Hessische mitteilungen - DAS VIRUS UND DIE DRITTE GEWALT - Richterbund Hessen
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INHALT IHRE VORTEILE ALS MITGLIED DES DEUTSCHEN RICHTERBUNDS: VORWORT 3 –B ezug der Deutschen Richterzeitung einschließlich exklusiver Exemplare juris- tischer Standardkommentare auf CD so- TITELTHEMA 4 wie exklusiver Zugriff auf „JURION“ (das digitale Wissenswerk) und die Deutsche Das Virus und die dritte Gewalt 4 Richterzeitung online im Internet (auch über App) – Gruppen-Diensthaftpflichtversicherung eJUSTICE 8 –S onderkonditionen zum Beispiel bei Versicherungen Videoverhandlung beim Amtsgericht Frankfurt am Main 8 –H aftpflicht- und Rechtsschutzversiche- rung Das E-JUSTIZ-Projekt der Bundesagentur für Arbeit 13 – Vorsorgewerk – k ostenlose DRiB-Visacard – vergünstigter Erwerb des ZR-Report.de BEZIRKSGRUPPEN 15 – v ergünstigte Teilnahme am Richter- und Staatsanwaltstag Aktivitäten der Bezirksgruppen 15 –F achforum für Mitglieder im Internet – im Einzelfall Rechtsschutz für Rechts- streitigkeiten mit dem Dienstherrn AKTUELLES 17 Das Beitrittsformular finden Sie Die Herbstausgabe des Jungrichterseminars in Berlin – auf Seite 31. Motivation und Inspiration 17 Bericht von der Podiumsdiskussion vom 29. November 2019: Zukunft der Justiz – Justiz der Zukunft 18 IMPRESSUM Zeitzeugengespräch mit Gerhard Wiese am 19. Februar 2020 HERAUSGEBER „Das Thema muss immer wieder in die Köpfe rein“ 20 Deutscher Richterbund Landesverband Hessen e. V. Gerichtsstraße 2 INTERVIEW 22 60313 Frankfurt am Main Interview mit Udo Scheu – „Man muss den Fall verhandeln“ 22 REDAKTION RiOLG Dr. Charlotte Rau (V. i. S. d. P.), RiLG Barbara-Luise Bendrick, LOStA a. D. Dr. Ursula Goedel, VERSCHIEDENES 29 OStA a. D. Peter Köhler, RiLSG Dr. Henning Müller, „Mach den Abflug!“ 29 RiAG Dr. Johannes Schmidt, RiLG Dr. Christine Schröder E-Mail: hemi@richterbund-hessen.de BEITRITTSERKLÄRUNG 31 SATZ UND DRUCK Wilke Mediengruppe GmbH Oberallener Weg 1, 59069 Hamm Telefon: 0 23 85-4 62 90-0 Telefax: 0 23 85-4 62 90-90 E-Mail: info@wilke-mediengruppe.de Internet: www.wilke-mediengruppe.de Zitiervorschlag: HeMi, Bildnachweis: Cover, S. 5, 6: p. c. a. p., S. 8, 9, 10, 11, 12: AG Frank- furt am Main – Frank Richter / Florian Franke, S. 21, 28: Charlotte Rau, S. 15: Flyer: © Städel Museum, Fotos: © Städel Museum – Norbert Mi- guletz, S. 17: Nathalie Roth, S. 18, 19: Christine Schröder, S. 20: Johannes Schmidt, S. 22: Udo Scheu, S. 29: Peter Köhler, Zeichnungen: Ralf Rinke www.richterbund-hessen.de 2 HeMi 1/2020
TITELTHEMA EDITORIAL VORWORT Liebe Kolleginnen und Kollegen, die zwischenmenschlichen Beziehungen auch in Pandemiezeiten nicht verkümmern die Corona-Pandemie stellt den demokratischen Rechts- und die im Alltag nunmehr erforderlichen staat vor bislang unbekannte Herausforderungen. Für eine Schutzmaßnahmen möglicherweise sogar verfassungsgemäße Balance zwischen den Polen von neue kreative Räume eröffnen. Herzlichen Zwang und Freiheit, von Schutz und Selbstverantwortung Dank an die Künstler für die schönen bedarf es der permanenten Feinjustierungen im Gefüge Zeichnungen und die überzeugende Ge- der drei Gewalten. So ist die Justiz, auch in Hessen, bereits staltung des Covers! in vielfältiger Weise mit Rechtsfragen zu Umfang und Dau- er der vorübergehenden Beschränkungen von Freiheits- Unser Redaktionsmitglied Henning Müller rechten befasst. berichtet über das E-JUSTIZ-Projekt der Charlotte Rau Bundesagentur für Arbeit und die zu erwartenden Auswir- Wie aber steht es mit der in Art. 97 GG verankerten Unab- kungen zunächst für die Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit hängigkeit der Justiz in Zeiten der Pandemie? Mit dieser aufgrund der hierdurch bedingten Digitalisierung von Ver- Fragestellung setzt sich der neue Landesvorsitzende des fahren. Richterbundes Hessen Johannes Schmidt im Leitartikel dieser Ausgabe der Hessischen Mitteilungen auseinan- Die Podiumsdiskussion vom 29. November 2019 hatte ein der. Ihm geht es nicht um eine inhaltliche Positionierung zu spannendes Thema: Zukunft der Justiz – Justiz der Zukunft. Einzelentscheidungen, die von Politik und Justiz getroffen Die von einem hochkarätigen Podium diskutierte Frage, wie werden. Angesichts der Dynamik und Unvorhersehbar- sich die dritte Gewalt unter digitalem Anpassungsdruck keit des Pandemiegeschehens wäre der Erkenntnisgewinn zu verhalten habe, stieß auf reges Interesse bei den zahl- einer solchen nur rückblickenden Analyse gerade in einem reichen Teilnehmern der Veranstaltung. Unser Redaktions- Printmedium äußerst überschaubar. Johannes Schmidt stellt mitglied Christine Schröder fasst in ihrem Beitrag die we- vielmehr die grundsätzliche Frage, wie sich die dem Infekti- sentlichen Thesen und Diskussionspunkte zusammen. Bei onsschutz geschuldeten Einschränkungen des richterlichen der sich anschließenden Mitgliederversammlung des Rich- Dienstbetriebs zu der verfassungsrechtlich geschützten terbundes Hessen wurde Johannes Schmidt zum neuen richterlichen Unabhängigkeitsgewähr als zentraler Grund- Landesvorsitzenden gewählt. Seine Vertreter sind Charlot- bedingung eines funktionsfähigen Rechtsstaates verhalten. te Rau und Volker Mütze. Herzlichen Glückwunsch an den Untersucht werden sowohl der leistungs- als auch der teil- neuen Vorsitzenden! Großer Dank der Redaktion auch im haberechtliche Schutzaspekt des Art. 97 GG. Mit dem Ver- Namen aller Mitglieder des Richterbundes Hessen gilt an ständnis der Unabhängigkeitsgewähr als einer wichtigen dieser Stelle dem auf eigenen Wunsch aus dieser Positi- Ermöglichungsnorm sei zu mobilisieren und gegebenenfalls on ausscheidenden bisherigen Vorsitzenden Daniel Saam zu beschaffen, was für die Ermöglichung und Förderung und seiner Stellvertreterin Isabel Jahn. Sie waren über viele einer infektiologisch sicheren Dienstausübung notwendig Jahre hinweg die Gesichter des Richterbundes Hessen und sei. Das Zwischenfazit ist zuversichtlich: So sei die Innova- haben sich engagiert und kompetent für die Belange der tionskraft der Justiz gerade im Hinblick auf die technische Kolleginnen und Kollegen eingesetzt. Ausstattung in den letzten Monaten positiv zutage getreten. Als eine neue Rubrik finden Sie in dieser Ausgabe eine kur- Der Vizepräsident des Amtsgerichts Frankfurt am Main ze Auflistung von Aktivitäten der Bezirksgruppen, allen vo- Frank Richter gibt in seinem Erfahrungsbericht über das ran natürlich dem Wiesbadener Juristenball vom 17. Januar Pilotprojekt von mündlichen Verhandlungen per Videokon- 2020. Es bleibt zu hoffen, dass solche großartigen