künst- fische Ebene übertragen? Konsequenzen hat das auf unsere Lebenswelten? filmten. Die Suche nach diesem Motiv in ler*innen in Warschau und Berlin bis Ich habe mich mit der Energieübertragung bei Transmis- den jeweiligen Workshop-Städten und Oktober 2020 fortführen. Aufgrund sion-Maschinen beschäftigt. Die daraus resultierende die Herstellung von Remakes namens der Pandemie-Bedingungen wird die Taktung der Arbeitsbewegungen erzeugt durch ihre Sa/So 31.10./01.11.2020 „Arbeiter verlassen ihren Arbeitsplatz“ Zusammenarbeit zunächst haupt- ständige Wiederholung im Körper eine andauernde feine shift change. SCHICHTWECHSEL ist Bestandteil des Projektes. sächlich digital stattfinden. Eine gro- Resonanz. Mit dieser Resonanz auf bestimmte Körper- Irina Pauls (DE) Für alle Filme gilt: Es geht um Videos ße Rolle wird natürlich auch die Frage teile habe ich mit Tänzer*innen bis in die kleinste körper- Tanz/Performance von maximal 2 Minuten Länge; mit be- spielen, wie sich die Corona-Krise auf ARBEIT! 20 FESTIVAL 21
Zeit komponiert sie öfter und beson- ders gern für Orchester, wobei sie ihre boxes“ wie Synthesizer oder Computer. Enno Poppe verwendet Klänge der sech- Ich möchte beson- Weitere Programmpunkte bei „4:3“ sind aktuelle Arbeiten von Charlotte Triebus, Werke als Solistin z.B. mit dem BBC ziger und siebziger Jahre wie FM-Syn- dere Hörerlebnisse OEIN/PHOENIX16 (siehe dazu den Text Concert Orchestra, London Contem- porary Orchestra, den Düsseldorfer these oder Minimoog, die er dekonst- ruiert und neu zusammensetzt. Robert schaffen und von Michael Ernst in diesem Magazin auf S. 28), Konzerte zum 85. Geburtstag von Symphonikern, Orchestra Nationale de Henke erforscht die Schönheit einfa- die Perspektive Helmut Lachenmann sowie Uraufführun- Lyon oder Ensemble Modern aufführt. „In meinen elektroakustischen Kom- cher Grafiken und Töne unter Verwen- dung von Computern aus den frühen des Zuhörers gen der „Nächsten Generationen“: mit der Komponistenklasse Dresden und positionen konzentriere ich mich auf 1980er Jahren, befragt die Ambivalenz mit physikalischen dem Ensemble Contemporary Insights. Klangbewegungen, Raum und die Ver- bindung von Klang mit umfassenden zwischen zeitgenössischer Ästhetik und der Verwendung inzwischen veralteter und räumlichen 4:3 Kammer Musik Neu wird gefördert durch den Mitteln erweitern. Musikfonds e.V. aus Mitteln der Beauftragten der physikalischen Phänomenen. Ich möch- und beschränkter Technologien. Bundesregierung für Kultur und Medien. te besondere Hörerlebnisse schaffen und die Perspektive des Zuhörers mit physikalischen und räumlichen Mitteln erweitern. Dies ist z.B. in meinen Kom- positionen „GABA-analog“ und „Opus Infinity“ vorherrschend: Die Zuhören- den treten buchstäblich in die Kompo- sitionen ein und erhalten ihre eigene Version der Komposition, je nachdem, in welchem Winkel und in welcher Per- spektive sie sich im Raum befinden. In meinen Live-Elektronik- und Plat- Shiva tenspieler-Performances recycle ich Klang als Material und interpretiere ihn neu, indem ich ihn mit taktilen Bewe- gungen – fast wie in einer Choreogra- fie – zwischen mir und sich drehenden Feshareki Kreisen manipuliere. Damit verwandle ich Klangmaterial in neue Dimensionen und Perspektiven von unendlichen Pro- portionen. Mit „Opus Infinity", meiner Raumkomposition für Live-Elektronik, Plattenspieler, verstärktes Ensemble und Soundsystem (Uraufführung mit Multidimensional dem Ensemble Modern am 29. Februar 2020 in Frankfurt), habe ich ebenfalls Thinking eine Vielzahl von Praktiken in einen mul- tidimensionalen Prozess einbezogen – und auch hier war das Publikum frei in Shiva Feshareki ist eine am Experiment erinnere ich eine Vielzahl von Model- der Wahl seiner Perspektiven.“ interessierte Komponistin, die in ihrer len des Denkens, kreativer Prozesse Am 6. November 2020 wird in HELLERAU Praxis Aspekte von Akustik, Elektronik, und kreativer Zusammenarbeit. Auch das Festival „4:3“ mit BLACKBOX er- Kontext und Perspektive erforscht. heute fühle ich mich besonders wohl, öffnet, einem Konzertprogramm in „Vielleicht hilft mir mein transnationaler wenn ich mich zwischen verschiedenen drei Teilen: Enno Poppes Komposition und multikultureller Hintergrund, ver- künstlerischen und sozialen Szenen be- „Rundfunk“ (2018) für neun Synthesi- schiedene Aspekte in meiner Musik mit wege oder eine Außenseiterin in einem zer, Robert Henkes Projekt „CBM 8032 Leichtigkeit und gleichzeitig Tiefe zu er- Bereich oder einer Disziplin sein kann.“ AV“ (2019) für 5 Computer und die Ur- forschen. In der Londoner Gegend, in Inzwischen besitzt Shiva Feshareki ei- aufführung einer neuen Spatial-Kompo- der ich aufgewachsen bin, lebte ich in nen Doktortitel für Musik vom Royal sition von Shiva Feshareki. Alle Projekte einer der sehr wenigen nicht-westlichen College of Music (London) und zahlrei- verbindet eine besondere Neugierde Familien. Wenn ich dies mit meiner mul- che Auszeichnungen wie den britischen auf aktuelle wie „historische“ Techni- tikulturellen Erziehung kombiniere, in Komponist*innenpreis für Innovation ken der elektronischen Musik, auf die 06. – 08.11.2019 der ich vielfältige Perspektiven erlebte, der Ivors Academy (2017). Seit einiger Besonderheiten faszinierender „Black- 4:3 Kammer Musik Neu 4:3 KAMMER MUSIK NEU 22 FESTIVAL 23
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