Veranstal- ferenztechnik ein praktisches Beispiel für gerade in Pande- tungen bald wieder für uns alle möglich sein werden. miezeiten sinnvolle Innovationsschübe innerhalb der Justiz. So stoße die zuvor kaum genutzte Möglichkeit der Videover- In einem lesenswerten Interview berichtet der ehemalige handlung nach § 128 a ZPO pandemiebedingt auf ein zu- Leiter der StA Frankfurt und ehemalige Hessische Landes- nehmend breites Interesse der Richterschaft, welches sich polizeipräsident Udo Scheu über seine Erfahrungen in der auch im Interesse der Anwaltschaft entsprechend spiegele. Justiz, die ihm bis heute vielfältigen Stoff für seine Kriminal- romane liefern. Auch Ralf Rinke und das Künstlerkollektiv p.c.a.p. haben sich Gedanken zum Titelthema dieses Heftes „Das Virus und Wir hoffen, dass auch diese – nunmehr auf Naturpapier ge- die dritte Gewalt“ gemacht und ihre Ideen hierzu visualisiert. druckte – Ausgabe der Hessischen Mitteilungen für Sie wie- So sehen wir RiOLG Blümlein nun mit Mund-Nasen-Schutz, der eine überzeugende Mischung aus informativen, nach- auch wenn die erforderliche Ernsthaftigkeit noch etwas zu denklichen und humoristischen Beiträgen enthält. Viel Spaß wünschen lässt. Der von seiner Frau Helga auf dem Schutz bei der Lektüre! hinterlassene Lippenstiftabdruck zeigt uns zumindest, dass Charlotte Rau HeMi 1/2020 3
TITELTHEMA DAS VIRUS UND DIE DRITTE GEWALT Das Virus bestimmt noch im- Einschränkungen um Anregungen oder geäußerte mer unser aller Leben und Erwartungen, Aufforderungen und verbindliche schränkt die Möglichkeiten der Anweisungen handelt, ändert an deren Eingriffs- Dienstverrichtung als Richterin/ charakter bekanntlich nichts Entscheidendes. Die Richter, Staatsanwalt/Staatsan- hessenweit ausgesprochene und in ihren Folgen wältin in ungewohnter Weise für die Rechtsuchenden auch öffentlich kommu- ein. Infolgedessen hat auch die nizierte Empfehlung, den Sitzungsbetrieb nach Justizverwaltung Maßnahmen Möglichkeit einzuschränken, war allerdings am ergriffen, die ihrerseits für den Maßstab des Art. 97 GG nicht zu beanstanden. Dienstbetrieb beschränken- Sie findet ihre offenkundige Rechtfertigung in der de Wirkungen entfalten. Dazu Schutzpflicht gegenüber Leben und Gesundheit zählt z. B. die Empfehlung, den aller Menschen im Gerichtsgebäude unter Be- Sitzungsbetrieb zu reduzieren. rücksichtigung der hohen Ansteckungsgefahr und Je länger solche Maßnahmen großen Streubreite des Virus (instruktiv: VGH Kas- Johannes Schmidt aufrechterhalten bleiben oder sel (8. Senat), Beschluss vom 08.04.2020 – 8 B sogar verschärft werden könnten, desto dringlicher 910/20.N). Gerade in der Anfangsphase der Epide- ist zu fragen, wie sich die verfassungsrechtliche mie sind auch die tatsächlichen Beschränkungen Gewähr einer unabhängigen Rechtsprechung zum bei der Identifizierung und Bereitstellung der ge- gesamtgesellschaftlichen Krisenbewältigungsauf- botenen Schutzmaßnahmen anzuerkennen. Dass trag verhält. dennoch nicht ganze Gerichtsstandorte geschlos- sen werden mussten, ist erfreulich, wäre aber si- GEWÄHR DER RICHTERLICHEN cher ebenfalls als Vorsichtsmaßnahme für eine ge- wisse Zeit hinzunehmen gewesen (vgl. in diesem UNABHÄNGIGKEIT Sinn DGH Mecklenburg-Vorpommern a. a. O.). Relativ einfach lässt sich dieses Verhältnis in Be- Sofern wir hoffen dürfen, den Zustand der Erstar- zug auf die zurückliegende Frühphase der Ausbrei- rung allmählich zu verlassen, ist für die Zukunft tung der Krankheit bestimmen. Für diese gilt zwar, klärungsbedürftig, wie sich die zentrale Grund- dass in den pandemiebedingten Einschränkungen bedingung eines funktionsfähigen Rechtsstaates, des Dienst- und insbesondere des Sitzungsbe- nämlich die Unabhängigkeitsgewähr, auf die wei- triebs unmittelbare Eingriffe in den Kernbereich terhin notwendigen Abweichungen vom gewohnten der richterlichen Unabhängigkeit zu sehen sind Gang des Dienstbetriebs auszuwirken hat. (vgl. DGH Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 6. April 2020, 12 M 265/20 DGH). Ob es sich Der Richterbund Hessen geht nach wie vor davon bei den durch die Gerichtsleitungen empfohlenen aus, dass die für den Infektionsschutz in den Ge- richtsgebäuden zuständigen Stellen äußerste An- strengungen unternehmen, um die Beschränkun- gen so bald wie möglich obsolet werden zu lassen. Wir sehen einerseits das Bemühen, die abstrakten und konkreten Empfehlungen zum Infektionsschutz im Wesentlichen umzusetzen sowie die vielfältigen Anregungen aus dem Kollegenkreis aufzunehmen. UMSETZUNG DER EMPFEHLUNGEN ZUM INFEKTIONSSCHUTZ IN DER JUSTIZ Während des künftigen Verlaufs der Pandemie sind solche äußersten Anstrengungen anderer- seits auch zum Fortbestand der Rechtfertigung der 4 HeMi 1/2020
TITELTHEMA Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit verfas- sungsrechtlich geboten. Art. 97 GG entfaltet dabei zwei Schutzwirkungen, nämlich leistungs- und teil- haberechtlichen Schutz. BESCHAFFUNGSPFLICHT DER JUSTIZVERWALTUNG Die Justizverwaltung trifft zunächst eine Beschaf- fungspflicht hinsichtlich der zum geordneten Dienstbetrieb notwendigen Ausrüstung. Art. 97 GG entfaltet dabei im Zusammenwirken mit dem Rechtsstaatsprinzip eine leistungsrechtliche Di- mension: Etwaige Ausstattungsmängel der Ju- stiz können nach ständiger Rechtsprechung zum Rechtsstaatsprinzip und zu den Justizgrundrechten Eingriffe in die Grundrechte der Bürger nicht recht- fertigen. Gravierende Ausstattungsmängel können darüber hinaus auch die richterliche Unabhän- gigkeit verletzen (offenlassend noch BGH NJW 2005, 905). Dies gilt jedenfalls dann, wenn unver- zichtbare Arbeitsmittel fehlen (vgl. Maunz/Dürig, 89 EL, Art. 97 Rn. 91). Hierzu sind praxistaugliche VERHANDELN UNTER und wirksame Vorkehrungen gegen Infektionsri- CORONA-BEDINGUNGEN siken gegenwärtig leider zu zählen. Ferner sind die Beschaffungspflichten über Art. 33 Abs. 5 GG, Für das Verhandeln unter Corona-Bedingungen § 46 DRiG i. V. m. § 45 BeamtStG auch Bestandteil kann dies z. B. bedeuten, dass ein an die ver- der Fürsorgepflicht. Zu deren Kern gehört, dass die änderten Bedingungen angepasstes, faires und Gesundheit der Richter und Staatsanwälte durch ermessensfehlerfreies Sitzungssaalmanagement die amtliche Tätigkeit nicht gefährdet wird. Kosten- erforderlich werden könnte. Eine solche Notwen- argumente dürfen aufgrund der verfassungsrecht- digkeit kann dann entstehen, wenn der Infektions- lichen Verankerung dieses Leistungsgebots weder schutz die bisherige Auslastung der Säle nicht die schnelle noch die umfassende Beschaffung mehr zulässt, falls der volle Sitzungsbetrieb wie- solcher Vorkehrungen beeinträchtigen, weshalb der aufgenommen werden sollte. Die bisherige es überflüssig scheint, auf die ohnehin verhältnis- Verteilung von Sitzungssälen wird vielerorts nicht mäßig geringe Kostenzusatzbelastung ausführlich unverändert beibehalten werden können, da Min- einzugehen. destabstände zu gewährleisten sind. Vergleichbare Verteilungsprobleme können sich beim Zugang zu TEILHABEDIMENSION DES Videokonferenzanlagen, Schutzmasken, Abtren- nungen oder künftigen Impfmöglichkeiten ergeben. ART. 97 GG Die Einführung von Mitbestimmungsrechten der Gremien wäre hier ein wichtiger Beitrag zur Kon- Genauso wichtig wie der leistungsrechtliche Aspekt fliktvermeidung. ist die Teilhabedimension des Art. 97 GG, die allen Kolleginnen und Kollegen einen gleichmäßigen Zu- Art. 97 GG kann durch seine Leistungs- und Teilha- gang bei der Nutzung der vorhandenen Ausstattung befunktionen gerade bei unvorhersehbaren Krisen garantiert. „Der Richter hat einen Anspruch darauf, eine wichtige Ermöglichungsnorm darstellen. Für dass er bei der Zuteilung der vorhandenen, für die die gegenwärtige Krise sollte in Bezug auf die Ju- Arbeit erforderlichen personellen und sachlichen dikative als verfassungsrechtlicher Entscheidungs- Mittel in ermessensfehlerfreier Weise berücksichtigt maßstab gelten, dass zu mobilisieren und ggf. zu wird. Werden ihm die für seine richterliche Tätigkeit beschaffen ist, was notwendig für die Förderung notwendigen Mittel nicht in dem möglichen Maße der infektiologisch sicheren Dienstausübung ist. zur Verfügung gestellt, kann eine Beeinträchtigung Was an Sachmitteln vorhanden ist, muss nutzbar der richterlichen Unabhängigkeit vorliegen“ (BGH sein. NJW 2003, 282, 283). HeMi 1/2020 5
TITELTHEMA KEINE RÜCKKEHR ZUM STATUS QUO Die von Art. 97 GG, dem Rechtsstaatsprinzip und den Justizgrundrechten eingeforderte und durch pragmatisches und lösungsorientiertes Handeln eingeleitete Ermöglichungsphase muss über die Dauer der Krise hinaus unbedingt aufrechterhalten bleiben. Ein Nachlassen oder gar eine unhinterfragte Rückkehr zum Status quo kann es nicht geben, auch weil die Ermöglichungsnorm Art. 97 GG den „Inno- vationsrückbau“ gar nicht ohne Weiteres zulassen dürfte. Dass es dennoch so kommen könnte, ist nicht zu hoffen, nach der Krisenrhetorik in der hessischen Justiz aber auch nicht auszuschließen, nach der auf ein „Herunterfahren“ zwangsläufig das „Wiederan- fahren“/„Hochfahren“ oder der „Normalbetrieb“ fol- gen muss. Die Sehnsucht der Berufsjuristen nach Orientierung verlangt nach klar abgrenzbaren, sub- sumtionsfähigen Kategorien. Es gilt das Dichterwort: Bei dieser Mobilisierung haben die handelnden „Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort Personen vieles richtig gemacht, was Dank und zur rechten Zeit sich ein.“ Die unmittelbare (goethe- Anerkennung verdient. Auch zahlreiche Kolle- anische) Anschauung hat uns aber ein viel stärker ginnen und Kollegen haben die Justizverwaltung geschichtetes Dienstgeschehen gezeigt, und zwar mit Anregungen und Improvisationstalent tatkräf- individuell in allen Schattierungen des Diensteifers, tig unterstützt. Auf Gesetzgebungsebene hat der der Professionalität und der persönlichen Krisen- DRB wichtige Gesetzgebungsvorhaben, wie z. B. festigkeit auf allen Hierarchieebenen. Ein Stillstand die Verlängerung der Unterbrechungsfristen für oder auch nur ein kurzfristiges Anhalten des gesam- Strafprozesse, mitangestoßen und geprägt und ten Systems der Rechtspflege war dabei trotz aller befindet sich in Berlin in ständigem Austausch mit neuen Herausforderungen und Beeinträchtigungen den zuständigen Ministerien. Auch Vorschläge des nirgendwo festzustellen. Wer vom „Wiederanfah- Richterbundes Hessen sind zu Positionen auch der ren“/„Hochfahren“ oder der Rückkehr zum „Normal- Leitungsebene geworden (siehe z. B. die an die betrieb“ spricht, sollte sich der Schiefe des Bildes Bundesministerin der Justiz gerichtete Forderung bewusst sein. Die „Normalität“ des anzustrebenden der Staatsministerin nach einer Ausweitung von Vi- Dienstbetriebs wird bei alledem durch einen Ex-ante- deoverhandlungen und schriftlicher Verfahren und Vergleich mit dem bis Ende Februar herrschenden nachfolgend BRat Drs. 211/20). Ist-Zustand, nicht aber durch eine Beschreibung des Soll-Zustands der Justiz nach dem Abebben der TECHNISCHE AUFRÜSTUNG akuten Ausbreitung der Epidemie konstruiert. Inso- weit wäre die Rückkehr zum „Normalbetrieb“ auch In für Justizverhältnisse atemberaubender Ge- eine Rückkehr zu dessen Einschränkungen, also ein schwindigkeit hat die sicherheitstechnische Auf- (sprachlogisch problematischer) „eingeschränkter rüstung von Sitzungssälen begonnen. Auch die Normalbetrieb“. abrupt gestiegene, wenn auch noch ausbaufähige Akzeptanz von im Wirtschaftsleben seit langer Zeit Die Vorkrisenthemen der konstruktiv-kritischen Arbeit gängigen technischen Innovationen, vor allem der des Richterbundes Hessen, wie z. B. Gremienbetei- Videokonferenztechnik, ist erfreulicherweise fest- ligung, Besoldung, Belastung, Beteiligung, Ausstat- zustellen. Aus der Vielzahl der weiteren Beispiele tung, E-Akte, (IT-)Sicherheit und Organisation der soll hier nur die Amtshilfe des Geldmuseums der Eil- und Bereitschaftsdienste, sind schließlich nicht Bundesbank genannt werden, die dem Landgericht verschwunden. Sie werden gegenwärtig nur von Frankfurt als Leihgabe eine Personenführungsanla- einem alles beherrschenden Thema überlagert. Es ge („Tourguide“) mit Funkmikrofon und empfangs- bleibt zu hoffen, dass die Pandemie-Folgen vorhan- fähigen Endgeräten eingebracht hat und die fortan dene Defizite nicht wesentlich verschärfen werden ein sicheres und effizientes Simultandolmetschen in und die in der Krise schüchtern zutage getretene Strafprozessen ermöglichen könnte. Prädikat: Zur Innovationskraft der Justiz durch eine gemeinsame dauerhaften Anschaffung dringend empfohlen! Anstrengung des Staates erhalten bleibt. Johannes Schmidt, Landesvorsitzender 6 HeMi 1/2020
TITELTHEMA eJUSTICE ERFAHRUNGEN MIT § 128 A ABS. 1 ZPO VIDEOVERHANDLUNG BEIM AMTSGERICHT FRANKFURT AM MAIN VIDEOKONFERENZ IM ZIVILPROZESS Rechtsgrundlage: § 128 a ZPO. Ermöglicht wechselseitige Bild-Ton-Übertragung zwischen Gerichts- saal und z. B. Anwaltskanzlei mittels Videokonferenzanlage. Anordnung durch unanfechtbare Ermessensentscheidung des Gerichts. Zuschaltung von Personen außerhalb des Gerichts erfolgt auf freiwilliger Basis, d. h., Parteien/Beweis- personen/Zuschauer dürfen stattdessen auch erscheinen. Die Saalöffentlichkeit bleibt stets gewährleistet. Möglich sind z. B.: mündliche Verhandlung, informatorische Anhörung, auf Antrag Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und Parteien, Zuschaltung eines Dolmetschers, Beweisaufnahme in einem anderen EU-Land nach Art. 17 EU-BeweisaufnahmeVO. Fluggastrechte, immer wieder Fluggastrechte … insgesamt etwa 15.000 Verfahren im letzten Jahr. Diese Verfahren machten aus der Idee einer Vi- deoverhandlung ein Pilotprojekt beim Amtsgericht Frankfurt am Main. Die Möglichkeit der mündlichen Verhandlung per Videokonferenztechnik hatte der Gesetzgeber in § 128 a Abs. 1 ZPO zwar seit vielen Jahren eröffnet, die Praxis hat diese Vorschrift aber bislang weitest- gehend ignoriert. Die Gründe dafür sind vielfältig, einerseits sind die gewohnten Sitzungstage Rich- tern quasi „heilig“, andererseits schien auch kein Bedürfnis nach einer wirklichen Veränderung der Gerichtspraxis zu bestehen. Verfahrensbeteiligte haben sich an den Ablauf bei Gericht gewöhnt, so- wohl an das Warten vor den Gerichtssälen als auch an das Schicken von Unterbevollmächtigten und die starren Terminsvorläufe. Auch wenn innerhalb der Kanzleien bereits mit Mandanten im Netz ge- chattet wird und Unternehmen ihre Meetings online abhalten, schien eine solche Vorgehensweise in der gerichtlichen Praxis irgendwie nicht vorstellbar. Diese Vorstellungen haben sich in den ersten Wo- chen der Corona-Pandemie schnell grundlegend gewandelt, auch wenn die Initiatoren des Pilotpro- jekts sich dies nicht hätten vorstellen können. Aber zurück in den Frühling 2019. Frank Richter 8 HeMi 1/2020
TITELTHEMA eJUSTICE TEILNAHME AN EINER VIDEOVERHANDLUNG IN CHINA Während einer Delegationsreise nach China im Rahmen eines von der GIZ und der Robert-Bosch- Stiftung organisierten Richteraustausches durften einige Kollegen an einer Zivilverhandlung am Land- gericht in Hangzhou teilnehmen, die komplett im Internet stattfand. Das Gericht hatte einen beson- deren Verhandlungssaal, in dem wir als Zuschauer Platz fanden. Die Parteien und ihre Rechtsanwälte waren per Video zugeschaltet. Dabei nutzten die Parteien ihr eigenes Handy für die Teilnahme an der Gerichtsverhandlung über das chinaweite WeChat- Programm, ein dem hier bekannten WhatsApp sehr ähnliches Programm. Der „Vorteil“ der chine- sischen Version besteht darin, dass eine eindeutige Zuordnung des Nutzers zu einer Person möglich ist, das Gericht also sicher sein konnte, dass der Nutzer mit der Partei identisch ist. Die Zivilverhand- lung selbst folgte ähnlichen Regelungen, wie wir sie aus der ZPO kennen, und beide Parteien schlos- sen am Ende der Verhandlung einen Vergleich, den das Gericht dann protokollierte. Faszinierend für anstalten verfügen über diese technische Landes- uns Zuschauer war die Effizienz dieser Verhand- lösung. Da das Amtsgericht Frankfurt nicht selbst lung, da uns sofort bewusst wurde, welche Zeiter- über eine solche Anlage verfügt, wurde mit dem sparnis sich hier für die Parteien gegenüber einer Landgericht Frankfurt am Main vereinbart, eine der „klassischen“ mündlichen Verhandlung ergeben beiden dort vorhandenen Videokonferenzanlagen hatte, da die Entfernungen in China selbst inner- leihweise einen Tag in der Woche dem Amtsgericht halb einer Provinz viele Stunden betragen können. zur Verfügung zu stellen. Der Einsatz bekannter Vi- Dazu kam, dass sich die Verhandlung auch im Ge- deokonferenzdienste wie Skype, WhatsApp oder richtssaal „echt“ anfühlte. Nach kurzer Zeit waren Zoom wurde aus Datenschutzgründen zwar ge- für die Betrachter die Personen aufgrund der guten prüft, dann aber zunächst verworfen. Die hessische Bildübertragung fast real, und die Kommunikation Lösung des Hessenconnect, inhaltsgleich mit der erfolgte ohne merkliche Einschränkung. Wir waren Lösung „Skype for Business“, könnte hier jedoch fasziniert und erkannten das große Potenzial dieser in Zukunft eine einfache technische Lösung bieten, technischen Möglichkeiten. sofern das Hessische Ministerium der Justiz und der IT-Sicherheitsbeauftragte der hessischen Justiz TECHNISCHE AUSSTATTUNG der Nutzung zustimmen. UND DATENSCHUTZ ORGANISATION UND Wieder zurück beim Amtsgericht Frankfurt am VORBEREITUNG DER ERSTEN Main stellte sich für ein Pilotprojekt zunächst die VIDEOVERHANDLUNG Frage der technischen Ausstattung für eine Video- verhandlung. Einerseits musste der Datenschutz Dann galt es, für ein Pilotprojekt interessierte durch Verschlüsselungstechnik gewährleistet sein, Rechtsanwaltskanzleien zu gewinnen. Dabei fiel andererseits mussten die Parteien des Prozesses die Wahl zunächst auf die Rechtsanwaltskanz- eine technische Plattform erhalten, welche sie in leien des größten deutschen Fluggastrechteportals ihren Kanzleien nutzen können. Für das Land Hes- „Flightright“, da auf dieses Portal ein Großteil der sen bietet die Hessische Zentrale für Datenverar- Fluggastrechteklagen nach der EU-Verordnung beitung (HZD) hierfür ein Angebot, das alle Dienst- 261/2004 beim Amtsgericht entfielen. Interesse stellen und Behörden des Landes Hessen nutzen zeigte auch die prozessbeauftragte Rechtsanwalts- können. Diese Technik ist seit vielen Jahren beim kanzlei einer großen irischen Fluglinie. Alle Rechts- Hessischen Finanzgericht in Kassel im Einsatz, anwaltskanzleien waren außerhalb Frankfurts an- und auch viele Landgerichte sowie Justizvollzugs- sässig und schickten bislang zu den mündlichen HeMi 1/2020 9
eJUSTICE Verhandlungen entweder Terminsbevollmächtigte oder aber reisten selbst zu den Terminen aus Ham- burg und Mannheim an. Die dabei investierte Zeit für die eigene Anreise steht dabei in aller Regel in keinem Verhältnis zum Streitwert, erklärt sich aber daraus, dass auf die grundlegende Rechtspre- chung der Instanzgerichte hingewirkt werden soll. Vom jeweiligen Mandanten wird dazu teilweise eine persönliche Teilnahme an der mündlichen Verhand- lung erwartet. Die ersparte Reisezeit ist aus Sicht der beteiligten Anwaltskanzleien ein großer Gewinn bei Videoverhandlungen, dazu kommt die Sach- kunde des jeweiligen Prozessbevollmächtigten, welcher ohne Aufwand seine eigenen Fälle vor Ge- richt vertreten kann. Dieser Vorteil erweist sich im Pilotprojekt auch als qualitativer Vorteil für die Rich- terinnen und Richter, denn so sind Vergleiche und vereinzelt Klagerücknahmen leichter erreichbar, als wenn über Terminsvertreter und Widerrufsverglei- che gearbeitet werden muss. Die angesprochenen Rechtsanwaltskanzleien waren alle sofort begeis- tert zu einer Teilnahme bereit. Konkret wurden sodann in einer Arbeitsgruppe La- Medien sehr positiv schilderte. Noch am Nach- dungsformulare entworfen, welche Zusätze zu den mittag rief die Hessenschau an und fragte, ob sie üblichen EUREKA-Vordrucken enthielten. Darin denn morgen beim Probelauf dabei sein könnte. wurde ausgeführt, dass die Teilnahme per Video Gleiches erklärten mehrere Pressevertreter. Also lediglich eine Option darstelle und die angespro- startete am Freitag, dem 20. Dezember 2019, um chene Anwaltskanzlei ihre Zustimmung zu einer 10:00 Uhr die Videoverhandlung nicht im Wege Videoverhandlung erklären solle. Dazu wurden mit eines kleinen Testlaufs, sondern mit einem vollen der Ladung bereits die Einwahldaten für die Video- Sitzungssaal inklusive Fernsehteam. Diese mediale konferenz am geplanten Verhandlungstag beige- Aufmerksamkeit war durchaus fordernd, denn als fügt, sodass bis zum Verhandlungstermin diesbe- um 9:58 Uhr noch kein Verhandlungspartner auf züglich nichts weiter unternommen werden muss. der Videoleinwand erschienen war, wurden alle Be- Die Einwahldaten hatte die Systembetreuung be- teiligten im Saal doch etwas unruhig. reits bei der HZD für alle Verhandlungstage in den nächsten drei Monaten vorab beantragt. Pünktlich gegen 10:00 Uhr schalteten sich dann aber die Prozessbevollmächtigten der beklagten Nach dieser Vorbereitung begannen sodann vier Fluggesellschaft aus Hamburg zu, und die erste Kolleginnen und Kollegen im November 2019 mit Videoverhandlung fand teils als präsente Verhand- der Terminierung erster Videoverhandlungen. Der lung und teils als Videoverhandlung statt. Der Klä- Start sollte noch vor Weihnachten erfolgen, und so gervertreter war persönlich mit seinen Mandanten wurden die ersten Videoverhandlungen auf den 20. im Sitzungssaal erschienen, der Prozessbevoll- Dezember terminiert. mächtigte der Fluggesellschaft per Video. Nach kurzer Eingewöhnungszeit entwickelte sich ein re- GROSSE MEDIALE ger juristischer Dialog, der die räumliche Trennung schnell vergessen ließ. Die Verhandlung lief ab wie AUFMERKSAMKEIT sonst auch, vielleicht etwas geordneter, da alle Beteiligten darauf achteten, sich gegenseitig aus- Eigentlich war beabsichtigt, diese ersten Verhand- reden zu lassen. Aus richterlicher Sicht ergab sich lungen als ersten Test ohne große mediale Aufmerk- keine Besonderheit, da das Protokoll per Diktier- samkeit durchzuführen … gerät wie im üblichen Zivilverfahren erstellt wurde. Die folgende Verhandlung erfolgte in der Konstel- Tatsächlich war genau das Gegenteil der Fall: Das lation des gleichen Prozessvertreters der Flug- am Pilotverfahren beteiligte Fluggastportal gab gesellschaft und eines Terminsbevollmächtigten einen Tag vor dem Testlauf eine Presseerklärung der Klägerseite. Diese Verhandlung ähnelte stark heraus, in der es das Pilotprojekt gegenüber den der ersten. Die dritte Verhandlung des Tages war HeMi 1/2020 11
eJUSTICE dann die erste echte reine Videoverhandlung. Der Klägervertreter aus Köln schaltete sich per Video zu, der Beklagtenvertreter der Fluggesellschaft aus Hamburg war weiterhin in der Leitung geblieben. Nach insgesamt etwa 50 Minuten waren diese drei ersten Videoverhandlungen beendet, zwar ohne Vergleich, aber mit reger juristischer Diskussion. Danach folgten Videoverhandlungen einer Kol- legin, denen allesamt die gleiche Konstellation zugrunde lag: ein Streik der Piloten der beklag- ten Fluggesellschaft. Die Kollegin erledigte sechs dieser Verhandlungen in 25 Minuten inklusive aller Protokollierungen. Hier zeigte sich, dass bei einer entsprechenden Vorbereitung auch Zeitersparnisse aufseiten des Gerichts möglich sind. ZWISCHENFAZIT UND AUSBLICK Bereits nach wenigen Monaten sind Videoverhand- lungen für die vier Kolleginnen und Kollegen im Pilotprojekt als positive Ergänzung der normalen Zivilverhandlungen zum Alltag geworden. Dann kam die „Corona-Krise“, und sehr viele weitere Kol- leginnen und Kollegen würden diese Möglichkeiten Die Videoanlage kann von Montag bis Freitag von gerne kurzfristig ebenfalls nutzen. Dank zweier sehr allen interessierten Richterinnen und Richtern sämt- engagierter Kollegen haben wir mittlerweile für das licher Sachgebiete genutzt werden. Das Interesse Amtsgericht Frankfurt am Main eine Videopräsenta- der Rechtsanwaltschaft ist groß, gerade in den ver- tion erstellt, in der von der Terminierung bis zur kon- gangenen Wochen haben sich mehrere Kanzleien kreten Durchführung der Videoverhandlung alles um Zugangsinformationen zur Teilnahme an den einfach, strukturiert und auch für technische Laien Videoverhandlungen bemüht. verständlich dargestellt wird. Wir alle sind sehr froh, in der aktuellen Zeit auf eine solche technische Lösung zugreifen zu können, welche die Einhaltung der Vorschriften zum Infek- tionsschutz und zugleich ein effektives juristisches Verhandeln mit hohem Qualitätsanspruch ermög- licht. Verschiedene Amts- und Landgerichte anderer Bundesländer haben sich bereits nach dem Pilot- projekt des Amtsgerichts Frankfurt am Main erkun- digt und unternehmen ebenfalls eigene Aktivitäten. Nach meiner Überzeugung liegen in der Videover- handlung erhebliche Potenziale und eine große Zu- kunft. Für die Richterinnen und Richter wird sie in den nächsten Jahren zu einer normalen Verhand- lungsform werden. Der Digitalisierung wird in der jetzigen Krise die Zukunft gehören. Wir können nur hoffen, dass die finanziellen Mittel zur Umsetzung der dringend notwendigen Investitionen geschaffen werden. Frank Richter, Vizepräsident des Amtsgerichts Frankfurt am Main 12 HeMi 1/2020
eJUSTICE eGOVERNMENT IM XXL-MASSSTAB DAS E-JUSTIZ-PROJEKT DER BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT Unbeirrt durch die Pandemielage schreitet bundes- diese ihre Akten mit vielen tausend Seiten und weit ein eGovernment-Großprojekt voran, dessen vielen hundert Megabyte an die Gerichte senden Auswirkungen für die Sozial- und Finanzgerichts- kann. Die Gerichte können die Akten aber nicht zur barkeit immens sein werden. Die Bundesagentur Akteneinsicht an die Prozessvertreter der Kläger für Arbeit (BA) geht mit ihrem Projekt E-JUSTIZ-BA weiterleiten, weil dort die Größenbeschränkungen auf die Zielgerade. Hierzu gehören die flächen- weitergelten. Das Justizfachverfahren EUREKA- deckende Einführung des elektronischen Rechts- Fach musste deshalb kurzfristig ertüchtigt werden, verkehrs über die besonderen elektronischen die BA-Akten flexibel in mehrere „Päckchen“ auf- Behördenpostfächer (beBPo) der BA und die aus- zuteilen. Was leicht klingt, war technisch hochan- schließliche Nutzung elektronischer Behördenakten spruchsvoll, gelang aber rechtzeitig. durch die BA selbst, aller Jobcenter mit BA-Betei- ligung sowie der Familienkassen. In der Sozialge- FORM DER ELEKTRONISCHEN richtsbarkeit werden dadurch rund 25 % aller Ver- fahren deutlich digitaler. BEHÖRDENAKTEN DER BA SPORTLICHER ZEITPLAN Die Behörden bestimmen die Form ihrer Aktenfüh- rung selbst. Prozessrechtliche Vorgaben gibt es Seit dem 6. April 2020 läuft der elektronische nicht; die ERVV gilt für Behördenakten nicht, weil Rechtsverkehr mit den Familienkassen, seit dem die Vorlage der Akten Teil des Beweisrechts ist. Die 20. April 2020 kommuniziert die BA auch in allen BA wird für ihre Akten eine dem XJustiz-Standard SGB-II- und SGB-III-Angelegenheiten ausschließ- entsprechende Struktur vorsehen. Bei der elektro- lich elektronisch. Die Sozial- und Finanzgerichte nischen Übermittlung an Gerichte und Verfahrens- sind hierauf gut eingestellt, kommunizieren sie doch beteiligte erhält der Empfänger die einzelnen Do- selbst seit vielen Jahren möglichst ausschließlich kumente der Akte jeweils als Einzel-PDF-Dateien, elektronisch. deren Kontext und Chronologie (nur) durch einen XJustiz-Datensatz hergestellt werden. Die Darstel- Ab dem 17. August 2020 kommt allerdings noch der lung kann (sinnvoll nur) mit einem XJustiz-Viewer elektronische Versand sämtlicher beigezogener Be- erfolgen. Die Gerichte sind hierauf vorbereitet; hördenakten der BA hinzu. Die Akten des beklagten das in Hessen eingesetzte Justizfachverfahren Verwaltungsträgers werden gem. § 104 SGG bzw. EUREKA-Fach verfügt über einen entsprechenden § 89 FGO obligatorisch in sämtlichen Gerichtsver- Viewer. Schulungen für die Richterinnen und Rich- fahren beigezogen. Da sich in Hessen keine pas- ter werden inhouse durch die Gerichtsbarkeiten sende Pilotbehörde seitens der BA gefunden hat, durchgeführt. beginnt der Echtbetrieb im Spätsommer im Gegen- satz zu dem Vorgehen in anderen Bundesländern Spannend wird die Form der Aktenführung aller- ohne vorherige Pilotphase. Es gilt also, die Daumen dings aus Sicht der Prozessvertreter der klagenden zu drücken, dass die hessischen Justiz-Datennetze Bürger. Diese haben regelmäßig keine entspre- „dick genug“ sind! chenden Viewer zur Verfügung. Inwieweit eine Akteneinsicht in die Behördenakten zukünftig ge- UNGLEICHMÄSSIGE währleistet werden kann, wird daher in der (knap- pen) Zeit bis zum Echtbetrieb noch sicherzustellen GRÖSSENBESCHRÄNKUNGEN sein. Ein langweiliger Sommer steht den Fachge- richten daher nicht bevor – zumal auch andere Be- Die Gerichtsbarkeiten, die von der BA früh in Form hörden, wie das BAMF und die Deutsche Renten- von Arbeitsgruppen involviert wurden, hatten mit versicherung, ähnliche Projekte durchführen. einer neuen technischen Herausforderung zu kämpfen. Die Bund-Länder-Kommission für die IT Henning Müller in der Justiz (BLK) hatte sich entschieden, die im elektronischen Rechtsverkehr geltenden Größen- beschränkungen (derzeit 60 MB und 100 Dateien) einseitig zugunsten der BA aufzuheben, sodass HeMi 1/2020 13
ANZEIGE Gutachten für die Justiz Betriebswirtschaftliche Sachverständigengutachten im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten und Strafverfahren tŝƌƵŶƚĞƌƐƚƺƚnjĞŶ^ŝĞĂůƐƵŶĂďŚćŶŐŝŐĞƌdžƉĞƌƚĞĚƵƌĐŚďĞƚƌŝĞďƐǁŝƌƚƐĐŚĂĨƚůŝĐŚĞ^ĂĐŚǀĞƌƐƚćŶĚŝŐĞŶͲ ŐƵƚĂĐŚƚĞŶŝŵZĂŚŵĞŶǀŽŶŝǀŝůͲ͕^ƚƌĂĨͲƵŶĚ/ŶƐŽůǀĞŶnjǀĞƌĨĂŚƌĞŶ͘ ĂďĞŝŬŽŶnjĞŶƚƌŝĞƌĞŶǁŝƌƵŶƐĂƵƐƐĐŚůŝĞƘůŝĐŚĂƵĨ/ŶƐŽůǀĞŶnjͲƵŶĚĞǁĞƌƚƵŶŐƐŐƵƚĂĐŚƚĞŶ͕ĂƵĨ^ĐŚĂĚĞŶƐͲ ĞƌŵŝƚƚůƵŶŐĞŶƐŽǁŝĞtŝƌƚƐĐŚĂĨƚůŝĐŚŬĞŝƚƐĂŶĂůLJƐĞŶ͘/ŶĚŝĞƐĞŵƵƐĂŵŵĞŶŚĂŶŐĞƌƐƚĞůůĞŶǁŝƌ'ƵƚĂĐŚƚĞŶ ŵŝƚĨŽůŐĞŶĚĞŶ^ĐŚǁĞƌƉƵŶŬƚĞŶ͗ ͺ Insolvenzgutachten ŝŶƐďĞƐŽŶĚĞƌĞ&ĞƐƚƐƚĞůůƵŶŐĞŝŶĞƌĞŝŶŐĞƚƌĞƚĞŶĞŶďnjǁ͘ĚƌŽŚĞŶĚĞŶĂŚůƵŶŐƐƵŶĨćŚŝŐŬĞŝƚ ƵŶĚmďĞƌƐĐŚƵůĚƵŶŐ ͺ Bewertungen ǀŽŶhŶƚĞƌŶĞŚŵĞŶ͕dĞŝůďĞƚƌŝĞďĞŶ͕&ƌĞŝďĞƌƵĨůĞƌͲWƌĂdžĞŶƵŶĚsĞƌŵƂŐĞŶƐǁĞƌƚĞŶ ͺ Schadensermittlung ďĞŝǁŝƌƚƐĐŚĂĨƚůŝĐŚĞŶ^ĐŚćĚĞŶ͕ĞŶƚŐĂŶŐĞŶĞŶ'ĞǁŝŶŶĞŶ͕sĞƌĚŝĞŶƐƚĂƵƐĨĂůů͕'ĞƐĐŚćĨƚƐͲ ƵŶƚĞƌďƌĞĐŚƵŶŐĞŶ ͺ Wirtschaftlichkeitsanalysen ŝŵƵƐĂŵŵĞŶŚĂŶŐŵŝƚĚĞƌĞƵƌƚĞŝůƵŶŐǀŽŶsĞƌƚƌĂŐƐǀĞƌůĞƚnjƵŶŐĞŶ͕ƵƐŝŶĞƐƐƉůćŶĞŶ͕ ďĞŝsĞƌnjƵŐƐŽǁŝĞĨŽƌĞŶƐŝƐĐŚĞŶhŶƚĞƌƐƵĐŚƵŶŐĞŶ Individuelle Fragestellungen transparent und kompakt aufgearbeitet ŝĞƌŐĞďŶŝƐƐĞƵŶƐĞƌĞƌƌďĞŝƚnjĞŝĐŚŶĞŶƐŝĐŚĚƵƌĐŚĚŝĞŝŶĚŝǀŝĚƵĞůůĞŶĂůLJƐĞĚĞƐnjƵŐƌƵŶĚĞůŝĞŐĞŶĚĞŶ ^ĂĐŚǀĞƌŚĂůƚƐƵŶĚĚŝĞƌĂƌďĞŝƚƵŶŐďĞůĂƐƚďĂƌĞƌƌŬĞŶŶƚŶŝƐƐĞƵŶĚ^ĐŚůƵƐƐĨŽůŐĞƌƵŶŐĞŶĂƵƐ͘tŝƌĨĂƐƐĞŶ ƵŶƐĞƌĞƵƐƐĂŐĞŶŝŶŬůĂƌĞŶƵŶĚŬŽŵƉĂŬƚĞŶ'ƵƚĂĐŚƚĞŶnjƵƐĂŵŵĞŶ͕ĚŝĞĞŝŶĞƵŶŵŝƚƚĞůďĂƌĞ'ƌƵŶĚůĂŐĞĨƺƌ ĚŝĞƌŝĐŚƚĞƌůŝĐŚĞŶƚƐĐŚĞŝĚƵŶŐďŝůĚĞŶďnjǁ͘ƐƚĂĂƚƐĂŶǁĂůƚůŝĐŚĞƌŵŝƚƚůƵŶŐĞŶǀŽůůƵŵĨćŶŐůŝĐŚŽĚĞƌĨůĂŶŬŝĞͲ ƌĞŶĚƵŶƚĞƌƐƚƺƚnjĞŶ͘ Profil Guido Althaus Düsseldorf 'ƵŝĚŽůƚŚĂƵƐŝƐƚŐĞƐĐŚćĨƚƐĨƺŚƌĞŶĚĞƌ'ĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚĞƌĚĞƌĐĐƵƌĂĐLJ'ŵď, ĞƌůŝŶĞƌůůĞĞϱϵ;ϰ͘ƚĂŐĞͿ tŝƌƚƐĐŚĂĨƚƐƉƌƺĨƵŶŐƐŐĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚ͘ĂǀŽƌǁĂƌĞƌϱ:ĂŚƌĞďĞŝĞŝŶĞƌŝŶƚĞƌͲ ϰϬϮϭϮƺƐƐĞůĚŽƌĨ ŶĂƚŝŽŶĂůĞŶĞƌĂƚƵŶŐƐŐĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚŝŵĞƌĞŝĐŚŝƐƉƵƚĞƐΘ/ŶǀĞƐƚŝŐĂƚŝŽŶƐ dĞů͗ϬϮϭϭϴϲϴϭϮϮϲϲ ƵŶĚϭϳ:ĂŚƌĞ͕njƵůĞƚnjƚĂůƐWĂƌƚŶĞƌ͕ŝŶŐƌŽƘĞŶtŝƌƚƐĐŚĂĨƚƐƉƌƺĨƵŶŐƐͲƵŶĚ ĞƌĂƚƵŶŐƐŐĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚĞŶ͘,ĞƌƌůƚŚĂƵƐƐĐŚůŽƐƐƐĞŝŶ^ƚƵĚŝƵŵĚĞƌĞƚƌŝĞďƐͲ Frankfurt am Main ǁŝƌƚƐĐŚĂĨƚƐůĞŚƌĞĂŶĚĞƌ'ŽĞƚŚĞͲhŶŝǀĞƌƐŝƚćƚŝŶ&ƌĂŶŬĨƵƌƚĂŵDĂŝŶĂůƐ EĞƵĞDĂŝŶnjĞƌ^ƚƌĂƘĞϰϲͲϱϬ ŝƉůŽŵͲ
BEZIRKSGRUPPEN AKTIVITÄTEN DER BEZIRKSGRUPPEN Bezir ksgru ppe W e F u lda: 69. W 17. J iesb a iesba den : irksgrupp 4. Mä rz Wies anua dener Ju r 202 riste Bez tisch a m mm a uld bade n 0 n im K urha ball am o r e nsta anna in F ende n ● üb er 3. us v on s s e ss a H av s v o rsitz - ● ve 000 Gäst A iv nd e nve r rans im V s La sore talte e 2020 e de hm sses es A liver O richt ung t von der V eilna idt, d von von erein n ter T h m n und iums hend J u ● u n n e sS c H e rma n B - P räsid Nota aus dem r isten bälle igun g zu Joha n R rA ristia ied des D lgt! rvere Wies n Gb R, be us- t e r s Ch i t g l s c h es fo Wies in e. V b aden e s te- tr e ek, M mt i bade . und r An hacz Stam ● me n de der B walt - Piec n g des hr In fos u s DR B ezirk u nd zu sgru rtset https nd F ppe ● Fo ://jur isten o tos a ball- uf: wies bade n.de Bezirk sgr Frankf uppe urt am Führu ng du Main : A usste rch die Va ll am 17 ung im Fra n-Gog h- . Janu nkfurt ar 202 er Stä 0 del HeMi 1/2020 15
TITELTHEMA AKTUELLES 16 HeMi 1/2020
AKTUELLES DIE HERBSTAUSGABE DES JUNGRICHTERSEMINARS IN BERLIN MOTIVATION UND INSPIRATION Zweimal jährlich lädt der DRB zum Jungrichterse- ter am VG Schleswig, von seiner minar in sein Haus des Rechts unweit des Potsda- Zeit beim BVerfG, wo man seiner mer Platzes im Herzen Berlins ein. Vom 25. bis 27. Einschätzung nach viel Zeit habe, Oktober 2019 trafen sich dort 39 junge Richter und außerordentlich gründlich zu arbei- Staatsanwälte aus Konstanz bis Kiel, um zuzuhören, ten. Defne Akca, Staatsanwältin, Fragen zu stellen und – wie es sich für eine Ver- erzählte von ihrer Zeit beim GBA, anstaltung für Juristen gehört – zu reden. Barbara der stets auch junge Richter in sei- Stockinger vom OLG München, mittlerweile im Tan- ne Reihen aufnimmt. Anders als dem Vorsitzende des DRB, sowie Marco Rech, Prä- beim BGH und BVerfG stehen die sidiumsmitglied und Richter am OLG Celle, führten „Hiwis“ beim GBA allerdings selbst durch das Programm. in roter Robe im Gerichtssaal. Um die tiefe Bedeutung unterschied- HÄUFIG UNTERSCHÄTZTES licher Stiftfarben in ihrer Gänze zu verstehen, muss man wohl wie Nils ANGEBOT Godendorff das hierarchisch auf- gebaute BMJV von innen gesehen Wer befürchtet, mit der Entscheidung für die Justiz haben. Wöchentliche Dienstreisen seine Fremdsprachenkenntnisse dem Weg des Ver- und ständiger Austausch mit Kollegen auf europä- gessens preisgegeben zu haben und seinen Büro- ischer Ebene prägen seinen Arbeitsalltag. stuhl erst mit der Pensionierung wieder verlassen zu dürfen, kann aufatmen: Möglichkeiten, Auslandsbe- DIE LAST DER ERLEDIGUNGEN züge in die eigene Arbeit zu integrieren oder den Arbeitsplatz ganz in ein anderes Land zu verlegen, Großer Redebedarf der Gruppe zeigte sich beim gibt es viele. Hilfestellung bei der Suche nach einer Austausch mit Dr. Anne Lipsky, Richterin am FG geeigneten Stelle im Ausland leistet beispielswei- Mecklenburg-Vorpommern und Präsidiumsmit- se die Bundesagentur für Arbeit, wie Julie Tumler, glied, über die „Ethik im Beruf“. Dass Qualität und Beraterin im Büro Führungskräfte zu Internationalen Quantität bei der Entscheidungsfindung täglich in Organisationen (BFIO), erklärte. Ob kürzere Bera- einen Ausgleich zu bringen sind, stelle insbesonde- tungseinsätze im Rahmen bilateraler Aufträge etwa re junge Richter und Staatsanwälte vor Probleme. im Kosovo oder längerfristige Verträge in internati- Dr. Götz Wettich, Präsident des AG Hannover, der onalen Organisationen wie der UNO in New York: über dienstliche Beurteilungen sprach, verriet uns Das BFIO informiert und begleitet. Dr. Joanna Gutt- seinen Masterplan: Danke und Bitte sagen, lächeln, zeit, Richterin am AG Pankow/Weißensee, schnup- grüßen, jeden in seiner Funktion wahrnehmen und perte nicht nur mehrmals im Rahmen des EJTN- würdigen und nicht zu vergessen: locker bleiben. Programms in andere europäische Justizsysteme, sondern konnte auch von ihrer einjährigen Langzeit- KEINE ANGST VOR NEUEN hospitation beim EGMR in Straßburg berichten. Mitt- lerweile ist sie in zwei Netzwerken Verbindungsrich- RECHTSGEBIETEN terin und stellt in dieser Funktion täglich (!) direkten Kontakt zu Richtern im europäischen Ausland her, Ohne Mut zu Veränderung wäre keiner der Refe- um auftretende Probleme in einem Rechtsstreit mit renten dort, wo er heute ist. Ehrengast Heinz-Josef Auslandsbezug unmittelbar zu lösen. Vor allem im Friehe, Präsident des Bundesamtes für Justiz, lie- Familienrecht, so erklärt sie, seien diese kurzen ferte mit seinen verschiedenen Stationen im politi- Wege von enormer Bedeutung. schen Bonn und Berlin ein weiteres Beispiel dafür, dass neue Rechtsgebiete für Juristen nicht bedeu- STILLES KÄMMERLEIN ODER ten, bei null anzufangen. So waren wir uns bereits bei der Crema Catalana am Samstagabend in Char- DOCH GROSSE BÜHNE? lottenburg einig darüber, was wir von diesem Wo- chenende mitnehmen: Motivation und Inspiration für Werbung für eine Abordnung zum BGH machte Dr. den eigenen Weg in der Justiz. Desiree Dauber, Präsidialrichterin am BGH. Aus Nathalie Roth, erster Hand berichtete Dr. Fabian Scheffczyk, Rich- Richterin, Amtsgericht Frankfurt am Main HeMi 1/2020 17
AKTUELLES PODIUMSDISKUSSION VOM 29. NOVEMBER 2019 IM FRANKFURTER HAUS AM DOM ZUKUNFT DER JUSTIZ – JUSTIZ DER ZUKUNFT: DIE DRITTE GEWALT UNTER DIGITALEM ANPASSUNGSDRUCK Bei der vom Richterbund Hessen am 29. November 2019 veranstalteten öffentlichen Podiumsdiskussi- on drehte sich alles um die Frage, ob die Justiz un- ter digitalem Anpassungsdruck steht und wie sich Legal Tech auf die dritte Gewalt und deren Zukunft auswirkt. Die sehr gut besuchte Veranstaltung fand auch das Interesse von drei Vizepräsidenten des Hessischen Landtags und weiteren Abgeordne- ten, zahlreichen Gerichtspräsidentinnen und -prä- sidenten sowie von Vertretern der Rechtsanwalt- schaft. Michael Grupp Im Rahmen eines einleitenden Vortrags befand Michael Grupp, Gründer und Geschäftsführer der Bryter GmbH und Mitglied der Taskforce Legal Tech im Deutschen Anwaltverein, dass die Justiz flexible Budgets und schnelle Entscheidungswege benötige. Sie müsse sich auf die Rechtsuchenden statt auf das Recht konzentrieren, um mit der ra- Daniel Saam und Isabel Jahn santen technischen Entwicklung Schritt halten zu Daniel Saam begrüßte letztmals als Vorsitzender können. Eine elektronische Akte sei ohne breiten des Richterbundes Hessen die Gäste. Er beschrieb Praxiseinsatz und Rückmeldungen von den Anwen- den bereits bemerkbaren digitalen Anpassungs- dern nicht zu entwickeln. Um Freiraum für Ideen zu druck auf die Justiz u. a. durch den niederschwel- geben, seien Anreize für Richter und Staatsanwäl- ligen Rechtszugang, den Legal-Tech-Unternehmen te wie mehr Freizeit und andere Fallbearbeitungs- bieten, und durch die enormen Datenmengen, die zahlen nötig. z. B. in Wirtschaftsstrafsachen auszuwerten sind. Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann be- tonte in ihrem anschließenden Grußwort, dass ein Rechtsstaat ohne Richterinnen und Richter, Staats- anwältinnen und Staatsanwälte, die diesen aus- füllten, nur eine leere Hülle darstelle. Eine starke In- teressenvertretung wie der Richterbund Hessen sei für die Justiz auch deshalb von großer Bedeutung. Bezogen auf das Thema der Veranstaltung teilte sie mit, dass der Landeshaushalt 2020 weitere Gelder für Ausstattung und Digitalisierung in der Justiz vor- sehe. Massenverfahren könnten nicht weiterhin mit den hergebrachten Methoden geführt werden. Es sei vielmehr eine inhaltliche Debatte nötig, wo der Einsatz von Legal Tech innerhalb der Justiz verant- wortbar sei, ohne dass die Justiz Schaden nehme. Staatsministerin Eva Kühne-Hörmann 18 HeMi 1/2020
AKTUELLES DISKUSSION ÜBER DEN EINFLUSS VON LEGAL TECH AUF DIE RECHTSPRECHUNG Sodann begann die Podiumsdiskussion unter Lei- tung von Rechtsanwältin Dr. Annette Schunder- Hartung, die durch ihre Fragen unterschiedlichste Blickwinkel auf den Themenkomplex aufzeigte und das sich rege beteiligende Publikum von Beginn an in die Diskussion einband. Das Podium bildeten der Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und Präsident des Hessischen Staatsge- richtshofs Prof. Dr. Roman Poseck, der Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Reinhard V. l.:Charlotte Rau, Johannes Schmidt, Volker Mütze Gaier sowie Oskar de Felice, Legal Counsel der Flightright GmbH. ANSCHLIESSENDE MITGLIEDERVERSAMMLUNG DES RICHTERBUNDES HESSEN MIT WAHL DER NEUEN VORSITZENDEN Auf der sich anschließenden Mitgliederversamm- lung wurde als neuer Vorsitzender des Richter- bundes Hessen Dr. Johannes Schmidt gewählt, seine Stellvertreter wurden Dr. Charlotte Rau und Volker Mütze. Die neuen Vorsitzenden folgen auf Dr. Daniel Saam und seine Stellvertreterin Dr. Isabel Podium unter der Leitung von RAin Annette Schunder-Hartung Jahn, die sich nicht mehr zur Wiederwahl stellten. Der Oberlandesgerichtspräsident betonte, die Di- gitalisierung biete Chancen und Risiken. Es habe Schmidt dankte dem bisherigen Vorstand für das zwar einen personellen Aufbau gegeben, dieser hervorragende Engagement der letzten Jahre. Un- sei aber mit steigender Arbeitsbelastung einher- ter seinen beiden Vorgängern sei der Landesver- gegangen und daher weiter unzureichend. Durch band die stärkste Stimme der hessischen Justiz ge- Legal Tech und Digitalisierung dürfe es nicht zur worden, und der Stellenabbau in der Justiz Hessen Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit sei endlich gestoppt worden. Im Bund habe auch und zur Entmenschlichung gerichtlicher Verfahren durch Unterstützung des Richterbundes der „Pakt kommen. für den Rechtsstaat“ geschlossen werden können. Prof. Dr. Gaier wies darauf hin, dass die ZPO über Schmidt betonte, er freue sich sehr auf seine neue 140 Jahre alt und nicht IT-tauglich sei. Es müsse Aufgabe, und kündigte an, die von seinen Vor- eine neue, an die Bedürfnisse der Digitalisierung gängern eröffneten und beschrittenen Wege wei- angepasste Prozessordnung im Zusammenwirken terzugehen. Er werde sich insbesondere für die von Juristen und Informatikern entwickelt werden. Selbstverwaltung der Justiz, eine bessere Stellensi- Der Zugriff auf juristische Datenbanken erleichtere tuation, die den selbst errechneten Personalbedarf die Arbeit, aber es mangele an richterarbeitsplatz- (Pebb§y) zu 100 % erfülle, eine bessere Ausstat- spezifischen Unterstützungen. tung und angemessene Besoldung einsetzen. Au- ßerdem werde er für einen wehrhaften demokrati- De Felice zeigte sich erfreut über die Diskussion, schen Rechtsstaat eintreten und darauf dringen, war aber der Auffassung, die Justiz könne mit dem die Sicherheitskonzepte in der Justiz und ihrer Ge- Automatisierungsfortschritt nicht mithalten. Um Lö- bäude zu verbessern. sungswege aus dieser Situation zu finden, sei es erforderlich, dass die Justiz an der digitalen Ent- Christine Schröder wicklung teilhabe, statt diese bloß hinzunehmen. HeMi 1/2020 19
TITELTHEMA AKTUELLES DIE JURISTISCHE AUFARBEITUNG DES HOLOCAUST – ZEITZEUGENGESPRÄCH MIT GERHARD WIESE AM 19. FEBRUAR 2020 „DAS THEMA MUSS IMMER WIEDER IN DIE KÖPFE REIN“ stellvertretende hessische Generalstaatsanwältin Christina Kreis als neue Antisemitismusbeauftragte der hessischen Justiz sowie die Schüler eines Leis- tungskurses Geschichte. In der Rückschau mutet das Zeitzeugengespräch selbst wie aus der Zeit gefallen an, und dies in mehrfacher Hinsicht: So groß ist nach nur wenigen Wochen der sozialen Distanzierung in Pandemie- Zeiten bereits das Gefühl der Fremdheit angesichts einer Veranstaltung mit dicht gedrängten Men- schen; so groß sind die Zeiträume, die inhaltlich abgedeckt werden, wenn ein über 90-Jähriger be- richtet, wie er – als junger Flakhelfer in russische Kriegsgefangenschaft geraten – erstmals und an- fangs ungläubig von den nationalsozialistischen Gräueltaten erfahren hat. Einleitend betonte Oberlandesgerichtspräsident Roman Poseck, dass Auschwitz nicht nur das Sy- Gerhard Wiese nonym für den absoluten Tiefpunkt der deutschen Mit diesem Satz von Gerhard Wiese lud das Ober- Geschichte sei, sondern auch für den Tiefpunkt landesgericht Frankfurt am Main zu einem Zeitzeu- der Menschheitsgeschichte insgesamt stehe. Das gengespräch am 19. Februar 2020 ein. Zeitzeugengespräch diene dazu, die Erinnerung an die Verbrechen von Auschwitz wachzuhalten OStA a. D. Gerhard Wiese, Ehrenmitglied des und gleichzeitig ein Zeichen für die Gegenwart und Richterbundes Hessen, bereitete ab Sommer 1962 die Zukunft zu setzen. Dies sei gerade in der heu- unter dem damaligen hessischen Generalstaatsan- tigen Zeit wichtig, in der zu unerträglichen Relati- walt Fritz Bauer den 1. Frankfurter Auschwitz-Pro- vierungen des Holocaust neue, vor allem offen aus- zess vor, der von 1963 bis 1965 stattfand. Gerhard getragene Formen von Antisemitismus, Rassismus, Wiese vertrat dort als jüngster Vertreter der Staats- völkischem Denken und rechter Gewalt hinzuträten. anwaltschaft mit drei weiteren Staatsanwälten die Roman Poseck hob hervor, dass der Mut und die Anklage. Er ist einer der letzten Zeitzeugen dieses Beharrlichkeit der Anklage im Auschwitz-Prozess Jahrhundertprozesses. Noch mit über 90 Jahren ist einen wichtigen Kontrapunkt zu dem zweiten Versa- er ein Aufklärer und sucht unermüdlich den Kontakt gen der deutschen Justiz, nämlich dem Versagen zu – gerade auch jungen – Menschen, um enga- nach 1945, gesetzt hätten. giert und authentisch über die Verbrechen des Na- tionalsozialismus zu berichten. Das über einstündige Gespräch mit Gerhard Wiese moderierten RiOLG Dr. Gundula Fehns-Böer und Das Interesse an der Veranstaltung war gewaltig: Christian Preiser, Vorstand der Deutschen Gesell- Bereits Ende Januar erforderte die große Zahl der schaft Qualitätsjournalismus. Sie führten den auch Anmeldungen eine Verlegung des Zeitzeugenge- rhetorisch beeindruckenden Zeitzeugen einfühlsam sprächs von Saal 5/6 in das lang gestreckte Foyer durch „den Prozess seines Lebens“, als den Ger- im 1. Stock bei den Sitzungssälen des Oberlandes- hard Wiese den Auschwitz-Prozess für sich einord- gerichts. Auch hier konnten allerdings nur gut 200 net und mit dem er innerlich nie wird abschließen Personen teilnehmen, spät Entschlossene erhielten können. Gerhard Wiese berichtet, er sei im Jahr 1962 aus Platzgründen eine Absage und mussten auf die völlig unvorbereitet und letztlich ohne den Grund Radioübertragung der Veranstaltung bei HR 2 Kultur zu kennen, von Fritz Bauer in dessen Team für die im Mai 2020 vertröstet werden. Unter den Zuhörern Vorbereitung der Anklage berufen worden. Als An- waren die Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi, die kläger habe er die Zuständigkeit für die schlimms- 20 HeMi 1/2020
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